In der Folgezeit suchte Angélique die Küche Madame Cordeaus weniger häufig auf. Sie schloß sich Françoise Scarron an, und da sie seit dem Verkauf Kouassi-Bas über einige Geldmittel verfügte, kaufte sie Holz, um ordentlich einheizen zu können, und lud die junge Witwe in ihr Zimmer ein.

Madame Scarron hoffte noch immer, der König werde eines Tages ihre Bittschriften lesen. Voller Hoffnung machte sie sich an bestimmten Vormittagen zum Louvre auf, um enttäuscht, aber gespickt mit Hofgeschichten zurückzukehren, die den beiden Frauen einen Tag lang Zerstreuung boten.

Sie verließ den Temple für sechs Tage, da sie eine Stelle als Gouvernante bei einer vornehmen Dame gefunden hatte, dann kehrte sie ohne Begründung zurück und nahm ihr verborgenes, kümmerliches Leben von neuem auf.

Hin und wieder suchten sie einige der hochgestellten Persönlichkeiten auf, die in ihrem Hause verkehrt hatten, als der satirische Schriftsteller Scarron noch Mittelpunkt einer kleinen Gruppe von Schöngeistern gewesen war.

Einmal erkannte Angélique durch die Trennungswand die grelle Stimme Athénaïs de Rochechouarts. Sie wußte, daß das hübsche Mädchen aus dem Poitou in der Pariser Welt ein recht bewegtes Leben führte, daß sie sich aber noch keinen standesgemäßen und vermögenden Ehemann geangelt hatte.

Ein andermal war es eine blonde, lebhafte und obwohl nahe den Vierzig, noch sehr schöne Frau. Als sie aufbrach, hörte Angélique sie sagen:

»Was wollt Ihr, meine Liebe, man muß sich eben sein Leben so leicht wie möglich machen. Es tut mir ordentlich weh, Euch hier in diesem ungeheizten Zimmer und in Euren abgetragenen Kleidern zu sehen. Wenn man so schöne Augen hat, sollte man nicht in solcher Ärmlichkeit leben.«

Françoise flüsterte etwas, was Angélique nicht verstand.

»Das gebe ich zu«, fuhr die klangvolle und heitere Stimme fort, »aber es liegt einzig an uns, eine Abhängigkeit, die nicht demütigender ist, als wenn man eine Rente erbettelt, nicht zur Versklavung werden zu lassen. So gibt sich der >Zahler<, der mir zur Zeit die Möglichkeit verschafft, Pferde und Wagen zu halten, mit zwei kleinen Besuchen im Monat völlig zufrieden. >Für fünfhundert Livres<, habe ich ihm gesagt, >bin ich nicht in der Lage, mehr zu geben.< Er ergibt sich drein, weil er weiß, daß er sonst überhaupt nichts bekommt. Außerdem habe ich ihm klargemacht, daß es keinen Sinn hätte, eifersüchtig zu sein, denn ich gedächte meine kleinen Liebeleien nicht aufzugeben. Ihr seid schockiert, meine Liebe? Ich merke es an der Art, wie Ihr Eure hübschen Lippen verzieht. Laßt Euch sagen: es gibt nichts Abwechslungsreicheres in der Natur als die Freuden der Liebe, wenn sie auch im Grunde immer die gleichen sind.«

Als sie ihre Freundin wiedersah, konnte sich Angélique nicht enthalten zu fragen, wer jene Dame gewesen sei.

»Glaubt nicht, daß mir diese Art Frauen liegt«, erwiderte Françoise verlegen, »aber man muß immer-hin zugeben, daß Ninon de Lenclos die charmanteste und geistreichste Freundin ist. Sie hat mir sehr geholfen und tut ihr möglichstes, um mir Beziehungen zu verschaffen, aber ich frage mich manchmal, ob ihre Empfehlungen mir nicht mehr schaden als nützen. Ihr wißt doch, was man von ihr sagt: >Ninon de Lenclos hat mit dem Regime Ludwigs XIII. geschlafen und schickt sich an, mit dem Ludwigs XIV. ein gleiches zu tun.< Was mich im übrigen nicht wundern würde, denn ihre Jugend scheint unvergänglich.«

Madame Scarrons zurückhaltendes Wesen hinderte Angélique nicht, gewisse Zweifel an ihrer Tugendhaftigkeit zu heben. In dieser sanften und spröden Frau schwelte eine Sinnlichkeit, die die Dürftigkeit ihrer Aufmachung und die Schlichtheit ihrer Äußerungen nicht zu verschleiern vermochten. Gleichwohl bot der Lebenswandel ihrer Nachbarin keinen Anlaß zu übler Nachrede. Jeden Morgen ging sie zur Messe und am Abend zur Andacht. Wenn Angélique unvermutet bei ihr eintrat, pflegte sie in einem dicken, abgegriffenen Gebetbuch zu lesen.

Aber als Angélique eines Tages über den Flur ging, glaubte sie, ein unterdrücktes Stöhnen zu vernehmen, das aus dem Zimmer ihrer Freundin drang. Im Begriff, anzuklopfen und zu fragen, ob ihr etwas fehle, kam es ihr plötzlich vor, als seien diese Seufzer das Echo eines männlichen Geflüsters. Ungeniert schaute Angélique durchs Schlüsselloch und stellte fest, daß die unbescholtene Witwe sich in nicht mißzuverstehender Weise in die Arme eines Mannes drängte, der seinerseits durchaus entschlossen schien, ihr Verlangen zu stillen. In dem Mann erkannte sie den Haushofmeister einer vornehmen Dame, der zuweilen in deren Auftrag Madame Scarron aufsuchte, um ihr eine kleine Beihilfe zu bringen. Nun, er fügte eben noch einen persönlichen Beitrag hinzu.

Still vor sich hin lachend, kehrte Angélique in ihr Zimmer zurück und nahm sich vor, ihre Freundin durch mehr oder minder deutliche Anspielungen ein wenig in Verlegenheit zu bringen. Doch dann besann sie sich eines Besseren. Was ging es sie an, wenn es Françoise d’Aubigné beliebte, zugleich fromm und leidenschaftlich zu sein? Bemühen wir uns nicht unser Leben lang, unser Ideal mit unseren Schwächen in Einklang zu bringen?

Man mußte schon ein Joffrey de Peyrac sein, um sich mit Gott und den Menschen und mit sich selbst eins zu fühlen. Aber Joffrey paßte nicht in seine Zeit. Er sprach nicht dieselbe Sprache wie diese Männer und Frauen, die unter Skrupeln liederlich waren und mit heimlichem Widerwillen fromm. Er glich nicht den andern, und vielleicht würde man ihn eben deshalb verurteilen.

Seufzend setzte sich Angélique vor ihr Feuer. Sie griff zur Nadel, um ein Jäckchen zu häkeln, und vergaß die Liebschaften der Witwe Scarron.

Als sie zum zweitenmal das kleine Sprechzimmer der Jesuiten betrat, erwartete Angélique, ihren Bruder vorzufinden, der sie hatte rufen lassen, und den Advokaten Desgray, dem sie lange nicht mehr begegnet war.

Aber im Raum befand sich nur ein kleiner, schwarzgekleideter Mann mittleren Alters, der eine jener »Kanzlistenperücken« aus Roßhaar trug, an denen ein Käppchen aus schwarzem Leder festgenäht ist.

Er stand auf und grüßte linkisch auf altmodische Art, dann stellte er sich umständlich als Gerichtsaktuar vor, der von Maître Desgray in der Angelegenheit des Sieur Peyrac zugezogen worden sei.

»Ich befasse mich erst seit drei Tagen damit, aber ich stehe schon lange mit Maître Desgray und Maître Fallot in Verbindung, die mich über den Fall informiert und mit der Abfassung der üblichen Schriftstücke und der Einleitung Eures Prozesses betraut haben.«

Angélique stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Endlich ist es also soweit!« rief sie aus.

Der kleine Biedermann betrachtete die Klientin, die von den juristischen Formalitäten offensichtlich keine Ahnung hatte, mit ärgerlicher Miene.

»Wenn Maître Desgray mir die außerordentliche Ehre zuteil werden ließ, mich um meinen Beistand zu bitten, so geschah es deshalb, weil dieser junge Mann sich klargeworden ist, daß er trotz der vorzüglichen Schriftsätze, die er dank seiner hervorragenden Intelligenz anfertigt, eines mit dem Prozeßwesen eng vertrauten Fachmannes bedurfte. Nun, Madame, dieser Fachmann bin ich.«

Mit selbstgefälliger Miene betrachtete er den Staub, der in einem einfallenden Lichtstrahl tanzte. Angélique wurde leicht ungehalten.

»Aber Ihr habt mir doch zu verstehen gegeben, daß der Prozeß bereits eingeleitet sei?«

»Gemach, meine schöne Dame. Ich habe lediglich gesagt, daß ich die Einleitung dieses Prozesses betreibe.«

»Das ist doch dasselbe!«

»Ich bitte tausendmal um Vergebung, Madame. Ich habe nur gesagt, daß dank meiner die Dinge sich endlich auf dem normalen und regulären Verfahrenswege befinden.«

»Genau das wünsche ich mir«, sagte Angélique.

Ein wenig verwirrt ließ sie sich auf einer der Polsterbänke nieder, die den Sprechraum zierten. Das Männchen blieb vor ihr stehen und schien noch einiges mehr zur näheren Erläuterung dazu sagen zu wollen, wurde aber durch das Erscheinen des Advokaten und des Jesuiten unterbrochen.

»Was ist denn das für ein seltsamer Vogel, den Ihr da aufgestöbert habt?« flüsterte Angélique Desgray zu.

»Ihr könnt beruhigt sein, er ist harmlos. Und er ist ein richtiges kleines Insekt, das von beschriebenem Papier lebt, aber ein kleiner Gott auf seinem Gebiet.«

»Was er sagt, ließ mich fürchten, daß er meinen Gatten zwanzig Jahre lang im Gefängnis verkommen lassen will.«

»Monsieur Clopot, Ihr redet zuviel und seid Madame lästig gefallen«, sagte der Advokat in hartem Ton.

Der kleine Mann schrumpfte noch mehr zusammen, drückte sich in eine Ecke und bekam fast etwas von einer Küchenschabe.

Angélique mußte sich beherrschen, um nicht zu lachen.

»Ihr behandelt ihn aber schlecht, Euren kleinen Aktenkönig.«

»Darin besteht meine ganze Überlegenheit ihm gegenüber. Tatsächlich ist er hundertmal reicher als ich ... Und nun setzen wir uns und vergegenwärtigen wir uns die Situation.«

»Der Prozeß steht fest?«

»Ja.«

Die junge Frau betrachtete die Gesichter ihres Bruders und ihres Advokaten, aus denen eine gewisse Reserve zu lesen war.

»Die Anwesenheit Monsieur Clopots hat es dich wohl schon erkennen lassen«, sagte Raymond endlich: »Wir haben es nicht erreicht, daß dein Gatte vor ein Kirchentribunal gestellt wird.«

»Obwohl es sich um die Beschuldigung der Hexerei handelt?«

»Wir haben alle Gegenargumente ins Treffen geführt und unsern ganzen Einfluß spielen lassen, das kannst du mir glauben. Aber der König hat offenbar den Wunsch, sich päpstlicher als der Papst zu zeigen. Es ist wohl so: je mehr Mazarin sich dem Grab nähert, desto mehr erhebt der junge Monarch den Anspruch, alle Angelegenheiten des Königreichs einschließlich der kirchlichen in die Hand zu nehmen. Kurz und gut, wir haben nichts anderes erreichen können als die Eröffnung eines Zivilprozesses.«

»Dieser Beschluß ist doch wohl immer noch besser, als wenn die Sache in Vergessenheit geriete, nicht wahr?« fragte Angélique und mühte sich vergeblich, von Desgrays Augen eine Bestätigung abzulesen.

»Eine klare Entscheidung ist immer besser als jahrelange Ungewißheit.«

»Wir wollen diesem Fehlschlag keine allzu große Bedeutung beimessen«, versetzte Raymond. »Jetzt handelt es sich um die Frage, wie man die Richtung dieses Prozesses beeinflussen kann. Der König wird selbst die Geschworenen bestimmen. Unsere Rolle muß es sein, ihm begreiflich zu machen, daß er es sich schuldig ist, Unparteilichkeit und Gerechtigkeit walten zu lassen. Wahrlich eine heikle Rolle, das Gewissen eines Königs wachzurütteln!«

Diese Worte erinnerten Angélique an einen Ausspruch, den der Marquis du Plessis-Bellière vor langer Zeit über Monsieur Vincent de Paul getan hatte: »Er ist das Gewissen des Königreichs.«

»Oh«, rief sie aus, »warum habe ich nur nicht früher daran gedacht? Wenn Monsieur Vincent mit der Königin oder mit dem König über Joffrey reden könnte, würde er sie sicher erweichen.«

»Leider ist Monsieur Vincent im vergangenen Monat in seinem Haus in Saint-Lazare gestorben.«

»Mein Gott!« seufzte Angélique, und ihre Augen füllten sich mit Tranen der Enttäuschung. »Warum habe ich nur nicht an ihn gedacht, als er noch lebte! Er hätte mit ihnen zu reden gewußt. Er hätte erreicht, daß Joffrey vor ein Kirchengericht gekommen wäre ...«

»Glaubst du denn, wir hätten nicht alles unternommen, um das zu erwirken?« fragte der Jesuit leicht verärgert.

Angéliques Augen leuchteten auf.

»Doch«, flüsterte sie, »aber Monsieur Vincent war ein Heiliger.«

Es entstand eine Pause, dann seufzte Pater de San-cé.

»Du hast recht. Nur ein Heiliger könnte den Stolz des Königs beugen. Selbst seine engste Umgebung kennt die Seele dieses jungen Mannes nicht, hinter dessen zurückhaltendem Gebaren sich eine furchtbare Machtgier verbirgt. Ich bestreite nicht, daß er ein großer König ist, aber .«

Er hielt inne, vielleicht weil er fand, daß es gefährlich war, dergleichen zu äußern.

»Wir haben es erfahren«, fuhr er fort, »daß einige Gelehrte, die in Rom leben und deren zwei unserer Kongregation angehören, über die Verhaftung des Grafen Peyrac ungehalten sind und dagegen protestiert haben - heimlich natürlich, denn die Sache ist ja bisher geheimgehalten worden. Man könnte ihre Aussagen sammeln und den Papst um eine schriftliche Intervention beim König bitten. Diese erlauchte Stimme wird ihn vielleicht zur Nachgiebigkeit veranlassen, indem sie an sein Verantwortungsbewußtsein appelliert und ihn mahnt, den Fall eines Angeklagten genau zu prüfen, den die größten Geister des Delikts der Hexerei nicht für schuldig befunden haben.«

»Glaubst du, ein solcher Brief ließe sich erreichen?« fragte Angélique zweifelnd. »Die Kirche schätzt die Gelehrten nicht.«

»Mir scheint, daß es einer Frau deiner Lebensweise nicht zusteht, über die Verfehlungen oder Irrtümer der Kirche zu urteilen«, erwiderte Raymond.

»Ich habe den Eindruck, daß da zwischen Raymond und mir irgend etwas nicht in Ordnung war«, sagte Angélique, als sie kurz danach den Advokaten bis zum Torturm zurückbegleitete. »Warum sprach er so hart über meinen Lebenswandel? Mir scheint, ich führe ein mindestens ebenso einwandfreies Leben wie die Henkersfrau, bei der ich wohne.«

Desgray lächelte.

»Ich vermute, Euer Bruder hat bereits einige der Zettel unter die Augen bekommen, die seit heute früh in Paris zirkulieren. Claude Le Petit, der berühmte Reimeschmied vom Pont-Neuf, der nun schon bald sechs Jahre lang die Verdauung der großen Herren beeinträchtigt, hat von dem Prozeß Eures Gatten Wind bekommen und ihn zum willkommenen Anlaß genommen, seine Feder in Vitriol zu tauchen.«

»Was konnte er erzählen? Habt Ihr diese Pamphlete gesehen?«

Der Advokat bedeutete Monsieur Clopot, der in einigem Abstand folgte, näher zu kommen und ihm die Tasche zu geben, die er unter dem Arm trug. Er entnahm ihr ein Päckchen Blätter, auf denen sich, grob gedruckt, kleine, gereimte Gedichte befanden. Mit einem Schwung, der aus dem Herzen zu kommen schien, sich jedoch der niedrigsten Beschimpfungen und vulgärsten Ausdrücke bediente, präsentierte der Verfasser den Grafen Joffrey de Peyrac als »den großen Hinkenden, den Langhaarigen, den großen Hahnrei des Languedoc .«

Er hatte es ja leicht, Glossen über das Äußere des Angeklagten zu machen. Eines dieser Spottgedichte schloß mit den Versen:

»Doch Madame de Peyrac - sollt’ man’s glauben? -läßt sich dadurch nicht die Stimmung rauben. Hoffend, daß noch lang in der Bastille er möge bleiben,

geht flugs sie in den Louvre, um es dort zu treiben.«

Angélique glaubte zu erröten, doch in Wirklichkeit wurde sie leichenblaß. »Oh, dieser verdammte Schmutzpoet!« rief sie aus und warf die Blätter in den Straßenkot. »Es stimmt schon: Der Dreck ist noch zu sauber für ihn!«

»Pst, Madame, nicht fluchen!« protestierte Desgray und tat entrüstet, während der Kanzlist sich bekreuzigte. »Monsieur Clopot, hebt bitte diese Blätter auf und steckt sie wieder in die Tasche.«

»Ich möchte nur wissen, warum man statt der ehrlichen Leute nicht diese Schmierfinken ins Gefängnis sperrt«, meinte Angélique empört. »Wenn man es wirklich einmal tut, steckt man sie auch noch in die Bastille, als müsse man ihnen Ehre erweisen. Weshalb nicht ins Châtelet wie richtige Banditen, die sie doch sind?«

»Es ist nicht einfach, eines Pasquillenschreibers habhaft zu werden. Sie sind überall und nirgends. Claude Le Petit ist sechsmal mit knapper Not dem Galgen entronnen, und dennoch taucht er immer wieder auf und schießt seine Pfeile in einem Augenblick ab, in dem man am wenigsten darauf gefaßt ist. Er ist das Auge von Paris. Er sieht alles, er weiß alles, und niemals begegnet man ihm. Ich selbst habe ihn noch nie gesehen, aber ich vermute, daß seine Ohren größer als ein Waschfaß sind, denn der ganze Klatsch der Hauptstadt findet in ihnen eine Freistätte. Man sollte ihn als Spitzel bezahlen, statt ihn zu verfolgen.«

»Man sollte ihn lieber endlich hängen!«

»Zwar rangieren die Zeitungsschreiber bei unserer lieben und unfähigen Polizei unter den >Übelgesinn-ten<. Aber sie wird den kleinen Schreiberling vom Pont-Neuf nie erwischen, wenn wir ihn nicht aufs Korn nehmen, mein Hund und ich.«

»Tut es, ich beschwöre Euch«, rief Angélique und faßte Desgray mit beiden Händen an seinem Kragen aus grobem Leinen. »Sorbonne soll ihn mir in seinem Maul bringen, tot oder lebendig.«

»Ich zöge es vor, ihn Monsieur de Mazarin zu übergeben, denn glaubt mir, der ist sein allerschlimmster Feind.«

»Wie konnte man nur dulden, daß ein Lügner so lange ungestraft sein Unwesen trieb?«

»Leider besteht die beängstigende Stärke Le Petits darin, daß er nie lügt und sich selten irrt.«

Angélique wollte protestieren, dann erinnerte sie sich des Marquis de Vardes und schwieg, von Wut und Scham erfüllt.

Einige Tage vor Weihnachten begann es zu schneien. Die Stadt legte ihren Festschmuck an. In den Kirchen wurden die Krippen aus dicker Pappe oder Gips aufgebaut, vor denen die Figuren der Weihnachtsgeschichte ihren Platz fanden, das Jesuskind zwischen dem Ochsen und dem Esel. Die Fahnen der Zünfte zogen in langer, von Gesang begleiteter Prozession durch die schnee- und schlammbedeckten Straßen.

Wie der alljährlich geübte Brauch es verlangte, machten sich die Augustiner des Spitals an die Herstellung Tausender mit Zitronensaft beträufelter Krapfen, die von Kindern in der ganzen Stadt feilgeboten wurden. Nur für diese Krapfen durfte das Fasten durchbrochen werden, und der erzielte Gewinn sollte dazu beitragen, armen Kranken das Weihnachtsfest zu verschönen.

Zur gleichen Zeit überstürzten sich für Angélique die Ereignisse. Ihre Gedanken waren so ausschließlich auf den bevorstehenden Prozeß gerichtet, daß sie Weihnachten und Neujahr darüber vergaß.

Zunächst suchte Desgray sie eines Morgens im Temple auf und teilte ihr mit, was er hinsichtlich der Bestellung der Richter hatte in Erfahrung bringen können.

»Der Auswahl ist ein langwieriger Aussiebungsprozeß vorausgegangen. Wir dürfen uns keine Illusionen machen, denn es sieht so aus, als habe man sie nicht ihres Gerechtigkeitssinns wegen ausgesucht, sondern unter dem Gesichtspunkt des Grades ihrer Verbundenheit mit der Sache des Königs. Überdies hat man mit Bedacht Beamte ausgeschieden, von denen einige zwar zweifellos dem König ergeben, wiederum aber auch beherzt genug sind, sich gegebenenfalls dem königlichen Druck zu widersetzen. Beispielsweise Maître Gallemand, einen der berühmtesten Advokaten unserer Zeit, dessen Einstellung durchaus eindeutig zu sein scheint, denn während der Fronde hat er ganz offen für die Sache des Königs Partei ergriffen, selbst auf die Gefahr hin, eingesperrt zu werden. Aber er ist eine Kämpfernatur, die sich vor niemand fürchtet, und seine unerwarteten Ausfälle lassen stets das Gericht erzittern. Ich hoffte lange, er würde gewählt werden, aber offenbar will man nur ganz sichere Leute haben.«

»Das war vorauszusehen, nach dem, was ich kürzlich erfahren habe«, sagte Angélique gefaßt. »Wißt Ihr, wer schon designiert worden ist?«

»Der Oberpräsident Séguier wird persönlich das Verhör führen, um die Form zu wahren und dem Prozeß einen exemplarischen Charakter zu verleihen.«

»Der Präsident Séguier! Das ist ja mehr, als ich zu hoffen wagte!«

»Machen wir uns nichts vor«, sagte der Advokat. »Der Präsident Séguier bezahlt seine hohen Ämter mit seiner moralischen Unabhängigkeit. Ich hörte überdies, daß er den Häftling aufgesucht hat und daß die Unterhaltung recht stürmisch verlaufen ist. Der Graf hat sich geweigert, einen Eid zu leisten, denn das Kammergericht sei nach seiner Ansicht nicht berechtigt, ein Mitglied des Parlaments von Toulouse abzuurteilen. Nur die Große Kammer des Parlaments von Paris könne einen ehemaligen Berichterstatter über die Bittschriften eines Provinzialparlaments zur Verantwortung ziehen.«

»Sagtet Ihr nicht, die Aburteilung durch das Parlamentsgericht sei wegen dessen Ergebenheit Monsieur Fouquet gegenüber ebensowenig wünschenswert?«

»Gewiß, Madame, und ich habe versucht, Euren Gatten das wissen zu lassen. Aber entweder hat ihn meine Botschaft nicht erreicht, oder er ist zu stolz, Ratschläge anzunehmen, jedenfalls kenne ich nur die Antwort, die er dem obersten Beamten der königlichen Justiz gegeben hat.«

»Und was hat sie zur Folge gehabt?« fragte die junge Frau ängstlich.

»Ich vermute, der König hat verfügt, wie üblich zu verfahren und ihn, wenn nötig, >stumm< zu verurteilen.«

»Was heißt das?«

»Das bedeutet, daß er wie ein Abwesender in contumaciam gerichtet wird, was seine Angelegenheit sehr viel heikler machen würde. Denn in Frankreich gilt ein Angeklagter zunächst immer als schuldig, während beispielsweise in England der anklagende Staatsanwalt den Beweis für die Schuld einer verhafteten Person erbringen muß, die im übrigen freigelassen wird, wenn nicht binnen vierundzwanzig Stunden eine förmliche Anklageschrift vorliegt.«

»Weiß man, wer bei dem Prozeß der Anklagevertreter sein wird?«

»Es werden deren zwei sein. Einmal Denis Talon, der Generalstaatsanwalt des Königs selbst, und, wie erwartet, Euer Schwager Fallot de Sancé. Der letztere wollte ablehnen, indem er auf seine Verwandtschaft mit Euch verwies, aber er scheint von Talon oder anderen überredet worden zu sein, denn in den Kulissen des Justizpalastes flüstert man sich jetzt zu, man fände es sehr schlau, daß er zwischen der Familienpflicht und der Treue zum König, dem er alles verdankt, seine Wahl getroffen habe.«

Angélique verzog das Gesicht, aber sie beherrschte sich und wollte noch mehr wissen.

»Außerdem spricht man von de Masseneau, einem Parlamentarier aus Toulouse, und dem Präsidenten Mesmon, was mich verwundert, denn er ist ein Greis, dessen Leben nur noch an einem Faden hängt. Ich kann ihn mir schlecht als Präsidenten einer Verhandlung vorstellen, bei der es vermutlich stürmisch zugehen wird. Vielleicht hat man ihn gerade wegen seiner körperlichen Schwäche gewählt, denn man weiß, daß er ein gerechter und gewissenhafter Mann ist. Wenn er für diesen Prozeß seine Kräfte zusammennimmt, gehört er zu denen, auf die wir unsere Hoffnungen setzen können.«

Dann fuhr Desgray fort:

»Schließlich sind noch Bourié zu nennen, der Sekretär des Gerichtshofs, der unter den Juristen im Rufe eines legalen Urkundenfälschers steht, und ein gewisser Delmas, ein höchst obskurer Richter, den man vielleicht ausgesucht hat, weil er der Onkel Colberts ist, eines Beamten Mazarins, vielleicht aber auch ganz einfach deswegen, weil er Protestant ist und der König Wert darauf legt, daß seine Rechtsprechung den Anschein der Legalität wahrt und daß auch die reformierte Kirche bei der weltlichen Justiz des Königreichs vertreten ist ...«

»Ich vermute«, sagte Angélique, »daß dieser Hugenotte recht überrascht sein wird, in einem Prozeß mitreden zu müssen, bei dem es um Teufelsbeschwörung und Besessensein geht. Aber schließlich kann es uns nur von Nutzen sein, unter den Geschworenen einen möglicherweise etwas aufgeklärteren Geist zu haben, der von vornherein gegen jeglichen Aberglauben eingenommen ist.«

»Sicher«, sagte der Advokat achselzuckend. Sein Gesicht hatte einen sorgenvollen Ausdruck angenommen.

»Übrigens, da Ihr von Teufelsbeschwörung und Besessenheit sprecht, kennt Ihr einen Mönch namens Becher und eine Nonne, die, bevor sie den Schleier nahm, Carmencita de Mérecourt hieß?«

»Und ob ich sie kenne!« rief Angélique aus. »Mein Gott, ja! Dieser Mönch Becher ist ein halbverrückter Alchimist, der sich geschworen hat, meinem Gatten das Geheimnis des Steins der Weisen zu entreißen. Was Carmencita de Mérecourt betrifft, so ist das eine höchst exzentrische Dame, die früher einmal meines Gatten . Mätresse war und ihm nicht verzeihen kann, daß sie es nicht mehr ist. Aber was haben sie mit dieser Angelegenheit zu tun?«

»Es soll sich um einen Fall von Teufelsbeschwörung handeln, bei der Becher und jene Dame anwesend waren. Eine völlig unklare Sache. Das betreffende Schriftstück ist den Anklageakten beigefügt worden und stellt, wie es scheint, eines der ausschlaggebenden Dokumente dar.«

»Ihr habt es wohl nicht gelesen?«

»Ich habe keine der unzähligen Akten gelesen, an deren Zusammenstellung der Gerichtsrat Bourié emsig arbeitet. Niemand hindert ihn offenbar daran, von seiner Fälschergabe ausgiebigen Gebrauch zu machen.«

»Aber da der Prozeß nahe bevorsteht, müßt Ihr doch als Verteidiger des Angeklagten über die Einzelheiten der übrigen Anklagepunkte informiert sein!«

»Eben nicht! Und es ist mir bereits wiederholt mitgeteilt worden, daß Eurem Gatten der Beistand eines Advokaten verwehrt werden wird. So daß ich mich im Augenblick vor allem darum bemühe, eine schriftliche Bestätigung dieser Verweigerung zu bekommen.«

»Aber Ihr seid ja wahnsinnig!«

»Ganz und gar nicht. Die Bestimmungen lauten dahin, daß man nur einem der Majestätsbeleidigung angeklagten Menschen den Beistand eines Advokaten verweigern kann. In unserem Falle dürfte der Nachweis eines solchen Vergehens schwerlich zu erbringen sein. Wenn ich also im Besitz dieser schriftlichen Erklärung bin, erhebe ich Anfechtungsklage, was mir sofort eine starke moralische Position verschaffen wird. Ich glaube, daß ich sie durch diesen Winkelzug schließlich dazu zwingen werde, mich als Verteidiger zu benennen.«

Als Desgray am übernächsten Tag wiederkam, trug er zum erstenmal eine befriedigte Miene zur Schau.

»Die Sache ist geglückt«, sagte er frohlockend. »Der erste Präsident des Kammergerichts, Séguier, hat mich soeben zum Verteidiger des der Hexerei angeklagten Sieur Peyrac bestimmt. Das ist ein eindeutiger Sieg über die Heimtücke der Verfahrensweise, aber in ihrem blinden Bestreben, dem König zu Willen zu sein, haben sich die hohen Lakaien der Justiz allzu sehr in Widerspruch zu ihren eigenen Prinzipien gesetzt. Kurz, sie haben sich gezwungen gesehen, einen Verteidiger zu bestimmen. Aber ich mache Euch darauf aufmerksam, Madame, daß Ihr noch genügend Zeit habt, Euch nach einem berühmteren Advokaten umzusehen, um ihm den Fall Eures Gatten zu übertragen.«

Angélique sah durchs Fenster hinaus. Der Temple-Bezirk wirkte verlassen und wie eingeschlafen unter seinem Schneeteppich. Madame Scarron ging unten in ihrem schäbigen Mantel vorüber, um sich zum Gottesdienst in die Kapelle des Großpriors zu begeben. Das Geläut einer kleinen Glocke erstickte unter dem niedrigen grauen Himmel. Angélique warf einen verstohlenen Blick auf den Advokaten, der sich ernst und abweisend gab.

»Ich wüßte wirklich keinen fähigeren Mann zu nennen, dem ich diese Sache anvertrauen könnte, die mir am Herzen liegt«, sagte sie. »Ihr erfüllt alle wünschenswerten Voraussetzungen. Und als mein Schwager Fallot Euch mir empfahl, meinte er: >Er ist einer der schlauesten Köpfe der Anwaltschaft, und außerdem wird er Euch nicht viel kosten!<«

»Ich danke Euch für die gute Meinung, die Ihr von mir habt, Madame«, sagte Desgray, der sich keineswegs zu ärgern schien.

Die junge Frau malte gedankenverloren mit dem Finger auf die beschlagene Fensterscheibe. >Wenn ich wieder mit Joffrey in Toulouse sein werde<, dachte sie, >werde ich mich dann noch des Advokaten Desgray erinnern? Zuweilen werde ich daran denken, daß wir zusammen in der Badeanstalt waren, und das wird mir unwahrscheinlich vorkommen .!<

Plötzlich wandte sie sich mit verklärten Augen zu ihm um.

»Oh, Ihr habt ja jetzt die Möglichkeit, ihn täglich aufzusuchen! Könntet Ihr mich nicht mitnehmen?«

Doch Desgray riet ihr ab, die strengen Weisungen hinsichtlich der völligen Isolierung des Häftlings zu mißachten. Es stand auch noch nicht fest, ob er selbst die Erlaubnis bekommen würde, ihn zu sprechen, aber er war entschlossen, sie durch die Vermittlung der Advokatenkammer zu erwirken. Es mußte jetzt rasch gehandelt werden, denn da seine Bestellung als Verteidiger der königlichen Justizbehörde nur durch List entrissen worden war, bestand die Möglichkeit, daß ihm die Anklageschrift erst kurz vor dem Termin zugestellt würde und vielleicht auch nur teilweise.

»Ich weiß, daß bei derartigen Prozessen die Aktenstücke oft aus fliegenden Blättern bestehen und daß der Siegelbewahrer, der Kardinal Mazarin oder der König selbst sich zu jeder Zeit das Recht vorbehalten, sie zu prüfen oder einzelne an sich zu nehmen beziehungsweise sie zu ergänzen. Gewiß geschieht das nicht gerade häufig, aber zieht man die besonderen Verhältnisse in Betracht, unter denen sich alles abspielt .«

Trotz dieser letzten bedenklichen Worte summte Angélique an diesem Abend vor sich hin, während sie Florimonds Brei kochte, und sie gewann schließlich sogar dem unvermeidlichen Stück Walfischfleisch der Mutter Cordeau einigen Geschmack ab. Die Kinder vom Spital waren an diesem Tag in den Temple-Bezirk gekommen. Sie hatte ihnen ein paar der köstlichen Krapfen abgekauft, und der gestillte Appetit verhalf ihr dazu, die Zukunft in freundlicheren Farben zu sehen.

Ihre Zuversicht wurde belohnt, denn schon am folgenden Abend kehrte der Advokat mit zwei aufregenden Nachrichten zurück: Man hatte ihm einen Teil der Akten zugestellt und ihm überdies erlaubt, den Gefangenen zu sprechen.

Bei dieser Mitteilung stürzte Angélique auf Desgray zu, schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn herzhaft. Einen Augenblick spürte sie den Druck zweier kräftiger Arme und empfand ein intensives wohliges Gefühl. Doch schon zog sie sich verwirrt wieder zurück und stammelte, während sie über ihre Augen wischte, in denen Tränen perlten, sie wisse schon gar nicht mehr, was sie tue.

Taktvoll ging Desgray über diesen Zwischenfall hinweg. Er berichtete, daß der Besuch in der Bastille am nächsten Tag um die Mittagszeit stattfinden werde. Er werde den Häftling zwar nur in Gegenwart des Gouverneurs sehen können, hoffe aber zuversichtlich, daß es ihm späterhin gelingen würde, mit dem Grafen Peyrac unter vier Augen zu sprechen.

»Ich gehe mit Euch«, erklärte Angélique. »Ich werde vor dem Gefängnis warten, aber ich fühle, daß ich es nicht über mich bringen könnte, währenddessen still zu Hause zu sitzen.«

Der Advokat sprach sodann über die Prozeßakten, von denen er Kenntnis bekommen hatte. Einer abgegriffenen Plüschtasche entnahm er ein paar Blätter, auf denen er die Hauptanklagepunkte notiert hatte.

»Er ist in erster Linie der Hexerei angeklagt. Wird als Hersteller von Giften und anderen Drogen bezeichnet. Ist im Besitz magischer Kräfte, kann die Zukunft voraussagen und kennt Mittel, um das Gift im Körper unschädlich zu machen. Er soll die Kunst entdeckt haben, sich Menschen von Ruf und Bildung durch Teufelskunststücke gefügig zu machen . Die Anklage stellt fest, daß eine seiner ... ehemaligen Mätressen gestorben ist und daß man im Mund der exhumierten Leiche das Medaillon des Grafen Peyrac gefunden hat ...«

»Aber was soll denn diese Sammelsurium von Unsinnigkeiten?« rief Angélique bestürzt aus. »Ihr wollt doch nicht behaupten, daß vernünftige Richter sich damit in öffentlicher Sitzung befassen werden?«

»Vermutlich ja, und ich für mein Teil beglückwünsche mich sogar zu diesem Übermaß von Dummheiten, denn ich werde sie um so leichter abtun können. Des weiteren umfaßt die Anklageschrift das Verbrechen der Alchimie, die Suche nach Schätzen, die Transmutation von Gold und - haltet Euch fest!

- >die ketzerische Behauptung, Leben geschaffen zu haben<. Könnt Ihr Euch denken, Madame, was das bedeuten soll?«

Ratlos überlegte Angélique eine Weile. Schließlich legte sie die Hand auf die Stelle, wo ihr zweites Kind sich rührte.

»Glaubt Ihr, daß es das ist, worauf sie anspielen?« fragte sie lachend.

Der Advokat machte eine zweifelnde und resignierte Geste. Er las weiter:

». >hat seinen Besitz durch Zaubermittel vermehrt, ohne die Transmutation et cetera außer acht zu lassen ...< Ganz am Schluß sehe ich folgendes: >Nahm Rechte in Anspruch, die ihm nicht zustanden. Rühmte sich offen, von König und Fürsten unabhängig zu sein. Empfing ketzerische und verdächtige Ausländer und bediente sich verbotener, aus dem Auslande stammender Bücher.<

Jetzt«, fuhr Desgray mit einem gewissen Zögern fort, »komme ich zu dem Schriftstück, das mir das beunruhigendste und verwunderlichste des ganzen Faszikels zu sein scheint. Es handelt sich um einen von drei Geistlichen verfaßten Bericht über einen Fall von Exorzismus, in dem erklärt wird, Euer Gatte sei der Besessenheit und des Umgangs mit dem Teufel überführt.«

»Das ist doch nicht möglich!« rief Angélique aus, der ein kalter Schauer über den Rücken lief. »Wer sind diese Priester?«

»Der eine ist jener Mönch Becher, den ich neulich schon erwähnte. Ich weiß nicht, ob er als Offizial die Bastille betreten konnte, jedenfalls steht fest, daß diese Zeremonie tatsächlich stattgefunden hat. Und die Zeugen versichern, daß alle Reaktionen des Grafen auf schlagende Weise sein Bündnis mit dem Teufel beweisen.«

»Das kann nicht sein«, wiederholte Angélique. »Ihr selber glaubt doch nicht etwa daran?«

»Ich bin ein Freigeist, Madame. Ich glaube weder an Gott noch an den Teufel.«

»Schweigt«, stammelte sie und bekreuzigte sich hastig. Darauf lief sie zu Florimond und drückte ihn an sich.

»Hast du gehört, was er gesagt hat, mein Engelchen?« flüsterte sie. »Oh, die Männer sind verrückt.«

Nach einer kurzen Stille trat Desgray zu ihr.

»Macht Euch keine unnützen Sorgen«, meinte er. »Ganz bestimmt steckt da ein Schwindel dahinter, und wir müssen zusehen, daß wir ihm zur rechten Zeit auf die Sprünge kommen. Aber die Tatsache bleibt bestehen, daß dieses Schriftstück höchst beunruhigend ist, denn es wird die Richter vermutlich ganz besonders beeindrucken. Die Teufelsbeschwörung ist nach den Riten des Kirchengerichts in Rom durchgeführt worden, und die Reaktionen des Angeklagten sind belastend für ihn. Ich habe mir im besonderen die Reaktionen im Zusammenhang mit den Teufelsflecken und der Behexung anderer notiert.«

»Was bedeutet das?«

»Bezüglich der Teufelsflecken erklären die Dä-monologen, daß gewisse Stellen des Körpers eines Besessenen gegen die Berührung mit einem vorher exorzisierten silbernen Stift empfindlich sind. Nun, im Verlauf dieser Probe haben die Zeugen furchtbare und >wahrhaft infernalische< Schreie vernommen, die der Angeschuldigte immer wieder ausstieß, während ein gewöhnlicher Mensch das leichte Betupfen mit diesem harmlosen Instrument kaum empfindet. Was die Behexung anderer betrifft, so ist eine Person vor ihn geführt worden, die alle bekannten Anzeichen der Besessenheit zeigte.«

»Wenn es sich dabei um Carmencita handelt, traue ich ihr zu, daß sie ihre Komödiantenrolle aufs trefflichste gespielt hat«, sagte Angélique sarkastisch.

»Vermutlich handelt es sich um jene Nonne, aber ihr Name wird nicht erwähnt. Auf jeden Fall steckt dahinter irgendein Betrug, wie ich schon sagte, aber da ich sicher bin, daß die Geschworenen dieser Sache große Bedeutung beimessen werden, muß ich sie Punkt für Punkt widerlegen können. Und vorläufig weiß ich noch nicht, wie.«

»Vielleicht kann Euch mein Gatte selbst Aufklärung geben?«

»Hoffen wir es«, seufzte der Advokat.

In seiner Schneeverbrämung wirkte der riesige Block der Bastille noch düsterer und trübseliger als sonst. Von den Plattformen der Wehrtürme stiegen winzige graue Rauchfahnen zum verhangenen Himmel auf. Wahrscheinlich hatte man beim Gouverneur und in der Wachstube eingeheizt, aber Angélique konnte sich unschwer die eisige Feuchtigkeit der Zellen vorstellen, in denen die >vergessenen< Gefangenen sich auf ihren schimmelnden Strohsäcken zusammenkauerten.

Desgray hatte sie in eine kleine Schenke der Vorstadt Saint-Antoine geführt, wo sie auf ihn warten sollte. Der Wirt und noch mehr dessen Tochter schienen ihm wohlbekannt zu sein.

Von ihrem Ausguck neben dem Fenster konnte Angélique alles beobachten, ohne bemerkt zu werden. Das Gefängnis ragte genau ihr gegenüber auf. Sie sah deutlich die Posten des Außenwerks, die in die Hände bliesen und durch Stampfen ihre Füße zu wärmen suchten. Zuweilen rief ihnen einer ihrer Kameraden von der Höhe der Zinnen ein Wort zu, und ihre hallenden Stimmen durchschnitten die eisige Luft.

Die Schenke lag an der morastigen Rue de la Contrescarpe, die am Zeughauskanal und den Gräben der Bastille entlangführte. Trotz der Kälte war die Luft durch den faden Geruch der fauligen Gewässer verpestet.

Reiter und Kaufleute, die die Stadtgrenze an der Porte Saint-Antoine erreichten, machten halt, um den Zoll zu entrichten. Eine Weile wurde Angélique durch die Ankunft eines Zigeunertrupps abgelenkt, auf dessen mageren Kleppern Frauen und Kinder mit dunklen, glühenden Augen saßen.

Die Männer, die mit arroganter Miene Rapiere und Federhüte trugen, stritten sich lange mit dem Zöllner. Schließlich ließen sie zwei Äffchen vor ihm tanzen, und da der Mann seinen Spaß daran hatte, brauchten sie nichts zu bezahlen.

Gleich darauf fuhr, von Läufern begleitet, eine Kutsche vorüber, und Angélique erkannte im Innern die Gesichter Madame Fouquets und ihrer Tochter. Es fiel ihr ein, daß der Oberintendant zur Zeit im Zeughaus wohnte, wo er glänzende Gesellschaften gab.

»Ich wünschte«, dachte Angélique, »ich wünschte von ganzem Herzen, dieser Mann würde eines Tags den Lohn für all seine Schurkereien ernten. Schließlich ist das Zeughaus nicht allzu weit von der Bastille entfernt.«

Endlich erkannte sie Desgray, der von der Zugbrücke her zwischen den Pfützen der Straße auf die Schenke zuschritt. Ihr Herz begann in unerklärlicher Beklommenheit zu klopfen.

Sein Verhalten und sein Gesichtsausdruck kamen ihr merkwürdig vor. Er bemühte sich zu lächeln, dann sprach er überstürzt und in einem Ton, der Angélique unecht erschien. Er sagte, es sei ihm ohne sonderliche Mühe gelungen, Monsieur de Peyrac zu sprechen, und der Gouverneur habe sie sogar eine Weile allein gelassen. Sie waren übereingekommen, daß Desgray die Verteidigung übernehmen sollte.

Zuerst hatte der Graf keinen Advokaten haben wollen und behauptete, wenn er darauf eingehe, bedeute das zugleich seine Zustimmung, vor ein gewöhnliches Gericht gestellt zu werden und nicht, wie er es verlange, vor den Gerichtshof des Parlaments. Er wolle sich selbst verteidigen. Aber nach kurzer Unterhaltung mit dem Advokaten hatte er dessen Mitwirkung zugestimmt.

»Ich wundere mich, daß ein so argwöhnischer Mensch wie er so rasch nachgegeben hat«, meinte Angélique. »Eigentlich hatte ich erwartet, Ihr würdet einen richtigen Kampf mit ihm ausfechten müssen.«

Der Advokat zog die Stirn in Falten, als litte er an heftigen Kopfschmerzen, und bat die Tochter des Wirts, ihm einen Schoppen Bier zu bringen.

Endlich sagte er in wunderlichem Ton:

»Euer Gatte hat allein beim Anblick Eurer Schriftzüge nachgegeben.«

»Er hat meinen Brief gelesen? Hat er sich über ihn gefreut?«

»Ich habe ihn ihm vorgelesen.«

»Warum hat er .«

Sie hielt inne und sagte dann mit tonloser Stimme:

»War er denn nicht fähig, selbst zu lesen? Weshalb? Ist er krank? Redet doch! Ich habe das Recht, es zu erfahren!«

Unbewußt hatte sie den jungen Mann beim Handgelenk gepackt und bohrte ihm die Nägel ins Fleisch.

Desgray wartete, bis das Mädchen, das ihm das Bier brachte, sich wieder entfernt hatte.

»Faßt Euch«, sagte er mit einem Mitgefühl, das nicht geheuchelt war, »es ist besser, Ihr erfahrt alles. Der Gouverneur der Bastille hat mir nicht verheimlicht, daß Graf Peyrac die Folter erlitten hat.«

Angélique wurde leichenblaß.

»Was hat man ihm angetan? Hat man ihm die abgezehrten Glieder gebrochen?«

»Nein, wohl haben ihn die Folterung mit den spanischen Stiefeln und das Stäupen sehr geschwächt, und seitdem kann er nur liegen. Aber das ist noch nicht das schlimmste. Er benutzte die Abwesenheit des Gouverneurs, um mir Einzelheiten über die Prüfung mitzuteilen, die der Mönch Becher mit ihm vorgenommen hat. Er versicherte, daß der Stift, dessen sich dieser dabei bediente, mit einer langen Nadel versehen war, die Becher ihm immer wieder tief ins Fleisch stieß. Von jähem Schmerz erfaßt, schrie er ein paarmal auf, was von den Zeugen ungünstig ausgelegt wurde. Was die besessene Nonne betrifft, so hat er sie nicht einwandfrei erkannt, da er halb ohnmächtig war.«

»Leidet er sehr? Ist er verzweifelt?«

»Er ist sehr gefaßt, obwohl er sich nach nahezu dreißig Verhören erschöpft fühlt.«

Nachdem er eine Weile nachdenklich vor sich hin gestarrt hatte, setzte Desgray hinzu:

»Darf ich es Euch gestehen? Im ersten Augenblick hat mich sein Anblick abgestoßen. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Ihr die Frau dieses Mannes seid. Als wir aber einige Worte miteinander gewechselt hatten und ich seinen leuchtenden Augen begegne-te, erkannte ich die Seelenverwandtschaft ... Oh, ich vergaß! Graf Peyrac hat mir etwas für seinen Sohn Florimond aufgetragen. Er läßt ihm sagen, daß er ihm bei seiner Rückkehr zwei kleine Spinnen mitbringen wird, die er das Tanzen gelehrt hat.«

»Puh! Ich hoffe, Florimond wird sie nicht anrühren«, sagte Angélique, die sich mühsam beherrschte, um nicht in Tränen auszubrechen.

»Jetzt sehen wir klarer«, sagte der R. P de Sancé nach Anhören des Berichts, den ihm der Advokat über seine letzten Schritte erstattet hatte. »Nach Eurer Ansicht, Maître, wird sich die Anklage auf den Vorwurf der Hexerei beschränken und auf das von dem Mönch Becher verfaßte Protokoll stützen?«

»Ich bin fest davon überzeugt, denn gewisse Behauptungen, die den Grafen Peyrac des Verrats am König zu beschuldigen suchten, haben sich als haltlos erwiesen. Notgedrungen kehrt man zur ursprünglichen Anschuldigung zurück: ein Hexenmeister ist es, den das Zivilgericht abzuurteilen gedenkt.«

»Trefflich. Man muß also einerseits die Richter davon überzeugen, daß bei den wissenschaftlichen Arbeiten, denen sich mein Schwager widmete, nicht Übernatürliches im Spiele war, und zu diesem Zweck wollt Ihr veranlassen, daß die Arbeiter vernommen werden, die er beschäftigte. Andererseits muß man die Wertlosigkeit des Exorzismus dartun, auf dem sie zu fußen gedachten.«

»Wir hätten gewonnenes Spiel, wenn die Richter, die alle sehr religiös sind, überzeugt werden könnten, daß es sich hier um einen Scheinexorzismus handelt.«

»Wir werden Euch behilflich sein, das zu beweisen.«

Raymond de Sancé schlug mit der Handfläche auf den Tisch des Sprechraums und wandte sein edel geformtes, blasses Gesicht dem Advokaten zu. Diese Bewegung und die halbgeschlossenen Augen - das war mit einem Male der auferstandene Großvater de Ridouët. Und Angélique spürte beglückt, wie der schützende Schatten von Monteloup sich über ihr bedrohtes Heim breitete.

»Denn da gibt es etwas, was Ihr nicht wißt, Herr Advokat«, sagte der Jesuit in bestimmtem Ton, »ebensowenig wie viele Kirchenfürsten in Frankreich, deren Wissen auf religiösem Gebiet freilich oft sehr viel geringer als das eines kleinen Landpfarrers ist. So wißt denn, daß es in Frankreich nur einen einzigen Mann gibt, der vom Papst autorisiert worden ist, die Fälle von Besessenheit und Manifestationen des Satans zu prüfen. Dieser Mann gehört dem Jesuitenorden an. Nur dank seines besonnenen Lebenswandels, seiner tiefschürfenden Studien hat er von Seiner Heiligkeit das furchtbare Privileg empfangen, mit dem Höllenfürsten von Angesicht zu Angesicht Zwiesprache zu pflegen. Maître Desgray, ich glaube, Ihr werdet die Richter weitgehend entwaffnen, wenn Ihr ihnen erklärt, daß einzig ein vom R. P Kircher, dem Großexorzisten von Frankreich, unterzeichnetes diesbezügliches Protokoll in den Augen der Kirche Gültigkeit besitzt.«

»Gewiß«, rief Desgray erregt aus, »ich gestehe, daß ich etwas Ähnliches geahnt habe. Dieser Mönch Becher hat jedoch eine infernalische Geschicklichkeit bewiesen, und es ist ihm gelungen, sich beim Kardinal de Gondi, dem Erzbischof von Paris, Glauben zu verschaffen. Aber ich werde diese schändliche Prozedur anprangern, ich werde die Priester anprangern, die durch eine gotteslästerliche Scheinhandlung versucht haben, die Kirche lächerlich zu machen.«

»Wollet Euch einen Augenblick gedulden«, sagte der Pater de Sancé und stand auf. Gleich darauf kam er in Begleitung eines anderen Jesuiten zurück, den er als den Pater Kircher vorstellte.

Angélique war sehr beeindruckt von der Begegnung mit dem Großexorzisten von Frankreich. Sie wußte eigentlich nicht, was sie sich unter ihm vorgestellt hatte, auf jeden Fall aber keinen Mann von so bescheidenem Aussehen. Ohne die schwarze Soutane und das kupferne Kreuz auf der Brust hätte man diesen großen schweigsamen Jesuiten gut und gern für einen friedlichen Bauern gehalten und nicht für

jemanden, der mit dem Teufel umzugehen pflegte.

Angélique spürte, daß auch Desgray seiner angeborenen Skepsis zum Trotz von der Persönlichkeit des Neuankömmlings gefesselt wurde.

Raymond erklärte, er habe Pater Kircher bereits über die Angelegenheit orientiert, und teilte ihm die neuesten Ereignisse mit.

Der Großexorzist hörte mit beruhigendem Lächeln zu. »Die Sache erscheint mir sehr einfach«, sagte er schließlich. »Ich muß meinerseits einen vorschriftsmäßigen Exorzismus durchführen. Das Protokoll, das Ihr dann vor Gericht verlesen und durch meine Aussagen stützen werdet, dürfte das Gewissen jener Herren zweifellos in einen heiklen Konflikt bringen.«

»So einfach ist es nun wieder nicht«, bemerkte Desgray, während er sich nachdenklich den Kopf kratzte. »Euch Eintritt in die Bastille zu verschaffen, selbst in der Eigenschaft des Gefängnisgeistlichen, scheint mir bei diesem scharf bewachten Gefangenen ein aussichtsloses Unterfangen zu sein .«

»Um so mehr, als wir zu dritt sein müssen.«

»Warum das?«

»Der Leibhaftige ist ein zu durchtriebenes Wesen, als daß ein einziger Mensch, und sei er auch mit Gebeten gewappnet, ihn ungefährdet herausfordern könnte. Um mit einem Manne zu reden, der Umgang mit dem Teufel pflegt, bedarf es zumindest des Beistands meiner beiden gewohnten Akoluthen.«

»Aber mein Gatte pflegt gar keinen Umgang mit dem Teufel«, protestierte Angélique.

Rasch bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen, um ein krampfhaftes Lachen zu verbergen, das sie plötzlich überkam. Bei der Behauptung, ihr Gatte verkehre mit dem Teufel, stellte sie sich Joffrey vor, wie er vor einem Ladentisch stand und vertraulich mit einem gehörnten und grinsenden Teufel plauderte. Ach, wären sie doch endlich wieder daheim in Toulouse vereinigt

- wie würden sie dann über solche Torheiten lachen! Sie malte sich aus, wie sie auf Joffreys Knien sitzen und ihr Gesicht in Joffreys dichtem, duftendem Haar bergen würde, während seine wunderbaren Hände in endlosen Liebkosungen aufs neue von dem Körper Besitz nahmen, den er so liebte.

Ihr unangebrachtes Lachen endete in einem kurzen Aufschluchzen.

»Faß dich, meine liebe Schwester«, sagte Raymond sanft. »Die Geburt Christi heißt uns hoffen: Friede den Menschen, die guten Willens sind.«

Doch dieses Schwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung zermürbte die junge Frau. Wenn sie sich die letzte Weihnacht in Toulouse vergegenwärtigte, wurde sie im Gedanken an den zurückgelegten Weg mit Entsetzen gepackt.

Hätte sie es sich ein Jahr zuvor träumen lassen, daß sie diesen Heiligabend, an dem die Glocken von Paris unter dem grauen Himmel tönten, am armseligen Herd einer Mutter Cordeau verbringen würde? Neben der Alten, die ihre Wolle spann, und dem Henkerlehrling, der harmlos mit dem kleinen Florimond spielte, empfand sie kein anderes Bedürfnis, als ihre Hände zum Feuer auszustrek-ken. Neben ihr, auf derselben Bank, ließ die Witwe Scarron, ebenso jung, ebenso schön, ebenso arm und verlassen wie sie, auf ihrem geflickten Kleid die Perlen ihres Rosenkranzes durch die Finger gleiten, und zuweilen schob sie sanft den Arm um Angéliques Taille und schmiegte sich an sie, in dem fröstelnden Verlangen nach der körperlichen Wärme eines anderen Menschenwesens. - Der alte Modewarenhändler hatte sich gleichfalls an das einzige Feuer des ärmlichen Häuschens geflüchtet und schlummerte in seinem Polsterstuhl, den er heruntergeschafft hatte. Er murmelte im Schlaf und rechnete Zahlen zusammen, auf der hartnäckigen Suche nach den Gründen seines Bankrotts.

Als ihn das Knistern eines Holzscheits weckte, lächelte er und rief bemüht heiter aus:

»Wir wollen nicht vergessen, daß Jesus zur Welt kommen wird. Die ganze Welt ist fröhlich. Laßt uns ein kleines Weihnachtslied singen!«

Und zu Florimonds großem Vergnügen stimmte er mit zittriger Stimme ein Liedchen an. Doch schon nach den ersten Takten klopfte jemand an die Tür. Ein dunkler Schatten wurde sichtbar, der Corde-au-cou ein paar Worte zuflüsterte.

»Es ist für Madame Angélique«, sagte der Junge.

Im Glauben, Desgray vorzufinden, trat sie hinaus und sah im Vorraum einen gestiefelten, in einen weiten Umhang gehüllten Reitersmann, dessen tief in die Stirn gezogener Hut das Gesicht verbarg.

»Ich komme, um Abschied von dir zu nehmen, liebe Schwester.«

Es war Raymond.

»Wohin reist du?« fragte sie verwundert.

»Nach Rom ... Ich kann dir keine Einzelheiten über den Auftrag sagen, der mir erteilt worden ist, aber morgen schon wird alle Welt wissen, daß die Beziehungen zwischen der Französischen Botschaft und dem Vatikan sich verschlechtert haben. Der Botschafter hat es abgelehnt, den Anweisungen des Heiligen Vaters Folge zu leisten, die besagten, daß nur das Personal der diplomatischen Vertretungen zum Bereich der Botschaften Zugang haben sollte. Und Ludwig XIV. hat erklären lassen, er werde jeden Versuch, ihm einen fremden Willen aufzuzwingen, mit der Waffe beantworten. Wir stehen am Vorabend eines Bruchs zwischen der Kirche von Frankreich und dem Papsttum. Eine solche Katastrophe muß um jeden Preis vermieden werden. Ich muß mit verhängten Zügeln nach Rom reiten, um zu versuchen, einen Ausgleich herzustellen und die Gemüter zu besänftigen.«

»Du reist!« wiederholte sie niedergeschlagen. »Auch du läßt mich im Stich? Und der Brief für Joffrey?«

»Ach, mein liebes Kind, ich fürchte sehr, unter den gegebenen Umständen wird jegliches Ersuchen des Papstes von unserm Monarchen übel aufgenommen werden. Aber du kannst dich darauf verlassen, daß ich mich während meines Aufenthalts in Rom um deine Angelegenheit kümmern werde. Komm, hier hast du etwas Geld. Und dann hör zu: ich habe Desgray vor einer knappen Stunde gesprochen. Dein Gatte ist in das Gefängnis des Justizpalasts gebracht worden.«

»Was bedeutet das?«

»Daß sein Fall bald verhandelt werden wird. Aber das ist noch nicht alles. Desgray setzt alle Hebel in Bewegung, um zu bewirken, daß Pater Kircher und seine Akoluthen vorgelassen werden. Heute nacht wollen sie sich einschmuggeln und bis zu dem Gefangenen vordringen. Ich zweifle nicht, daß die Probe von entscheidender Bedeutung sein wird. Hab Vertrauen!«

Sie hörte ihm beklommenen Herzens zu, unfähig, neue Hoffnung zu schöpfen.

Der Geistliche nahm die junge Frau bei den Schultern, drückte sie an sich und küßte brüderlich ihre kalten Wangen.

»Hab Vertrauen, liebe Schwester«, wiederholte er.

Dann lauschte sie den vom Schnee gedämpften Hufschlägen zweier Pferde, die sich in Richtung des Torturms entfernten. Durch die Porte Saint-Antoine würden sie die Straße nach Lyon erreichen und mit verhängten Zügeln den Alpen, dann Italien zustreben.

Ein Schauer überlief Angélique. In dieser Nacht noch, während die Weihnachtsglocken läuteten und die Orgeln von Notre-Dame und der anderen Kirchen ihre fröhlich brausenden Fluten über die Pelze vermummter Fürstlichkeiten ergossen, würden drei Männer in das grausige Dunkel eines Verlieses schleichen, um dort den Teufel herauszufordern.

Stumm befestigte sie die Börse, die Raymond ihr zugeschoben hatte, an ihrem Gürtel, kehrte auf ihren Platz neben Madame Scarron zurück und versuchte zu beten.

Der Advokat Desgray bewohnte auf dem Petit-Pont, der die Cité mit dem Universitätsviertel verbindet, eines jener schmalen, alten Häuser mit spitzem Dach, deren Fundamente seit Jahrhunderten von der Seine bespült werden und die all den Überschwemmungen zum Trotz noch immer standhalten.

Da Angélique ihre Ungeduld nicht mehr beherrschen konnte, suchte sie ihn schließlich auf, obwohl er ihr geraten hatte, den Temple-Bezirk sowenig wie möglich zu verlassen. Sie hatte seine Adresse vom Wirt der »Drei Mohren« bekommen. Seit Raymonds Abreise hatte sie den jungen Mann nicht mehr gesehen und auch keine Nachricht von ihm erhalten. Die Jesuiten empfingen sie freundlich, aber auch sie wußten nichts oder wollten nichts sagen. Pater Kircher war unauffindbar, und man gab ihr zu verstehen, daß der Großexorzist nicht dauernd belästigt werden dürfe. So machte sie sich, nachdem sie eine Maske aufgesetzt und sich in ihren Umhang gehüllt hatte, endlich auf die Suche nach dem Advokaten.

An dem Ort angekommen, den man ihr bezeichnet hatte, zögerte sie einen Augenblick. Wirklich, dieses Haus paßte zu Desgray: ärmlich, verkommen und ein ganz klein wenig arrogant.

Der Schatten der Gefängnismauern des Kleinen Châtelet, in dem die randalierenden Studenten eingesperrt zu werden pflegten, fiel auf seine verwahrloste Fassade. Im Erdgeschoß beschützte eine von alten Skulpturen umgebene Statue des heiligen Nikolas den Laden eines Wachsziehers. Bei ihm kauften die Beter der nahe gelegenen Kathedrale von Notre-Dame ihre Weihkerzen ein.

Der Wachszieher gab der jungen Frau Auskunft: der »Unglückskanzlist« wohne im obersten Stockwerk. Das sei eben gut genug für ein übles Individuum, das sich mit dem Hinweis auf seinen blutdürstigen Hund weigere, Miete zu zahlen, und für einen verkommenen Trunkenbold, der in alles seine Nase stecke und die ehrlichen Leute nicht in Frieden lasse. Ganz bestimmt werde man ihn eines Tages in der Seine wiederfinden, und - beim heiligen Nikolaus! - alle Welt werde sich geradezu darum reißen, ihn dort hineinzuwerfen.

Nicht ganz unberührt durch diese Schmähungen kletterte Angélique die Wendeltreppe hinauf, deren morsches Holzgeländer mit seltsamen grinsenden Skulpturen verziert war. Im obersten Stockwerk gab es nur eine Tür. Da sie an der Schwelle den Hund Sorbonne schnuppern hörte, klopfte sie. Ein üppiges Frauenzimmer mit geschminktem Gesicht und einem Halstuch, das den ausladenden Busen nur mangelhaft verhüllte, öffnete ihr.

Angélique zuckte zurück. Auf dergleichen war sie nicht gefaßt gewesen.

»Was willst du?« fragte die andere.

»Wohnt hier Maître Desgray?«

Jemand rührte sich im Innern des Raums, und der Advokat erschien, einen Federkiel in der Hand.

»Tretet ein, Madame«, sagte er in ungezwungenem Ton.

Ohne viel Umstände schob er das Mädchen hinaus und schloß die Tür.

»Könnt Ihr Euch denn gar nicht gedulden?« brummte er vorwurfsvoll. »Müßt Ihr mich bis in meinen Bau verfolgen, auf die Gefahr hin, einen Kopf kürzer gemacht zu werden .?«

»Ich bin ohne Nachricht seit .«

»Seit sechs Tagen erst.«

»Was ist das Ergebnis des Exorzismus?«

»Setzt Euch dorthin«, sagte Desgray erbarmungslos, »und laßt mich fertigschreiben, was ich gerade unter der Feder habe. Hinterher können wir uns unterhalten.«

Sie ließ sich auf der Sitzgelegenheit nieder, die er ihr anwies und die nichts anderes war als ein vermutlich zur Aufbewahrung seiner Kleidung dienender Kasten. Angélique schaute sich um und stellte fest, daß sie noch nie ein so erbärmlich eingerichtetes Zimmer gesehen hatte. Das Tageslicht drang nur durch ein kleines Butzenscheibenfenster herein. Ein kümmerliches Kaminfeuer vermochte die vom Fluß heraufdringende Feuchtigkeit nicht zu vertreiben. In einem Winkel des Raums waren auf dem Fußboden Bücher aufgestapelt. Desgray besaß nicht einmal einen Tisch. Er hockte auf einem Schemel und benützte ein Brett, das er über seine Knie gelegt hatte, als Schreibunterlage. Sein Schreibzeug stand neben ihm auf der Erde.

Das einzige größere Möbelstück war das Bett, dessen Vorhänge aus blauem Köper ebenso wie die Decken völlig durchlöchert waren. Immerhin wies es weiße, saubere Bezüge auf. Unwillkürlich kehrte Angéliques Blick immer wieder zu diesem zerwühlten Bett zurück, dessen Unordnung eindeutig die Szene verriet, die sich wenige Augenblicke zuvor zwischen dem Advokaten und dem so hurtig verabschiedeten Mädchen abgespielt haben mußte. Die junge Frau fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Die vergangene, im Wechsel von Hoffen und Bangen verbrachte Zeit der Enthaltsamkeit, die ihre Nerven zermürbt hatte, machte sie empfänglich für derlei Vorstellungen.

Sie verspürte das heftige Bedürfnis, sich an eine männliche Schulter zu schmiegen und in einer fordernden, ein wenig brutalen Umarmung alles zu vergessen, einer Umarmung, wie sie vermutlich diesem Burschen zuzutrauen war, dessen krächzende Federzüge die Stille durchbrachen.

Sie betrachtete ihn. Absorbiert runzelte er die Stirn und bewegte seine schwarzen Augenbrauen in der Bemühung des Nachdenkens.

Sie schämte sich ein bißchen, und um ihre Verwirrung zu verbergen, streichelte sie mechanisch den großen Kopf der Dogge, den diese ergeben auf ihre Knie gelegt hatte.

»Uff!« stöhnte Desgray, indem er aufstand und sich reckte. »Nie in meinem Leben habe ich so viel von Gott und der Kirche geredet. Wißt Ihr, was diese Blätter darstellen, die da auf meinem Fußboden verstreut liegen?«

»Nein.«

»Die Verteidigungsrede des Advokaten Desgray, die er in dem Prozeß des der Hexerei angeklagten Seigneur de Peyrac halten wird, einem Prozeß, der im Justizpalast am 20. Januar 1661 zur Verhandlung kommt.«

»Das Datum ist festgesetzt?« rief Angélique erblassend aus. »Oh, ich muß unbedingt dabeisein! Verkleidet mich als Gerichtsbeamten oder als Mönch. Freilich, ich bin in andern Umständen«, meinte sie und schaute verdrießlich an sich herab, »aber es ist kaum zu sehen. Madame Cordeau versichert, ich würde ein Mädchen bekommen, weil ich das Kindchen sehr hoch trage. Nun, dann hält man mich eben für einen Kanzlisten, der gern gut ißt und trinkt .«

Desgray mußte lachen.

»Ich fürchte fast, der Betrug wird ein bißchen zu augenfällig sein. Aber ich weiß etwas Besseres. Es werden einige Nonnen als Zuhörerinnen zugelassen werden. Ihr könnt Euch mit Haube und Skapulier unkenntlich machen.«

»Tja, wird da nicht durch meine Leibesfülle der gute Ruf der Nonnen beeinträchtigt werden?«

»Pah! Unter einem weiten Ordenskleid und einem Umhang ist das nicht zu erkennen. Aber ich kann mich doch darauf verlassen, daß Ihr kaltes Blut bewahrt?«

»Ich verspreche Euch, daß ich die zurückhaltendste aller Zuhörerinnen sein werde.«

»Es wird nicht leicht sein«, meinte Desgray. »Ich kann absolut nicht voraussehen, welchen Verlauf die Dinge nehmen werden. Jedes Tribunal hat das eine Gute, daß es für eine sensationelle Zeugenaussage empfänglich ist, die vor ihm gemacht wird. Ich halte daher die praktische Demonstration der Goldgewinnung in Reserve, um die Anschuldigung der Alchimie ad absurdum zu führen, und vor allem das Protokoll des Paters Kircher, des einzigen von der Kirche beauftragten Exorzisten, der erklären wird, daß bei Eurem Gatten keine Anzeichen von Besessenheit zu erkennen sind.«

»Ich danke dir, Gott!« flüsterte Angélique. War ihre Leidenszeit nun endlich vorüber? »Wir werden doch gewinnen, nicht wahr?«

Er machte eine zweifelnde Geste.

»Ich habe diesen Fritz Hauer gesprochen, den Ihr rufen ließt«, fuhr er nach einer Pause fort. »Er ist mit all seinen Kasserollen und Retorten angekommen. Höchst eindrucksvoll, dieser gute Mann! Schade. Nun ja! Ich verberge ihn im Kloster der Kartäuser in der Vorstadt Saint-Jacques. Der Unterstützung des Mohren, mit dem ich in Verbindung treten konnte, indem ich mich in der Maske eines Essighändlers in die Tuilerien schlich, sind wir ebenfalls sicher. Sprecht vor allem zu niemand von meinem Plan. Vielleicht steht dabei das Leben dieser armen Leute auf dem Spiel. Und das Gelingen hängt von den paar Demonstrationen ab.«

Die Ermahnung kam der unglücklichen Angélique absolut überflüssig vor.

»Ich bringe Euch nach Hause«, sagte der Advokat. »Paris ist allzu gefährlich für Euch. Verlaßt den Temple-Bezirk vor dem Morgen des Prozesses nicht mehr. Eine Nonne wird Euch Kleider bringen und Euch zum Justizpalast begleiten. Ich möchte Euch darauf vorbereiten, daß diese ehrwürdige Dame sich nicht durch Liebenswürdigkeit auszeichnet. Sie ist meine älteste Schwester. Sie hat mich aufgezogen und ist ins Kloster eingetreten, als sie sah, daß ihre kräftigen jüngferlichen Rutenschläge mich nicht daran gehindert hatten, vom rechten Wege abzuweichen. Sie betet für die Vergebung meiner Sünden. Kurz, sie würde alles für mich tun. Ihr könnt volles Vertrauen zu ihr haben.«

Auf der Straße nahm Desgray Angéliques Arm. Sie ließ es geschehen und war glücklich über diese Stütze.

Als sie am Ende der Brücke anlangten, blieb Sorbonne plötzlich stehen und spitzte die Ohren. Ein paar Schritte entfernt lehnte ein großer, zerlumpter Bursche in herausfordernder Haltung und schien sie zu erwarten. Unter dem verblichenen, mit einer

Feder besteckten Hut erkannte man nur undeutlich sein Gesicht, das durch eine violette Geschwulst gezeichnet war. Das eine Auge wurde von einer schwarzen Binde verdeckt. Der Mann lächelte.

Sorbonne stürzte auf ihn los. Der Bettler sprang mit akrobatischer Gelenkigkeit zur Seite und schlüpfte unter den Bogen eines der Häuser des Petit-Pont. Der Hund hetzte hinter ihm her. Gleich darauf war ein klatschendes Geräusch zu vernehmen.

»Verdammter Calembredaine«, knurrte Desgray. »Er ist trotz des Treibeises in die Seine gesprungen, und ich wette, er ist in diesem Augenblick im Begriff, sich im Pfahlwerk zu verkrümeln. Er hat richtige Rattenlöcher unter allen Brücken von Paris. Er ist einer der verwegensten Banditen der Stadt.«

Sorbonne kehrte mit hängenden Ohren zurück.

Angélique versuchte ihr Entsetzen zu beherrschen, aber sie konnte sich einer beklemmenden Ahnung nicht erwehren. Es wollte ihr scheinen, als sei dieser Halunke, der sich ihr da in den Weg gestellt hatte, das Symbol einer grauenvollen Zukunft.

Es begann eben zu tagen, als Angélique in Begleitung der Nonne den Pont-au-Change überschritt und die Cité-Insel betrat.

Es war bitterkalt. Die Seine führte dicke Eisbrocken mit sich, die an den Pfeilern der alten Holzbrücken zerbarsten. Der Schnee bedeckte die Dächer, säumte die Gesimse der Häuser und schmückte wie ein Frühlingszweig die Turmspitze der Sainte-Chapelle, die inmitten der kompakten Masse des Justizpalastes aufragte.

Von der großen Uhr des Eckturms schlug es siebenmal. Ihr kostbares Zifferblatt auf blauem Grund war zur Zeit Heinrichs III. eine verblüffende Neuerung gewesen. Die Turmuhr war das Juwel des Palastes. Ihre Figuren aus buntem Ton, die Taube, die den Heiligen Geist darstellt und mit ihren Flügeln Frömmigkeit und Gerechtigkeit beschützte, leuchteten im grauen Morgen in all ihrer Farbenpracht.

Aber wie trüb und düster war alles andere in diesem Bezirk! Angélique betrachtete mit Grausen die mächtigen Türme, deren Helme mit den rostigen Wetterfahnen sich dunkelleuchtend vom verhangenen Himmel abhoben. Am Fuß der Mauern klebten die Buden der Wechsler, der Schreiber, der Papier-und Federkielhändler wie eine Muschelkolonie an einer Klippe.

Dem Pont-Neuf benachbart, war der Palast mit ihm durch ein Dreieck hoher Gebäude aus rotem Backstein verbunden, die die Place Dauphine einrahmten. Heinrich IV. hatte sie für gutsituierte Kläger und Beamte errichten lassen.

Der ganze Komplex war nicht nur die Hochburg der Rechtsprechung, er war auch der Tempel der Buch- und Neuigkeitenhändler. Vom Palast und seinen Geheimdruckereien ging so manches Pamphlet, so manches Spottlied aus, das das Volk von Paris dem König und seinen Fürsten in die Ohren schrie. In der Galerie des Palastes wurde das anspruchsvolle Buch verkauft, die Blüte des französischen Geistes. Auf dem Pont-Neuf die Schurkerei und die Beleidigung.

In den Palast kamen die hübschen Herrchen, die man »Maiglöckchen« nannte, und die schönen Damen, die »Preziösen«. Mit zierlichen Schritten bewegten sie sich durch die berühmte Galerie, in der sich die Rufe der Spitzen- und Fächerverkäuferinnen mit dem Geschrei der Kanzlisten und den Unterhaltungen der Advokaten mischten.

Nachdem Angélique und ihre Begleiterin den großen Hof überquert hatten und eine lange Treppe hinaufgestiegen waren, wurden sie von einem Beamten angesprochen, in dem Angélique verblüfft den Advokaten Desgray erkannte. Sie fühlte sich eingeschüchtert angesichts einer weiten, schwarzen Robe, seines makellosen Kragens, seiner Perücke mit den weißen Rollen unter der viereckigen Mütze. Er hielt einen nagelneuen Prozeßsack in der Hand, der mit Akten vollgestopft zu sein schien. Sehr ernst berichtete er, er habe soeben den Häftling im Gefängnis des Justizpalastes besucht.

»Weiß er, daß ich im Saal sein werde?« fragte Angélique.

»Nein! Es würde ihn zu sehr erregen. Und Ihr ...? Ihr versprecht mir, ruhiges Blut zu bewahren?«

»Ich verspreche es Euch.«

»Er ist ... er ist sehr mitgenommen«, sagte Desgray in schmerzlichem Ton. »Man hat ihn grauenhaft gefoltert, was vielleicht dazu führt, daß so offenbare Übergriffe der dunklen Hintermänner dieses Prozesses doch die Richter beeindrucken. Ihr werdet stark sein, was auch geschehen mag?«

Angélique nickte beklommenen Herzens.

Am Eingang des Saales verlangen Leibgardisten des Königs die unterschriebenen Einlaßkarten zu sehen.

Angélique war kaum überrascht, als die Nonne eine solche vorzeigte, wobei sie murmelte: »Dienst Seiner Eminenz des Kardinals Mazarin!«

Ein Gerichtsdiener nahm sich daraufhin ihrer an und führte sie in den Saal zu etwas abseits gelegenen Plätzen, von denen aus man jedoch alles sehen und hören konnte, und Angélique stellte überrascht fest, daß sie sich in Gesellschaft zahlreicher Nonnen der verschiedensten Orden befand, die ein hoher Geistlicher insgeheim zu überwachen schien. Angélique fragte sich, was diese Nonnen in einem Prozeß zu schaffen haben mochten, bei dem es um Alchimie und Hexerei ging.

Der Saal, der zu einem der ältesten Teile des Justizpalastes zu gehören schien, zeichnete sich durch hohe Spitzbogengewölbe aus, von denen reichgeschnitzter Deckenzierat herabhing. Infolge der Butzenscheibenfenster herrschte ein trübes Halbdunkel, und ein paar Leuchter trugen zu der unheimlichen Stimmung noch das Ihrige bei. Zwei oder drei mächtige Kachelöfen verbreiteten ein wenig Wärme.

Angélique bedauerte, den Advokaten nicht gefragt zu haben, ob es ihm gelungen sei, Kouassi-Ba und den alten sächsischen Bergmann zu verständigen.

Vergeblich hielt sie in der Menge nach bekannten Gesichtern Ausschau. Noch waren weder der Advokat noch der Gefangene oder die Geschworenen anwesend. Gleichwohl war der Saal besetzt, und viele Leute drängten sich trotz der frühen Stunde in den Gängen. Es ließ sich erkennen, daß manche wie zu einer Theatervorstellung gekommen waren oder vielmehr zu einer Art öffentlichen juristischen Kollegs, denn der größte Teil der Zuschauer bestand aus angehenden Richtern.

Vor ihr saß eine besonders lebhafte Gruppe und gab mit gedämpfter Stimme Kommentare, die offenbar ein noch unerfahrenes Auditorium informieren sollten.

»Worauf wartet man eigentlich?« verlangte ungeduldig ein junger Beamter mit übermäßig gepudertem Haar zu wissen.

Sein Nachbar, dessen breites, finniges Gesicht in einem Pelzkragen steckte, erwiderte gähnend:

»Man wartet darauf, daß die Saaltüren geschlossen werden und der Angeklagte hereingeführt und auf das Sünderstühlchen gesetzt wird.«

»Das Sünderstühlchen ist wohl die einzelstehende Bank dort drunten, die nicht einmal eine Lehne hat?«

Ein Kanzlist mit schmierigen Haaren drehte sich höhnisch lächelnd zu der Gruppe um und versetzte:

»Ihr verlangt doch wohl nicht, daß man für einen Gehilfen des Teufels einen Sessel bereitstellt?«

»Ein Hexenmeister soll ja angeblich auf einer Nadel oder einer Flamme stehen können«, sagte der gepuderte Advokat.

»Soviel wird man von ihm nicht verlangen, aber er wird auf jenem Schemel unter einem Kruzifix knien müssen.«

»Das ist noch viel zu luxuriös für solche Ungeheuer!« rief der Kanzlist mit den schmutzigen Haaren.

Angélique erschauerte. Wenn die allgemeine Stimmung der Menge schon so voreingenommen und feindselig war, was hatte man da erst von den vom König und seinen servilen Sbirren ausgesuchten Richtern zu erwarten?

Aber die ernste Stimme des Mannes im Pelzkragen erhob sich von neuem:

»Für mich ist das ein albernes Possenspiel. Dieser Mann ist nicht mehr Hexenmeister als Ihr oder ich. Wahrscheinlich hat er irgendeine wüste Intrige der hohen Herrn durchkreuzt, die nun einen legalen Vorwand brauchen, um ihn aus dem Wege zu räumen.«

Angélique beugte sich ein wenig vor, um das Gesicht des Sprechers erkennen zu können, der so unverblümt eine gefährliche Ansicht zu äußern wagte. Sie hätte ihn gern nach seinem Namen gefragt. Ihre Gefährtin berührte jedoch leicht ihre Hand, um sie zu größerer Zurückhaltung zu mahnen.

Der Nachbar des Mannes mit dem Pelzkragen flüsterte, nachdem er sich umgeschaut hatte:

»Ich meinte, die Edelleute hätten es nicht nötig, einen Prozeß anzustrengen, wenn sie jemanden aus dem Weg räumen wollten.«

»Man muß eben das Volk zufriedenstellen und von Zeit zu Zeit beweisen, daß der König auch einmal einen Mächtigen straft.«

»Wenn Eure Hypothese zuträfe, Maître Gallemand, daß man nämlich das Sühneverlangen des Volks befriedigen wolle, wie Nero es einstens tat, dann hätte man eine große öffentliche Sitzung anberaumt und nicht die Öffentlichkeit ausgeschlossen«, meinte der andere.

»Man merkt, daß du in diesem verdammten Handwerk noch ein blutiger Anfänger bist«, versetzte der berühmte Advokat, von dem Desgray gesagt hatte, daß seine Einfälle das Gericht erzittern ließen. »Bei öffentlicher Sitzung riskiert man das Aufbegehren des Volks, das sentimental und gar nicht so dumm ist, wie man meint. Nun, der König ist in Verfahrensdingen an sich schon gewitzt und fürchtet obendrein, die Dinge könnten einen ähnlichen Verlauf wie in England nehmen, wo das Volk nicht davor zurückschreckte, den Kopf eines Königs auf den Block zu legen. Bei uns bringt man diejenigen, die eine eigene oder unbequeme Meinung haben, auf sanfte und geräuschlose Weise zum Schweigen. Danach erst wirft man ihr noch zuckendes Gerippe den niedersten Instinkten des Gesindels zum Fraß vor. Dann beschuldigt man den Pöbel der Bestialität, die Priester reden von der Notwendigkeit, seine üblen Gelüste zu zähmen, und, wohlgemerkt, vorher und nachher wird eine Messe gelesen.«

»Die Kirche ist an diesen Übergriffen unschuldig«, protestierte ein nahebei sitzender Geistlicher, indem er sich den Wortführern zuwandte. »Ich möchte feststellen, Ihr Herren, daß heutzutage allzuoft Laien in Unkenntnis des kanonischen Rechts sich anmaßen, das göttliche Recht umzubiegen. Und ich glaube Euch versichern zu können, daß die Mehrzahl der hier anwesenden Mönche tief beunruhigt ist über die Eingriffe der weltlichen Macht in die kirchliche Sphäre.«

»Aber die Kirche ihrerseits darf die Einheit des französischen Staats nicht untergraben, deren Verteidiger der König ist«, mischte sich ein alter Herr rechthaberisch ein.

Die Leute sahen sich nach ihm um und mochten sich fragen, was er wohl hier tat. In den meisten stieg leiser Argwohn auf, und sie wandten sich ab; sie bereuten offensichtlich, sich vor einem Manne geäußert zu haben, der vielleicht ein Spitzel seiner Majestät war.

Nur Maître Gallemand versetzte, nachdem er ihn fixiert hatte:

»Nun, so verfolgt aufmerksam diesen Prozeß, Monsieur. Ihr werdet hier zweifellos ein kleines Abbild jenes großen Konflikts sehen, der bereits zwischen dem König und der römischen Kirche besteht.«

Plötzlich erstarrte das Amphitheater in lautloser Stille. Angélique stockte das Herz. Sie hatte Joffrey erblickt.

Auf zwei Stöcke gestützt, kam er mühsam humpelnd herein, und bei jedem Schritt hatte man das Gefühl, er werde das Gleichgewicht verlieren.

Er erschien ihr zugleich sehr groß und sehr gebeugt, grauenhaft abgemagert. Sie war zutiefst betroffen. Nach den langen Monaten der Trennung, in denen die Umrisse dieser einmaligen Gestalt sich in ihrer Erinnerung verwischt hatten, sah sie ihn jetzt mit den Augen der Menge wieder, und entsetzt erkannte sie die Veränderungen, die mit ihm vorgegangen waren. Sein üppiges schwarzes Haar, das ein verwüstetes, gespensterhaft bleiches Gesicht umrahmte, in dem die Narben rote Furchen bildeten, die abgenutzte Kleidung, die gespenstige Magerkeit, all das verfehlte seine Wirkung auf die Menge nicht.

Als er den Kopf hob und seine schwarzen, funkelnden Augen in einer Art spöttischer Überlegenheit durch das Halbrund wanderten, da schwand das Mitleid, das manche angerührt hatte, und ein feindseliges Gemurmel erhob sich im Saal. Dieser Anblick übertraf alle Erwartungen. Das war tatsächlich ein echter Hexenmeister!

Von den Wächtern eingerahmt, blieb Graf Peyrac vor dem Sünderstühlchen stehen, auf dem er nicht niederknien konnte.

In diesem Augenblick erschienen einige zwanzig bewaffnete Gardisten und verteilten sich über den riesigen Saal. Die Verhandlung sollte beginnen.

Eine Stimme verkündete:

»Ihr Herren, das hohe Gericht!«

Die Zuhörerschaft erhob sich, und aus der Tür im Hintergrund traten hellebardenbewehrte Gerichtsdiener im Kostüm des 16. Jahrhunderts mit Halskrause und Federbarett. Ihnen folgte eine Prozession von Richtern in Robe, Hermelinkragen und viereckigen Mützen.

Der die kleine Schar Anführende war ziemlich bejahrt, ganz in Schwarz gekleidet, und Angélique erkannte in ihm nur mit Mühe den Kanzler Séguier wieder, den sie in so prächtiger Aufmachung beim festlichen Einzug des Königs gesehen hatte. Der ihm Folgende war groß, hager und trug ein rotes Amtskleid. Danach kamen sechs Männer in Schwarz. Einer vor ihnen trug eine rote Mantille. Es war der Sieur Masseneau, Präsident des Parlaments von Toulouse, strenger gekleidet als bei der Begegnung auf der Straße von Salsigne.

Vor ihr erläuterte Maître Gallemand mit gedämpf-ter Stimme:

»Der Alte in Schwarz, der vorangeht, ist der erste Präsident des Gerichtshofs, Séguier. Der Mann in Rot ist Denis Talon, Generaladvokat der Königlichen Kammer und Hauptankläger. Die rote Mantille gehört Masseneau, einem Parlamentarier aus Toulouse, der für diesen Prozeß zum Vorsitzenden ernannt worden ist. Unter den übrigen befindet sich - der jüngste dort

- der Staatsanwalt Fallot, der sich Baron Sancé nennt und sich bei Hofe dadurch beliebt machen möchte, daß er über den Angeklagten zu Gericht sitzt, der ein angeheirateter Verwandter von ihm sein soll.«

»Wie bei Corneille«, bemerkte der Gelbschnabel mit den gepuderten Haaren.

»Freund, ich sehe, daß du dich wie all die flatterhaften jungen Leute deiner Generation zu diesen Theatervorstellungen begibst, denen kein Jurist beiwohnen würde, der etwas auf sich hält. Aber glaub mir, die schönste aller Komödien wirst du heute erleben.«

Im allgemeinen Lärm konnte Angélique nichts weiter verstehen. Sie hätte gern gewußt, wer die übrigen Geschworenen waren. Aber schließlich kam es darauf nicht an, denn außer Masseneau und Fallot waren sie ihr alle fremd.

Wo blieb ihr Advokat?

Sie sah ihn durch dieselbe Tür in der Rückwand eintreten, die schon die Geschworenen benutzt hatten. Einige ihr unbekannte Ordensgeistliche folgten ihm, von denen die meisten der ersten Zuschauerreihe zustrebten, wo man ihnen offensichtlich Plätze reserviert hatte.

Angélique wurde unruhig, als sie Pater Kircher nicht entdeckte. Aber auch der Mönch Becher war nicht anwesend, und die junge Frau atmete erleichtert auf.

Endlich herrschte vollkommene Stille. Einer der Geistlichen sprach ein Segensgebet, dann hielt er dem Angeklagten das Kreuz entgegen, der es küßte und sich bekreuzigte.

Angesichts dieser unterwürfigen und frommen Geste durchlief eine Woge der Enttäuschung den Saal. Würde man um die erwarteten Zauberkunststücke betrogen werden und lediglich dem Aushandeln eines Streits unter Edelleuten beiwohnen?

Eine scharfe Stimme rief:

»Zeigt uns die Taten Luzifers!«

Eine Bewegung ging durch die Reihen. Die Wachen stürzten sich auf den unehrerbietigen Zuschauer, packten ihn und führten ihn samt einiger seiner Kollegen sofort hinaus.

Dann wurde es wieder still.

»Angeklagter, leistet den Eid!« sagte der Präsident Séguier und glättete dabei ein Schriftstück, das ein kleiner Kanzlist ihm kniend reichte.

Angélique schloß die Augen. Nun würde er reden. Sie erwartete, eine gebrochene, schwache Stimme zu vernehmen, und zweifellos erwartete jeder der Zuschauer das gleiche, denn als die volle und reine Stimme erklang, gab es ein verwundertes Aufhor-chen.

Zutiefst bewegt, erkannte Angélique die verführerische Stimme, die ihr in den heißen toulousanischen Nächten so viele Liebesworte zugeflüstert hatte.

»Ich schwöre, die volle Wahrheit zu sagen. Indessen weiß ich, daß mir nach dem Gesetz das Recht zusteht, dieses Gericht für inkompetent zu erklären, denn als Parlamentarier unterstehe ich dem Gerichtshof des Parlaments ...«

Der Präsident schien einen Augenblick zu zögern, dann erklärte er mit einiger Hast:

»Das Gesetz läßt keinen eingeschränkten Eid zu. Schwört, und das Gericht wird sodann in der Lage sein, Euch zu richten. Schwört Ihr nicht, so wird man Euch >stumm< richten, nämlich in contumaciam, als wäret Ihr abwesend.«

»Ich sehe, Herr Präsident, daß dies ein abgekartetes Spiel ist. Deshalb und um Euch Eure Aufgabe zu erleichtern, verzichte ich auf die Inanspruchnahme all der juristischen Klauseln, die mir erlauben würden, dieses Tribunal in Bausch und Bogen für inkompetent zu erklären. Ich vertraue also auf seinen Gerechtigkeitssinn und bekräftige meinen Eid.«

Séguier verbarg seine Befriedigung nicht.

»Der Gerichtshof wird die eingeschränkte Ehre gebührend zu schätzen wissen, die Ihr ihm zu erweisen scheint, indem Ihr seine Kompetenz anerkennt. Vor Euch hat der König selbst geruht, seiner Justiz Vertrauen zu schenken, und das allein zählt. Was Euch betrifft, meine Herren vom Gericht, so seid Euch in jedem Augenblick des Vertrauens bewußt, das Seine Majestät in Euch gesetzt hat. Erinnert Euch, meine Herren Geschworenen, daß Ihr die hohe Ehre habt, hier die Macht über Leben und Tod zu verkörpern, die unser Monarch in seinen erhabenen Händen hält. Nun, es gibt zwei Gerechtigkeiten: diejenige, die sich auf die Handlungen der gewöhnlichen Sterblichen bezieht, und wären sie auch Leute von hoher Abkunft, und diejenige, die sich auf die Entscheidungen eines Königs bezieht, dessen Titel sich vom göttlichen Recht ableitet. Möge Euch die Bedeutung dieser Verbindung nicht entgehen, meine Herren. Indem Ihr im Namen des Königs Recht sprecht, tragt Ihr die Verantwortung für seine Größe. Und indem Ihr den König ehrt, ehrt Ihr zu gleicher Zeit den ersten Verteidiger der Religion in diesem Königreich.«

Nach dieser reichlich konfusen Rede, in der sich die Qualitäten des demagogischen Parlamentariers und des Höflings verbanden, zog sich Séguier majestätischen Schrittes zurück. Als er verschwunden war, nahmen alle Platz. Die Kerzen, die ihr kümmerliches Licht noch über die Pulte gestreut hatten, wurden gelöscht. Im Saal war es jetzt so düster wie in einer Krypta, und als die bleiche Wintersonne durch die Scheiben sickerte, lag plötzlich auf einigen Gesichtern ein blauer oder roter Schimmer.

Maître Gallemand flüsterte seinen Nachbarn zu: »Der alte Fuchs will nicht einmal die Verantwortung auf sich nehmen, die Anklagepunkte bekanntzugeben. Er macht es wie Pontius Pilatus, und im Falle der Verurteilung wird er die Schuld auf die Inquisition oder die Jesuiten schieben.«

»Das kann er ja nicht, da es ein weltlicher Prozeß ist.«

»Pah! Die Kurtisane Justitia muß den Befehlen ihres Meisters gehorchen und dabei auch noch dem Volk bezüglich seiner Motive Sand in die Augen streuen.«

Angélique hörte die aufrührerischen Reden in einem Zustand halber Bewußtlosigkeit. Keinen Augenblick schien es ihr, als könne all dies wahr sein. Es war ein Wachtraum, vielleicht, ja, ein Theaterstück? Sie hatte nur für ihren Gatten Augen, der ein wenig gebeugt und mühsam auf seine beiden Stöcke gestützt dastand. Ein noch vager Gedanke begann sich in ihrem Kopf zu formen. »Ich werde ihn rächen. Alles, was diese Folterknechte ihn haben erleiden lassen, werde ich sie wiederum erleiden lassen. Und wenn der Teufel existiert, wie die Religion es lehrt, so möchte ich mitansehen, wie er ihre falschen Christenseelen holt.«

Nun bestieg der Mann in Rot, der Generaladvokat Denis Talon, die Tribüne und erbrach die Siegel eines großen Umschlags. Mit schneidender Stimme begann er die Anklagepunkte zu verlesen:

»Der Sieur Joffrey de Peyrac, durch Sonderverfügung der Königlichen Kammer bereits seiner sämtlichen Titel und Güter für verlustig erklärt, ist unserem Gerichtshof überstellt worden, um wegen Hexerei, Zauberei und anderer Handlungen abgeur-teilt zu werden, die sowohl die Religion verletzen als auch die Sicherheit von Staat und Kirche bedrohen, und zwar durch die Gesamtheit seiner Betätigungen auf dem Gebiet der alchimistischen Herstellung von Edelmetallen. Wegen all dieser und noch weiterer Vergehen, die ihm in der Anklageschrift vorgeworfen werden, fordere ich, daß er gemeinsam mit seinen etwaigen Helfershelfern auf der Place de Grève verbrannt und daß ihre Asche verstreut wird, wie es den des Umgangs mit dem Teufel überführten Schwarzkünstlern zukommt. Zuvor verlange ich, daß er der peinlich und hochnotpeinlichen Befragung unterworfen wird, damit er seine Komplicen offenbart .«

Das Blut klopfte so heftig in Angéliques Ohren, daß sie das Ende der Verlesung nicht mehr in sich aufnahm. Sie kam erst wieder zur Besinnung, als die klangvolle Stimme des Angeklagten sich zum zweiten Male erhob:

»Ich schwöre, daß all dies unwahr und tendenziös ist und daß ich in der Lage bin, meine Behauptungen allen Menschen guten Glaubens zu beweisen.«

Der Staatsanwalt preßte seine dünnen Lippen zusammen und faltete seine Papiere zusammen, als ginge ihn der weitere Verlauf dieser Zeremonie nichts an. Er machte seinerseits Anstalten, sich zurückzuziehen, als der Advokat Desgray sich erhob und laut verkündete:

»Hohes Gericht, der König und Ihr habt mir die hohe Ehre verschafft, der Verteidiger des Angeklagten zu sein. So möchte ich mir erlauben, Euch vor dem Abgang des Herrn Generalstaatsanwalts eine Frage zu stellen: Wie kommt es, daß diese Anklageschrift vorher verfaßt und fix und fertig, sogar versiegelt, überreicht wurde, während die gültige Prozeßordnung nichts dergleichen vorsieht?«

Der gestrenge Denis Talon musterte den jungen Advokaten von oben bis unten und sagte mit mitleidiger Herablassung:

»Junger Maître, ich sehe, daß Ihr Euch nicht genügend informiert habt. Wißt, daß es zuerst der Präsident de Mesmon und nicht Monsieur de Masseneau war, der vom König damit beauftragt wurde, diesen Prozeß zu leiten .«

»Die Vorschrift hätte verlangt, daß der Herr Präsident Mesmon selbst seine Anklageschrift verliest!«

»Ihr wißt offenbar nicht, daß der Präsident de Mesmon gestern plötzlich gestorben ist. Indessen hat er noch die Zeit gehabt, diese Anklageschrift abzufassen, die gewissermaßen sein Testament darstellt. Ihr mögt darin, meine Herren, ein schönes Beispiel für das Pflichtgefühl eines großen Beamten des Königreichs erblicken!«

Alle Anwesenden erhoben sich zu ehrendem Gedenken Mesmons. Doch hörte man einige Rufe in der Menge:

»Ein Teufelsstreich, dieser plötzliche Tod!«

»Giftmord!«

»Das fängt gut an!«

Abermals schritten die Wachen ein. Masseneau ergriff das Wort und brachte in Erinnerung, daß die Öffentlichkeit ausgeschlossen sei. Bei der geringsten Störung werde er alle nicht unmittelbar am Prozeß Beteiligten hinausweisen lassen.

Der Saal beruhigte sich.

Maître Desgray seinerseits begnügte sich mit der Erklärung, die man ihm geliefert hatte und die einen Fall von höherer Gewalt darstellte. Er fügte hinzu, er erkenne den Wortlaut dieser Anklageschrift an, unter der Voraussetzung, daß gegen seinen Mandanten unter strenger Einhaltung dieser Grundlage verhandelt werde.

Nach einigen mit Flüsterstimme gewechselten Worten fand diese Ausgangsposition des Prozesses allgemeine Billigung. Denis Talon stellte Masseneau als Präsidenten des Gerichtshofes vor und verließ feierlich den Saal.

Angélique suchte ängstlich das runde Gesicht des Parlamentsmitglieds von Toulouse zu erforschen. Im Lichtbündel, das es vom Fenster her traf, wirkte es genauso rot wie damals unter der heißen Sonne des Languedoc.

Während er nun den Vorsitz bei diesem Verfahren übernahm, erinnerte er sich gewiß des arroganten Edelmanns, der ihn von seinem Pferd herab zugerufen hatte: »Zurück, Monsieur Masseneau! Laßt das Vermögen vorbei!«

Zweifellos würde er ein sehr rachsüchtiger Richter sein. Deshalb hatte man ihn gewählt. Und welche Haltung würde Maître Fallot einnehmen, der sich bedenkenlos zum Richter über ein Mitglied seiner Familie erhob?

Wer hätte gedacht, daß dieser galante, offenherzige König es so glänzend verstehen würde, sich die Zwistigkeiten seiner Untertanen zunutze zu machen? War dieser Prozeß nur die Frucht seiner Eifersucht und seiner gekränkten Eitelkeit, oder glaubte er wirklich an die Gefährlichkeit des großen, allzu reichen Vasallen?

Aber Angélique wollte hoffen. Alles war nur ein furchtbares Mißverständnis. Außerdem hatte Joffrey einen Anwalt. Entgegen ihren Erwartungen und Befürchtungen zeigte sich ihr Gatte versöhnlich und sogar ehrerbietig. Das würde eine günstige Wirkung auf das Gericht haben.

Schließlich und vor allem beschränkte sich die Anklage strikt auf Hexerei. Das war sehr günstig, und Angélique begriff das Vorgehen des jungen Advokaten, der diesen einzigen Anklagepunkt als alleinige Verhandlungsbasis bestätigt hatte. Denn es war verhältnismäßig einfach, die Unsinnigkeit dieser Beschuldigung darzulegen. Die praktische Demonstration, die Joffrey mit Hilfe des alten Fritz Hauer und Kouassi-Bas bewerkstelligen würde, konnte ihren Eindruck auf Richter nicht verfehlen, die alle recht gebildet waren.

Und zuallerletzt würde der Großexorzist von Frankreich, Pater Kircher, mit seinen eigenen Worten das Zeugnis der Kirche bekräftigen und erklären, daß es sich hier keineswegs um einen Fall von Hexerei handle. Ein solches Zeugnis mußte an das schließlich doch empfindliche Gewissen der Richter rühren.

Angélique fühlte sich ruhiger. Mit Kaltblütigkeit folgte sie dem Gang der Verhandlung.

Der Präsident begann mit dem Verhör.

»Gebt Ihr die Fälle von Hexerei und Zauberei zu, die Euch zur Last gelegt werden?«

»Ich leugne sie in ihrer Gesamtheit.«

»Das steht Euch nicht zu. Ihr habt auf jede einzelne Frage zu antworten, die die Anklageschrift enthält. Überdies liegt es in Eurem eigenen Interesse, denn einige von ihnen lassen sich einfach nicht abstreiten, und es ist besser, wenn Ihr Euch zu ihnen bekennt, denn Ihr habt ja geschworen, die volle Wahrheit zu sagen. Also: Gebt Ihr zu, Gift hergestellt zu haben?«

»Ich gebe zu, zuweilen chemische Produkte hergestellt zu haben, von denen einige schädlich sein könnten, wenn sie verzehrt würden. Aber ich habe sie weder zum Verzehr bestimmt noch verkauft, noch habe ich mich ihrer bedient, um jemand zu vergiften.«

»Ihr gebt also zu, Gifte wie das grüne und das römische Vitriol verwandt und hergestellt zu haben?«

»Durchaus. Aber um daraus ein Verbrechen abzuleiten, müßte man beweisen, daß ich tatsächlich jemand vergiftet habe.«

»Für den Augenblick genügt uns die Feststellung, daß Ihr nicht leugnet, giftige Produkte unter Zuhilfenahme der Alchimie hergestellt zu haben. Wir werden uns damit später noch genauer befassen.«

Masseneau beugte sich über den vor ihm liegenden dicken Aktenstoß und begann in ihm zu blättern. Angélique zitterte vor Angst, es könnte nun eine Anklage wegen Vergiftung folgen. Sie erinnerte sich, daß Desgray ihr von einem gewissen Bourié gesprochen hatte, der für diesen Prozeß zum Richter bestimmt worden war, weil er als geschickter Fälscher galt und gewissermaßen den Auftrag hatte, bei den Akten nach Bedarf betrügerische Manipulationen vorzunehmen.

Während Angélique unter den Richtern diesen Bourié zu entdecken suchte, blätterte Masseneau noch immer. Endlich hüstelte er und schien all seinen Mut zu sammeln.

Zuerst murmelte er in seinen Bart, dann sprach er allmählich lauter und verkündete zum Schluß einigermaßen deutlich:

». um darzutun, wenn das überhaupt nötig ist, wie gerecht und unparteiisch die Rechtsprechung des Königs ist, und bevor ich mit der Aufzählung der Anklagepunkte fortfahre, die jeder der Richter vor sich liegen hat, muß ich kund und zu wissen tun, wie schwierig und behindert unsere Voruntersuchung gewesen ist.«

»Und wie reich an Interventionen zugunsten eines vornehmen und hochmögenden Angeklagten!« ließ sich eine spöttische Stimme inmitten der Versammlung vernehmen.

Angélique erwartete, daß die Gerichtsdiener sich sofort des Störenfrieds bemächtigen würden, aber zu ihrer großen Überraschung bemerkte sie, wie einer von ihnen, der in nächster Nähe postiert war, einem Polizeioffizier einen Wink gab.

»Die Polizei muß bezahlte Leute im Saal haben, um gegen Joffrey gerichtete Zwischenfälle zu provozieren«, dachte sie.

Der Präsident fuhr fort, als habe er nichts gehört. ». um also allen zu beweisen, daß die Rechtsprechung des Königs nicht nur unparteiisch, sondern auch großzügig ist, gebe ich hiermit bekannt, daß ich von den zahllosen Beweisstücken nach reiflicher Überlegung und Zwiesprache mit mir selbst eine ganze Reihe fallenlassen mußte.«

Er hielt inne, schien Atem zu schöpfen und schloß mit dumpfer Stimme:

»Genau vierunddreißig solcher Beweisstücke habe ich ausgeschieden, weil sie zweifelhaft und offensichtlich gefälscht waren, vermutlich in der Absicht, sich an dem Angeklagten zu rächen.«

Die Erklärung löste nicht nur in den Zuschauerreihen, sondern auch bei den Geschworenen, die solchen Mut und solche Milde von seiten des Gerichtspräsidenten offenbar nicht erwartet hatten, Bewegung aus. Einer von ihnen, ein kleines Männchen mit verschlagenem Gesicht und einer Hakennase, konnte sich nicht beherrschen und rief: »Die Würde des Gerichts und mehr noch seine Ermessensfreiheit wird in Frage gestellt, wenn sein eigener Präsident sich für berechtigt hält, nach seinem Gutdünken Anklagepunkte fallenzulassen, die vielleicht die schwerwiegendsten Beschuldigungen darstellen .«

»Monsieur Bourié, in meiner Eigenschaft als Präsident rufe ich Euch zur Ordnung und fordere Euch auf, zwischen der Niederlegung Eures Amtes und der Fortführung der Verhandlung zu wählen.«

Im Saal entstand beträchtliche Unruhe.

»Der Präsident ist vom Angeklagten gekauft. Es ist zur Genüge bekannt, was es mit dem Gold von Toulouse auf sich hat!« brüllte der Zuschauer, der schon einmal einen Zwischenruf gemacht hatte.

Der Kanzlist mit dem fettigen Haar, der vor Angélique saß, fügte hinzu:

»Endlich wird mal einem Adligen und Reichen auf die Finger gesehen .«

»Meine Herren, die Sitzung wird unterbrochen, und wenn nicht Ruhe eintritt, lasse ich den Saal räumen!« rief der Präsident Masseneau.

Empört stülpte er sein Barett auf die Perücke und schritt hinaus; der Gerichtshof folgte ihm. Angélique fand, daß alle diese feierlichen Richter den Marionetten des Kinderreims glichen, die hereinkamen, drei kleine Kreise beschrieben und wieder hinausgingen. Wenn sie doch nur für immer verschwänden!

Im Saal wurde es wieder ruhig, und man bemühte sich um würdiges Benehmen, um den Wiederbeginn der Verhandlung zu beschleunigen. Alles erhob sich, als die Gardisten mit ihren Hellebarden auf die Fliesen klopften und der Gerichtshof zurückkehrte.

Still wie in einer Kirche war es, als Masseneau wieder seinen Platz einnahm.

»Meine Herren, der Zwischenfall ist beigelegt«, erklärte er. »Die Anschuldigungen, die ich als nicht stichhaltig erachtet habe, sind den Akten beigefügt, die jeder Richter nach Belieben einsehen kann. Ich habe sie mit einem roten Kreuz bezeichnet, und man wird sich sein eigenes Urteil über meine Entscheidungen bilden können.«

»Diese Punkte betreffen vor allem Versündigungen gegen die Heilige Schrift«, erklärte Bourié mit unverhohlener Befriedigung. »Es ist dabei insbesondere von der Erschaffung von Kobolden und anderer diabolischer Wesen durch alchimistische Verfahren die Rede.«

Die Menge trampelte vor verhaltener Freude.

»Wird man bei den Überführungsbeweisen welche zu sehen bekommen?« schrie jemand ganz hinten, aber er wurde von den Wachen hinausbefördert, und die Verhandlung ging weiter.

Der Präsident fuhr mit dem Verhör fort.

»Um zunächst die Sache mit dem Gift abzuschließen, das Ihr hergestellt zu haben zugebt, wollt Ihr mir den Widerspruch erklären, der darin liegt, daß Ihr einerseits angeblich nicht gesonnen wart, von diesem Gift anderen Personen gegenüber Gebrauch zu machen, daß Ihr Euch aber öffentlich gerühmt habt, täglich welches einzunehmen, >um der Gefahr des Vergiftetwerdens vorzubeugen

»Das ist vollkommen richtig, und meine Antwort von damals gilt auch heute noch: Ich rühme mich, daß man mich weder mit Vitriol noch mit Arsenik vergiften kann, denn ich habe davon zuviel eingenommen, als daß ich auch nur Übelkeit verspüren würde, falls man versuchen sollte, mich auf diese Weise ins Jenseits zu befördern.«

»Und Ihr haltet die Behauptung, gegen die Gifte immun zu sein, heute noch aufrecht?«

»Wenn es nur dessen bedarf, um den Gerichtshof des Königs zufriedenzustellen, bin ich als treuer Untertan gern bereit, vor Euch eine dieser Drogen zu schlucken.«

»Ihr gebt damit also zu, ein Zaubermittel gegen alle Gifte zu besitzen.«

»Das ist kein Zaubermittel, sondern die Basis der Wissenschaft von den Gegengift selbst. Hingegen heißt es, an Hexen- und Zauberkünste glauben, wenn man Krötenstein und anderes wirkungsloses Zeug anwendet, wie Ihr, meine Herren, es wohl alle tut und Euch dabei einbildet, daß es Euch vor den Giften schützt.«

»Angeklagter, Ihr handelt höchst unklug, wenn Ihr Euch über respektable Bräuche lustig macht. Gleichwohl werde ich mich im Interesse der Gerechtigkeit, die verlangt, daß alles aufgehellt wird, an solchen Einzelheiten nicht stoßen. Ich halte mit Eurer Erlaubnis nur die Tatsache fest, daß Ihr Euch für einen Experten auf dem Gebiet der Gifte erklärt.«

»Ich bin auf dem Gebiet der Gifte nicht mehr Experte als auf irgendeinem andern. Im übrigen bin ich nur gegen gewisse landläufige Gifte immun: Arsenik und Vitriol. Aber was bedeutet schon dieses geringfügige Wissen angesichts all der Tausende von pflanzlichen und tierischen Giften, der exotischen, der florentinischen und chinesischen Gifte! Kein noch so berühmter Wundarzt würde sie zu bestimmen, geschweige denn ihnen entgegenzutreten vermögen.«

»Und Ihr habt Kenntnis von einigen dieser Gifte?«

»Ich habe Giftkörner für die Pfeile der Indianer, mit denen sie Büffel jagen. Und auch Pfeilspitzen von afrikanischen Pygmäen, die selbst ein so furchtbares Tier wie den Elefanten zu Fall bringen.«

»Ihr übertrumpft also noch die gegen Euch gerichtete Anschuldigung, auf dem Gebiet der Gifte bewandert zu sein?«

»Keineswegs, Herr Präsident. Ich erkläre das nur, um Euch zu beweisen, daß ich mir, falls ich je mit der Absicht umgegangen wäre, mir übelwollende Leute ins Jenseits zu befördern, nicht die Mühe genommen hätte, diese so gewöhnlichen und leicht erkennbaren Arsenik- und Vitriolpräparate herzustellen.«

»Weshalb habt Ihr sie dann hergestellt?«

»Zu wissenschaftlichen Zwecken und im Verlauf chemischer Experimente mit Mineralien, die manchmal die Bildung solcher Produkte bewirken.«

»Wir wollen nicht zu sehr abschweifen. Es genügt, daß Ihr zugegeben habt, mit Giften und alchimistischen Dingen vertraut zu sein. So wärt Ihr also nach Euren Worten in der Lage, jemand völlig unbemerkt verschwinden zu lassen. Wer garantiert uns überhaupt, daß Ihr dergleichen nicht schon getan habt?«

»Das müßte erst bewiesen werden!«

»Ein verdächtiger Todesfall wird Euch zur Last gelegt, der entweder auf Eure unsichtbaren Gifte oder auf Eure Hexenkünste zurückzuführen ist. Denn bei der exhumierten Leiche einer Eurer einstigen Mätressen hat man vor Zeugen dieses Medaillon gefunden, das Euer Brustbild enthält. Erkennt Ihr es wieder?«

Angélique beobachtete, wie der Präsident Masse-neau einem der Gardisten einen kleinen Gegenstand übergab, den dieser dem Grafen Peyrac zeigte. »Ich erkenne tatsächlich die Miniatur wieder, die jenes bedauernswerte, überspannte Mädchen von mir hatte anfertigen lassen.«

»Jenes bedauernswerte, überspannte Mädchen, wie Ihr es nennt, das außerdem eine Eurer zahlreichen Mätressen war, Mademoiselle de .«

Joffrey hob die Hand zu einer beschwörenden Geste.

»Profaniert nicht öffentlich diesen Namen, Herr Präsident. Die Unglückselige ist tot!«

»Nach einem Siechtum, das Ihr, wie man zu vermuten beginnt, durch Eure Hexerei bewirkt habt.«

»Das ist ein Irrtum, Herr Präsident.«

»Warum hat man dann Euer Medaillon im Mund der Toten gefunden?«

»Ich weiß es nicht. Aber nach allem, was Ihr mir sagt, möchte ich annehmen, daß sie, die sehr abergläubisch war, versuchte, mich auf diese Weise zu behexen. So werde ich vom Hexer unversehens zum Behexten. Ist das nicht spaßig, Herr Präsident?«

Es schien kaum glaublich, war jedoch nicht zu leugnen: das lange, schlotternde Gespenst begann herzlich zu lachen.

Eine Woge der Entrüstung lief durch den Saal, aber hier und dort klang auch vereinzelt Gelächter auf.

Masseneaus Stirn glättete sich nicht.

»Wißt Ihr nicht, Angeklagter, daß das Auffinden eines Medaillons im Munde einer Toten das sicherste Zeichen für Behexung ist?«

»Wie ich feststellen muß, bin ich in Fragen des Aberglaubens sehr viel weniger beschlagen als Ihr, Herr Präsident.«

Dieser ging über die Bemerkung hinweg.

»Schwört also, daß Ihr nie dergleichen geübt habt.«

»Ich schwöre bei meiner Frau, meinem Kinde und dem König, daß ich mich nie mit derartigen Albernheiten befaßt habe, jedenfalls nicht damit, was man in diesem Königreich darunter versteht.«

»Erläutert die Einschränkung Eures Schwurs.«

»Ich will damit sagen, daß ich auf meinen vielen Reisen in China und Indien Zeuge seltsamer Phänomene gewesen bin, die beweisen, daß Magie und Hexerei tatsächlich existieren, aber nichts mit den Scharlatanerien zu tun haben, die unter diesen Namen in den Ländern Europas getrieben werden.«

»Ihr gebt also zu, daß Ihr daran glaubt?«

»An die echte Hexerei, ja ... Sie weist im übrigen nicht wenige natürliche Phänomene auf, die die kommenden Jahrhunderte zweifellos aufklären werden. Aber was die Jahrmarktschausteller und die sogenannten alchimistischen Gelehrten treiben .«

»Ihr kommt also selbst auf die Alchimie zu sprechen. Nach Eurer Ansicht gibt es, wie bei der Hexerei, die echte und die falsche Alchimie?«

»Allerdings. Gewisse Araber und Spanier bezeichnen die echte Alchimie bereits mit einem besonderen Namen: Chemie. Die Chemie ist eine experimentelle Wissenschaft, innerhalb deren Gegebenheiten alle Vorgänge der Substanzverwandlung dargestellt werden können, wodurch sie sich als unabhängig vom jeweiligen Experimentator erweisen. Vorausgesetzt natürlich, daß dieser sein Handwerk gelernt hat. Dagegen ist ein überzeugter Alchimist schlimmer als ein Hexenmeister!«

»Ich freue mich, das zu hören, denn Ihr erleichtert damit die Aufgabe des Gerichts. Aber was könnte nach Eurer Ansicht schlimmer sein als ein Hexenmeister?«

»Ein Narr und ein Erleuchteter, Herr Präsident.«

Zum erstenmal in dieser feierlichen Sitzung schien der Präsident die Beherrschung zu verlieren.

»Angeklagter, ich fordere Euch auf, Euch eines ehrerbietigen Tones zu befleißigen. Es liegt in Eurem eigenen Interesse. Es ist schon schlimm genug, daß Ihr bei Eurer eidlichen Versicherung die Unverfrorenheit besaßt, Seine Majestät erst nach Eurer Frau und Eurem Kind zu erwähnen. Wenn Ihr weiterhin solche Arroganz an den Tag legt, kann der Gerichtshof sich weigern, Euch anzuhören.«

Angélique sah, wie Desgray sich ihrem Gatten zu nähern suchte, offensichtlich um ihm etwas zu sagen, und von den Wachen daran gehindert wurde. Worauf Masseneau auf der Stelle einschritt und dem Advokaten die Möglichkeit gab, in voller Freiheit seine Funktion zu erfüllen.

»Es liegt mir fern, Herr Präsident, Euch oder einem andern dieser Herren mit meinen Worten zu nahe treten zu wollen«, fuhr Graf Peyrac fort, als der Lärm sich einigermaßen gelegt hatte. »Als Wissenschaftler habe ich lediglich diejenigen angegriffen, die die unheilvolle, Alchimie genannte Wissenschaft betreiben. Ich glaube nicht, daß auch nur ein einziger von Euch, die Ihr mit so wichtigen Aufgaben überhäuft seid, sich ihr insgeheim hingibt .«

Die kleine Ansprache gefiel den Richtern, die ernst einander zunickten, und das Verhör wurde in einer etwas entspannteren Atmosphäre fortgesetzt. »Ihr seid überführt«, sagte Masseneau, nachdem er eine Weile seinen Aktenberg durchstöbert und ihm ein weiteres Blatt entnommen hatte, »bei Euren mysteriösen Verfahren, die Ihr zu Eurer Entlastung mit dem neuen Ausdruck Chemie bezeichnet, Skelette zu verwenden. Wie rechtfertigt Ihr eine so wenig christliche Handlungsweise?«

»Man darf, Herr Präsident, keinesfalls okkulte Verfahren mit chemischen Verfahren verwechseln. Die Tierknochen dienen mir einzig dazu, Asche zu gewinnen, die die Eigenschaft besitzt, die Rückstände des geschmolzenen Bleis zu absorbieren, ohne dabei auf das darin enthaltene Gold und Silber zu wirken.«

»Und haben menschliche Knochen die gleiche Eigenschaft?« fragte Masseneau hinterhältig.

»Zweifellos, Herr Präsident, aber ich gestehe, daß die tierische Asche mich völlig befriedigt und ich mich mit ihr begnüge.«

»Müssen für Eure Zwecke diese Tiere lebendig verbrannt werden?«

»Keineswegs, Herr Präsident. Kocht Ihr Euer Hühnchen in lebendem Zustand?«

Masseneaus Gesicht verdüsterte sich, doch beherrschte er sich und bemerkte, daß Anklage wegen Entweihung und Gottlosigkeit erhoben worden sei und daß sie sich nicht nur auf die Verwendung tierischer Knochen gründe und daß sie zu gegebener Zeit behandelt werden würde.

Er fuhr fort: »Hat Eure Knochenasche nicht den okkulten Zweck, die niedere Materie wie das Blei zu regenerieren, ihr Leben einzuhauchen, indem sie in edles Metall wie Gold und Silber verwandelt wird?«

»Solche Anschauung kommt der Scheindialektik der Alchimisten nah, die vorgeben, mit obskuren Symbolen zu arbeiten, während man tatsächlich keine Materie erschaffen kann.«

»Angeklagter, Ihr gebt gleichwohl die Tatsache zu, Gold und Silber auf andere Weise hergestellt zu haben als durch Sieben von Flußsand?«

»Ich habe nie Gold oder Silber hergestellt, ich habe es nur ausgeschieden.«

»Dennoch findet sich in dem Gestein, aus dem Ihr es angeblich ausscheidet, weder nach dem Zerschroten noch nach dem Waschen Gold oder Silber, wie Leute sagen, die sich darauf verstehen.«

»Das stimmt, aber das geschmolzene Blei verbindet sich mit den vorhandenen, wenn auch unsichtbaren Edelmetallen.«

»Ihr behauptet also, Gold aus jedem beliebigen Gestein gewinnen zu können?«

»Keineswegs. Die meisten Gesteinsarten enthalten keines oder jedenfalls zu wenig. Es ist überhaupt nur mittels langwieriger und komplizierter Verfahren möglich, dieses in Frankreich sehr seltene goldhaltige Gestein zu erkennen.«

»Wie kommt es, wenn dieses Auffinden so schwierig ist, daß gerade Ihr als einziger in Frankreich Euch darauf versteht?«

In gereiztem Ton antwortete der Graf:

»Es ist eine Gabe, Herr Präsident, oder vielmehr eine Wissenschaft und ein mühseliges Handwerk. Ich könnte Euch ebensogut fragen, warum Lully zur Zeit der einzige in Frankreich ist, der Opern zu komponieren versteht, und warum Ihr es nicht auch tut, da doch jedermann die Tonkunst studieren kann.«

Der Präsident machte ein verärgertes Gesicht, wußte aber nichts zu erwidern. Einer der Richter

- es war das kleine Männchen mit den verschlagenen Zügen - hob die Hand.

»Ihr habt das Wort, Monsieur Bourié.«

»Ich möchte den Angeklagten fragen, Herr Präsident, wie es kommt, daß, falls Monsieur Peyrac tatsächlich ein Geheimverfahren entdeckt hat, um Gold und Silber zu mehren, dieser hochmögende Edelmann, der sich so viel auf seine Treue dem König gegenüber zugute tut, es nicht für nötig erachtet hat, dieses Geheimnis dem Herrn dieses Landes, Seiner Majestät dem König, zu offenbaren, was nicht nur seine Pflicht, sondern darüber hinaus ein Mittel gewesen wäre, das Volk, den dritten Stand und selbst den Adel von der erdrückenden Last der Steuern zu befreien?«

Ein zustimmendes Gemurmel lief durch die Zuschauerreihen. Jeder fühlte sich angesprochen und von einem persönlichen Groll gegen diesen hochmütigen und unverschämten Krüppel erfaßt, der seinen sagenhaften Reichtum hatte allein genießen wollen.

Angélique spürte, wie sich der Haß der Zuhörerschaft auf den von der Folterung gebrochenen Mann konzentrierte, der auf seinen beiden Stöcken vor Erschöpfung zu schwanken begann.

Zum erstenmal richtete Peyrac den Blick auf die Menge. Aber es kam der jungen Frau vor, als glitte dieser Blick in die Ferne und sähe niemand. »Fühlt er denn nicht, daß ich da bin und mit ihm leide?« dachte sie.

Der Graf schien zu zögern. Schließlich sagte er ruhig:

»Ich habe geschworen, Euch die volle Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit ist, daß in diesem Königreich das persönliche Verdienst nicht nur nicht anerkannt, sondern daß es von einer Bande von Höflingen ausgebeutet wird, die nichts anderes im Sinne haben als ihr persönliches Interesse, ihren Ehrgeiz oder ihre Streitigkeiten. Unter solchen Umständen ist es für jemand, der wirklich etwas schaffen möchte, am besten, im Verborgenen zu bleiben und sein Werk durch Schweigen zu schützen. Denn >man soll die Perlen nicht vor die Säue werfen<.«

»Was Ihr da sagt, ist außerordentlich ernst und dem König wie Euch selbst abträglich«, sagte Masseneau in ruhigem Ton.

Bourié fuhr auf.

»Herr Präsident, als Mitglied dieses Gerichts erhebe ich gegen die allzu nachsichtige Art Widerspruch, in der Ihr hinzunehmen scheint, was nach meiner Ansicht als erwiesene Majestätsbeleidigung festgehalten werden müßte.«

»Monsieur Bourié, wenn Ihr so fortfahrt, sehe ich mich genötigt, den Vorsitz in diesem Verfahren niederzulegen. Daß unser König eine bereits geäußerte diesbezügliche Bitte abgelehnt hat, dürfte beweisen, daß ich sein volles Vertrauen genieße.«

Bourié wurde rot und setzte sich wieder, während der Graf mit müder, aber beherrschter Stimme erklärte, daß jeder Mensch seine eigene Pflichtauffassung habe. Da er kein Höfling sei, fühle er sich nicht imstande, seine Ansichten bei allen und gegen alle durchzusetzen. Sei es nicht genug, daß er aus seiner entlegenen Provinz der königlichen Schatzkammer jährlich mehr als ein Viertel dessen zufließen lasse, was das Languedoc insgesamt für Frankreich aufbringe? Wenn er so für das allgemeine - und natürlich auch für das eigene - Wohl wirke, ziehe er es dennoch vor, seine Entdeckungen nicht der Öffentlichkeit preiszugeben, aus Angst, ins Ausland fliehen zu müssen wie so viele mißverstandene Gelehrte und Erfinder.

»Immerhin gebt Ihr damit zu, dem Königreich gereizte und verächtliche Gefühle entgegenzubringen«, bemerkte der Präsident gelassen.

Angélique erschauerte aufs neue, und der Verteidiger hob den Arm.

»Vergebt mir, Herr Präsident. Ich weiß, dies ist noch nicht der Augenblick für mein Plädoyer, aber ich möchte Euch in Erinnerung bringen, daß mein Mandant einer der treuesten Untertanen Seiner Majestät ist, die ihn mit einem Besuch in Toulouse geehrt und ihn darauf persönlich zu seiner Hochzeit geladen hat. Ihr könnt nicht behaupten, ohne Seine Majestät selbst zu kränken, daß Graf Peyrac gegen sie und das Königreich gearbeitet habe.«

»Schweigt, Maître! Ich habe Euch aussprechen lassen, und Ihr könnt versichert sein, daß wir es zur Kenntnis genommen haben. Aber ich werde nicht mehr dulden, daß Ihr in die Vernehmung eingreift, die dem Gericht einen Eindruck von der Persönlichkeit des Angeklagten und seinen Angelegenheiten vermitteln soll.«

Desgray setzte sich wieder. Der Präsident erinnerte daran, daß das Gerechtigkeitsgefühl des Königs verlange, daß alles ausgesprochen werden müsse, auch gerechtfertigte Kritik, daß es aber einzig dem König zustehe, sein eigenes Verhalten zu beurteilen.

»Es liegt Majestätsbeleidigung vor ...«, rief Bourié abermals.

»Ich sehe keinen Fall von Majestätsbeleidigung«, erklärte Masseneau kühl.

Es war nicht zu übersehen, daß der Schatten, den dieser Prozeß auf den König werfen konnte, das hauptsächlich aus Beamten zusammengesetzte Publikum weniger berührte als die allgemeine Voreingenommenheit, die der schon fast legendäre, unbefriedigend geteilte Reichtum des Angeklagten hervorrief.

Masseneau setzte die Vernehmung mit der Feststellung fort, »abgesehen von der Transmutation des Goldes, die vom Angeklagten nicht geleugnet würde, die nach seiner Behauptung jedoch ein natürliches und keinesfalls teuflisches Phänomen sei, versicherten zahlreiche Zeugenaussagen, er habe eine gewisse Gabe, Menschen zu behexen, insbesondere ganz junge Frauen. Beiden von ihm veranstalteten gottlosen und ausschweifenden Zusammenkünften seien auch die Frauen gewöhnlich weitaus in der Mehrzahl gewesen, >ein sicheres Zeichen für die Dazwischenkunft des Satans, denn beim Hexensabbat übersteige die Zahl der Frauen stets die der Männer<.«

Als Peyrac stumm und wie in einem fernen Traum verloren blieb, wurde Masseneau ungeduldig.

»Was habt Ihr auf diese präzise, durch das Studium der Fälle des kirchlichen Offizialats angeregte Frage zu erwidern, die Euch sehr in Verlegenheit zu setzen scheint?«

Joffrey zuckte zusammen, als ob er erwache.

»Da Ihr darauf besteht, Herr Präsident, werde ich zweierlei antworten. Erstens bezweifle ich, daß Ihr mit der Prozeßführung des Offizialats von Rom gründlich vertraut seid, deren Einzelheiten Geheimnis der Kirchentribunale bleiben; zweitens muß ich annehmen, daß Ihr Euch Euer Wissen um diese seltsamen Dinge durch persönliche Erfahrung erworben habt, das heißt, daß Ihr zumindest einem solchen Hexensabbat beigewohnt habt - ich für mein Teil gestehe, daß ich in meinem immerhin abenteuerreichen Leben noch nie dergleichen begegnet bin.«

Dem Präsidenten hatten diese Worte die Rede verschlagen. Eine gute Weile saß er mit offenem Munde da, dann äußerte er in beängstigend ruhigem Ton:

»Angeklagter, ich wäre berechtigt, das Verhör abzubrechen und Euch >stumm< zu richten, ja Euch sogar jeglicher Verteidigungsmöglichkeit durch einen Dritten zu berauben. Aber ich möchte verhindern, daß Ihr in den Augen irgendwelcher Übelwollenden als Märtyrer erscheint. Deshalb lasse ich andere Mitglieder dieses Gerichts dieses Verhör fortsetzen, in der Hoffnung, daß Ihr ihnen nicht auch die Lust nehmt, Euch anzuhören. Bitte, Herr Vertreter der Protestanten!«

Ein großer Mann mit strengen Gesichtszügen erhob sich. Der Präsident der Jury wies ihn zurecht.

»Ihr seid heute Richter, Monsieur Delmas. Ihr seid es der Majestät der Justiz schuldig, den Angeklagten sitzend anzuhören.«

Delmas sank wieder auf seinen Platz zurück.

»Bevor ich das Verhör des Angeklagten übernehme«, sagte er, »möchte ich an den hohen Gerichtshof eine Bitte richten, wobei ich mich hinsichtlich des Angeklagten nicht etwa von parteiischer Nachsicht leiten lasse, sondern einzig von allgemein menschlichen Gefühlen. Jedermann weiß, daß der Angeklagte seit seiner Kindheit verkrüppelt ist, infolge der Bruderkriege, die so lange unser Land und insbesondere die südwestlichen Provinzen, aus denen er stammt, verheerten. Da die Verhandlung sich in die Länge zu ziehen scheint, bitte ich das Gericht, dem Angeklagten zu erlauben, sich zu setzen, da er zusammenzubrechen droht.«

»Das geht nicht an«, versetzte der hämische Bourié. »Der Angeklagte hat der Verhandlung in kniender Haltung beizuwohnen, so verlangt es die Tradition. Man ist ihm schon genügend entgegengekommen, indem man ihm erlaubte, stehenzubleiben.«

»Ich wiederhole meinen Antrag«, erklärte Delmas.

»Natürlich«, kläffte Bourié, »jedermann weiß, daß Ihr den Angeschuldigten als so etwas wie einen Glaubensgenossen betrachtet, weil er die Milch einer hugenottischen Amme eingesogen hat und behauptet, in seiner Kindheit von Katholiken mißhandelt worden zu sein, was erst noch zu beweisen wäre.«

»Ich wiederhole, daß es eine Frage der Menschlichkeit und der Vernunft ist. Die Verbrechen, deren man diesen Mann beschuldigt, erfüllen mich genauso mit Abscheu wie Euch, Monsieur Bourié, aber wenn er zusammenbricht, werden wir mit diesem Prozeß nie zu Ende kommen.«

»Ich werde nicht zusammenbrechen, und ich danke Euch, Monsieur Delmas. Fahren wir fort, ich bitte darum«, erklärte der Angeklagte in so gebieterischem Ton, daß das Gericht nach kurzer Unschlüssigkeit zustimmte.

»Monsieur de Peyrac«, begann Delmas von neuem, »ich vertraue Eurem Eid, die Wahrheit zu sagen, und auch Eurer Versicherung, daß Ihr nicht mit dem bösen Geist in Verbindung gestanden habt. Indessen sind da noch zu viele dunkle Punkte, als daß Eure Aufrichtigkeit über jeden Zweifel erhaben wäre. Deshalb fordere ich Euch auf, mir alle Fragen zu beantworten, die ich Euch in der einzigen Absicht stellen werde, die furchtbaren Zweifel zu zerstreuen, die über Euren Handlungen schweben. Ihr behauptet, Gold aus Gestein extrahiert zu haben, in dem Fachleute keines finden können. Lassen wir das auf sich beruhen. Aber weshalb habt Ihr Euch einer seltsamen und mühseligen Arbeit hingegeben, für die Euch Euer Adelstitel nicht bestimmt hat?«

»In erster Linie hatte ich den Wunsch, mich durch Arbeit und Nutzung der geistigen Gaben zu bereichern, die ich mitbekommen habe. Andere fordern Renten oder leben auf Kosten des Nachbarn oder bleiben Bettler. Da keine dieser Möglichkeiten mir zusagte, bemühte ich mich, aus meinen geringen Ländereien den größtmöglichen Gewinn zu ziehen. Wobei ich, wie ich meine, nicht gegen Gottes Gebot verstoßen habe, das da besagt: >Du sollst dein Licht nicht unter den Scheffel stellen.< Das bedeutet, glaube ich, daß wir, falls wir eine Gabe oder ein Talent besitzen, nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht haben, es zu nutzen.«

Das Gesicht des Richters erstarrte.

»Es steht Euch nicht zu, Monsieur, uns von göttlichen Verpflichtungen zu reden. Doch weiter ...

Weshalb habt Ihr Euch mit ausschweifenden und auch absonderlichen Menschen umgeben, die aus dem Ausland kamen und, ohne der Spionage gegen unser Land überführt zu sein, immerhin keine ausgesprochenen Freunde Frankreichs oder auch nur Roms sind, wie ich höre?«

»Die nach Eurer Ansicht absonderlichen Menschen sind zumeist ausländische Gelehrte - Schweizer, Italiener oder Deutsche -, deren Arbeiten ich mit den meinigen vergleiche. Diskussionen über die Schwerkraft der Erde sind ein harmloser Zeitvertreib. Was die Ausschweifungen betrifft, die man mir vorwirft, so haben sich in meinem Palais kaum skandalösere Dinge zugetragen als in der Zeit, da die höfische Liebe nach den Worten der Gelehrten selbst >die Gesellschaft verfeinerte<, und gewiß weniger, als heutzutage und allabendlich am Hof und in allen Schenken der Hauptstadt geschehen.«

Angesichts dieser gewagten Äußerung runzelten einige der Richter die Stirn. Doch Joffrey de Peyrac hob die Hand und rief:

»Meine Herren Beamten und Juristen, die Ihr zum großen Teil diese Versammlung ausmacht, ich weiß sehr wohl, daß Ihr dank Eurer Sittenstrenge und vernünftigen Lebensführung eines der gesündesten Elemente der Gesellschaft darstellt. Laßt Euch nicht durch eine Äußerung verstimmen, die von anderen Vorstellungen ausgeht als von den Eurigen, und durch Worte, die Ihr oft selbst in Eurem Herzen geflüstert habt.«

Diese geschickte, in aufrichtigem Ton geäußerte Bemerkung brachte Richter und Kanzlisten, die sich insgeheim durch die Anerkennung ihrer ehrsamen und wenig vergnüglichen Existenz geschmeichelt fühlten, ein wenig aus der Fassung.

Delmas hüstelte und blätterte angelegentlich in seinen Akten.

»Man sagt, daß Ihr acht Sprachen beherrscht.«

»Pico della Mirandola im vergangenen Jahrhundert beherrschte deren achtzehn, und niemand hat ihm damals unterstellt, es sei der Teufel in Person gewesen, der sich die Mühe gemacht habe, sie ihm beizubringen.«

»Außerdem ist erwiesen, daß Ihr die Frauen behext habt. Ich möchte ein von Unglück und Mißgeschick ohnehin genug verfolgtes Menschenwesen nicht unnötig demütigen, aber wenn man Euch anschaut, kann man sich schwerlich vorstellen, daß es Euer Äußeres war, das die Frauen in solchem Maße anzog, daß sie sich allein bei Eurem Anblick umbrachten oder in einen Trancezustand versetzt wurden.«

»Man sollte nichts übertreiben«, sagte der Graf lächelnd. »Nur diejenigen haben sich behexen lassen, wie Ihr es nennt, die dazu willens waren; daß es überspannte Mädchen gibt, wissen wir alle. Das Kloster oder besser noch das Spital ist der ihnen gemäße Aufenthaltsort, und man soll die Frauen nicht nach ein paar Närrinnen beurteilen.«

Delmas setzte eine noch feierlichere Miene auf.

»Es ist allgemein bekannt, und zahlreiche Berichte bestätigen es, daß Ihr bei Euren >Minnehöfen< - einer an sich schon gottlosen Einrichtung, denn Gott hat gesagt: >Du sollst lieben, um dich fortzupflanzen<

- öffentlich die körperliche Liebe verherrlicht.«

»Der Herr hat nie gesagt: >Du sollst dich wie ein Hund oder eine Hündin fortpflanzen<, und ich sehe nicht ein, weshalb das Lehren der Liebeskunst etwas Teuflisches sein soll.«

»Eure Hexenkünste sind es!«

»Wenn ich in der Hexenkunst wirklich so bewandert wäre, würde ich gewiß nicht hier sein.«

Eine weitere Stunde verging, in deren Verlauf verschiedene Richter dem Angeklagten überaus törichte Fragen stellten, etwa die, mit wie vielen Frauen er zu gleicher Zeit geschlechtlich verkehren könne.

Graf Peyrac reagierte auf solche Albernheiten entweder mit Verachtung oder einem ironischen Lächeln. Offensichtlich glaubte ihm niemand, als er versicherte, daß er immer nur eine Frau liebe.

Bourié, den die anderen Richter diese delikate Debatte allein führen ließen, bemerkte höhnisch:

»Eure amouröse Potenz ist so berühmt, daß wir nicht überrascht waren zu erfahren, daß Ihr Euch so schändlichen Vergnügungen hingabt.«

»Wäre Eure Erfahrung ebenso groß wie meine amouröse Potenz«, erwiderte Graf Peyrac mit bissigem Lächeln, »dann wüßtet Ihr, daß das Verlangen nach solchen Vergnügungen eher die Folge einer Impotenz ist, die die erwünschte Erregung in anomalen Freuden sucht. Was mich betrifft, meine Herren, so gestehe ich, daß mir das Zusammensein mit einer einzigen Frau zu verschwiegener nächtlicher Stunde genügt, um meine Begierde zu stillen. Ich möchte noch dieses hinzufügen«, sagte er in ernsterem Ton: »Ich fordere die Gerüchtemacher der Stadt Toulouse und des Languedoc heraus zu beweisen, daß ich, wie sie behaupten, seit meiner Hochzeit der Liebhaber einer anderen Frau als der meinigen gewesen bin.«

»Die Voruntersuchung erkennt diesen Einzelumstand tatsächlich an«, stimmte der Richter Delmas zu.

»Ein sehr nebensächlicher Umstand!« sagte Joffrey ironisch.

Der Gerichtshof geriet in verlegene Unruhe. Masseneau bedeutete Bourié, darüber hinwegzugehen, doch dieser, der die systematische Verwerfung der von ihm so sorgfältig gefälschten Akten nicht verwinden konnte, gab sich noch nicht geschlagen.

»Ihr habt Euch noch nicht zu der gegen Euch erhobenen Beschuldigung geäußert, erregende Drogen in die Getränke Eurer Gäste geschüttet zu haben, die sie dazu verleiteten, sich gegen das sechste Gebot zu versündigen.«

»Ich weiß, daß es zu diesem Zweck bestimmte Drogen gibt, das Kantharidium beispielsweise. Aber es war nie meine Art, durch künstliche Mittel zu erzwingen, was nur die natürlichen Eingebungen des Verlangens gewähren können.«

»Gleichwohl hat man uns berichtet, daß Ihr mit großer Sorgfalt die Speisen und Getränke ausgewählt habt, die Ihr Euren Gästen vorsetztet.«

»War das nicht selbstverständlich? Tut das nicht jeder, der darauf bedacht ist, seine Gäste zu erfreuen?«

»Ihr habt behauptet, wenn man die Absicht habe, einen Menschen für sich zu gewinnen, sei es von großer Bedeutung, was man ihm zu essen und zu trinken vorsetze. Ihr habt Zauberformeln gelehrt .«

»Keineswegs. Ich habe gelehrt, daß man die Gaben genießen soll, die die Erde uns beschert, daß man aber in allen Dingen die Hilfsmittel beherrschen muß, die zu dem ersehnten Ziele führen.«

»Nennt uns einige Eurer Lehren.«

Joffrey blickte um sich, und Angélique sah das flüchtige Aufleuchten eines Lächelns.

»Ich stelle fest, daß Ihr Euch für diese Dinge ebenso brennend zu interessieren scheint, meine Herren Richter, wie weniger bejahrte Jünglinge auch. Ob Student oder Beamter - träumt man nicht immer davon, sein Liebchen zu erringen? Ach, meine Herren, ich fürchte sehr, Euch zu enttäuschen! Genausowenig wie für das Gold besitze ich hierfür eine Zauberformel. Meine Lehre ist von der menschlichen Vernunft inspiriert. Als Ihr als angehender Richter diesen ehrwürdigen Bezirk betratet, Herr Präsident, bedeutete es da für Euch nicht eine Selbstverständlichkeit, Euch all das Wissen anzueignen, das Euch dazu befähigen würde, eines Tages das Amt zu erlangen, das Ihr heute bekleidet? Ihr hättet es als unsinnig empfunden, die Tribüne zu besteigen und das Wort zu ergreifen, ohne Euch vorher mit dem Prozeß genau vertraut gemacht zu haben. Lange Jahre hindurch habt Ihr Euer Augenmerk darauf gerichtet, den Fallstricken auszuweichen, die man auf Euren Weg legte. Warum sollten wir nicht die gleiche Sorgfalt auf die Dinge der Liebe verwenden? Auf allen Gebieten ist Unwissenheit schädlich, um nicht zu sagen strafbar. Meine Lehre hatte nichts Okkultes. Und da Monsieur Bourié von mir gern Einzelheiten wissen möchte, würde ich ihm beispielsweise empfehlen, nicht in die Schenke zum >Schwarzen Kopf< einzukehren und dort einen Krug hellen Biers nach dem andern zu trinken, wenn er sich in froher Stimmung und zu Zärtlichkeiten geneigt schon auf dem Nachhausewege befindet. Er würde sich bald darauf recht betrübt zwischen seinen Federbetten wiederfinden, während seine enttäuschte Gattin am nächsten Tage der Versuchung nicht widerstehen könnte, die zärtlichen Blicke schmucker Kavaliere nicht weniger zärtlich zu erwidern .«

Hier und dort klang Gelächter auf, und einzelne junge Leute applaudierten. »Freilich gebe ich zu«, fuhr Joffreys klangvolle Stimme fort, »daß solche Reden in meinem kläglichen Zustand nicht eben angebracht erscheinen. Aber da ich mich zu einer Beschuldigung äußern soll, möchte ich zum Schluß dieses wiederholen: Wenn man sich dem Dienst der Venus weihen will, gibt es, meine ich, kein besseres Reizmittel als ein schönes Mädchen, dessen gesunde Leibesbeschaffenheit dazu ermuntert, die sinnliche Liebe nicht zu verachten.«

»Angeklagter«, sagte Masseneau streng, »ich muß Euch abermals zum Anstand mahnen. Denkt daran, daß in diesem Saal heilige Frauen anwesend sind, die unter dem Nonnenkleid ihre Jungfräulichkeit Gott geweiht haben.«

»Herr Präsident, ich darf darauf hinweisen, daß nicht ich die ... Unterhaltung, wenn ich so sagen darf, auf dieses schlüpfrige ... und reizvolle Gebiet gelenkt habe.«

Wieder erklang vereinzeltes Gelächter. Delmas bemerkte, dieser Teil des Verhörs hätte in lateinischer Sprache geführt werden müssen, aber Fallot de Sancé, der zum erstenmal sprach, wandte treffend ein, jeder der sich ausJuristen, Priestern und Ordensangehörigen zusammensetzenden Zuhörerschaft verstehe Latein, und es lohne nicht, sich einzig der keuschen Ohren der Soldaten, Häscher und Hellebardiere wegen Zwang anzutun.

Mehrere Richter ergriffen alsdann das Wort, um gewisse Anschuldigungen kurz zusammenzufassen.

Angélique hatte den Eindruck, daß bei aller Wirrnis der Verhandlung die Anklage immer wieder auf den einzigen Punkt hinauslief: Hexerei, teuflische Bezauberung von Frauen und das »Echtmachen« des durch alchimistische und satanische Mittel gewonnenen Goldes.

Sie seufzte erleichtert auf: Klagte man ihren Gatten nur des Umgangs mit dem Teufel an, hatte er Aussicht, sich den Klauen der königlichen Justiz zu entwinden.

Der Verteidiger konnte die üble Prozedur des betrügerischen Exorzismus enthüllen, deren Opfer Joffrey geworden war, und schließlich würde die Demonstration des alten Sachsen Hauer zeigen, worin die »Vermehrung des Goldes« bestand. Vielleicht gelang es am Ende doch, die Richter zu überzeugen.

Angélique senkte den Blick und schloß die Augen für eine Weile.

Als sie sie wieder aufschlug, glaubte sie eine Vision zu haben: der Mönch Becher war auf der Tribüne erschienen.

Er legte den Eid auf das Kruzifix ab, das ihm ein anderer Mönch entgegenhielt. Dann begann er abgehackt und mit dumpfer Stimme zu erzählen, wie er von dem großen Magier Joffrey de Peyrac getäuscht worden sei, der vor ihm aus flüssigem Gestein unter Zuhilfenahme eines vermutlich aus dem Lande der kimmerischen Finsternis mitgebrachten Steins der Weisen echtes Gold gewonnen habe. Dieses Land habe ihm der Graf bereitwillig als ein ödes, eisiges Gestade geschildert, über dem Tag und Nacht Donner grolle, Sturm dem Hagel folge und ein Feuerberg ununterbrochen flüssige Lava ausspeie, die sich über das ewige Eis ergösse, ohne es zum Schmelzen bringen zu können.

»Diese letzte Behauptung ist die Erfindung eines Visionärs«, bemerkte Graf Peyrac.

»Unterbrecht den Zeugen nicht«, gebot der Präsident.

Der Mönch versicherte, der Graf habe in seiner Gegenwart einen über zwei Pfund schweren Barren reinen Goldes hergestellt, das später von Spezialisten geprüft und als tatsächlich echt bezeichnet worden sei.

»Ihr erwähnt nicht, daß ich es Seiner Eminenz von Toulouse für seine frommen Werke geschenkt habe«, mischte sich der Angeklagte abermals ein.

»Das stimmt«, bestätigte der Mönch. »Dieses Gold hat sogar dreiunddreißig Exorzismen widerstanden. Was nicht hindert, daß der Schwarzkünstler die Macht behält, es unter Donnergrollen verschwinden zu lassen, wann immer es ihm beliebt. Seine Eminenz war selbst Zeuge dieses grausigen Phänomens, das ihn sehr erregte. Der Zauberer rühmte sich dessen, indem er von >Knallgold< sprach. Er behauptet außerdem, Quecksilber auf die gleiche Weise verwandeln zu können. Alle diese Fakten sind im übrigen in einem Gutachten niedergelegt, das sich in Eurem Besitz befindet.«

Masseneau bemühte sich, einen scherzhaften Ton anzuschlagen.

»Euren Reden nach, Pater, hat der Angeklagte die Kraft, diesen großen Justizpalast zum Einsturz zu bringen, wie Samson die Säulen des Tempels zerbrach.«

Becher rollte die Augen und bekreuzigte sich.

»Oh, fordert den Zauberer nicht heraus! Er ist gewiß nicht weniger stark als Samson.«

Die ironische Stimme des Grafen erklang von neuem:

»Wäre ich mit so viel Macht gerüstet, wie dieser Foltermönch behauptet, hätte ich schleunigst eine Zauberformel zu Hilfe gerufen, um die größte Festung der Welt zu tilgen: die menschliche Dummheit und Leichtgläubigkeit. Descartes hatte unrecht, als er sag-te, das Unendliche sei mit menschlichen Begriffen nicht zu erfassen: die Beschränktheit des Menschen liefert ein sehr schönes Beispiel dafür.«

»Ich mache Euch darauf aufmerksam, Angeklagter, daß wir nicht hier sind, um philosophische Gespräche zu führen. Ihr gewinnt nichts, wenn Ihr Ausflüchte macht.«

»Hören wir also weiterhin diesem würdigen Vertreter des Aberglaubens zu«, sagte Peyrac.

Der Richter Bourié fragte:

»Pater Becher, Ihr habt diesen alchimistischen Prozeduren beigewohnt und seid ein anerkannter Gelehrter. Was für ein Ziel hat der Angeklagte nach Eurem Dafürhalten im Auge gehabt, als er sich dem Teufel überlieferte? Reichtum? Liebe?«

Becher reckte sich zu seiner ganzen mageren Größe auf, so daß er Angélique wie ein Höllengeist schien, der im Begriff ist, sich aufzuschwingen.

Becher schrie mit farbloser Stimme:

»Ich kenne sein Ziel. Reichtum und Liebe? Was liegt ihm schon daran!

Macht und Verschwörung gegen den Staat oder den König? Ebensowenig! Aber er will es Gott gleichtun. Ich bin überzeugt, daß er Leben zu erschaffen vermag, das heißt, daß er dem Schöpfer Schach zu bieten versucht.«

»Pater«, sagte der Protestant Delmas bescheiden, »habt Ihr Beweise für diese furchtbare Behauptung?«

»Ich habe mit meinen eigenen Augen Homunculi seinem Laboratorium entsteigen sehen, auch Gnome, Chimären, Drachen. Zahlreiche Bauern, mir namentlich bekannt, sahen sie in gewissen Gewitternächten umherirren und in jenem unheimlichen Laboratorium aus und ein gehen, das eines Tages durch die Explosion dessen, was der Graf als Knallgold bezeichnet, ich jedoch unbeständiges oder satanisches Gold nenne, fast völlig zerstört wurde.«

Die Zuhörerschaft hielt beklommen den Atem an. Eine Nonne sank in Ohnmacht und mußte hinausgetragen werden.

Der Präsident wandte sich an den Zeugen und redete ihm feierlich ins Gewissen, sich zu bedenken und seine Worte abzuwägen. Er fragte ihn als Mann der hermetischen Wissenschaften und Verfasser bekannter und von der Kirche ausdrücklich genehmigter Bücher, wie dergleichen möglich sein könne, und vor allem, ob er auf diesem Gebiet Präzedenzfälle kenne.

Becher warf sich in die Brust und schien abermals zu wachsen. Fast sah es so aus, als wolle er in seiner weiten, schwarzen Kutte wie ein Unheil verkündender Rabe davonfliegen.

In emphatischem Tone rief er aus:

»An berühmten Abhandlungen über dieses Thema fehlt es nicht. Paracelsus hat schon in De Natura Rerum erklärt, daß die Pygmäen, die Faune, die Nymphen und die Satyrn von der Alchimie gezeugt worden sind! Andere Schriften besagen, daß man Homunculi oder kleine Männchen, die häufig nicht größer als ein Daumen sind, im Urin der Kinder finden kann. Der Homunculus ist zuerst unsichtbar und nährt sich von Wein und Rosenwasser: ein kleiner Schrei kündigt seine eigentliche Geburt an. Nur die fähigsten Magier vermögen ein solches Zauberwerk teuflischer Schöpfung zu erschaffen, und der hier gegenwärtige Graf Peyrac war ein solcher Magier, denn er hat selbst erklärt, er bedürfe des Steins der Weisen nicht, um die Transmutation des Goldes zu bewerkstelligen.«

Der Richter Bourié stand erregt auf.

»Was habt Ihr auf eine solche Anschuldigung zu erwidern?«

Peyrac zuckte ungeduldig die Schultern und sagte voller Überdruß:

»Wie soll ich die Phantastereien eines offensichtlich geistig erkrankten Individuums widerlegen?«

»Ihr habt nicht das Recht, Angeklagter, einer Antwort auszuweichen«, mischte sich Masseneau ruhig ein. »Gebt Ihr zu, diesen mißgestalten Wesen, von denen die Rede ist, >das Leben gegeben< zu haben, wie dieser Priester sagt?«

»Absolut nicht, und selbst wenn dergleichen möglich wäre, würde es mich nicht im geringsten interessieren.«

»Ihr haltet es also für möglich, auf künstlichem Wege Leben zu zeugen?«

»Wie kann ich das wissen? Die Wissenschaft hat noch nicht das letzte Wort gesprochen, und bietet die Natur nicht verwirrende Beispiele? Im Orient beobachtete ich die Verwandlung gewisser Fische in Wassermolche. Ich brachte sogar einige dieser Wesen nach Toulouse mit, aber die Mutation hat sich nie wiederholen wollen, was wahrscheinlich auf unser gemäßigteres Klima zurückzuführen ist.«

»Mit einem Wort«, sagte Masseneau mit einem dramatischen Tremolo in der Stimme, »Ihr billigt dem Herrn bei der Erschaffung der Lebewesen keine Rolle zu?«

»Das habe ich nie gesagt«, erwiderte der Graf ruhig. »Ich kenne nicht nur mein Credo, sondern glaube auch, daß Gott alles geschaffen hat. Nur sehe ich nicht ein, was Ihr dagegen einzuwenden habt, daß er gewisse Übergangsformen zwischen Pflanze und Tier, zwischen Kaulquappe und Frosch vorsah. Jedenfalls habe ich persönlich niemals Wesen >herge-stellt<, die Ihr Homunculi nennt.«

Nun zog Conan Becher eine kleine Phiole aus den weiten Falten seiner Kutte und reichte sie dem Präsidenten. Langsam wanderte sie durch die Hände der Geschworenen. Von ihrem Platz aus konnte Angélique ihren Inhalt nicht erkennen, sah aber, daß die meisten Mitglieder des Gerichtshofs sich bekreuzten. Einer der Richter ließ einen Gerichtsdiener rufen und schickte nach Weihwasser in die Kapelle.

Auf den Gesichtern der Gerichtspersonen malte sich Entsetzen, dann Todesangst. Der Richter Bourié rieb sich unaufhörlich die Hände, und man wußte nicht, ob vor Befriedigung oder um die Spuren schändlichen Gottesfrevels an seinen Fingern zu tilgen. Nur Peyrac schien für diese Prozedur kein Interesse aufzubringen.

Die Phiole kam zum Präsidenten Masseneau zurück, der sich, um sie zu untersuchen, eines Lorgnons mit dicker Schildpattumrandung bediente. Endlich brach er das angsterfüllte Schweigen.

»Dieses Ungeheuer ähnelt eher einer eingetrockneten Eidechse«, bemerkte er in enttäuschtem Ton.

»Ich habe zwei dieser vermutlich als Zaubermittel dienenden pergamentartigen Homunculi entdeckt, nachdem ich unter Lebensgefahr in das alchimistische Laboratorium des Grafen eingedrungen war«, erklärte der Mönch Becher bescheiden.

Masseneau wandte sich an den Angeklagten: »Erkennt Ihr diesen ... dieses Ding wieder? Wache, bringt dem Angeklagten die Phiole!«

Der angesprochene Koloß in Uniform wurde von konvulsivischen Zuckungen erfaßt. Er stammelte, zögerte und ergriff schließlich beherzt die Phiole, ließ sie dann aber so unglücklich fallen, daß sie zerbrach.

Ein enttäuschtes »Oh!« lief durch die Menge, die alsbald nach vorne drängte, um die Sache aus der Nähe zu besehen. Aber die Wachen hatten sich vor der ersten Reihe aufgepflanzt und hielten die Neugierigen zurück.

Schließlich trat ein Hellebardier hinzu und spießte mit seiner Waffe einen kleinen, undefinierbaren Gegenstand auf, den er dem Grafen Peyrac vor die Nase hielt.

»Das ist zweifellos einer der Wassermolche, die ich aus China mitgebracht habe«, sagte dieser gelassen. »Sie sind offenbar aus dem Aquarium entkommen, in das ich meinen Brennkolben zu tauchen pflegte, um das Wasser, in dem sie schwammen, gleichmäßig warm zu halten. Arme kleine Tiere .!«

»Eine der letzten Fragen des Verhörs«, sagte Masseneau. »Angeklagter, erkennt Ihr dieses Blatt hier wieder, auf dem ketzerische und alchimistische Werke verzeichnet sind? Diese Liste enthält, wie festgestellt wurde, die Titel derjenigen Bücher Eurer Bibliothek, die Ihr am häufigsten zu Rate gezogen habt. Ich sehe in dieser Aufzählung vor allem De Natura Rerum von Paracelsus, in dem die Stelle, die die teuflische Herstellung von Unholden wie dieser Homunculi betrifft, rot unterstrichen und mit einigen Worten von Eurer Hand versehen ist.«

Der Graf antwortete mit einer Stimme, die vor Erschöpfung heiser wurde:

»Das stimmt. Ich erinnere mich, in solcher Weise eine Anzahl Absurditäten unterstrichen zu haben.«

»Auf dieser Liste stehen außerdem Bücher, die nicht von der Alchimie handeln, die aber nichtsdestoweniger verboten sind. Ich zitiere: >Das Liebesleben der Gallier<, >Die widernatürliche Liebe in Frankreich<, >Die galanten Intrigen am französischen Hof<. Diese Bücher wurden in Den Haag oder in Lüttich gedruckt, wohin sich, wie wir wissen, die gefährlichsten der aus dem Königreich vertriebenen Pamphletisten flüchten. Diese Bücher werden heimlich nach Frankreich eingeführt, und wer sie zu erwerben versucht, macht sich im höchsten Grade schuldig. Ich lese auf dieser Liste auch Namen wie Galilei und Kopernikus, deren wissenschaftliche Theorien die Kirche mißbilligt hat.«

»Ich vermute, diese Liste stammt von einem Haushofmeister namens Clément, einem Spitzel im Solde ich weiß nicht welcher hohen Persönlichkeit, der mehrere Jahre in meinem Dienst war. Sie stimmt. Aber ich möchte daraufhinweisen, meine Herren, daß zwei Motive einen Amateur dazu bewegen können, dieses oder jenes Buch in seine Bibliothek zu stellen. Entweder man wünscht ein Zeugnis der menschlichen Klugheit zu besitzen, und das ist der Fall, wenn es sich um Werke von Kopernikus und Galilei handelt, oder aber man wünscht am Maßstab der menschlichen Dummheit die Fortschritte abzulesen, die die Wissenschaft seit den letzten Jahrhunderten gemacht hat und noch machen muß. Dieses ist der Fall, wenn man sich mit den Geistesprodukten des Paracelsus oder des Conan Becher befaßt. Glaubt mir, Ihr Herren, allein die Lektüre dieser Werke ist eine Strafe.«

»Mißbilligt Ihr die ordnungsmäßige Verdammung der gottlosen Theorien des Kopernikus und des Galilei durch die römische Kirche?«

»Ja, denn die Kirche hat sich offenkundig getäuscht. Was nicht besagt, daß ich sie auch in anderer Hinsicht anklage. Es wäre mir lieber gewesen, ich hätte mich auf sie und ihr Wissen um Exorzismus und Hexerei verlassen können, als daß ich mich nun einem Prozeß ausgeliefert sehe, der sich in sophistischen Diskussionen verliert .«

Der Präsident hob in einer theatralischen Geste die Arme, wie um darzutun, daß es unmöglich sei, einen so unzugänglichen Angeklagten zur Vernunft zu bringen. Sodann beriet er sich flüsternd mit seinen Kollegen und verkündete endlich, das Verhör sei abgeschlossen, und man werde zur Vernehmung einiger Belastungszeugen übergehen.

Auf ein Zeichen von ihm setzten sich zwei Wachen in Bewegung, und hinter der Tür, durch die bereits der Gerichtshof eingetreten war, wurden Geräusche vernehmbar. Gleich darauf erschienen zwei Mönche in Weiß im Saal, sodann vier Nonnen und schließlich zwei Rekollekten in brauner Kutte. Die Gruppe stellte sich in einer Reihe vor der Geschworenentribüne auf.

Masseneau erhob sich.

»Meine Herren, wir treten nun in den heikelsten Teil des Prozesses ein. Vom König, dem Beschützer der Kirche Gottes, berufen, einen Hexenprozeß zu führen, mußten wir Zeugnisse beibringen, die gemäß dem römischen Ritual den schlagenden Beweis liefern sollten, daß der Sieur Peyrac mit dem Teufel im Bund steht. Vor allem bezüglich des dritten Punkts des Rituals, der besagt .«

Er beugte sich vor, um einen Text abzulesen.

». der besagt, daß die Person, die mit dem Teufel in Verbindung steht und die man gemeinhin >echte Besessene< nennt, übernatürliche Macht über den Geist und den Körper der andern< besitzt, liegt fol-gender Tatbestand vor .«

Der bitteren Kälte zum Trotz, die in dem großen Saal herrschte, wischte sich Masseneau diskret die Stirn, dann las er, ein wenig stockend, weiter.

». Es sind uns die Klagen der Äbtissin des Kloster der Jungfrauen des heiligen Leander in der Auvergne zu Ohren gekommen. Diese erklärte, eine vor kurzem in die Gemeinschaft aufgenommene Novize, die zunächst zu keinen Klagen Anlaß gegeben habe, bekunde neuerdings Zeichen eines Besessenseins, das sie dem Grafen Peyrac zur Last lege. Sie verhehle nicht, daß dieser sie früher zu sittenwidrigen Handlungen gezwungen und die Reue über diese Verfehlungen sie veranlaßt habe, sich ins Kloster zurückzuziehen. Aber sie finde dort nicht den Frieden, denn jener Mann fahre fort, sie aus der Ferne zu versuchen, und zweifellos habe er sie behext. Kurze Zeit darauf brachte sie dem Kapitel einen Rosenstrauß, der ihr, wie sie behauptete, über die Klostermauer von einem Unbekannten zugeworfen worden sei; der die Gestalt des Grafen Peyrac gehabt habe, der aber ein böser Geist gewesen sein müsse, denn es wurde nachgewiesen, daß der genannte Edelmann sich zu eben jener Zeit in Toulouse befunden hatte. Der besagte Strauß rief innerhalb der Gemeinschaft höchst seltsame Verwirrungen hervor. Andere Nonnen gerieten in merkwürdige und obszöne Verzückungszustände. Als sie wieder zur Besinnung kamen, sprachen sie von einem hinkenden Teufel, dessen Anblick sie mit übermenschlicher Wonne erfüllt und in ihrem Fleisch ein unauslöschliches Feuer entzündet habe. Begreiflicherweise verblieb die Novize infolge dieser Gemütswallungen in einem nahezu ununterbrochenen Trancezustand. Besorgt wandte sich die Äbtissin von Sankt Leander schließlich an ihre Vorgesetzten. Da zu jener Zeit gerade die Voruntersuchung im Prozeß des Sieur Peyrac begann, übersandte mir der Kardinalerzbischof von Paris die Akten. Und wir werden jetzt die Nonnen jenes Klosters vernehmen.«

Masseneau beugte sich über sein Pult und wandte sich respektvoll an eine der Haubenträgerinnen.

»Schwester Carmencita de Mérecourt, erkennt Ihr in jenem Manne denjenigen wieder, der Euch aus der Ferne verfolgt und behext hat?«

Eine pathetische Altstimme erklang:

»Ich erkenne meinen alleinigen und einzigen Gebieter.«

Mit Verblüffung entdeckte Angélique unter den strengen Schleiern das sinnliche Gesicht der schönen, heißblütigen Spanierin.

Masseneau räusperte sich und brachte mit sichtlicher Mühe heraus:

»Nun, Schwester, habt Ihr nicht das Ordenskleid angelegt, um Euch ausschließlich dem Herrn zu weihen?«

»Ich wollte dem Bilde des Mannes entrinnen, der mich behexte. Vergebens. Er verfolgt mich bis zum Meßamt.«

»Und Ihr, Schwester Louise de Rennefonds, erkennt Ihr denjenigen, der Euch während der Zwangsvorstellungen erschienen ist, deren Opfer Ihr wart?«

Eine junge und zitternde Stimme antwortete zaghaft:

»Ja, ich ... ich glaube. Aber derjenige, den ich sah, hatte Hörner .«

Eine Woge des Gelächters ging durch den Saal, und ein Kanzlist rief:

»Hoho! Schon möglich, daß ihm während seines Aufenthalts in der Bastille welche gewachsen sind.«

Angélique stieg zornige Röte ins Gesicht, und ihre Gefährtin griff nach ihrer Hand, um sie an ihr Versprechen zu erinnern, sich zu beherrschen.

Masseneau fuhr fort, indem er sich an die Äbtissin wandte:

»Madame, ich bin leider genötigt, Euch zu bitten, Eure Aussagen vor diesem Gericht zu bestätigen.«

Die betagte Nonne, die nicht bewegt, sondern nur unwillig zu sein schien, ließ sich nicht lange bitten und erklärte mit klarer Stimme:

»Was sich seit einigen Monaten in jenem Kloster zuträgt, dessen Äbtissin ich dreißig Jahre lang gewesen bin, ist eine wahre Schande. Man muß in den Klöstern leben, Ihr Herren, um zu wissen, zu welch grotesken Possen der Teufel fähig ist, wenn es ihm durch Vermittlung eines Hexenmeisters ermöglicht wird, sich zu offenbaren. Ich verhehle nicht, daß ich die mir heute zufallende Aufgabe als äußerst peinlich empfinde, denn ich bin gezwungen, vor einem weltlichen Gericht Geschehnisse auszubreiten, die eine Beleidigung der Kirche darstellen; doch hat mich Seine Eminenz der Kardinalerzbischof damit beauftragt. Indessen möchte ich bitten, unter Ausschluß der Öffentlichkeit vernommen zu werden.«

Der Präsident gab zur Befriedigung der Äbtissin und zur Enttäuschung der Zuhörerschaft dieser Bitte statt, und der Gerichtshof zog sich alsbald mit den Nonnen in einen Raum im Hintergrund zurück, der gewöhnlich als Kanzlei diente. Nur Carmencita blieb unter dem Schutz der vier Mönche, die sie hergebracht hatten, und zweier Gardisten im Saal.

Angélique betrachtete ihre einstige Rivalin. Die Spanierin hatte nichts von ihrer Schönheit eingebüßt

- im Gegenteil. Die klösterliche Zurückgezogenheit schien ihr Antlitz, in dem die großen schwarzen Augen einen überspannten Traum zu verfolgen schienen, geläutert und verfeinert zu haben.

Auch das Publikum weidete sich offenbar am Anblick der schönen Behexten. Angélique hörte Maître Gallemand spöttisch sagen:

»Verdammt noch eins, der Große Hinkefuß steigt in meiner Achtung!«

Ihr Gatte hatte, wie die junge Frau bemerkte, der letzten Szene keine Beachtung geschenkt. Jetzt, da der Gerichtshof hinausgegangen war, wollte er sich offenbar ein wenig ausruhen. Er versuchte, sich auf dem infamen Bänkchen niederzulassen, was ihm schließlich mit schmerzverzerrtem Gesicht gelang. Das lange Stehen mit seinen Krücken und vor allem die in der Bastille ertragene Tortur mit der Nadel hatten einen Märtyrer aus ihm gemacht. Eine Woge des Mitleids erfüllte fast schmerzhaft Angéliques Herz.

Schwester Carmencita tat plötzlich einige Schritte in die Richtung des Angeklagten, wurde jedoch von den Wachen zurückgetrieben. Jäh verwandelte sich das schöne Madonnengesicht. Es verzerrte sich, die Augen quollen hervor, und der Mund öffnete und schloß sich wie in einem schrecklichen Krampf. Dann führte sie blitzschnell die Hand an die Lippen. Ihre Zähne knirschten, weißer Schaum bildete sich vor dem Mund.

Desgray sprang auf.

»Seht! Da haben wir’s: das ist die große Szene der Seifenblasen.«

Bevor er weitersprechen konnte, wurde er gepackt und hinausgezerrt. Sein Ausruf löste bei der atemlosen Menge, die wie gebannt auf dieses Schauspiel starrte, kein Echo aus.

Ein konvulsivisches Zucken durchlief den ganzen Körper der Nonne. Sie tat ein paar schwankende Schritte auf den Angeklagten zu. Als die Mönche ihr erneut den Weg versperrten, blieb sie stehen, hob die Hände und begann ihre Haube mit ruckartigen Bewegungen herunterzureißen, wobei sie sich immer rascher um sich selbst drehte.

Die vier Ordensgeistlichen umdrängten sie und versuchten, sie zu überwältigen. Doch sei es, daß sie nicht wagten, allzu gewalttätig vorzugehen, sei es, daß sie tatsächlich nicht mit ihr fertig wurden - jedenfalls entglitt sie ihnen wie ein Aal, warf sich zu Boden und kroch mit schlangenartiger Gewandtheit zwischen die Beine und unter die Kutten der Mönche. Dort gab sie sich höchst anstößigen Bewegungen hin, versuchte die Kutten hochzuheben und gab ihre Träger dem Gelächter des Saales preis. Zwei- oder dreimal purzelten die armen Ordensbrüder in denkbar unerbaulicher Haltung übereinander.

Die völlig entgeistert auf dieses tumultuarische Gewirr von Kutten und Rosenkränzen glotzenden Wachen wagten nicht einzugreifen.

Endlich gelang es der nach allen Richtungen sich drehenden und windenden Carmencita, ihr Skapulier herunterzureißen, darauf ihr Kleid und plötzlich im fahlen Licht des Gerichtssaals ihren wundervoll blühenden, nackten Körper aufzurecken.

Der Spektakel war unbeschreiblich. Die Zuschauer schrien wild durcheinander. Eine Anzahl wollte den Saal verlassen, andere wollten keine Sekunde dieses unerhörten Schauspiels verlieren.

Ein ehrbarer Beamter, der in der ersten Reihe saß, riß schließlich seine eigene Robe herunter und verhüllte mit ihr die schamlos Rasende.

Eilends setzten sich die Angélique benachbarten Nonnen unter Führung ihrer Superiorin in Bewegung. Man ließ sie vorbei, da man die Schwestern des Armenhospitals erkannt hatte. Sie umringten Carmencita, und mit Schnüren, die sie wer weiß wo aufgetrieben hatten, banden sie sie wie eine Wurst und schleppten ihre schäumende Beute fast wie in einer Prozession hinaus.

In diesem Augenblick stieg ein greller Ruf aus der entfesselten Menge auf:

»Seht, der Teufel lacht!«

Ausgestreckte Arme wiesen auf den Angeklagten.

Und tatsächlich - Joffrey de Peyrac, in dessen unmittelbarer Nähe sich die Szene abgespielt hatte, ließ seiner Heiterkeit freien Lauf.

Eine Woge des Unwillens und des Abscheus riß die Zuschauermenge nach vorn. Ohne die Wachen, die hinzustürzten und martialisch ihre Hellebarden kreuzten, wäre der Angeklagte in Stücke gerissen worden.

»Kommt mit mir hinaus«, flüsterte Angéliques Gefährtin.

Und da die bestürzte junge Frau zögerte, sagte sie nachdrücklich:

»Aufjeden Fall wird der Saal geräumt werden. Wir müssen schauen, was aus Maître Desgray geworden ist. Von ihm werden wir erfahren, ob die Verhandlung heute nachmittag fortgesetzt wird.«

Sie fanden den Advokaten im Hof des Justizpalastes vor einem kleinen Ausschank, der vom Schwiegersohn und der Tochter des Scharfrichters betrieben wurde.

Der Advokat war sehr erregt.

»Habt Ihr gesehen, wie sie mich unter Ausnutzung der Abwesenheit des Gerichts hinausbeförderten? Verlaßt Euch drauf, wäre ich anwesend gewesen, hätte ich diese Verrückte schon dazu gebracht, das Stückchen Seife auszuspucken, das sie in den Mund genommen hatte! Aber laßt gut sein. Ich werde mir die Übertreibungen dieser beiden Zeugen in meinem Plädoyer zunutze machen .! Wenn nur Pater Kircher nicht so lange auf sich warten ließe, wäre mir wohler zumute. Kommt, setzt Euch an diesen Tisch neben das Feuer, meine Damen. Ich habe bei der kleinen Henkersmaid Eier und Fleischklößchen bestellt. Du hast doch nicht etwa Brühe von Totenköpfen dazu verwendet, meine Schöne?«

»Nein, Monsieur«, erwiderte diejunge Frau freundlich, »man nimmt sie nur zur Suppe der Armen.«

Angélique saß mit aufgestützten Armen am Tisch und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Desgray betrachtete sie verdutzt. Er war der Meinung gewesen, sie weine, merkte aber, daß sie von nervösem Lachen geschüttelt wurde.

»O diese Carmencita!« stammelte sie mit tränenglitzernden Augen. »Was für eine Komödiantin! Ich habe noch nie etwas so Komisches gesehen! Glaubt Ihr, sie hat es absichtlich getan?«

»Wer kennt sich bei den Frauen aus!« brummte der Advokat.

An einem Nachbartisch erzählte ein alter Jurist vor seinen Kollegen:

»Wenn sie Komödie gespielt hat, die Nonne, nun, dann war es gute Komödie. In meiner Jugend bin ich bei dem Prozeß des Abbé Grandin dabeigewesen, der verbrannt wurde, weil er die Nonnen von Loudun behext hatte. Nun, dabei passierte genau dasselbe. Es gab im Saal gar nicht Mäntel genug, um all die hübschen Mädchen zu bedecken, die, hast du nicht gesehen, sich entkleideten, sobald sie seiner ansichtig wurden. Das heute war noch gar nichts. Bei der Loudun-Verhandlung gab es welche, die sich splitterfasernackt auf den Boden legten und .«

Er beugte sich vor, um besonders anstößige Details zu flüstern.

Angélique faßte sich wieder.

»Vergebt mir, daß ich gelacht habe«, murmelte sie. »Ich bin am Ende mit meinen Nerven.«

»Nun, so lacht doch, Ärmste, lacht ruhig!« erwiderte Desgray düster. »Zum Weinen ist noch Zeit genug. Wenn nur Pater Kircher da wäre! Was zum Teufel mag mit ihm los sein?«

Da er die Rufe eines Tintenverkäufers hörte, der sich mit umgehängtem Fäßchen und einem Bündel Gänsekielen in der Hand im Hof herumtrieb, ließ er ihn kommen und kritzelte auf der Tischecke eine Botschaft, die er einem Gerichtsdiener mit dem Auftrag übergab, sie sofort dem Polizeipräfekten, Monsieur d’Aubrays, zu bringen.

»Dieser d’Aubrays ist ein Freund meines Vaters. Ich teile ihm mit, daß er, koste, was es wolle, alle seine Wachen aussenden soll, um mir den Pater Kircher freiwillig oder mit Gewalt in den Justizpalast zu bringen.«

»Habt Ihr ihn im Temple suchen lassen?«

»Zweimal schon hab’ ich den kleinen Corde-au-cou mit einem Briefchen losgeschickt, aber er ist unverrichteterdinge wiedergekommen. Die Jesuiten, die er aufgesucht hat, behaupten, der Pater habe sich heute früh in den Justizpalast begeben.«

»Was befürchtet Ihr?« fragte Angélique beunruhigt.

»Oh, nichts. Es wäre mir eben lieber, wenn er da wäre, das ist alles. Eigentlich sollte die wissenschaftliche Demonstration der Goldextraktion diese Richter überzeugen, auch wenn sie noch so borniert sind. Aber es genügt nicht, sie zu überzeugen, man muß sie auch verblüffen. Einzig die Stimme des Paters Kircher vermag sie zu bestimmen, sich über die königlichen Wünsche hinwegzusetzen. Kommt, die Verhandlung wird wiederaufgenommen, und Ihr wollt doch sicher nicht vor verschlossenen Türen stehen.«

Die Nachmittagssitzung begann mit einer Erklärung des Präsidenten de Masseneau und der Anklagerede des Generalstaatsanwalts Denis Talon, der abermals für die »Hexenmeister und Alchimisten« vorgese-hene Todesstrafe unter Anwendung der peinlichen und hochnotpeinlichen Befragung forderte. Dann kündigte der Präsident an, daß die Zeugen der Verteidigung vernommen würden. Desgray machte einer der Wachen ein Zeichen, und ein munterer Bursche betrat den Saal.

Er erklärte, Robert Davesne zu heißen und Schlosserlehrling beim Meister Dasron in der Rue de la Ferronnerie zu sein. Mit klarer Stimme schwor er unter Anrufung des heiligen Eligius, Schutzpatron der Zunft der Schlosser, die reine Wahrheit zu sagen.

Dann trat er zum Präsidenten Masseneau und übergab ihm einen kleinen Gegenstand, den dieser verwundert und mißtrauisch betrachtete.

»Was ist denn das?«

»Das ist eine Nadel mit Springfeder«, antwortete der Junge ungezwungen. »Da ich geschickte Finger habe, hat mich mein Meister beauftragt, ein solches Ding zu machen, das ein Mönch bei ihm bestellt hatte.«

»Was ist denn das wieder für eine Geschichte?« fragte der Richter, zu Desgray gewandt.

»Herr Präsident, die Anklage hat als belastendes Moment für meinen Mandanten dessen Reaktionen im Verlauf eines Exorzismus erwähnt, der in den Verliesen der Bastille unter Leitung von Conan Becher, dessen geistliche Titel auszusprechen ich mich aus Achtung vor der Kirche weigere, stattgefunden haben soll. Conan Becher hat erklärt, bei der Probe der >Teufelsflecken< habe der Angeklagte auf eine Weise reagiert, die über seinen Umgang mit dem Leibhaftigen keinen Zweifel zulasse. Bei Berührung jedes der im römischen Ritual bezeichneten neuralgischen Punkte soll der Angeklagte Schreie ausgestoßen haben, die sogar die Wärter erschauern ließen. Nun, ich möchte feststellen, daß die Nadel, mit der diese Probe durchgeführt wurde, nach ebendiesem Muster hergestellt worden ist, das Ihr in der Hand haltet. Meine Herren, dieser falsche >Exorzismus<, auf den der Gerichtshof sein Urteil zu stützen geneigt sein könnte, ist mit einem betrügerischen Instrument vorgenommen worden. Es enthielt eine lange Nadel mit Springfeder, die durch einen unmerklichen Druck mit dem Nagel ausgelöst und im gewünschten Augenblick ins Fleisch des Opfers getrieben werden konnte. Ich möchte wetten, daß auch der Beherzteste diese Probe nicht besteht, ohne wie ein Besessener aufzuschreien. Bringt einer von Euch, Ihr Herren Richter, den Mut auf, an sich selbst die Tortur vornehmen zu lassen, der mein Mandant unterworfen wurde und hinter der man sich verschanzt, um ihn des Besessenseins zu zeihen?«

Starr und bleich erhob sich Fallot de Sancé und streckte seinen Arm aus. Doch Masseneau schritt unwillig ein:

»Genug der Komödie! Ist dieses Instrument das gleiche, mit dem der Exorzismus vorgenommen wurde?«

»Es ist seine genaue Kopie. Das Original ist von ebendiesem Lehrling vor ungefähr drei Wochen in die Bastille gebracht und Becher übergeben worden. Der Lehrling kann es bezeugen.«

Im gleichen Augenblick betätigte der Junge arglistigerweise den Mechanismus, und die Nadel schoß unter der Nase Masseneaus hervor, so daß dieser zurückfuhr.

»Als Präsident des Gerichtshofs lehne ich diesen in letzter Stunde herangeholten Zeugen ab, der auf der Liste des Gerichtsschreibers nicht figuriert. Überdies handelt es sich um ein Kind. Seine Aussage ist ohnehin von fragwürdigem Wert. Endlich ist es zweifellos eine beeinflußte Aussage. Wieviel hat man dir gegeben, damit du hierherkommst?«

»Noch nichts, aber man hat mir das Doppelte dessen versprochen, was mir der Mönch bereits gegeben hatte, nämlich zwanzig Livres.«

Masseneau wandte sich zornig an den Advokaten.

»Ich mache Euch darauf aufmerksam, daß ich, falls Ihr auf der Protokollierung einer solchen Zeugenaussage besteht, gezwungen sein werde, die Vernehmung Eurer übrigen Entlastungszeugen abzulehnen.«

Desgray neigte den Kopf als Zeichen der Unterwerfung, und der Junge machte sich durch die kleine Kanzleitür davon, als sei ihm der Teufel auf den Fersen.

»Laßt die übrigen Zeugen herein«, befahl der Präsident trocken.

Ein Lärm erhob sich, wie ihn ein Trupp Möbeltransporteure zu verursachen pflegt. Von zwei Polizisten angeführt, erschien ein sonderbarer Aufzug. Zuerst schleppten mehrere schwitzende, zerlumpte Auslader von den Markthallen unförmige Pakete herein, aus denen Eisenrohre, Blasebälge und andere seltsame Gegenstände ragten. Dann folgten zwei kleine Savoyarden, die Körbe mit Holzkohlen und Steinguttöpfe mit merkwürdigen, gemalten Aufschriften brachten.

Schließlich sah man hinter zwei Wachen einen mißgestalten Gnom auftauchen, der den riesigen Schwarzen Kouassi-Ba vor sich herzuschieben schien. Der Mohr war über dem Gürtel nackt und hatte sich mit weißem Koalin ein Streifenmuster auf die Brust gemalt. Angélique erinnerte sich, daß er dergleichen an Feiertagen auch in Toulouse getan hatte, aber sein Erscheinen in diesem ohnehin schon wunderlichen Zuge erfüllte die Versammlung mit ängstlichem Staunen. Angélique hingegen seufzte erleichtert auf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Oh, die tapferen Leute«, dachte sie, während sie Fritz Hauer und Kouassi-Ba betrachtete. »Obwohl sie doch wissen, was sie aufs Spiel setzen, wenn sie ihrem Herrn zu Hilfe kommen.«

Sobald die Träger ihre Pakete abgelegt hatten, verschwanden sie wieder. Der alte Sachse und der Mohr machten sich ans Auspacken und Aufstellen des tragbaren Schmelzofens und der Blasebälge. Dann band der Sachse zwei Säcke auf, aus denen er mühsam einen schweren, schwarzen Fladen von schlacken-artigem Aussehen und einen offensichtlich aus Blei bestehenden Barren hervorholte.

Die Stimme von Desgray ließ sich vernehmen:

»In Erfüllung des vom Gerichtshof einmütig geäußerten Wunsches, alles zu sehen und zu hören, was die Anklage wegen Transmutation von unedlen in edle Metalle mit Hilfe der Schwarzen Kunst betrifft, erscheinen hier die Zeugen und >Komplicen< des angeblich magischen Vorgangs. Ich möchte ausdrücklich feststellen, daß sie vollkommen freiwillig erschienen und ihre Namen nicht etwa meinem Mandanten, dem Grafen Peyrac, durch die Folter entrissen worden sind. Herr Präsident, wollt Ihr jetzt dem Angeklagten verstatten, vor Euch und mit seinen üblichen Gehilfen das Experiment vorzuführen, das die Anklageschrift als >magisches Hexenwerk< bezeichnet, während er behauptet, daß es sich dabei um die Extraktion unsichtbaren Goldes auf wissenschaftlicher Grundlage handelt.«

Maître Gallemand flüsterte seinem Nachbarn zu: »Die Herren schwanken zwischen der Neugier, der Lockung der verbotenen Frucht, und den strengen Anweisungen, die von sehr hoher Steile kommen. Wären sie wirklich bösartig, würden sie es strikt ablehnen, sich beeinflussen zu lassen.«

Angélique erschauerte bei dem Gedanken, der sichtbare Beweis der Schuldlosigkeit ihres Gatten könne im letzten Augenblick unterbunden werden, doch die Neugier oder vielleicht sogar der Gerechtigkeitssinn trug den Sieg davon. Joffrey de Peyrac wurde von Masseneau aufgefordert, die Demonstration zu leiten und alle sich ergebenden Fragen zu beantworten.

»Könnt Ihr uns zuvor schwören, Graf, daß bei dieser Goldgeschichte weder der Justizpalast noch die darin befindlichen Menschen in Gefahr geraten?«

Joffrey versicherte, nicht das geringste sei zu befürchten.

Darauf beantragte der Richter Bourié, man möge den Pater Becher zurückkommen lassen, um ihn während des sogenannten Experiments mit dem Angeklagten konfrontieren zu können und auf diese Weise jeden Betrug auszuschließen.

Masseneau neigte gemessen seine Perücke, und Angélique konnte das nervöse Zittern nicht unterdrücken, das sie jedesmal beim Anblick dieses Mönchs befiel, der nicht nur der böse Geist dieses Prozesses war, sondern auch der Erfinder der Folternadel und vermutlich der Anstifter der Carmencita-Komödie. Er verkörperte alles, was Joffrey de Peyrac bekämpft hatte, den Zerfall, den Bodensatz einer verklungenen Welt, einer dunklen Epoche, die sich wie ein gewaltiger Ozean über Europa gebreitet hatte und während ihres Rückzugs im neuen Jahrhundert nur den nutzlosen Schaum der Sophistik und Dialektik zurückließ.

Die Hände in den weiten Ärmeln seiner Kutte verborgen, mit gerecktem Hals und starrem Blick, verfolgte der Mönch die Vorbereitungen des Sachsen und Kouassi-Bas, die das Feuer anzufachen begannen.

Hinter Angélique wisperte ein Priester vernehmlich mit einem seiner Kollegen:

»Die zarten Seelen der abergläubischen Laien dürften durch ein solches Gespann menschlicher Unholde, vor allem durch diesen wie zu einer Zauberzeremonie bemalten Mohren kaum beruhigt werden. Glücklicherweise vermag der Allmächtige die Seinen stets zu erkennen. Ich habe mir sagen lassen, ein auf Veranlassung der Diözese von Paris heimlich, aber nach den Regeln angestellter Exorzismus habe ergeben, daß die Anklage der Hexerei, die man gegen diesen Edelmann erhoben hat, völlig gegenstandslos sei. Möglicherweise wird man ihn nur wegen mangelnder Gottesfurcht bestrafen ...«

Verzweiflung und Zuversicht stritten sich in Angéliques Herzen. Sicher hatte der Geistliche recht. Warum nur mußte der gute Fritz Hauer einen Buckel und dieses bläuliche Gesicht haben, warum mußte Kouassi-Ba so furchterregend aussehen? Und als Joffrey de Peyrac mühsam seinen langen, geräderten Körper aufrichtete, um sich hinkend dem rotglühenden Schmelzofen zu nähern, vervollständigte er nur das grausige Bild.

Der Angeklagte forderte einen der Wächter auf, den porös und schwarz wirkenden Schlackebrocken aufzuheben und ihn zuerst dem Präsidenten, dann allen andern Mitgliedern des Gerichts zu zeigen. Ein anderer Wächter reichte ihnen ein starkes Vergrößerungsglas, damit sie den Stein genau unter-suchen konnten.

»Dies, Ihr Herren, ist der geschmolzene >Rohstein<, goldhaltiger Eisenkies, der im Bergwerk von Salsigne gewonnen wurde«, erklärte Peyrac.

»Es ist genau die gleiche schwarze Materie«, bestätigte Becher, »die ich zerstoßen und gewaschen habe, ohne eine Spur Gold zu finden.«

»Nun, Pater«, sagte der Angeklagte in einem ehrerbietigen Ton, den Angélique bewunderte, »Ihr werdet aufs neue Eure Goldwäschertalente unter Beweis stellen. Kouassi-Ba, reiche einen Mörser.«

Der Mönch krempelte seine weiten Ärmel hoch und machte sich mit Eifer daran, das schwarze Gestein zu zerstoßen, das sich ohne sonderliche Mühe in Pulverform verwandeln ließ.

»Herr Präsident, wollet jetzt die Güte haben, einen großen Zuber mit gewöhnlichem Wasser und ein gründlich gereinigtes Zinnbecken bringen zu lassen.«

Während zwei Wachen hinausgingen, um das Nötige zu holen, ließ der Gefangene den Richtern auf die gleiche Weise einen Metallbarren vorlegen. »Das ist das Blei, wie man es für Kugeln oder für Wasserrohre benützt, vom Fachmann >armes Blei< genannt, denn es enthält praktisch weder Gold noch Silber.«

»Wie können wir dessen sicher sein?« wollte der Protestant Delmas wissen.

»Ich kann es Euch durch die Kupellenprobe beweisen.«

Der Sachse reichte seinem einstigen Herrn eine dicke Unschlittkerze und zwei kleine, weiße Würfel. Mit einem Federmesser schürfte Joffrey an der Seite eines der Würfel eine kleine Höhlung aus.

»Was ist das für eine weiße Masse? Ist es Porzellanerde?« erkundigte sich Masseneau.

»Das ist eine Kupelle aus Knochenasche, jener Asche, die Euch bereits zu Beginn dieser Verhandlung so sehr beeindruckt hat. Nun, Ihr werdet sehen, daß diese weiße Masse ganz einfach dazu dient, das Blei zu absorbieren, nachdem man es durch die Flamme dieser Unschlittkerze erhitzt hat .«

Die Kerze wurde angezündet, und Fritz Hauer brachte ein kleines, rechtwinklig gebogenes Rohr, mit dessen Hilfe der Graf die Kerzenflamme auf das in der Kupelle liegende Stück Blei blies.

Man sah die Flamme sich seitwärts krümmen und das Blei berühren, das zu schmelzen und fahlblaue Dämpfe zu entwickeln begann.

Conan Becher hob schulmeisterlich den Finger.

»Die echten Gelehrten nennen das >den Stein der Weisen anblasen<«, erklärte er in verbissenem Ton.

Der Graf unterbrach sein Experiment für einen Augenblick.

»Ginge es nach diesem Toren, hätte jeder aus einem Kamin steigende Rauch für Teufelsodem zu gelten.«

Der Mönch setzte die Miene eines Märtyrers auf, und der Präsident rief den Angeklagten zur Ordnung.

Joffrey de Peyrac blies von neuem. Im abendlichen Dämmerlicht, das den Saal zu erfüllen begann, sah man, wie das Blei rötlich brodelte, sich dann beruhigte und, nachdem der Graf das Rohr abgesetzt hatte, eine dunkle Färbung annahm. Plötzlich löste sich die kleine, beißende Rauchwolke auf, und man stellte fest, daß das geschmolzene Blei vollständig verschwunden war.

»Das ist nichts anderes als ein Trick, der absolut nichts beweist«, bemerkte Masseneau.

»Er zeigt, daß die Knochenasche das gesamte oxydierte arme Blei absorbiert oder, wenn Ihr wollt, getrunken hat, und das beweist, daß dieses Blei der edlen Metalle bar ist, was ich Euch durch dieses Verfahren demonstrieren wollte. Nun bitte ich Pater Becher, mit dem Waschen jenes von mir als goldhaltig bezeichne-ten schwarzen Pulvers zu beginnen, und wir werden alsdann zur Extraktion des Goldes schreiten.«

Die beiden Gardisten waren mit einem Wasserkübel und einem Becken zurückgekehrt.

Nachdem der Mönch das von ihm im Mörser hergestellte Pulver durch kreisende Bewegungen gewaschen hatte, zeigte er dem Gericht mit triumphierender Miene die kümmerlichen Rückstände der schweren Materie, die sich auf dem Grund der Schüssel niedergeschlagen hatten.

»Genau das, was ich behauptet habe: auch nicht die geringste Spur von Gold. Man vermag es nur mit zauberischen Mitteln herauszuziehen.«

»Das Gold ist unsichtbar«, wiederholte Joffrey. »Aus diesem zerstampften Gestein werden meine Gehilfen es mittels Blei und Feuer extrahieren. Ich will mich dabei nicht beteiligen. So werdet Ihr die Gewähr haben, daß ich kein neues Element hinzubringe und mich keiner kabalistischen Formeln bediene, sondern daß es sich hier um einen handwerksmäßigen Vorgang handelt, der von Arbeitern durchgeführt wird, die ebensowenig Hexenmeister sind wie jeder beliebige Schmied.«

Maître Gallemand flüsterte:

»Er redet zu schlicht und zu gut. Gleich werden sie ihm vorwerfen, er behexe das Gericht und den ganzen Saal.«

Von neuem machten sich Kouassi-Ba und Fritz Hauer geschäftig ans Werk. Sichtlich mißtrauisch, aber erfüllt von seiner »Mission« und der beherrschenden Rolle, die ihm in diesem Prozeß ganz allmählich zuwuchs, verfolgte Becher das Füllen des Schmelzofens mit Holzkohle.

Der Sachse ergriff einen großen Schmelztiegel aus Ton, tat das Blei und danach das schwärzliche Pulver der zerstoßenen Schlacke hinein und bedeckte alles mit einem weißen Salz - Borax, wie Angélique annahm. Schließlich wurde Holzkohle darübergelegt, und Kouassi-Ba begann die beiden Blasebälge mit dem Fuß zu betätigen.

Angélique bewunderte die Geduld, mit der ihr Gatte, der kurz zuvor noch so stolz und arrogant gewesen war, sich in diese Komödie schickte.

Absichtlich stand er ziemlich weit vom Schmelzofen entfernt, neben dem Angeklagtenbänkchen, doch der Feuerschein erhellte eben noch sein hageres, von üppigem Haar umrahmtes Gesicht. Etwas Düsteres und Bedrückendes ging von dieser seltsamen Szene aus.

Inzwischen schmolz im intensiven Feuer die Masse des Bleis und der Schlacke. Die Luft füllte sich mit Rauch und einem scharfen schwefligen Geruch. In den ersten Reihen begannen einige der Zuschauer sich zu räuspern und zu husten, und zeitweilig verschwand sogar der ganze Gerichtshof hinter den dunkel aufsteigenden Dämpfen.

Angélique fand es nun doch recht verdienstvoll von den Richtern, sich solcherweise wenn auch nicht Hexereien, so immerhin reichlich unangenehmen Experimenten auszusetzen.

Der Richter Bourié erhob sich und bat um die Erlaubnis, näher treten zu dürfen, die ihm von Masseneau auch erteilt wurde. Doch Bourié, von dem der Advokat behauptet hatte, der König habe ihm für den Fall, daß der Prozeß den gewünschten ungünstigen Ausgang nehme, große Versprechungen gemacht, blieb nur zwischen dem Schmelzofen, dem er den Rücken zuwandte, und dem Angeklagten stehen, den er unausgesetzt beobachtete. Der Richter Fallot aber schien selbst förmlich wie auf glühenden Kohlen zu sitzen. Er wich den Blicken seiner Kollegen aus und rutschte unruhig auf seinem großen roten Polstersessel herum.

»Armer Gaston!« dachte Angélique. Doch dann verlor sie jedes Interesse an ihm.

Schon wurde der Schmelztiegel unter der Einwirkung des Feuers, das ein Gardist ständig mit Holzkohle nährte, rot und darauf fast weiß.

»Halt!« befahl der sächsische Bergmann, der, mit Ruß, Schweiß und Knochenasche bedeckt, immer mehr einem der Hölle entstiegenen Ungeheuer glich.

Einem der mitgebrachten Säcke entnahm er eine schwere Zange, faßte mit ihr den in den Flammen stehenden Schmelztiegel, stützte sich fest auf seine kurzen Beine und hob ihn ohne sichtbare Mühe an. Kouassi-Ba schob ihm eine Sandform zu. Ein silbern glänzender Strahl ergoß sich funkensprühend in die Gießflasche.

Joffrey erwachte aus seinem Versunkensein und erklärte mit müder Stimme:

»Dies war der Strom des Bleis, der die edlen Metalle des goldhaltigen Rohgesteins festhält. Wir werden die Form zerbrechen und dieses Blei sofort auf einer unten im Ofen befindlichen Aschen->Sohle< kupellieren.«

Fritz Hauer zeigte diese »Sohle«, die aus einer dicken weißen, mit einer Höhlung versehenen Feuerplatte bestand, und stellte sie über die Flammen. Um den Barren vom Schmelztiegel zu lösen, mußte er sich eines Ambosses bedienen, so daß der ehrwürdige Justizpalast eine Weile von dröhnenden Hammerschlägen widerhallte. Dann wurde das Blei vorsichtig in die Höhlung gelegt und das Feuer angefacht. Als Sohle und Blei zu glühen begannen, ließ Fritz die Blasebälge ruhen, und Kouassi-Ba räumte die noch im Ofen befindliche Holzkohle aus.

In ihm blieb nur, eingefangen in der Höhlung der rot leuchtenden »Sohle«, das weißglühend brodelnde geschmolzene Blei, das allmählich klarer wurde.

Kouassi-Ba ergriff einen kleinen Handblasebalg und richtete ihn auf das Blei. Statt sie zu löschen, belebte die kalte Luft die Weißglut, und das Bad strahlte hell auf.

»Seht das Hexenwerk!« kreischte Becher. »Ohne Kohle beginnt das Höllenfeuer das Große Werk! Seht! Die drei Farben erscheinen.«

Der Mohr und der Sachse bliesen abwechselnd auf das geschmolzene Bad, in dem es wie Irrlichter zuckte und tanzte. Ein feuriges Ei zeichnete sich in seiner wogenden Masse ab. Als der Schwarze schließlich mit seinem Blasebalg zurücktrat, richtete das Ei sich auf, drehte sich wie ein Kreisel, verlor an Glanz und wurde immer dunkler.

Doch plötzlich erhellte es sich von neuem, strahlte weiß auf, hüpfte, sprang aus der Höhlung und rollte über den Boden bis zu den Füßen des Grafen.

»Das Ei des Teufels kehrt zu dem zurück, der es geschaffen hat«, schrie Becher. »Das ist der Blitz! Das Knallgold! Es wird vor uns zerplatzen!«

Der Saal schrie auf.

Im Halbdunkel, in das man plötzlich getaucht war, rief Masseneau nach Leuchtern. Als endlich einige hereingebracht wurden, legte sich der Tumult ein wenig.

Der Graf, der sich nicht gerührt hatte, berührte den Metallbrocken mit dem Ende seiner Krücke.

»Heb den Barren auf, Kouassi-Ba, und bring ihn dem Richter.«

Ohne zu zögern, sprang der Schwarze herzu, nahm das metallische Ei auf und bot es auf seiner schwarzen Handfläche dar.

»Das ist Gold!« keuchte der Richter Bourié. Er wollte gierig nach ihm greifen, aber kaum hatte er es berührt, als er einen fürchterlichen Schrei ausstieß und seine Hand verbrannt zurückzog.

»Das Höllenfeuer!«

»Wie kommt es, Graf«, fragte Masseneau, indem er seiner Stimme Festigkeit zu geben versuchte, »daß die Hitze dieses Goldes Euren schwarzen Diener nicht versengt?«

»Jedermann weiß, daß Mohren Glut in der Hand zu halten vermögen - genau wie die auvergnatischen Köhler.«

Ohne dazu aufgefordert zu sein, leerte Becher mit hervorquellenden Augen ein Fläschchen Weihwasser über dem bewußten Metallbrocken.

»Ihr Herren des Gerichtshofs, Ihr habt gesehen, wie vor Euch und im Widerspruch zu allen rituellen Exorzismen Teufelsgold gemacht worden ist. Nun urteilt selbst, ob Zauberkraft wirkte!«

»Glaubt Ihr, daß dieses Gold echt ist?« fragte Masseneau.

Der Mönch grinste und holte aus seiner unergründlichen Tasche ein weiteres Fläschchen hervor, das er vorsichtig entkorkte.

»Dies ist Scheidewasser, das nicht nur Messing und Bronze angreift, sondern auch die Gold-SilberLegierung. Aber ich bin im voraus überzeugt, daß es sich um Purum Aurum handelt.«

»Dieses in Eurer Gegenwart aus dem Gestein ausgeschiedene Gold ist keineswegs vollkommen rein«, mischte sich der Graf ein. »Sonst hätte sich am Ende des Kupellierungsprozesses nicht das Phänomen des Blitzes gezeigt, der jenes andere Phänomen erzeugte, das den Barren von allein springen ließ. Vulpius ist der erste Gelehrte, der diese merkwürdige Wirkung beschrieb.« Die verdrießliche Stimme des Richters Bourié fragte:

»Ist dieser Vulpius wenigstens römisch-katholisch?«

»Zweifellos«, erwiderte Peyrac sanft, »denn er war ein Schwede, der vor zwei Jahrhunderten lebte.«

Bourié lachte sarkastisch.

»Der Gerichtshof wird eine so weit zurückliegende Zeugenschaft gebührend zu würdigen wissen.«

Es trat nun ein Augenblick der Unschlüssigkeit ein, währenddessen die Richter sich zueinander beugten und sich schlüssig zu werden versuchten, ob man die Verhandlung fortsetzen oder bis zum nächsten Morgen vertagen solle.

Es war spät geworden. Die Leute wirkten zugleich erschöpft und überreizt. Eigentlich wollte niemand gehen.

Angélique verspürte keine Müdigkeit. Sie war wie von sich selbst losgelöst. Mehr oder weniger bewußt, stellten ihre Gedanken fieberhafte Überlegungen an. Es war doch nicht möglich, daß die Demonstration der Goldausscheidung eine für den Angeklagten ungünstige Auslegung fand ...? Hatte der Unfug des Mönchs Becher den Richtern nicht sichtlich mißfallen? Dieser Masseneau mochte seine Unparteilichkeit noch so sehr betonen, es schien offenkundig, daß er im Grunde seinem gaskognischen Landsmann wohlgesinnt war. Aber setzte sich sonst dieses ganze Gericht nicht aus harten, unduldsamen Leuten des Nordens zusammen? Und im Publikum gab es nur diesen verwegenen Maître Gallemand, der den Mut hatte, sich gegen die offenkundige Lenkung dieses Prozesses durch den König zu äußern. Was die Nonne betraf, die Angélique begleitete, so war sie hilfreich, soweit sie es vermochte, doch etwa in der Art eines Eiswürfels, den man auf die heiße Stirn eines Kranken legt.

Ach, wenn die Sache doch in Toulouse vonstatten gegangen wäre ...!

Und dieser Advokat, auch er ein Pariser Kind, unbekannt, arm obendrein - wann würde man ihn zu Wort kommen lassen? Würde man ihm zuhören? Warum schaltete er sich nicht mehr ein? Und wo blieb der Pater Kircher? Vergeblich versuchte Angélique, unter den Zuschauern der ersten Reihe das schlaue Bauerngesicht des Großexorzisten von Frankreich zu entdecken .

Der Präsident Masseneau räusperte sich.

»Meine Herren, die Verhandlung wird fortgesetzt. Angeklagter, habt Ihr dem, was wir gesehen und gehört haben, etwas hinzuzufügen?«

Der Große Hinkefuß des Languedoc richtete sich auf seinen Stöcken auf, und seine Stimme erhob sich voll und geprägt von einem Akzent der Wahrhaftigkeit, der das Publikum erschauern ließ:

»Ich schwöre vor Gott und auf die gesegneten Häupter meines Weibes und meines Kindes, daß ich weder den Teufel noch seine Zauberkünste kenne, daß ich niemals eine Goldtransmutation vorgenommen noch nach teuflischen Anweisungen Leben gezeugt noch versucht habe, meinen Mitmenschen durch Zauberei oder Behexung Schaden zuzufügen.«

Zum erstenmal in dieser endlosen Sitzung stellte Angélique eine Bewegung der Sympathie zugunsten des Angeklagten fest. Eine helle Stimme erhob sich inmitten der Menge und rief:

»Wir glauben dir.«

Doch schon sprang der Richter Bourié auf und fuchtelte mit den Armen. »Seht Euch vor! Das ist die Wirkung eines Zaubers, von dem hier noch nicht genügend gesprochen wurde. Vergeßt nicht: Die Goldene Stimme des Königreichs! Die gefürchtete Stimme, die die Frauen verführte!«

Dasselbe kindliche Organ rief:

»Er soll singen! Er soll singen!«

Diesmal stieg dem Präsidenten das südliche Blut ins Gesicht; er schlug mit der Faust auf sein Pult.

»Ruhe! Ich lasse den Saal räumen! Wachen, schafft die Störenfriede hinaus! Monsieur Bourié, setzt Euch! Schluß mit den Zwischenrufen. Kommen wir zum Ende! Maître Desgray, wo seid Ihr?«

»Hier bin ich, Herr Präsident«, erwiderte der Advokat.

Masseneau kam wieder zu Atem und faßte sich mühsam. In ruhigerem Tone fuhr er fort:

»Meine Herren, obwohl dieser Prozeß unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindet, wollte der König in seiner Großherzigkeit den Angeklagten nicht aller Verteidigungsmittel berauben. Dieserhalb und um Licht in die magischen Verfahren zu bringen, die anzuwenden der Angeklagte beschuldigt wird, glaubte ich jede, selbst gefährliche Demonstration gestatten zu müssen. Schließlich hat der Monarch in seiner Milde dem Angeklagten den Beistand eines Verteidigers gewährt, dem ich hiermit das Wort erteile.«

Desgray erhob sich, grüßte das Gericht, dankte dem König im Namen seines Mandanten und bestieg sodann eine zwei Stufen hohe Tribüne, von der aus er sprechen sollte.

Als sie ihn sehr gerade und sehr ernst sich aufrichten sah, hatte Angélique größte Mühe, sich vorzustellen, daß dieser schwarzgekleidete, würdige Mann derselbe langaufgeschossene Bursche mit der ewig witternden Spürnase war, der, seinem Hund pfeifend, mit rundem Rücken unter dem schäbigen Mantel durch die Straßen von Paris zu schlendern pflegte.

Der alte Gerichtsbeamte Clopot trat hinzu und kniete nach dem Brauch vor ihm nieder. Nun blickte der Advokat zum Gerichtshof hinüber, dann ins Publikum. Er schien in der Menge jemand zu suchen. Kam es vom gelblichen Schein der Kerzen? Angélique erschien er leichenblaß. Doch als er sprach, klang seine Stimme klar und bestimmt.

»Meine Herren, als vorhin der Herr Generalstaatsanwalt in seiner Anklagerede unsern geliebten König sehr zu Recht mit der Sonne verglich, hat er in großartigem Gedankenflug die ganze Leuchtkraft der Gestirne erschöpft, um diesen Prozeß ins richtige Licht zu rücken. Wie vermöchte da ein unbedeutender Advokat, für den dies der erste große Fall ist, nach ihm noch ein paar winzige Strahlen zu entdecken, die ihn befähigten, die in den tiefsten Gründen des Abgrunds der grausigsten aller Beschuldigungen verborgene Wahrheit aufzuhellen?

Ach, diese Wahrheit scheint mir dermaßen fern und ihre Offenbarung so gefährlich, daß ich innerlich erzittere und innig wünschte, die kümmerliche Flamme, mit der ich sie aufzuhellen versuche, möchte erlöschen und mich im friedlichen Dunkel meines unbelasteten Gewissens lassen. Doch es ist zu spät! Ich habe gesehen, und ich muß reden. Und ich muß Euch zurufen: Seht Euch vor, Ihr Herren! Seht Euch vor, auf daß die Entscheidung, die Ihr trefft, Eurer Verantwortung gegenüber kommenden Jahrhunderten nicht widerspricht. Macht Euch nicht zu Mitschuldigen derer, über die unsere Kindeskinder sagen werden, wenn sie auf unser Jahrhundert zurückblicken: Es war ein Jahrhundert der Heuchler und Unwissenden. Denn in jener Zeit, so werden sie sagen, gab es einen großen und hochsinnigen Edelmann, der allein darum der Hexerei angeklagt wurde, weil er ein großer Gelehrter war.«

Der Advokat machte eine Pause. Dann fuhr er leiser fort:

»Vergegenwärtigt Euch, Ihr Herren, eine Szene aus jenen längst vergangenen, dunklen Zeiten, da unsere Vorfahren sich nur plumper Steinwaffen bedienten. Da kommt nun ein Mann unter ihnen auf die Idee, die Schlammerde gewisser Gebiete ins Feuer zu werfen, zu bearbeiten, bis er einen bis dahin unbekannten, scharfen und harten Stoff aus ihr gewinnt. Seine Gefährten zeihen ihn der Hexerei und verurteilen ihn. Indessen werden ein paar Jahrhunderte später aus ebendiesem Stoff, dem Eisen, unsere Waffen hergestellt.

Ich gehe noch weiter. Werdet Ihr, wenn Ihr in unseren Tagen das Laboratorium eines Parfümfabrikanten betretet, entsetzt zurückweichen und von Hexerei reden angesichts der Retorten und Filter, denen Dämpfe entströmen, die man nicht immer als wohlriechend bezeichnen kann? Nein, denn Ihr kämt Euch lächerlich vor. Gleichwohl, was für Geheimnisse gehen doch im Gewölbe dieses Handwerkers vor: er materialisiert in flüssiger Form das unsichtbarste Ding, das es gibt: den Geruch.

Gehört nicht zu denen, auf die man das schreckliche Wort des Evangeliums anwenden könnte: >Sie haben Augen und sehen nicht. Sie haben Ohren und hören nicht.<

Ich glaube nicht, daß allein der Vorwurf der Beschäftigung mit seltsamen Dingen Euren durch das Studium vielen Perspektiven geöffneten Geist zu beunruhigen vermochte. Aber verwirrende Umstände, ein ungewöhnlicher Ruf umgeben die Persönlichkeit des Angeklagten. Laßt uns, meine Herren, einmal untersuchen, auf welche Tatsachen dieser Ruf sich gründet und ob jede einzelne, aus ihrer Gesamtheit herausgelöst, die Anschuldigung der Hexerei rechtfertigen könnte.

Als katholisches Kind einer hugenottischen Amme anvertraut, wurde Joffrey de Peyrac mit drei Jahren von Hitzköpfen aus einem Fenster in den Hof eines Schlosses geworfen. Er wurde verkrüppelt und entstellt. Soll man, Ihr Herren, alle hinkenden und alle die, deren Anblick erschreckt, der Hexerei anklagen?

Indessen besitzt der Graf allen sonstigen Nachteilen zum Trotz eine wundervolle Stimme, die er von italienischen Meistern ausbilden ließ. Soll man, Ihr Herren, all jene Sänger, deren goldene Kehlen die vornehmen Damen und auch unsere eigenen Frauen in Ekstase versetzen, der Hexerei anklagen?

Von seinen Reisen bringt der Graf zahllose seltsame Berichte mit. Er hat unbekannte Gebräuche beobachtet und neue Theorien studiert. Soll man alle Reisenden und Philosophen verurteilen?

Oh, ich weiß! All das formt keinen schlichten Menschen. Ich komme zum merkwürdigsten Phänomen: Diesem Mann, der ein tiefgründiges Wissen erworben hat und der dank dieses Wissens reich geworden ist, diesem Mann, der so wunderbar zu reden und zu singen vermag, diesem Mann gelingt es trotz seines Äußeren, den Frauen zu gefallen. Er liebt die Frauen und verheimlicht es nicht. Er preist die Liebe und hat zahllose Abenteuer. Daß sich unter den in ihn verliebten Frauen auch überspannte und schamlose befinden, bringt ein freies Leben mit sich, das die Kirche zwar mißbilligt, das aber nichtsdestoweniger sehr verbreitet ist. Wollte man alle Edelleute verbrennen, die die Frauen lieben, diejenigen eingeschlossen, die von ihren verschmähten Liebhaberinnen verfolgt werden, dann wäre, so will mir scheinen, die Place de Grève nicht geräumig genug, um ihren Scheiterhaufen Platz zu bieten ...«

Eine zustimmende Bewegung entstand. Angélique war über die Geschicklichkeit von Desgrays Verteidigungsrede verblüfft. Mit welchem Takt er es vermied, Joffreys Reichtum zu betonen, der den Neid dieser Bürgersleute geweckt hatte, und wie er es ihnen als eine bedauerliche, aber unabänderliche Tatsache darstellte, daß ein zügelloses Leben das Erbteil des Adels war.

Unmerklich verengte er die Dimensionen der Anklage und führte sie auf Provinzklatschereien zurück, was bewirkte, daß man sich mit einem Male wunderte, so viel Lärm um nichts vollführt zu haben.

»Er gefällt den Frauen«, wiederholte Desgray sanft, »und angesichts seiner kläglichen Erscheinung wundern wir uns, wir übrigen Vertreter des starken Geschlechts, daß die Damen aus dem Süden so viel Leidenschaft für ihn empfinden. Nun, Ihr Herren, wir wollen nicht gar zu vermessen sein. Wer hat, seitdem die Welt steht, das Herz der Frauen und das Warum ihrer Leidenschaften zu erklären vermocht? Bleiben wir respektvoll an der Schwelle des Mysteriums stehen. Andernfalls wären wir gezwungen, alle Frauen zu verbrennen .!«

Das Eingreifen Bouriés, der von seinem Sessel aufsprang, schnitt das losbrechende Gelächter und den Beifall ab.

»Genug des Geschwätzes!« schrie er mit zornbebender Stimme. »Ihr macht Euch über das Gericht und die Kirche lustig. Habt Ihr vergessen, daß die Beschuldigung der Hexerei ursprünglich von einem Erzbischof erhoben wurde? Habt Ihr vergessen, daß der Hauptbelastungszeuge ein Ordensgeistlicher ist und daß ein ordnungsgemäßer Exorzismus bei dem Angeklagten vorgenommen wurde, der diesen als einen Gehilfen Satans erwies ...?«

»Ich habe nichts vergessen, Monsieur Bourié«, erwiderte Desgray ernst, »und ich werde Euch antworten. Es ist richtig, daß der Erzbischof von Toulouse die erste Anklage wegen Hexerei gegen Monsieur de Peyrac erhob, mit dem er seit langem in Rivalität stand. Hat dieser Kirchenfürst eine Geste bereut, die er sich in seinem Groll nicht reiflich genug überlegt hatte? Ich möchte es annehmen, denn ich besitze eine Reihe von Dokumenten, in denen Monseigneur de Fontenac wiederholt fordert, der Angeklagte möge wieder einem kirchlichen Gericht ausgeliefert werden, und sich von allen Entscheidungen distanziert, die hinsichtlich desselben von einem Zivilgericht getroffen werden sollten. Er distanziert sich außerdem

- ich besitze den Brief, meine Herren, und ich kann ihn Euch vorlesen - von den Handlungen und Worten desjenigen, den Ihr den Hauptbelastungszeugen nennt: des Mönchs Conan Becher. Was diesen betrifft, so erinnere ich daran, daß er für den einzigen Exorzismus verantwortlich ist, auf den sich jetzt die Anklage zu stützen scheint. Einen Exorzismus, der am 4. Dezember vergangenen Jahres in der Bastille in Gegenwart der hier anwesenden Patres Frelat und Jonathan stattgefunden hat. Ich fechte die Echtheit des Exorzismus-Protokolls nicht in dem Punkte an, daß es tatsächlich von diesem Mönch und seinen Akoluthen verfaßt wurde, über die ich mich nicht äußern möchte, da ich nicht weiß, ob sie leichtgläubig, dumm oder mitschuldig sind. Aber ich fechte die Gültigkeit dieses Exorzismus überhaupt an!« rief Desgray mit donnernder Stimme. »Ich möchte mich nicht mit den Einzelheiten dieser finsteren Zeremonie befassen, aber ich will wenigstens zwei Punkte erwähnen: erstens, daß die Nonne, die schon bei dieser Gelegenheit in Gegenwart des Angeklagten Symptome der Besessenheit simulierte, eben jene Carmencita de Mérecourt war, die uns vorhin eine Probe ihres Komödiantentalents zum besten gab und von der ein Gerichtsdiener bezeugen kann, daß er sie beim Verlassen des Saals das Stück Seife ausspucken sah, mit dem sie den Schaum der Epilepsie vorgetäuscht hat. Punkt zwei: Ich komme auf jenes gefälschte Stilett zurück, auf jene teuflische Nadel, die zu Protokoll zu nehmen Ihr Euch wegen mangelnder Beweiskraft geweigert habt. Und dennoch, Ihr Herren, wenn es so wäre, wenn wirklich ein sadistischer Narr einen Mann solcher Folter unterzogen hätte, in der Absicht, Eure Urteilskraft fehlzuleiten und Euer Gewissen mit dem Tod eines Unschuldigen zu belasten? Ich habe hier die Erklärung des Arztes der Bastille, die wenige Tage nach dieser schauerlichen Prozedur abgegeben wurde.«

Mit stockender Stimme verlas Desgray einen Bericht des Sieur Malinton, Arzt der Bastille, der, an das Lager eines ihm unbekannten, aber im Gesicht durch auffällige Narben gezeichneten Häftlings gerufen, festgestellt hatte, daß dessen ganzer Körper mit eitrigen Wunden bedeckt war, die durch tiefe Nadelstiche verursacht zu sein schienen.

Lautlose Stille folgte dieser Verlesung. Der Advokat fuhr ernst und gemessen fort:

»Und jetzt, meine Herren, ist die Stunde gekommen, einer grandiosen Stimme Gehör zu verschaffen, deren unwürdiger Mittler ich bin, einer Stimme, die, über alle menschliche Schändlichkeit erhaben, immer bemüht war, ihre Getreuen mit Mäßigung aufzuklären. Sie sagt Euch folgendes.« Desgray entfaltete einen großen Bogen und las:

»>In der Nacht des 25. Dezember 1660 wurde im Gefängnis des Justizpalastes von Paris eine exor-zistische Prozedur an der Person des Sieur Joffrey de Peyrac de Morens vorgenommen, welcher des Einvernehmens und des Umgangs mit dem Teufel angeklagt ist.

Da gemäß dem Ritual der Römischen Kirche die wirklich vom Teufel Besessenen über drei ungewöhnliche Kräfte verfügen müssen:

1. Kenntnis von Sprachen, die sie nicht erlernt haben;

2. das Vermögen, die geheimen Dinge zu erahnen und zu wissen;

3. übernatürliche Körperkräfte,

haben wir in dieser Nacht des 25. Dezember 1660 als einziger vom Römischen Kirchengericht beauftragter Exorzist für die gesamte Diözese von Paris, gleichwohl unter Assistenz zweier weiterer Priester unserer heiligen Kongregation, den Gefangenen Joffrey de Peyrac den im Ritual vorgesehenen Prüfungen und Verhören unterzogen.

Woraus sich ergab, daß der Exorzisierte nur von erlernten Sprachen Kenntnis hatte, daß er sehr gelehrt, aber keineswegs hellsichtig wirkte, daß er keine übernatürlichen Körperkräfte aufzuweisen hatte, vielmehr nur eitrige, durch tiefe Stiche verursachte Wunden und alte Körperschäden. Daher erklären wir, daß der geprüfte Joffrey de Peyrac keinesfalls vom Teufel besessen ist ...< Es folgen die Unterschriften des R. P. Kircher von der Gesellschaft Jesu, Großexorzisten der Diözese von Paris, und diejenigen der ehrwürdigen Patres de Marsan und die Montaignat, die ihm assistierten.«

Die Verblüffung und Erregung im Saale waren geradezu greifbar, obwohl niemand sich rührte oder auch nur flüsterte.

Desgray betrachtete die Richter.

»Was vermöchte ich diesen Ausführungen hinzuzufügen? Meine Herren Richter, Ihr werdet Euer Urteil fällen, und zwar im vollen Bewußtsein einer Tatsache: daß nämlich die Kirche, in deren Namen man von Euch die Verdammung dieses Mannes verlangt, ihn des Verbrechens der Hexerei, dessentwegen man ihn hierhergezerrt hat, für nicht schuldig erkennt. Meine Herren, ich überlasse Euch Eurem Gewissen.«

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