»O doch, er kommt wieder .!« Calembredaine nickte, und die andern machten es ihm nach. La Pivoine brummte vielsagend:

»Der Mann mit dem Hund kommt immer wieder.«

»Wirst du uns helfen, hm?«

Nicolas hatte die goldene Kette vom Tisch genommen.

»Nimm sie nur, du hast sie verdient.«

»Nein.«

»Warum?«

»Ich mag das Gold nicht«, sagte Angélique, die plötzlich von einem krampfartigen Zittern befallen wurde. »Mir graust vor dem Gold.«

Und sie ging hinaus, weil sie die infernalische Umgebung nicht mehr ertrug.

Die Silhouette des Polizisten war verschwunden. Angélique folgte langsam der Uferböschung. Im schieferfarbenen Nebel blühten die gelben Punkte der am Bug der Zillen befestigten Laternen auf. Sie hörte einen Schiffer seine Gitarre stimmen und dann ein Lied singen. Immer weiter wanderte sie, bis zum Ende der Vorstadt, wo die Luft von ländlichen Gerüchen erfüllt war. Als sie innehielt, hatten die Nacht und der Nebel alle Geräusche erstickt. Sie hörte nur das Wasser zwischen dem Schilf um verankerte Kähne plätschern.

Wie ein Kind, das sich vor einer allzu großen Stille ängstigt, sagte sie halblaut:

»Desgray!«

Eine Stimme flüsterte in den Falten der Nacht und des Wassers: »Wenn der Abend über Paris niedersinkt, brechen wir zur Jagd auf. Wir steigen die Uferböschungen der Seine hinunter, wir schleichen unter den Brücken und zwischen dem Pfahlwerk herum, wir wandern über die alten Wälle, wir schlüpfen in die stinkenden Höhlen, die von Bettlern und Banditen wimmeln .«

Der Mann mit dem Hund wird wiederkommen . Der Mann mit dem Hund kommt immer wieder .

». Und jetzt, Ihr Herren, ist die Stunde gekommen, einer grandiosen Stimme Gehör zu verschaffen, einer Stimme, die, über alle menschliche Schändlichkeit erhaben, stets bemüht war, ihre getreuen Anhänger mit Besonnenheit aufzuklären .«

Der Mann mit dem Hund wird wiederkommen . Der Mann mit dem Hund kommt immer wieder .

Angélique umklammerte ihre Schultern mit beiden Händen, um den Ruf zurückzuhalten, der ihr die Brust sprengen wollte.

»Desgray!«

Aber nur die Stille antwortete ihr, eine Stille, die so tief war wie die Schneestille, in der er sie verlassen hatte. Eisige Todesstille, in der alle sie verlassen hatten.

Sie tat ein paar Schritte auf den Fluß zu, und ihre Füße versanken im Schlamm. Dann umspülte das Wasser ihre Knöchel. Es war eiskalt . Ob Barcarole sagen würde: »Arme Marquise der Engel, es muß kein allzu großes Vergnügen für sie gewesen sein, im kalten Wasser zu sterben, wo sie doch das heiße Wasser so gern gehabt hat«?

Zwischen dem Schilf bewegte sich ein Tier, ein Ratte vermutlich. Eine Kugel aus nassen Haaren streifte Angéliques Waden. Sie stieß einen Schrei des Ekels aus und stürzte den Uferhang hinauf, aber die mit Krallen versehenen Pfoten klammerten sich fest an ihren Rock, kletterten an ihr hoch.

Als sie um sich schlug, um sie loszuwerden, begann das Tier gellende Schreie auszustoßen. Plötzlich fühlte Angélique, wie sich zwei kleine eiskalte Arme um ihren Hals schlangen. Sie rief verblüfft:

»Was ist das? Das ist doch keine Ratte!«

Auf dem Treidelweg näherten sich zwei Schiffer mit einer Laterne. Angélique sprach sie an:

»Heda, ihr Leute, leiht mir eure Funzel!«

Die Männer blieben stehen und musterten sie argwöhnisch.

»’ne hübsche Puppe!« sagte der eine.

»Sieh dich vor«, warnte der andere, »das ist das Mädchen Calembredaines. Laß die Finger von ihr, wenn du nicht wie ein Schwein abgestochen werden willst. Die bewacht er eifersüchtig! wie ein Türke!«

»Oh, ein Affe!« rief Angélique aus, die endlich hatte erkennen können, was für ein Tier sich da so an sie klammerte.

Der Affe schlang noch immer seine dünnen Arme um ihren Hals, und seine schwarzen, verängstigten Augen schauten Angélique auf geradezu menschliche Weise an. Obwohl er ein rotes Seidenhöschen trug, schlotterte er erbärmlich.

»Gehört er euch oder einem eurer Kameraden?«

Die Schiffer schüttelten den Kopf.

»Meiner Treu, nein. Er muß einem der Gaukler auf dem Jahrmarkt in Saint-Germain gehören.«

»Ich habe ihn da drunten am Fluß gefunden.«

Einer der Männer hob die Laterne in die Richtung, die sie bezeichnete.

»Dort ist jemand«, sagte er.

Sie stiegen die Böschung hinunter und entdeckten einen menschlichen Körper, der wie schlafend dalag.

»Holla, Bursche, bißchen kühl, hier zu träumen!«

Da er sich nicht rührte, drehten sie ihn um. Er trug eine Maske aus rotem Samt. Sein langer, weißer Bart floß ihm über die Brust. Der kegelförmige, mit roten Bändern besteckte Hut, der gestickte Bettelsack, die ebenfalls mit abgenutzten und verschmutzten Bändern festgeschnürten Schuhe waren die eines italienischen Gauklers, eines jener Schausteller, die mit ihren dressierten Tieren aus dem Piemont kommen und von Jahrmarkt zu Jahrmarkt wandern.

Er war tot. Der Affe, der sich immer noch an Angélique klammerte, stieß jammervolle Schreie aus.

Die junge Frau bückte sich und nahm die rote Maske ab. Die Augen in dem abgezehrten Greisengesicht waren glasig.

»Bleibt nichts übrig, als ihn den Wellen zu überliefern«, sagte einer der beiden Schiffer. Doch der andere, der sich scheu bekreuzigte, meinte, man müsse einen Priester von Saint-Germain-des-Pres holen und dem armen fremden Mann ein christliches Begräbnis zukommen lassen.

Angélique verließ sie still und setzte ihren Weg nach der Tour de Nesle fort. Sie drückte das Äffchen fest an sich. Sie erinnerte sich jetzt. In den »Drei Mohren« hatte sie es zum erstenmal gesehen. Der Affe hatte alle Gäste dadurch zum Lachen gebracht, daß er ihre Art, zu trinken und zu essen, nachahmte. Und Gontran hatte, auf den alten Italiener deutend, zu Angélique gesagt: »Schau doch, ist das nicht wunderbar, diese rote Maske und der funkelnde Bart .?«

Sie erinnerte sich auch, daß sein Herr den Affen Piccolo genannt hatte.

»Piccolo!«

Der Affe stieß einen tieftraurigen Schrei aus und schmiegte sich an sie. Erst eine ganze Weile später wurde Angélique sich bewußt, daß sie die rote Maske in der Hand behalten hatte.

Mittlerweile war Monsieur de Mazarin gestorben. Nachdem er nach Vincennes gebracht worden war und sein Vermögen dem König vermacht hatte, dem er es verdankte, war er mit einem letzten Seufzer aus diesem Leben geschieden, das er nach seinem wirklichen Wert einschätzte, weil er seine verschiedensten Möglichkeiten kennengelernt hatte.

Seine größte Leidenschaft, die Macht, vererbte er seinem königlichen Zögling. Mühsam hatte er sein gelblich verfärbtes Gesicht zum König erhoben und ihm flüsternd den Schlüssel zur absoluten Macht des Monarchen übergeben:

»Keinen ersten Minister, keinen Günstling. Ihr allein, der Herr .«

Dann war der Italiener, ohne sich um die Tränen der Königin-Mutter zu kümmern, entschlafen. Der Westfälische Friede mit Deutschland, der Pyre-näische Friede mit Spanien, der unter der Ägide Frankreichs durch ihn zustande gekommene Friede der Nordstaaten wachten an seinem Totenbett.

Der kleine König der Fronde, des Bürgerkriegs und der auswärtigen Kriege, der kleine König mit der von den Großen seines Reichs bedrohten Krone erschien von nun an in Europa als der König der Könige.

Ludwig XIV. ließ in den Kirchen vierzig Stunden lang beten und legte Trauer an. Der Hof mußte seinem Beispiel folgen. Das ganze Königreich murmelte vor den Altären für den verhaßten Italiener, und zwei Tage lang läutete die Totenglocke über Paris.

Dann, nachdem er die letzten Tränen eines jungen Herzens vergossen hatte, das nicht mehr empfindsam sein wollte, machte sich Ludwig XIV. mit königlicher Gewissenhaftigkeit an die Arbeit.

Als er im Vorzimmer dem Präsidenten der Kirchenversammlung begegnete, der ihn fragte, an wen man sich künftighin in Angelegenheiten zu wenden habe, die bisher der Herr Kardinal zu regeln pflegte, antwortete der König: »An mich, Herr Erzbischof.«

»Keinen ersten Minister . Keinen allmächtigen Günstling . Der Staat bin ich, meine Herren.«

Die Minister standen verblüfft vor diesem jungen Mann, dessen Vergnügungssucht andere Hoffnungen in ihnen erweckt hatte. Wie beaufsichtigte Angestellte überreichten sie ihre Dossiers.

Der Hof lächelte skeptisch. Der König hatte sich ein Programm aufgestellt, das alle seine Beschäftigungen in peinlich genauer Tageseinteilung umfaßte, Bälle und Mätressen, vor allem aber die Arbeit, eine angespannte, beharrliche, gewissenhafte Arbeit. Man zuckte die Schultern. Es würde nicht lange dauern, sagte man.

Es dauerte fünfzig Jahre lang.

Auf der andern Seite der Seine führte Angélique unter dem Schutz Calembredaines und in der Freundschaft Cul-de-Bois’ ein freies und behütetes Leben.

Sie war unberührbar. Sie hatte ihren Tribut entrichtet, indem sie die Gefährtin eines Strolchs geworden war. Die Gesetze der Gaunerwelt sind streng. Man wußte, daß Calembredaines Eifersucht kein Erbarmen kannte, und Angélique konnte sich mitten in der Gesellschaft lasterhafter und gefährlicher Männer wie La Pivoine oder Gobert befinden, ohne auch nur eine zweideutige Geste befürchten zu müssen. Einerlei, was für Gelüste sie erregen mochte, solange der Chef das Interdikt nicht aufhob, gehörte sie ausschließlich ihm.

So bestand ihr dem äußeren Anschein nach armseliges Leben fast nur aus ausgiebigem Schlaf und ziellosen Wanderungen durch Paris. Es gab immer genug zu essen für sie, und in der Tour de Nesle konnte sie sich beim Heimkommen am Kaminfeuer aufwärmen.

Sie hätte sich anständig anziehen können, denn zuweilen brachten die Einbrecher schöne Kleider mit, die nach Iris und Lavendel dufteten. Aber es lag ihr nichts daran. Sie trug noch immer dasselbe Kleid aus braunem Wollstoff, dessen Rockjetzt ausgefranst war. Dieselbe leinene Haube hielt ihr Haar zusammen. Aber die Polackin hatte ihr einen besonderen Gürtel gegeben, an dem sie ihr Messer befestigen konnte und den sie unter ihrem Mieder verbarg.

»Wenn du willst, bring’ ich dir bei, wie man damit umgeht«, hatte sie vorgeschlagen. Seit der Geschichte mit der Zinnkanne bezeigten sie einander eine gewisse Achtung, die sich allmählich in Freundschaft wandelte.

Tagsüber ging Angélique selten aus, und sie entfernte sich nie weit. Instinktiv nahm sie die Lebensgewohnheiten ihrer Gefährten an, denen die Bürger und Büttel in schweigendem Übereinkommen die Nacht überließen.

Und es geschah in einer Nacht, daß die Vergangenheit zu ihr zurückkehrte und sie so grausam weckte, daß sie beinahe daran zugrunde gegangen wäre.

Calembredaines Bande plünderte ein Haus in der Vorstadt Saint-Germain. Die Nacht war mondlos, die Straße schlecht beleuchtet. Nachdem es Tord-Serrure, einem Burschen mit flinken Fingern, gelungen war, eine kleine Dienertür aufzudrücken, drangen sie ohne sonderliche Behutsamkeit ein.

»Das Haus ist groß und wird nur von einem Greis mit seiner Magd bewohnt, die ganz oben schläft«, erklärte Nicolas. »Wir können unser Werk in aller Bequemlichkeit verrichten.«

Und nachdem er seine Blendlaterne angezündet hatte, führte er sie in den Salon. Pain-Noir, der bettelnderweise oft hierhergekommen war, hatte ihm die Lage der Räume genau erklärt.

Angélique folgte ihnen. Es war nicht das erstemal, daß sie so in ein erbrochenes Haus eindrang. Im Anfang hatte Nicolas sie nicht mitnehmen wollen. »Es könnte dir was passieren«, sagte er.

Aber sie hatte ihre eigenen Absichten dabei. Sie folgte ihnen nicht, um zu stehlen. Es genügte ihr, den Geruch der schlafenden Häuser wiederzufinden. Teppiche, gewachste Möbel, Küchen- oder Backstubendüfte ... Sie nahm Nippsachen in die Hand und stellte sie wieder zurück. Nie wurde eine Stimme in ihr laut, die ihr sagte: »Was tust du da, Angélique de Peyrac?« Außer in jener Nacht, da Calembredaine das Haus des Gelehrten Glazer in der Vorstadt Saint-Germain ausplünderte.

Angéliques Hand war auf einer Konsole einem mit Kerzen versehenen Leuchter begegnet. Sie entzündete sie an der Laterne der andern, die ihre Säcke vollpackten, und als sie im Hintergrund des Raums eine kleine Tür gewahrte, stieß sie sie neugierig auf.

»Sackerment!« flüsterte die Stimme Prudents hinter ihr. »Was ist ’n das?«

Die Flammen spiegelten sich in dicken Glaskugeln mit langen Schnäbeln, ineinander verschlungenen Kupferrohren, blanken Steinguttöpfen mit lateinischen Aufschriften, farbigen Phiolen der verschiedensten Art.

»Was ist ’n das?« wiederholte Prüdem verdutzt.

»Ein Laboratorium.«

Ganz langsam trat Angélique näher und blieb vor einer gemauerten Bank stehen, auf der ein kleines Kohlenbecken und eine Retorte standen.

Sie nahm jede Einzelheit wahr. Ein kleines Päckchen lag da, mit rotem Wachs versiegelt, auf dem sie las: »Für Monsieur de Sainte-Croix.« Dann in einer offenen Schachtel eine Art weißen Pulvers. Angéliques Nase witterte. Der Geruch war ihr nicht fremd.

»Und das«, fragte Prudent, »ist das Mehl? Es riecht gut. Riecht nach Knoblauch .«

Er nahm eine Prise des Pulvers zwischen die Finger und führte sie zum Mund. Instinktiv riß sie ihm die Hand herunter. Blitzartig trat ihr eine Vision vor die Augen: Fritz Hauer, der ihr zurief: »Gift, gnädige Frau.«

»Laß sein, Prudent. Das ist Gift, Arsenik.«

Sie schaute verstört umher.

»Gift?« wiederholte Prudent fassungslos und wich zurück. Dabei warf er eine Retorte um, die zu Boden fiel und klirrend zerbrach.

Hastig verließen sie den seltsamen Raum. Der Salon war leer. Da die andern ihren Raubzug beendet hatten, waren sie gegangen.

Man hörte einen Stock auf die Fliesen des oberen Stockwerks stoßen, und eine Greisenstimme rief durch das Treppenhaus:

»Marie-Josephe, Ihr habt wieder vergessen, die Katzen einzusperren. Es ist unerträglich. Ich muß hinuntergehen und nachsehen.«

Dann beugte er sich über das Geländer und rief:

»Seid Ihr da, Sainte-Croix? Wollt Ihr das Rezept abholen?«

Angélique und ihr Begleiter schlichen eilends zur Küche und von dort in den Vorratsraum, wo sich die von den Dieben aufgebrochene Tür befand. Ein paar Gassen weiter blieben sie stehen.

»Uff!« seufzte Prudent. »Ich hab’ einen ganz schönen Schrecken gekriegt. Wer hätte geahnt, daß wir zu einem Hexenmeister gehen würden! Hoffentlich bringt’s uns kein Unglück! Wo sind die Kameraden?«

»Sie sind wohl auf einem andern Weg nach Hause gegangen.«

»Sie hätten ruhig auf uns warten können. Man sieht ja nicht die Hand vorm Gesicht.«

»Ach, beklag dich nicht dauernd, mein guter Prudent. Leute deiner Art müssen auch bei Nacht sehen können.«

Plötzlich spürte sie den Griff seiner Hand um ihren Arm.

»Horch!« wisperte er.

»Was ist denn?«

»Hörst du nicht? Horch!« wiederholte er im Ton namenlosen Entsetzens. »Der Hund! ... Der Hund!«

Im nächsten Augenblick warf er seinen Sack weg und rannte davon.

»Der arme Junge hat den Verstand verloren«, sagte sich Angélique und bückte sich unwillkürlich, um die Beute des Einbrechers aufzuheben. Da hörte auch sie es. Es kam aus der Tiefe der stummen Gassen.

Es war wie ein leichter und sehr rascher Galopp, der sich näherte, und schon sah sie auch das Tier am andern Ende der Straße: ein springendes weißes Gespenst. Von einer unerklärlichen Angst gepackt, lief auch sie davon. Sie rannte wie eine Wahnsinnige, ohne auf das schlechte Pflaster zu achten, auf dem ihre Füße immer wieder strauchelten. Sie war blind. Sie fühlte sich verloren und hätte am liebsten ge-schrien, aber sie brachte keinen Ton aus der Kehle.

Der Anprall des Tieres, das ihr an die Schultern sprang, schleuderte sie zu Boden. Sie spürte sein Gewicht auf sich lasten und an ihrem Nacken den Druck eines von spitzen Fangzähnen starrenden Gebisses.

»Sorbonne.«

Leiser wiederholte sie:

»Sorbonne!«

Dann wandte sie ganz langsam den Kopf. Er war es, ohne Zweifel, denn er hatte sie sofort losgelassen. Sie hob die Hand und streichelte den mächtigen Kopf des Hundes. Er beschnupperte sie überrascht.

Plötzlich hörte sie Schritte. Ihr Blut erstarrte. Sorbonne . wo er war, war auch Desgray. Niemals der eine ohne den andern. Der Mann mit dem Hund kommt immer wieder .!

Hastig richtete Angélique sich auf.

»Verrat mich nicht«, flehte sie leise, zur Dogge gewandt. »Verrat mich nicht.«

Sie hatte eben noch Zeit, sich im Winkel einer Tür zu verbergen. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie hoffte krampfhaft, daß es nicht Desgray sein möge. Er hatte ja die Stadt verlassen müssen. Er konnte nicht zurückkehren. Er gehörte einer toten Vergangenheit an .

Die Schritte waren ganz nah. Sie hielten inne.

»Nun, Sorbonne«, sagte Desgrays Stimme, »was ist los mit dir? Hast du sie nicht erwischt, die Banditendirne?«

Angéliques Herz pochte schmerzhaft.

Diese vertraute Stimme, die Stimme des Advokaten: »Und jetzt, Ihr Herren, ist die Stunde gekommen, einer grandiosen Stimme Gehör zu verschaffen, einer Stimme, die, über alle menschliche Schändlichkeit erhaben .«

Die Nacht war pechschwarz. Nichts war zu erkennen, aber zwei Schritte nur und Angélique hätte Desgray berühren können. Sie spürte seine Bewegungen und erriet seine Verblüffung.

»Verdammte Marquise der Engel«, rief er plötzlich - und sie zuckte in ihrem Versteck zusammen -, »diesmal soll sie uns nicht entwischen. Los, such, Sorbonne, such. Sie hat die gute Idee gehabt, ihr Halstuch in der Kutsche zu lassen. Da werden wir sie schon kriegen. Komm, gehen wir zur Porte de Nesle zurück. Dorthin führt die Spur, dessen bin ich sicher.«

Er entfernte sich und pfiff dem Hund, der nicht mitkommen wollte.

Angélique rann der Schweiß über die Schläfen. Ihre Beine zitterten. Endlich entschloß sie sich, ihr Versteck zu verlassen. Wenn Desgray sich in der Gegend der Porte de Nesle herumtrieb, war es besser, nicht dorthin zurückzukehren. Sie wollte versuchen, die Höhle Cul-de-Bois’ zu erreichen und ihn für den Rest der Nacht um Asyl zu bitten.

Ihr Mund war trocken. Sie hörte das Wasser eines Brunnens murmeln. Der kleine Platz, in dessen Mitte er sich befand, wurde von einer Lampe, die vor einem Kramladen hing, schwach erleuchtet.

Angélique tauchte ihr beschmutztes Gesicht in das kühle Wasser. Sie seufzte vor Wohlbehagen.

Als sie sich erfrischt wieder aufrichtete, umschlang sie jäh ein kräftiger Arm, und eine brutale Hand preßte sich auf ihren Mund.

»Da hätten wir dich, mein Schätzchen«, sagte die Stimme Desgrays. »Glaubst du, daß man mir so leicht entwischt?«

Angélique versuchte, sich loszureißen, aber er hielt sie auf eine Weise fest, daß sie bei jeder Bewegung vor Schmerz aufschrie. Wie gelähmt in der Umklammerung verharrend, fand sie den vertrauten Geruch seiner abgetragenen Kleider wieder: nach alter Sersche, Gürtelleder, Tinte, Pergament und Tabak. Ja, das war der Advokat Desgray mit seinem Nachtgesicht. Es schwindelte ihr, und ein einziger Gedanke beherrschte sie: »Wenn er mich nur nicht erkennt ... Ich würde mich zu Tode schämen ... Wenn es mir nur gelingt, zu entkommen, bevor er mich erkennt!«

Während er sie weiterhin mit einer einzigen Hand durch einen raffinierten Griff festhielt, führte er eine Pfeife zum Mund und gab drei schrille Signale. Wenige Minuten später tauchten fünf oder sechs Männer aus den benachbarten Gassen auf. Man hörte ihre Sporen und die Gehänge ihrer Degen klirren. Es waren Leute der Nachtwache.

»Ich glaube, ich hab’ den Vogel«, rief Desgray ihnen zu.

»Alle Wetter, was für eine einträgliche Nacht! Wir haben zwei Einbrecher geschnappt, die sich da hinten verdächtig machten. Und wenn das hier die Marquise der Engel ist, dann habt Ihr uns gut geführt, Herr, das muß man schon sagen. Ihr kennt die Schlupfwinkel .«

»Der Hund ist es, der uns führt. Er hat am Halstuch dieses Weibstücks Witterung genommen und ist schnurstracks hierhergelaufen. Aber ... da war etwas, was ich nicht begriffen habe. Beinah wäre sie mir entwischt ... Kennt Ihr sie, diese Marquise der Engel?«

Angélique lauschte den Antworten, die sie umschwirrten. Sie war bemüht, sich nicht zu bewegen, in der Hoffnung, Desgray werde seinen Griff lockern. Dann wollte sie sich losreißen und in die verbündete Nacht entschlüpfen. Sie war sicher, daß Sorbonne sie nicht verfolgen würde. Und diese schwerfälligen, in ihre Uniformen gezwängten Männer würden sie gewiß nicht einholen.

Doch der Exadvokat schien nicht gesonnen, seine Beute zu vergessen. Mit sachkundiger Hand tastete er sie ab.

»Was ist das?« sagte er.

Und sie spürte, wie seine Finger unter ihr Mieder glitten. Er gab einen kleinen Pfiff von sich.

»Ein Dolch, auf mein Wort! Und kein Federmesser, das könnt Ihr mir glauben. Nun, mein Herzchen, ausgesprochen sanft scheinst du mir nicht gerade zu sein.«

Er ließ den Dolch Rodogones des Ägypters in eine seiner Taschen gleiten und fuhr in seiner Durchsuchung fort. Sie erbebte, als die warme und rauhe Hand über ihren Busen fuhr und dort verweilte.

»Es pocht ja ganz munter, dein Herz!« spöttelte Desgray. »Wieder mal eine, die kein ruhiges Gewissen hat. Bringen wir sie unter die Ladenlaterne, damit wir sehen, wonach sie ausschaut.«

Mit einem plötzlichen Ruck riß sie sich los, aber zehn eiserne Fäuste faßten sie sofort, und ein Hagel von Schlägen fiel auf sie nieder.

»Schlumpe, willst du uns wieder durch die Gegend hetzen?«

Man zerrte sie ins Licht. Desgray griff mit brutaler Hand in ihr Haar und zog ihr den Kopf nach hinten.

Angélique schloß die Augen. Vielleicht würde er so ihr Gesicht nicht wiedererkennen, zumal es mit Schmutz und Blut verschmiert war. Sie zitterte so sehr, daß ihre Zähne klapperten, und die Sekunden, die verrannen, während sie so dem trüben Licht der Laterne ausgesetzt blieb, kamen ihr wie eine Ewigkeit vor.

Dann ließ Desgray sie mit einem enttäuschten Knurren los.

»Verflucht. Das ist sie nicht. Das ist nicht die Marquise der Engel.«

Die Häscher fluchten im Chor.

»Woher wißt Ihr’s, Monsieur?« wagte einer von ihnen zu fragen.

»Ich hab’ sie schon mal gesehen. Man hat sie mir eines Tages auf dem Pont-Neuf gezeigt. Dieses Mädchen sieht ihr ähnlich, aber sie ist es nicht.«

»Nehmen wir sie auf jeden Fall mit. Sie kann uns die eine oder andere kleine Auskunft geben.«

Desgray schien in Ratlosigkeit nachzudenken.

»Übrigens, da hat etwas nicht gestimmt«, sagte er. »Sorbonne irrt sich nie. Nun, er hat sich in diesem Mädchen nicht festgebissen. Er blieb ein paar Schritte vor ihr stehen ... was beweist, daß sie nicht gefährlich ist.«

Er schloß mit einem Seufzer:

»Pech gehabt. Zum Glück habt ihr wenigstens zwei Einbrecher geschnappt. Wo hatten sie’s getrieben?«

»Rue du Petit-Lion, bei einem alten Apotheker namens Glazer.«

»Gehen wir dorthin zurück. Vielleicht finden wir da eine Spur.«

»Und das Mädchen, was soll mit ihm geschehen?«

Desgray schien zu zögern.

»Ich frage mich, ob es nicht besser wäre, sie laufenzulassen. Jetzt, wo ich ihren Kopf kenne, werde ich sie nicht mehr vergessen. Das kann mir von Nutzen sein.«

Die Häscher ließen die junge Frau los und verschwanden mit gewaltigem Sporengeklirr aus der Finsternis.

Angélique glitt aus dem Lichtkreis. Dicht an den Häusermauern entlangschleichend, empfand sie das Untertauchen im Dunkel als namenlose Erleichterung.

Am Brunnen erkannte sie einen weißen Fleck und hörte den Hund Sorbonne trinken. Der Schatten Desgrays war neben ihm.

Angélique erstarrte von neuem. Sie sah Desgray seinen Mantel heben und eine Bewegung in ihre Richtung machen. Etwas Hartes fiel vor ihren Füßen nieder.

»Da«, rief die Stimme des Polizisten, »ich geb’ es dir zurück, ein Mordinstrument. Ich hab’ noch nie ein Mädchen bestohlen. Außerdem kann’s für eine junge Dame, die zu solcher Stunde spazierengeht, ganz nützlich werden. Also guten Abend, Spatz.«

».«

»Sagst du nicht guten Abend?«

Sie nahm all ihren Mut zusammen und hauchte:

»Guten Abend.«

Sie lauschte eine Weile dem Geräusch, das die derben Nagelstiefel des Polizisten Desgray auf dem Pflaster verursachten. Dann begann sie planlos durch Paris zu irren.

Als der Morgen dämmerte, befand sie sich am Rande des Quartier Latin, in der Nähe der Rue des Bernardins. Über den Dächern der düsteren Kollegiengebäude begann der Himmel sich rosig zu verfärben. In den Dachfenstern schimmerte der Widerschein der Kerzen, die den frühaufgestandenen Studenten bei ihren ersten Schritten in den neuen Tag hinein leuchteten.

Angélique taumelte vor Müdigkeit. Sie ging barfüßig, denn sie hatte ihre alten Schuhe verloren. Ihr Gesicht war vor Erschöpfung wie erstarrt.

Als sie den Quai de la Tournelle erreichte, nahm sie den Geruch frischen Heus wahr. Das erste Heu des Frühlings. Zillen reihten sich da mit ihrer leichten und duftenden Ladung aneinander. Sie sandten einen Schwall warmen Weihrauchs in die Pariser Morgendämmerung, das Aroma tausend getrockneter Blüten, die Verheißung schöner Tage.

Sie schlich zur Uferböschung. Ein paar Schritte entfernt wärmten sich die Schiffer an einem Feuer und sahen sie nicht. Sie watete ins Wasser und schwang sich auf einen der Kähne. Dann wühlte sie sich wollüstig ins Heu. Unter der Plane war der Duft noch berauschender: feucht, warm und gewitterschwanger wie ein Sommertag. Woher dieses frühe Heu wohl kam? Von einem stillen und reichen, fruchtbaren, von der Sonne verwöhnten Landstrich. Dieses Heu brachte die friedliche Weite luftiger Horizonte mit sich und auch das Mysterium eingeschlossener Täler, die die Wärme speichern und mit ihr die Erde nähren.

Angélique streckte sich mit verschränkten Armen aus. Ihre Augen waren geschlossen. Sie tauchte unter; sie ertrank im Heu. Sie trieb auf einer Wolke zarter und intensiver Düfte dahin, und sie spürte ihren zerschlagenen Körper nicht mehr. Monteloup hüllte sie ein und trug sie an seinem Busen fort. Der Wind streichelte sie. Langsam schwebte sie der Sonne entgegen. Sie ließ die Nacht mit ihren Schrecken hinter sich. Die Sonne streichelte sie. Sehr lange war sie so nicht mehr gestreichelt worden.

Sie war die Beute des ungestümen Calembredaine gewesen; sie war die Gefährtin des Wolfs gewesen, der es zuweilen während seiner kurzen Umschlingungen zuwege gebracht hatte, ihr einen Schrei animalischer Wollust zu entreißen, ein Röcheln des vergewaltigten Tiers. Aber ihr Körper war der Süße der Liebkosung entwöhnt.

Sie trieb Monteloup entgegen und fand im Heu den Geruch der Erdbeeren wieder. Über ihre heißen Wangen, über ihre trockenen Lippen ließ das Wasser des Bachs kühle Liebkosungen regnen. Sie öffnete den Mund und seufzte: »Noch mehr!«

In ihrem Schlaf rannen Tränen über Angéliques Gesicht und verloren sich in ihren Haaren: keine Tränen des Kummers, Tränen allzu großer Süße.

Sie streckte sich, gab sich ganz den neugeschenkten Liebkosungen hin und ließ sich gehen, eingelullt von den raunenden Stimmen der Felder und Wälder, die ihr ins Ohr flüsterten:

»Weine nicht . Weine nicht, mein Kindchen . Es ist nichts . das Böse ist überstanden . Weine nicht, Armes.«

Angélique schlug die Augen auf. Im Halbdunkel unter dem Schutzdach entdeckte sie neben sich im Heu eine Gestalt. Zwei spöttische Augen betrachteten sie. Sie stammelte: »Wer seid Ihr?«

Der Unbekannte legte den Finger auf die Lippen. »Ich bin der Wind. Der Wind eines kleinen Erdenwinkels im Berry. Als sie das Gras mähten, haben sie mich mitgemäht . Man hat mich mit dem Heu in eine Zille gebracht, und nun bin ich hier in Paris. Komische Sache - für einen kleinen Landwind.«

»Aber ...«, sagte Angélique. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln.

Der junge Mann war in einen schäbigen, an manchen Stellen sogar zerrissenen schwarzen Anzug gekleidet. Er trug einen zerschlissenen Leinenkragen, und der Gürtel seines Rocks unterstrich noch seine Magerkeit. Aber er hatte ein reizvolles, trotz des bleichen Teints fast schön zu nennendes Gesicht. Sein großer, beweglicher Mund schien dazu geschaffen, unaufhörlich zu reden und über alles und nichts zu lachen. Seine Züge waren nie entspannt. Er schnitt Grimassen, lachte und entfaltete eine höchst differen-zierte Mimik. Dieser wunderlichen Physiognomie verlieh ein weißblonder Haarschopf, dessen Fransen über die Augen hingen, etwas Naiv-Bäuerliches, zu dem der gerissene Ausdruck der Augen nicht passen wollte.

Während sie ihn musterte, redete er pausenlos weiter: »Was kann ein kleiner Wind wie ich in Paris tun? Ich, der ich’s gewohnt bin, um die Hecken zu blasen, ich werde unter die Röcke der Damen blasen und eine Ohrfeige dafür beziehen . Ich werde die Hüte der Pfaffen entführen, und man wird mich exkommunizieren. Man wird mich in die Türme von Notre-Dame sperren, und ich werde die Glocken verkehrt herum läuten . Welch ein Skandal!«

»Aber .«, wiederholte Angélique und versuchte, sich aufzurichten. Aber er drückte sie sofort nieder.

»Rühr dich nicht . Pst!«

»Es wird ein leicht übergeschnappter Student sein«, sagte sie sich.

Er streckte sich wieder aus und streichelte ihre Wange, während er flüsterte. »Weine nicht mehr.«

»Ich weine nicht«, sagte Angélique. Aber sie spürte, daß ihr Gesicht tränenüberströmt war.

»Auch ich schlafe gern im Heu«, fuhr der andere fort. »Als ich in die Zille schlüpfte, entdeckte ich dich. Du hast im Schlaf geweint. Da hab’ ich dich gestreichelt, um dich zu beruhigen, und du hast gesagt: >Noch mehr!<«

»Ich?«

»Ja. Ich hab’ dein Gesicht getrocknet und gese-hen, daß du sehr schön bist. Deine Nase ist von der Feinheit jener Muscheln, die man am Strand findet, weißt du? Die so weiß und zart sind, daß sie wie durchsichtig wirken. Deine Lippen sind Blütenblätter der Waldrebe. Dein Hals ist rund und glatt .«

Angélique lauschte wie in einem Wach träum. Ja, wirklich, es war sehr lange her, daß jemand so zu ihr gesprochen hatte. Es schien aus weiter Ferne zu kommen, und sie hatte fast Angst, daß er sich über sie lustig machte. Wie konnte er sagen, daß sie schön war, da sie sich doch so abgerissen und beschmutzt fühlte nach dieser Nacht, in der sie erkannt hatte, daß sie nie mehr den Zeugen ihrer Vergangenheit würde ins Gesicht sehen können!

Überstürzt flüsterte er weiter:

»Deine Schultern sind zwei Elfenbeinkugeln. Deine Brüste sind so schön, daß man sie mit nichts anderem als mit ihnen selbst vergleichen kann. Sie sind genau für die Höhlung der Hand eines Mannes geschaffen, und sie tragen eine köstliche kleine Knospe von der Farbe des Rosenholzes, wie man sie überall in der Natur sprießen sieht, wenn es Frühling wird. Deine Schenkel sind weich und wie gedrechselt. Dein Leib ist ein Kissen aus weißer Seide, und es tut wohl, die Wange auf ihm ruhen zu lassen .«

»Nun möchte ich aber doch wissen«, sagte Angélique verärgert, »wieso Ihr das alles beurteilen könnt.«

»Während du schliefst, habe ich dich gründlich betrachtet.«

Angélique setzte sich jäh auf.

»Unverschämter! Lasterhafter Studentenlümmel! Erzlump!«

»Pst! Nicht so laut! Willst du denn, daß die Schiffer uns ins Wasser befördern? Warum regt Ihr Euch überhaupt so auf, schöne Dame? Wenn man einen Edelstein auf seinem Wege findet, ist es nicht mehr als recht und billig, ihn genau zu untersuchen. Man will wissen, ob er echt, ob er wirklich so schön ist, wie es den Anschein hat, kurz, ob er einem gefällt oder ob es besser ist, ihn liegenzulassen. Rem passionis suae bene eligere princeps debet, mundum examinandum.«

»Seid Ihr der Fürst, auf den die Welt schaut?« fragte Angélique sarkastisch.

Er kniff in plötzlicher Verwunderung die Augen zusammen.

»Du verstehst Latein, kleine Gaunerin?«

»Für einen Gauner, wie Ihr einer seid, sprecht Ihr es ganz gut .«

Der Student biß sich vor lauter Verblüffung in die Unterlippe. »Wer bist du?« fragte er sanft. »Deine Füße sind blutig. Du mußt lange gelaufen sein. Was hat dir Angst eingejagt?« Und da sie nicht antwortete: »Du hast da ein Messer, das nicht zu dir paßt. Eine furchtbare Waffe, einen Ägypterdolch. Verstehst du mit ihm umzugehen?«

Angélique warf ihm aus halbgeschlossenen Augen einen maliziösen Blick zu.

»Vielleicht.«

»Au weh!« rief er aus und rückte ein wenig zur Seite.

Er zog einen Halm aus dem Heu und begann an ihm zu kauen. Seine fahlen Augen bekamen einen versonnenen Ausdruck. Bald schien es ihr, als ob er gar nicht mehr an sie denke, als ob sein Geist in unerreichbaren Bezirken umherstreife, vielleicht in den Türmen von Notre-Dame, wo man ihn, wie er gesagt hatte, gefangensetzen würde? In dieser regungslosen und geistesabwesenden Haltung wirkte sein allzu blasses Gesicht weniger jung. Sie entdeckte in den Augenwinkeln jene Spuren des Verwelkens, mit denen das Elend oder die Ausschweifung einen Mann in der Vollkraft seiner Jahre zeichnen kann.

Im übrigen war er alterslos. Der magere Körper in den zu weiten Kleidern wirkte wie entmaterialisiert. Sie hatte Angst, er könne wie eine Vision entschwinden, und sie berührte seinen Arm.

»Wer seid Ihr?« flüsterte sie.

Sein Gesicht belebte sich, und er sah sie mit Augen an, die nicht für das Licht geschaffen zu sein schienen.

»Ich hab’ es dir ja gesagt: Ich bin der Wind. Und du?«

»Ich bin die leichte Brise.«

Er lachte und nahm sie bei den Schultern. »Was tun der Wind und die leichte Brise, wenn sie einander begegnen?« flüsterte er.

Sanft beugte er sich über sie. Sie lag ausgestreckt im Heu, und über ihr, ganz nah, war dieser breite und sinnliche Mund. Ein ganz feiner Zug von Ironie und Grausamkeit spielte um diese Lippen, der ihr angst machte, ohne daß sie recht wußte, warum. Aber der Blick war zärtlich und schalkhaft.

So verharrte er unschlüssig, bis sie selbst, durch diese Lockung magnetisiert, ihn durch eine Bewegung ermunterte. Da senkte er sich über sie und küßte sie lange.

Für Angéliques mißhandelte Sinne war dies wie eine Neuentdeckung. Lang entbehrte Wonnen lebten wieder auf, die von so ganz anderer Art waren als die grobe Sinnenlust, die der ehemalige Knecht ihr verschaffte und an die er sie gewöhnt hatte.

»Vorhin war ich erschöpft«, dachte sie, »und jetzt bin ich es nicht mehr. Mein Körper kommt mir nicht mehr jämmerlich und wertlos vor. So bin ich also noch nicht ganz tot .«

Sie dehnte sich ein wenig im Heu, beglückt über das Erwachen eines subtileren Verlangens, das bald drängend werden würde.

Der Mann hatte sich wieder aufgerichtet und betrachtete sie, auf einen Ellbogen gestützt, mit einem feinen Lächeln. Sie war nicht ungeduldig, sie überließ sich nur der Flamme, die von ihr Besitz ergriff. Gleich würde er sie wieder in seine Arme nehmen. Sie hatten ja Zeit, einen ganzen Pariser Tag lang, der den Halunken gehört, die nichts zu tun haben.

»Merkwürdig«, murmelte er, »du bist raffiniert wie eine große Dame, was zu deinen zerlumpten Kleidern gar nicht paßt.«

Ein ersticktes Lachen kam aus ihrer Kehle.

»Wirklich? Pflegt Ihr Umgang mit den großen Damen, mein Herr Schreiberling?«

»Zuweilen.«

Er kitzelte ihre Nasenflügel mit einer Blüte und erklärte:

»Wenn ich einen hohlen Bauch habe, verdinge ich mich beim Meister Georges, in den Badestuben von St. Nicolas. Dorthin kommen die großen Damen, um sich ein wenig Pfeffer für ihre mondänen Liebeleien zu holen. Oh, freilich bin ich kein solcher Draufgänger wie Beau-Garçon, und die Dienste meines ausgemergelten Körpers werden schlechter honoriert als die eines stämmigen, behaarten Hafenarbeiters, der nach Zwiebeln und Rotwein stinkt. Aber meine Stärke liegt auf anderem Gebiet. Jawohl, meine Liebe. Niemand in Paris besitzt einen solch wohlassortierten Vorrat an schlüpfrigen Geschichtchen wie ich. Man schätzt das sehr, um in Schwung zu kommen. Ich bringe sie zum Lachen, meine schönen Buhlerinnen. Was die Frauen vor allem brauchen, sind Zoten. Soll ich dir die Geschichte vom Hammer und dem Amboß erzählen?«

»Um Gottes willen, nein«, protestierte Angélique.

Er schien gerührt.

»Kleines Menschlein! Komisches kleines Herz! Wie seltsam: Ich bin schon großen Damen begegnet, die Dirnen glichen, aber noch nie Dirnen, die großen Damen glichen. Du bist die erste ... Du bist schön wie ein Traum ... Horch, hörst du das Glockenspiel der Samaritaine auf dem Pont-Neuf? Es ist gleich Mittag. Wollen wir auf den Pont-Neuf gehen und ein paar Äpfel für unser Mittagessen und auch einen Blumenstrauß stehlen, in den du dein kleines Frätzchen stecken wirst? Wir hören dem Großen Matthieu zu, wie er seine Arzneien anpreist, und dem Leierkastenmann, der sein Murmeltier tanzen läßt . Und wir schlagen dem Spitzel ein Schnippchen, der mich sucht, um mich hängen zu lassen.«

»Warum will man Euch hängen?«

»Na . du weißt doch, daß man mich immer hängen will«, erwiderte er verwundert.

»Er ist bestimmt ein bißchen verrückt, aber er ist ulkig«, dachte sie im stillen und reckte sich. Sie wünschte, daß er sie von neuem liebkoste, aber plötzlich schien er an etwas anderes zu denken.

»Jetzt erinnere ich mich«, sagte er. »Ich hab’ dich schon einmal auf dem Pont-Neuf gesehen. Gehörst du nicht zur Bande Calembredaines?«

»Ja, das stimmt, ich gehöre Calembredaine.«

Er wich mit einem Ausdruck komischen Entsetzens zurück.

»Au weh! Wo bin ich da wieder hineingetreten, unverbesserlicher Schürzenjäger, der ich bin! Bist du am Ende gar jene Marquise der Engel, auf die unser Banditenhäuptling so stolz ist?«

»Ja, aber .«

»Da sieht man wieder mal, wohin einen die Gewissenlosigkeit der Weiber bringt!« rief er theatralisch aus. »Konntest du das nicht früher sagen, Unglückselige? Willst du denn unbedingt das kümmerliche Blut fließen sehen, das ich in meinen Adern habe? O weh, Calembredaine! Was für ein Pech! Da habe ich die Frau meines Lebens gefunden, und nun muß sie Calembredaine gehören! Aber was kümmert’s mich! Die herrlichste aller Geliebten ist immer noch das Leben selbst. Adieu, meine Schöne .!«

Er ergriff einen alten, kegelförmigen Hut, wie ihn die Schulmeister trugen, drückte ihn auf seinen blonden Haarschopf und schlüpfte aus der Zille.

»Sei lieb«, flüsterte er noch mit einem Lächeln, »und erzähl deinem Herrn nichts von meinen Keckheiten ... Ja, ich weiß, daß du nichts sagen wirst. Du bist ein Goldstück, Marquise der Engel. Ich werde bis zu dem Tag an dich denken, an dem man mich hängt ... und sogar danach noch ... Adieu!«

Sie hörte ihn durchs Wasser waten, dann sah sie, wie er in der Sonne die Uferböschung hinauflief! In seinem schwarzen Anzug, mit seinem spitzen Hut, seinen dünnen Waden, seinem zerrissenen, im Winde flatternden Mantel glich er einem wunderlichen Vogel.

Bootsleute, die beobachtet hatten, wie er aus der Zille gestiegen war, warfen ihm Steine nach. Er wandte ihnen sein bleiches Gesicht zu und stieß ein schallendes Gelächter aus. Dann verschwand er plötzlich wie ein Traum.

Das Gespräch mit dem abenteuerlichen Unbekannten hatte Angélique aufgeheitert und die Erinnerung an die bittere Begegnung verdrängt, die sie in dieser Nacht mit Desgray gehabt hatte.

Es war besser, nicht mehr daran zu denken. Später, wenn sie erst einmal diesen fürchterlichen Tiefpunkt überwunden hatte, würde sie sich wieder mit Desgray beschäftigen und sich fragen: »Hat er mich in jener Nacht erkannt? Nein, sicherlich nicht. Er hätte mir nicht mein Messer zurückgegeben . Er hätte nicht in diesem grauenhaft ordinären Ton mit mir geredet . Nein, er hat mich nicht erkannt . Ich hätte mich zu Tode geschämt!«

Sie schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand in die Haare, um die trockenen Grashalme zu entfernen. Später würde sie darüber nachdenken. Aber im Augenblick wollte sie nicht den Reiz der eben erlebten Stunden zerstören. Sie seufzte in einem leichten Bedauern. War sie tatsächlich im Begriff gewesen, Nicolas zu betrügen?

Die Marquise der Engel zuckte die Schultern und lachte boshaft auf. Einen Liebhaber solcher Art konnte man nicht betrügen. Nichts verband sie mit Nicolas

- außer der Knechtschaft ihres Elends.

Sie wartete eine Weile und ließ sich dann ihrerseits vom Heu herabgleiten.

Als sie das Wasser berührte, fand sie es kalt, aber nicht eisig, und indem sie sich umschaute, wurde sie vom Licht geblendet, und sie erkannte, daß es Frühling geworden war.

Hatte nicht der Student von Blumen und Früchten auf dem Pont-Neuf gesprochen?

Angélique entdeckte wie durch Zauberschlag das Aufblühen der milden Jahreszeit.

Der mit Feuchtigkeit getränkte Himmel war rosig angehaucht, und die Seine trug ihre silberne Rüstung. Auf ihrer glatten, ruhigen Oberfläche glitten Kähne mit leise plätschernden Rudern dahin. Flußabwärts antworteten die Bleuel der Wäscherinnen dem Klippklapp der Mühlenschiffe.

Sich vor den Blicken der Schiffer verbergend, wusch Angélique sich im kalten Wasser, das angenehm auf der Haut prickelte. Nachdem sie sodann ihre Kleider wieder angelegt hatte, folgte sie dem Uferweg und erreichte den Pont-Neuf.

Die Worte des Unbekannten hatten ihre Lebensgeister aus dem Winterschlaf geweckt. Zum erstenmal sah sie den Pont-Neuf in all seinem Glanz. Er war die schönste Brücke von Paris, und auch die bevorzugteste, denn sie verband auf dem kürzesten Weg die beiden Seineufer mit der Ile de la Cité.

Angélique drängte sich durch die müßig herumlungernde Menge und blieb vor jeder Bude stehen: vor dem Spielwarenhändler, dem Geflügelhändler, dem Tinten- und Farbenverkäufer, dem Marionettenspieler, dem Hundescherer, dem Zauberkünstler. Sie entdeckte Pain-Noir mit seinem Bauchladen, Mort-aux-Rats mit seinen aufgespießten Ratten an der Samaritaine-Ecke und Mutter Hurlurette und Vater Hurlurot.

Inmitten einer Gruppe von Müßiggängern kratzte der alte Blinde auf seiner Fiedel, während sein Weib ein sentimentales Lied plärrte, das von einem Gehenkten handelte, von einem Leichnam, dessen Augen die Raben fraßen, und von allen möglichen grauslichen Dingen, denen die Leute gesenkten Kopfs und augenwischend lauschten. Das Henken und die Prozessionen, das waren die richtigen Schauspiele für die Pariser Kleinbürger, Schauspiele, die nichts kosteten und bei denen man sich zutiefst bewußt wurde, daß man einen Körper und eine Seele besaß.

Als die Alte ihr Lied mit einem hohen Tremolo beendet hatte, befeuchtete sie ihren dicken Daumen und begann, kleine Blätter zu verteilen, von denen sie einen ganzen Packen unter dem Arm hielt, während sie schrie:

»Wer will noch einen Gehenkten?«

Als sie bei Angélique anlangte, ließ sie einen freudigen Ausruf hören.

»He, Hurlurot, da ist ja das Vögelchen! Na, dein Kerl macht seit heut morgen ein schönes Theater! Er sagt, der verfluchte Hund habe dich erwürgt. Er will alle Gauner und Strolche von Paris aufs Châtelet hetzen. Und dabei treibt sich die Marquise quietschvergnügt auf dem Pont-Neuf rum .!«

»Warum auch nicht?« erwiderte Angélique hochmütig. »Was tut Ihr denn anderes?«

»Ich arbeite«, sagte die Alte geschäftig. »Das Lied da, was meinste, was das einbringt! Ich sag’ immer zum Schmutzpoeten: >Gebt mir Gehenkte. Nichts bringt mehr ein als Gehenkte.< Da, willste einen? Kriegst ihn umsonst, weil du unsere Marquise bist.«

»Es gibt Würstchen für Euch heut abend in der Tour de Nesle«, versprach Angélique.

Der zähe Strom der Müßiggänger schwemmte sie davon. Im Gehen las sie das Blättchen. Unten in der Ecke stand jene Unterschrift, die sie bereits kannte: Der Schmutzpoet. Ein bitteres Haßgefühl stieg in Angélique hoch.

Ihr Blick glitt zu dem Bronzepferd auf dem Postament hinüber. Dort, zwischen den Hufen des Pferdes; so hatte man ihr gesagt, pflegte sich der Poet des Pont-Neuf zuweilen schlafen zu legen. Die Strolche respektierten seinen Schlaf. Im übrigen gab es bei ihm nichts zu stehlen. Er war ärmer als der ärmste Gauner, immer umherirrend, immer ausgehungert, immer verfolgt und immer und überall sein Gift verspritzend.

»Warum hat ihn eigentlich noch niemand umgebracht?« dachte Angélique. »Ich brächte ihn bestimmt um, wenn ich ihm begegnete. Aber ich möchte ihm vorher sagen, weshalb .«

Sie knüllte angeekelt das Papier zusammen und warf es in den Fluß.

Der gute, bronzene König Heinrich IV. glänzte in der Sonne und lächelte auf einen Wald roter und rosafarbener Schirme hinab. Die Blumenfrauen des Pont-Neuf ließen sich hier am frühen Morgen nieder. Während die jüngeren sich mit ihren Körben geschickt durch die Menge schlängelten und ihre duftende Ware anboten, bewachten die älteren im Schatten der Sonnenschirme ihre festen Stände.

Eine dieser Frauen forderte Angélique auf, ihr beim Blumenbinden zu helfen, und da sie sich ihrer Aufgabe mit Geschmack entledigte, gab sie ihr zwanzig Sols.

»Du bist ja wohl schon zu alt, um das Lehrmädchen zu spielen«, sagte sie, nachdem sie sie gemustert hatte, »aber wenn du bei mir arbeiten willst, werden wir uns schon einig.«

Angélique schüttelte den Kopf, hielt die zwanzig Sols krampfhaft in der Hand und ging davon. Sie kaufte zwei Krapfen bei einem Zuckerbäcker und verschlang sie, während sie sich unter die Gaffer mischte, die vor dem Karren des Großen Matthieu aus vollem Halse lachten.

Unbezahlbarer Großer Matthieu! Er hatte sich gegenüber König Heinrich IV installiert und fürchtete weder dessen Lächeln noch Majestät.

Von einer auf vier Rädern ruhenden und von einer Balustrade umgebenen Plattform aus redete er mit donnernder Stimme auf die Menge ein, daß es vom einen Ende des Pont-Neuf zum andern schallte. Sein Privatorchester, das sich aus drei Musikern zusammensetzte - einem Trompeter, einem Trommler und einem Beckenschläger -, begleitete seine Reden und übertönte mit seinem Höllenlärm das Stöhnen der Patienten, denen er die Zähne zog.

Enthusiastisch, ausdauernd, von sagenhafter Kraft und Geschicklichkeit, wurde der Große Matthieu stets auch mit den widerspenstigsten Zähnen fertig, indem er den Patienten niederknien ließ und ihn dann mit seiner Zange hochzog. Worauf er sein taumelndes Opfer sich den Mund beim Branntweinhändler spülen hieß.

Zwischen zwei Kunden wanderte der Große Matthieu mit wehender Hutfeder, die doppelte Zahnkette auf der Brust, auf der Plattform hin und her, wobei ihm sein mächtiger Säbel an die Hacken schlug, und rühmte sein großes Wissen und die Wirksamkeit seiner Drogen, Pulver, Elixiere und Salben jeglicher Art, die unter reichlicher Beimengung von Butter, öl und Wachs aus harmlosen Kräutern zusammengebraut wurden.

»Ihr Herren und Damen, hier seht Ihr die berühmteste Persönlichkeit der Welt, einen Virtuosen seines Fachs, die Leuchte der Medizin, den direkten Nachfolger des Hippokrates, den Erforscher der Natur, die Geißel aller Fakultäten, Ihr seht vor Euern Augen einen methodischen, hippokratischen, pathologischen, chemischen, spagyrischen, empirischen Arzt. Ich heile die Soldaten aus Gefälligkeit, die Armen um Gotteslohn und die reichen Kaufleute für Geld. Ich bin weder Doktor noch Philosoph, aber meine Salben leisten ebenso gute Dienste wie die Philosophen und Doktoren, denn Erfahrung ist nützlicher als Wissenschaft. Ich habe hier eine Pomade, den Teint zu bleichen: Sie ist weiß wie Schnee, wohlriechend wie Balsam und Moschus. Ich habe da auch eine Salbe von unschätzbarem Wert, denn merkt auf, Ihr galanten Herren und galanten Damen

- diese Salbe schützt diejenigen, die sie anwenden, vor den heimtückischen Dornen des Rosenstrauchs der Liebe.«

Und mit erhobenem Arm begann er emphatisch zu deklamieren:

»Kommt, Ihr Herren, und kaufet ein dies unvergleichlich Pülverlein!

Wunder wirkt es, Ihr sollt sehn, alle Leiden macht’s vergehn.

Und es gibt Verstand dem Toren, sei er noch so dumm geboren.

Altes Weib kriegt schmucken Schatz,

Lustgreis einen jungen Fratz!«

Dieser poetische Erguß, den er unter gewaltigem Augenrollen zum besten gab, brachte Angélique zum Lachen. Er erkannte sie und zwinkerte ihr freundschaftlich zu.

»Ich habe gelacht. Warum hab’ ich eigentlich gelacht?« fragte sich Angélique. »Es ist doch völlig unsinnig, was er da erzählt.«

In diesem Augenblick sprach ein Mann sie an.

»Schönes Kind«, sagte er, »ich sehe, daß du zwar guter Laune bist, aber nicht gerade reich. Willst du dir zwanzig Livres verdienen?«

»Womit?« fragte sie, nachdem sie ihn gemustert hatte.

»Mein Herr ist ein vornehmer Fremder, der zum erstenmal nach Paris kommt. Er brennt so sehr darauf, die intimen Reize der Pariserinnen kennenzulernen, daß er mich sofort weggeschickt hat, um eine lustige und wohlgestalte Gefährtin für die Nacht aufzutreiben. Ich bin zum Pont-Neuf gegangen, weil ich wußte, daß man hier die größte Auswahl hat. Du bekommst Schuhe, ein Kleid, ein gutes Abendessen und zwanzig Livres. Ich bemerke, daß mein Herr kein Graubart ist, sondern jung und von angenehmem Äußeren, wenn auch ein bißchen korpulent. Paßt dir die Sache?«

»Keineswegs.«

»Willst du, daß ich mit deinem Zuhälter rede?«

Angélique stieß einen kleinen Pfiff aus, wie die Rotwelschen es tun, wenn sie ihrer Bewunderung Ausdruck verleihen wollen.

»Du jedenfalls bist kein Fremder.«

»O nein«, sagte der Diener. »Ich bin gebürtiger Pariser. Aber ich bin nun schon drei Jahre im Dienst eines holländischen Edelmanns. Der Krieg hat mich dorthin verschlagen, ich weiß kaum mehr zu sagen, wie. Heute stehe ich zum erstenmal wieder auf dem Pont-Neuf.«

Fasziniert sah er sich um, und Angélique benützte die Gelegenheit, um in der Menge unterzutauchen.

Auf einer kleinen Bühne bemühte sich ein alter Mann mit einem Holzbein, die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich zu lenken.

»Kommt und seht euch den roten Mann an. Das seltsamste Naturwunder. Ihr haltet euch für sehr gebildet, weil ihr ein paar schwarzhäutige Menschen gesehen habt. Aber was gibt es Alltäglicheres als jene Marokkaner, mit denen uns der Großtürke überschwemmt? Ich aber zeige euch den unbekannten Menschen der unbekannten Welt, nämlich Amerikas, jenes sagenhaften Landes, aus dem ich selbst komme .«

Angélique blieb vor der Bühne stehen. Der Wind, der von der Seine her wehte, verstärkte die Vorstellung der Weite, die dieses Wort »Amerika« in ihr erzeugt hatte. Sie dachte an ihren Bruder Josselin, sah ihn wieder vor sich, wie er seinen leuchtenden und verwegenen Blick zu ihr hob, während er flüsterte: »Ich aber gehe aufs Meer.«

Der Pastor Rochefort war eines Abends gekommen und hatte sich zu den Kindern de Sancé an den Herd gesetzt, die ihn mit großen, verwunderten Augen anstarrten. Josselin . Raymond . Hortense . Gontran . Angélique . Madelon . Denis . Marie-Agnès . Wie schön sie gewesen waren, die Kinder de Sancé, in ihrer Unschuld und Ahnungslosigkeit vor den Schicksalen, die ihrer warteten. Sie lauschten dem Fremden, und seine Worte hatten ihre Herzen höher schlagen lassen.

»Ich bin nur ein Reisender, der sich nach neuen Ländern sehnt, der jene Gegenden kennenlernen möchte, wo niemand weder Hunger noch Durst hat und wo der Mensch sich frei fühlt. Ebendort habe ich erkannt, daß alles Übel vom weißen Menschen kommt, weil er nicht auf das Wort des Herrn gehört, vielmehr es verfälscht hat. Denn der Herr hat nicht befohlen, zu töten noch zu zerstören, sondern sich untereinander zu lieben.«

Angélique schloß die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, sah sie einige Schritte von ihr entfernt, im Gewühl des Pont-Neuf, Jactance, Gros-Sac, La Pivoine, Gobert und Beau-Garçon, die sie anstarrten.

»Schwesterherz«, sagte La Pivoine und packte sie am Arm, »ich werde eine Kerze vor dem ewigen Vater von Saint-Pierre-aux-Bœufs aufstellen. Wir waren fest überzeugt, daß wir dich nie wieder zu sehen bekommen würden!«

»Das Châtelet, das Arbeitshaus oder das Spital, das waren die einzigen Möglichkeiten.«

»Falls dir der verfluchte Hund nicht die Kehle durchgebissen hatte.«

»Tord-Serrure und Prudent haben sie geschnappt. Heut früh sind sie auf der Place de Grève gehenkt worden.«

Sie umringten sie. Da waren sie nun wieder, die verwegenen Gesichter, die heiseren Säuferstimmen und auch die Ketten des Bannkreises der Unterwelt, die sich nicht an einem einzigen Tage sprengen ließen. Indessen glomm von diesem Tage an, den sie bei sich den »Tag des Heukahns« oder den »Tag des Pont-Neuf« nannte, ein Funke von Hoffnung in ihr auf. Sie wußte noch nicht, was das war, aber sie wußte, daß etwas sich geändert hatte. Es war leichter, in die Niederungen hinabzusteigen, als sich aus ihnen wieder emporzuarbeiten.

»Angélique«, flüsterte Nicolas, »Angélique, wenn ich dich nicht wiedergefunden hätte .«

»Was wäre dann geschehen?«

»Ich weiß nicht .«

Er zog sie an sich und drückte sie an seine Brust, daß ihr der Atem verging.

»Oh, hör auf!« stöhnte sie, machte sich los und lehnte die Stirn an die Gitterstäbe der Schießscharte. Die Sterne spiegelten sich im stillen Wasser der Seine. Die Luft war vom Duft der Mandelbäume erfüllt, die in den Gärten und Höfen des Faubourg Saint-Germain blühten.

Nicolas fuhr fort, sie mit Blicken zu verschlingen, und sie war gerührt über die Intensität dieser Leidenschaft, die sich nicht verleugnete.

»Was hättest du getan, wenn ich nicht wiedergekommen wäre?«

»Das kommt drauf an. Wärst du von der Polente geschnappt worden, hätte ich alle meine Leute mobil gemacht. Man hätte die Gefängnisse, die Spitäler überwacht. Man hätte dir zur Flucht verholfen. Wärst du vom Hund erwürgt worden, dann hätte ich überall den Hund und seinen Herrn gesucht, um sie umzubringen. Wenn du .«

Seine Stimme bekam einen rauhen Klang.

»Wenn du mit einem andern davongegangen wärst . dann hätte ich dich wiedergefunden, und den an-dern hätte ich aufgeschlitzt.«

Sie lächelte, denn ein bleiches, spöttisches Gesicht trat in ihr Gedächtnis. Doch Nicolas war schlauer, als sie dachte, und seine Liebe zur ihr schärfte seinen Instinkt.

»Glaub nicht, daß du mir leicht entkommst«, fuhr er in drohendem Tone fort. »In der Gaunerzunft betrügt man einander nicht, wie in der schönen Welt, aber wenn es passiert, dann stirbt man. Für dich würde es nirgends eine Zuflucht geben ... Wir sind zu zahlreich, zu mächtig. Man würde dich überall wiederfinden, in den Kirchen, in den Klöstern, ja sogar im Palast des Königs . Das ist alles aufs beste organisiert, mußt du wissen. Im Grunde mag ich das gern, die Organisation der Schlachten.«

Er öffnete seinen zerrissenen Kittel und deutete auf ein kleines blaues Mal neben der linken Brustwarze.

»Da schau, siehst du das? Meine Mutter hat mir immer gesagt: >Das ist das Mal deines Vaters!< Denn mein Vater, das war nicht dieser vierschrötige Bauerntölpel Merlot. Nein. Meine Mutter hat mich vorher von einem Soldaten bekommen, einem Offizier, einem hohen Tier. Sie hat mir nie seinen Namen gesagt, aber manchmal, wenn Vater Merlot mich prügeln wollte, schrie sie ihm zu: >Rühr den Ältesten nicht an, er hat blaues Blut!< Das wußtest du nicht, wie?«

»Du Landsknechtsbastard! Bist auch noch stolz drauf«, sagte sie verächtlich.

Er preßte ihre Schultern zwischen seinen herkulischen Händen.

»Manchmal möchte ich dich wie eine Haselnuß zerdrücken. Aber jetzt hab’ ich dich gewarnt. Wenn du mich je betrügst ... Wenn du je mit einem andern schläfst .«

»Du brauchst nichts zu befürchten. Deine Umarmungen genügen mir vollkommen.«

»Warum sagst du das in so hämischem Ton?«

»Weil man mit einem außergewöhnlichen Temperament begabt sein müßte, um noch mehr zu verlangen. Wenn du nur ein bißchen zärtlicher sein könntest!«

»Ich, ich bin nicht zärtlich?« brüllte er. »Ich, der ich dich anbete! Sag’s noch einmal, daß ich nicht zärtlich bin.«

Er hob seine wuchtige Faust. Sie schrie mit greller Stimme: »Rühr mich nicht an, du Bauernlümmel! Du Vieh! Erinnere dich an die Polackin!«

Verdrossen ließ er die Faust sinken. Nachdem er sie mit düsterem Blick betrachtet hatte, stieß er einen tiefen Seufzer aus.

»Verzeih mir. Du bist immer die Stärkere, Angélique.«

Er lächelte und streckte ein wenig linkisch die Arme nach ihr aus.

»Komm trotzdem. Ich will versuchen, zärtlich zu sein.«

Sie ließ sich auf die Lagerstätte fallen und bot sich gleichgültig der zur Gewohnheit gewordenen Umschlingung dar.

Danach blieb er lange Zeit eng an sie geschmiegt liegen. Sie spürte an ihrer Wange die kratzige Bürste seiner Haare, die er wegen der Perücke sehr kurz hielt. Schließlich sagte er mit dumpfer Stimme:

»Jetzt weiß ich es ... Nie, nie wirst du mir gehören. Denn es ist nicht nur das, was ich will. Ich will auch dein Herz.«

»Man kann nicht alles haben, mein guter Nicolas«, murmelte Angélique. »Früher hattest du ein Stück von meinem Herzen, jetzt hast du meinen ganzen Körper. Früher warst du mein Freund Nicolas, jetzt bist du mein Gebieter Calembredaine. Du hast sogar die Erinnerung an die Zuneigung getötet, die ich für dich empfand, als wir Kinder waren. Aber ich hab’ trotzdem in anderem Sinne etwas für dich übrig, weil du stark bist.«

Der Mann wurde ärgerlich. Er brummte:

»Ich frage mich, ob ich nicht eines Tages auch dich werde töten müssen.«

Sie gähnte schlaftrunken. »Red keinen Unsinn.«

Durch das Fenster streuten die Sterne Reflexe in das Glas der gestohlenen Spiegel. Das Geläute der Unken am Fuß des Turms hörte nicht auf, und aus den Tiefen der Ruinen drangen andere, unheimlichere Geräusche herauf: fernes Grölen eines Betrunkenen, Kindergeheul, das Nagen der Ratten. In einer der letzten Nächte war ein Kind von einem der blutgierigen Nager mit den roten Augen angefallen worden.

»Nicolas«, flüsterte Angélique plötzlich.

»Ja?«

»Erinnerst du dich, daß wir einmal nach Amerika gehen wollten?«

»Ja.«

»Wie wär’s, wenn wir jetzt wirklich gingen?«

»Wohin?«

»Nach Amerika. Ein Land, in dem man weder friert noch hungert . in dem man frei ist.«

»Du bist verrückt!«

Drängender fuhr sie fort:

»Was haben wir hier zu erwarten? Du Gefängnis, Folterung, Zwangsarbeit oder den Galgen. Ich . ich, die ich nichts mehr habe, was erwartet mich, wenn du einmal nicht mehr dasein solltest?«

»Wenn man am Hof der Wunder ist, darf man nie daran denken, was einen erwartet. Es gibt kein Morgen.«

»Dort drüben könnten wir vielleicht umsonst unbebautes Land bekommen. Wir würden es kultivieren . Ich würde dir helfen.«

»Du bist wohl übergeschnappt!« wiederholte er in einem neuerlichen Zornesausbruch. »Ich hab’ dir vorhin erklärt, daß mir die Dreckarbeit nicht liegt. Und glaubst du vielleicht, ich verschwände einfach und überließe Rodogone dem Ägypter die Kundschaft des Jahrmarkts von Saint-Germain?«

Sie erwiderte nichts und versank wieder in ihre Apathie.

Er schimpfte noch eine Weile weiter:

»Unglaublich, wenn sich die Weibsbilder was in den Kopf setzen .«

Wütend drehte er sich um, aber Zorn und Beunruhigung blieben. Eine innere Stimme wiederholte: »Was hast du zu erwarten? Den Galgen.« Natürlich.

Aber wo konnte man leben, außer in Paris .?

Er betrachtete die schlafende Angélique. Von Eifersucht überwältigt, hätte er sie am liebsten geweckt, denn sie lächelte im Schlaf. Sie träumte, sie führe in einem Heukahn über das Meer.

Eines Sommerabends klopfe es an die Tür der Tour de Nesle. Solche Sitten waren unter den Gaunern eigentlich nicht üblich, und alle sahen einander verwundert an, bis schließlich La Pivoine seinen Degen zog und vorsichtig öffnete.

Eine Frauenstimme fragte draußen: »Ist Jean-Pourri da?«

»Kommt nur herein«, sagte La Pivoine.

Die in eisernen Ringen an den Wänden befestigten Harzfackeln beleuchteten ein hochgewachsenes Mädchen in einem Umhang und einen Lakaien in roter Livree, der einen Korb trug.

»Wir haben dich im Faubourg Saint-Denis gesucht«, erklärte das Mädchen Jean-Pourri, »aber man hat uns gesagt, du seist bei Calembredaine. Du läßt uns ganz hübsch durch die Gegend traben. Jedenfalls hätten’s wir von den Tuilerien bis nach Nesle näher gehabt.«

Während des Redens hatte sie ihren Umhang zurückgeschlagen, die Spitzen ihres Mieders aufgebauscht und das kleine goldene Kreuz zurechtgeschoben, das sie an einem Samtband um den Hals trug. Die Augen der Männer leuchteten angesichts dieses schönen Frauenzimmers auf, dessen flammend rotes Haar eine zierliche Spitzenhaube kaum verdeckte.

Angélique war in den Lichtschatten zurückgewichen. Leichter Schweiß perlte an ihren Schläfen. Sie hatte Bertille erkannt, die Zofe der Herzogin von Soissons, die vor ein paar Monaten wegen des Kaufs von Kouassi-Ba mit ihr verhandelt hatte.

»Hast du was für mich?« fragte Jean-Pourri.

Mit vielverheißender Miene hob das Mädchen die Serviette von dem Korb, den der Lakai auf den Tisch gestellt hatte, und entnahm ihm ein neugeborenes Kind.

»Da«, sagte sie.

Jean-Pourri untersuchte den Säugling mit kritischer Miene.

»Fett, wohlgestaltet«, bemerkte er und zog ein verdrossenes Gesicht. »Dafür kann ich dir kaum mehr als dreißig Livres geben.«

»Dreißig Livres!« rief sie entrüstet. »Hör dir das an, Jacinthe! Dreißig Livres. Du hast ihn ja gar nicht richtig angeschaut. Bist nicht fähig, die Ware zu würdigen, die ich dir bringe.«

Sie riß die Windel weg, die das Neugeborene bedeckte, und hielt es völlig nackt in den Fackelschein.

»Schau’s dir richtig an.«

Das aus seinem Schlaf gerissene kleine Wesen bewegte sich ein wenig.

»Oh!« rief die Polackin aus. »Es hat schwarze Stellen!«

»Es ist ein Mohrensohn«, flüsterte die Zofe, »eine Mischung von Schwarz und Weiß. Du weißt, wie schön sie werden, die Mulatten, mit einer Haut wie Gold. Man bekommt sie nicht oft zu sehen. Später, wenn er sechs oder sieben Jahre alt ist, kannst du ihn als Pagen teuer wiederverkaufen.«

Sie kicherte maliziös.

»Wer weiß, vielleicht kannst du ihn seiner eigenen Mutter, der Soissons, wiederverkaufen.«

Jean-Pourris Augen funkelten begehrlich.

»Es ist gut«, erklärte er. »Ich gebe dir hundert Livres.«

»Hundertfünfzig.«

Der widerliche Geselle rang die Hände.

»Du ruinierst mich! Ahnst du, was mich das kostet, diesen Vogel aufzuziehen, zumal wenn er fett und kräftig bleiben soll? Außerdem, wer sagt mir, daß es wirklich ein Mulatte ist?« - »Ich schwöre dir, daß sein Vater schwärzer als die Unterseite eines Kochkessels war.«

Eine der Frauen stieß einen entsetzten Schrei aus:

»Oh, ich wäre vor Angst erstarrt. Wie konnte nur deine Herrin .«

»Man sagt doch, es genüge, daß ein Mohr einer Frau ins Weiße der Augen schaut, um sie schwanger zu machen«, meinte die Polackin.

Die Zofe lachte frivol.

»Ja, das sagt man . Und man bekam es zwischen den Tuilerien und dem Palais Royal immer wieder zu hören, besonders nachdem die Schwangerschaft meiner Herrin offenkundig geworden war. Die Geschichte ist bis in die Gemächer des Königs gedrungen. Seine Majestät hat gesagt: tatsächlich? Dann muß es ja wohl ein sehr tiefer Blick sein?< Und als er meiner Herrin im Vorzimmer begegnete, hat er ihr den Rücken gezeigt. Ihr könnt euch denken, wie sie sich geärgert hat, die Soissons. Sie, die so sehr hoffte, ihn wieder zu kapern! Aber der König ist wütend, seitdem er ahnt, daß ein schwarzhäutiger Mann von der Soissons zu den gleichen Bedingungen aufgenommen worden ist wie er. Und unglücklicherweise ist weder der Ehemann noch der Liebhaber, dieser kleine Halunke von Marquis de Vardes, bereit, die Vaterschaft auf sich zu nehmen. Aber meine Herrin ist nicht auf den Kopf gefallen. Sie wird den Redereien schon einen Riegel vorschieben. Zunächst mal wird sie offiziell erst im Dezember niederkommen.«

Und die Bertille setzte sich, indem sie einen triumphierenden Blick in die Runde warf.

»Schenk mir einen ein, Polackin, dann setz’ ich euch die Sache auseinander. Also das ist ’ne ganz einfache Rechnung. Der Mohr hat den Dienst meiner Herrin im Januar verlassen. Wenn sie im Dezember niederkommt, kann ja nicht gut er der Vater sein, wie? Dann wird sie die Reifen ihres Kleids ein bißchen weiter machen und stöhnen: >Oh, meine Liebe, dieses Kind ist so unruhig! Es lähmt mich. Ich weiß nicht, ob ich heute abend zum Hofball gehen kann.< Und dann im Dezember eine Niederkunft mit großem Trara. Das wird der Moment sein, Jean-Pourri, wo du uns ein frisch geschlüpftes Kind verkaufst, mag sein Vater sein, wer will. Der Mohr steht außer Diskussion, das ist das einzige, worauf es ankommt. Jedermann weiß, daß er seit Februar auf den königlichen Galeeren rudert.«

»Warum ist er auf den Galeeren?«

»Wegen einer üblen Zaubereigeschichte. Er war der Komplice eines Hexenmeisters, den man auf der Place de Grève verbrannt hat.«

Trotz aller Selbstbeherrschung konnte Angélique nicht umhin, einen Blick auf Nicolas zu werfen. Doch Nicolas aß und trank teilnahmslos. Noch tiefer zog sie sich in die Dunkelheit zurück. Sie hätte etwas darum gegeben, den Saal verlassen zu können, obwohl sie andrerseits darauf brannte, noch mehr zu hören.

Der Zwerg Barcarole sprang auf den Tisch neben das Glas der Zofe.

»Hu! Die Voisin, meine berühmte Meisterin, hat bei der Herzogin keine Abtreibung vornehmen wollen, weil es ein Mohrenkind war, das sie unter dem Herzen trug.«

»Woher hat sie’s gewußt?« fragte jemand.

»Sie weiß alles. Sie ist eine Hellseherin.«

»Sie brauchte nur ihre Handfläche zu betrachten, und schon hat sie ihr alles haargenau gesagt«, erläuterte die Zofe mit scheuer Miene. »Daß es ein Mischling war, daß der Mann, der es gezeugt hatte, geheime Zauberkünste kannte, daß sie das Kind nicht töten konnte, weil das ihr, die auch eine Hexe war, Unglück bringen würde. Meine Herrin war völlig ratlos: >Was sollen wir tun, Bertille?< fragte sie mich. Sie ist furchtbar zornig geworden, aber die Voisin hat nicht nachgegeben. Sie hat gesagt, sie wolle meiner Herrin bei der Niederkunft beistehen, und niemand würde etwas erfahren. Aber mehr könne sie nicht tun. Und sie hat viel Geld verlangt. Die Sache ist vergangene Nacht in Fontainebleau passiert, wo der ganze Hof sich den Sommer über aufhält. Die Voisin brachte einen ihrer Männer mit, einen Zauberer namens Lesage. Meine Herrin ist in einem kleinen Haus niedergekommen, das der Tochter der Voisin gehört, in nächster Nähe des Schlosses. In der Morgendämmerung hab’ ich meine Herrin zurückgebracht, und in aller Frühe hat sie sich in vollem Staat und bis zu den Augen geschminkt bei der Königin eingefunden, wie es üblich ist, da sie ihrem Hause vorsteht. Das wird eine ganze Menge Leute enttäuschen, die sich in diesen Tagen an ihrer Verlegenheit weiden wollten. Geschieht ihnen ganz recht, daß sie nicht auf ihre Kosten kommen. Madame de Soissons ist noch immer in andern Umständen, sie wird erst im Dezember ein schneeweißes Kind zur Welt bringen, und es ist sogar möglich, daß Monsieur de Soissons es anerkennt.«

Schallendes Gelächter folgte dem Beschluß der Geschichte. Barcarole schlug einen Purzelbaum.

»Ich habe meine Meisterin zu Lesage sagen hören, die Sache mit der Soissons sei genauso viel wert wie ein gefundener Schatz.«

»Oh, sie ist raff gierig!« brummte Bertille grollend. »Sie hat so viel verlangt, daß meine Herrin mir grade noch eine kleine Halskette schenken konnte, um sich für meine Hilfe erkenntlich zu zeigen.«

Nachdenklich musterte sie den Zwerg.

»Hör mal«, sagte sie plötzlich, »ich glaube, du könntest eine sehr hoch gestellte Persönlichkeit, die ich kenne, glücklich machen.«

»Ich hab’ ja immer gesagt, daß mir noch eine große Zukunft beschieden ist«, erwiderte Barcarole bescheiden und brachte sich auf seinen kleinen Stummelbeinchen in eine vorteilhafte Stellung.

»Der Zwerg der Königin ist gestorben, und das hat die Königin sehr bekümmert, die sich über alles erregt, seitdem sie in andern Umständen ist. Und die Zwergin ist verzweifelt. Niemand kann sie trösten. Sie müßte einen neuen Gefährten haben ... von ihrer Größe.«

»Oh, ich bin sicher, daß ich dieser vornehmen Dame gefallen werde«, rief Barcarole aus und klammerte sich an den Rock der Zofe. »Nehmt mich mit, Täubchen, bringt mich zur Königin. Sehe ich nicht liebenswert und verführerisch aus?«

»Häßlich ist er nicht grade, was, Jacinthe?« meinte sie belustigt.

»Ich bin sogar schön«, versicherte der Knirps. »Wenn die Natur mir ein paar Zentimeter mehr gegeben hätte, wäre ich der begehrteste aller Blaubärte. Und wenn es gilt, den Frauen schlüpfrige Geschichten zu erzählen, dann steht meine Zunge nie still, das könnt Ihr mir glauben.«

»Die Zwergin spricht nur Spanisch.«

»Ich spreche Spanisch, Deutsch und Italienisch.«

»Er muß mitkommen«, rief Bertille aus und klatschte in die Hände. »Das ist eine großartige Sache, und wir werden bei Ihrer Majestät einen Stein im Brett haben. Beeilen wir uns. Wir müssen am Morgen wie-der in Fontainebleau sein, damit unsere Abwesenheit nicht auffällt. Sollen wir dich in den Korb des kleinen Mulatten stecken?«

»Ihr spottet, Madame«, entrüstete sich Barcarole bereits wie ein großer Herr.

Alles lachte und gratulierte. Barcarole bei der Königin .! Was für eine Karriere! Was für ein Witz!

Calembredaine begnügte sich damit, die Nase von seinem Napf zu heben.

»Vergiß die Genossen nicht, wenn du ein feiner Pinkel geworden bist«, sagte er. Und er machte mit Daumen und Zeigefinger die Geste des »Blechens«.

»Du kannst mich abstechen, wenn ich’s vergesse!« protestierte der Zwerg, der die erbarmungslosen Gesetze der Gaunerzunft kannte. Dann lief er in den Winkel, in dem Angélique sich befand, und vollführte eine artig-höfische Verbeugung.

»Auf Wiedersehen, o Allerschönste, auf Wiedersehen, mein Schwesterherz, Marquise der Engel.«

Das drollige Männchen hob seine lebhaften, seltsam scharfsichtigen Augen zu ihr und fügte mit den Allüren eines Stutzers hinzu:

»Ich hoffe, wir sehen uns wieder, meine Teuerste. Ich erwarte Euch . bei der Königin.«

Der Hof war in Fontainebleau. In der heißen Jahreszeit gab es nichts Reizvolleres als dieses weiße Schloß mit seinem Teich, in dem die Karpfen träge dahinglitten - in ihrer Mitte der vollkommen weiße Urahn, der am Maul den Ring Franz’ I. trug. Gewässer rundum, Blumen, Gehölze .

Der König arbeitete, der König tanzte, der König ritt auf Parforcejagd. Der König war verliebt. Die sanfte Louise de La Vallière, zitternd, weil sie die Leidenschaft dieses königlichen Herzens geweckt hatte, hob ihre wunderschönen, graublauen Augen schmachtend zu ihm auf. Und der Hof feierte in vielsagenden Allegorien, in denen die durch den Wald flüchtende Diana sich schließlich Endymion ergab, den Aufstieg dieses schlichten, blonden Mädchens, dessen jungfräuliche Blüte Ludwig XIV. eben gepflückt hatte.

Siebzehn Jahre alt, kaum den dürftigen Verhältnissen einer vielköpfigen Provinzfamilie entronnen, vereinsamt zwischen den Hofdamen Madames - hatte Louise de La Vallière da nicht allen Grund zu zittern, wenn Nymphen und Waldgötter Fontainebleaus zu tuscheln begannen, wenn die »Favoritin« im Mondschein vorüberschritt? Welche Dienstbeflissenheit rings um sie her, die nicht mehr wußte, wo sie ihre Liebe und ihre Schande verbergen sollte! Doch die Höflinge verstanden sich auf ihr Parasitengewerbe.

Die Mätresse ist es, über die man Zugang zum König, über die man Stellen, Vergünstigungen, Pensionen erhält. Während die durch ihre Mutterschaft beschwerte Königin in ihre Gemächer verwiesen blieb und sich mit der Gesellschaft ihrer Zwergin begnügen mußte, löste in diesen leuchtenden Sommertagen ein rauschendes Fest das andere ab.

Da beim kleinen Souper auf dem Kanal in den Kähnen kein Platz für die Mundschenke blieb, sah man den Fürsten Condé ausnahmsweise einmal nicht Schlachten gewinnen und Verschwörungen anzetteln, sondern die Platten übernehmen, die man ihm von einem benachbarten Kahne reichte, und sie dem König und seiner Mätresse servieren.

Am 11. August jagten alle Damen den Hirsch; am 14. fand Ball im Freien statt, bei dem der als Hirte verkleidete König mit der La Vallière tanzte. Am 18. gab es Schmaus im Wald, während in den Gebüschen verstreute Orchester in Wettstreit mit den Vögeln traten. Am 25. war Fackelzug ... und Amor führte den Reigen an .

Angélique saß am Seineufer und schaute zu, wie die Dämmerung sich über Notre-Dame senkte.

Über den hohen, eckigen Türmen und der bauchigen Apsis spannte sich ein gelber, mit Schwalben besprenkelter Himmel. Von Zeit zu Zeit streifte ein an Angélique vorbeihuschender Vogel mit schrillem Schrei die Uferböschung.

Jenseits des Gewässers, unterhalb der DomherrenHäuser von Notre-Dame, befand sich die größte Schwemme von Paris. Zu dieser Stunde wurden dort eine Menge Pferde von Fuhrleuten oder Kutschern den lehmigen Hang hinuntergeführt. Ihr Gewieher erfüllte den klaren Abend.

Plötzlich erhob sich Angélique.

»Ich gehe nach meinen Kindern sehen«, sagte sie zu sich.

Ein Fährmann setzte sie für zwanzig Sols zum Hafen Saint-Landry über. Drüben bog sie in die Rue de l’Enfer und blieb ein paar Schritte vor dem Haus des Staatsanwalts Fallot de Sancé stehen. Sie wollte das Haus ihrer Schwester nicht in diesem Zustand betreten, mit ihrem zerschlissenen Rock, den ausgetretenen Schuhen und dem unordentlichen, mit einem Kopftuch zusammengebundenen Haar. Aber sie hatte sich gesagt, daß sie, wenn sie in der Nähe wartete, ihre beiden Söhne vielleicht zu sehen bekommen würde. Das war seit einer Weile zu einer fixen Idee bei ihr geworden, zu einem Bedürfnis, das täglich dringender wurde und ihr ganzes Denken erfüllte. Florimonds kleines Gesicht tauchte aus dem Abgrund des Vergessens und der Gleichgültigkeit auf, in den sie versunken war. Sie sah ihn wieder vor sich mit seinem schwarzen Lockenhaar unter dem roten Häubchen. Sie hörte ihn plappern. Wie alt war er jetzt? Etwas über zwei Jahre. Und Cantor? Sieben Monate. Sie konnte ihn sich nicht mehr vorstellen. Er war noch so klein gewesen, als sie ihn verlassen hatte.

Neben der Bude eines Seifenhändlers an die Wand gelehnt, starrte Angélique auf die Fassade jenes Hauses, in dem sie als noch reiche und geachtete Frau gelebt hatte. Von hier aus hatte sie sich, prächtig gekleidet, zum triumphalen Einzugs des Königs begeben. Und die einäugige Cateau hatte ihr das vorteilhafte Angebot des Oberintendanten Fouquet übermittelt: »Willigt ein, meine Liebe ... Ist es nicht besser, als das Leben zu verlieren?«

Sie hatte abgelehnt. Dann hatte sie alles verloren, und es kam ihr fast vor, als habe sie auch das Leben verloren, denn sie hatte keinen Namen, keine Existenzberechtigung mehr, sie war in den Augen der Mitwelt tot.

Die Zeit verran, und nichts rührte sich vor dem Haus. Nur hinter den schmutzigen Fenstern der Anwaltskanzlei war das Hin und Her der dürftigen Gestalten der Schreiber zu ahnen.

Einer von ihnen kam heraus, um die Laterne anzuzünden. Angélique sprach ihn an:

»Ist Maître Fallot de Sancé zu Hause oder hat er für die Sommermonate sein Landhaus bezogen?«

Der Schreiber musterte sie argwöhnisch.

»Maître Fallot wohnt schon einige Zeit nicht mehr hier«, gab er schließlich Auskunft. »Er hat seine Praxis und alles andere verkauft. Er hatte Unannehmlichkeiten durch einen Hexenprozeß, in den seine Familie verwickelt war. Das hat ihm berufliche Nachteile gebracht. Er hat sich in einem andern Stadtteil niedergelassen.«

»Und ... Ihr wißt nicht, in welchem Stadtteil?«

»Nein«, sagte der andere in barschem Ton. »Und wenn ich es wüßte, würde ich es dir nicht sagen. Du bist keine Klientin für ihn.«

Angélique war niedergeschmettert. Seit ein paar Tagen lebte sie nur noch in dem Gedanken, wenn auch nur für eine Sekunde die Gesichter ihrer beiden Kinder zu sehen. Sie hatte sie sich vorgestellt, wie sie vom Spaziergang zurückkommen würden, Cantor auf Barbes Arm, Florimond fröhlich neben ihr einhertrippelnd. Und nun waren auch sie für immer von ihrem Horizont verschwunden!

Es wurde ihr schwindlig vor Schmerz, und sie mußte sich an die Wand lehnen. Der Seifenhändler, der im Begriff war, für die Nacht seine Bude zu verrammeln, und dabei die Unterhaltung mit angehört hatte, sagte zu ihr:

»Liegt dir so viel dran, Maître Fallot zu sprechen? Ist es wegen eines Prozesses .?«

»Nein«, erklärte Angélique und versuchte, sich zu beherrschen, »aber ich . ich hätte gern ein Mädchen gesprochen, das bei ihm in Dienst war, ein Mädchen namens Barbe. Kennt hier in der Gegend niemand die neue Adresse des Herrn Staatsanwalts?«

»Was Maître Fallot und seine Familie betrifft, kann ich dir keine Auskunft geben. Aber Barbe . das wäre möglich. Sie ist nicht mehr bei ihnen. Als ich sie das letztemal zu sehen bekam, arbeitete sie bei einem Bratkoch der Rue de la Vallée-de-Misère, im >Kecken Hahn<.«

»Oh, ich danke Euch vielmals!«

Und schon lief Angélique durch die dunkelnden Straßen. Die Rue de la Vallée-de-Misère hinter dem Chätelet-Gefängnis war das Revier der Bratköche. Tag und Nacht waren hier die schrillen Schreie des Federviehs zu hören, dem die Gurgel durchgeschnitten wurde, und das knarrende Geräusch der sich vor dem Feuer drehenden Spieße.

Die Bratküche zum »Kecken Hahn« war die letzte in der langen Reihe und keineswegs die glänzendste. Im Gegenteil, man hätte bei ihrem Anblick meinen können, die Fastenzeit, die allein die Öfen der Bratköche löscht, die Metzgerläden schließt und die Kuchenbäcker zum Gähnen bringt, habe bereits begonnen.

Angélique betrat einen von zwei oder drei Kerzen kümmerlich erleuchteten Raum. Vor einem Humpen Wein hockte ein beleibter Biedermann, der eine schmutzige Kochmütze trug und offensichtlich sehr viel mehr mit Trinken beschäftigt war als damit, seine Gäste zu bedienen. Diese waren nicht eben zahlreich und bestanden in der Hauptsache aus Handwerkern und einem Reisenden von dürftigem Äußeren. Trägen Schrittes brachte ihnen ein junger, in eine fettige Schürze gewickelter Bursche Gerichte, deren Zusammensetzung sich nur mit Mühe erraten ließ.

Angélique wandte sich an den dicken Koch:

»Habt Ihr hier eine Magd namens Barbe?«

Der Mann deutete lässig mit dem Daumen in die Küche, in deren Hintergrund Angélique Barbe entdeckte. Sie saß vor dem Feuer und rupfte ein Huhn.

»Barbe!«

Die Angerufene hob den Kopf und rieb sich mit dem Arm über die schweißbedeckte Stirn.

»Was willst du, Mädchen?« fragte sie mit müder Stimme.

»Barbe!« wiederholte Angélique.

Die Augen der Magd bekamen einen verwunderten Ausdruck, dann weiteten sie sich plötzlich vor Verblüffung, und sie stammelte:

»Oh, Madame .! Vergebt mir, Madame .!«

»Du darfst mich nicht mehr Madame nennen, das siehst du doch«, sagte Angélique in schroffem Ton. Sie ließ sich auf den Herdstein sinken. Die Hitze war zum Ersticken.

»Barbe, wo sind meine Kinder?«

Barbes dicke Wangen bebten, als hielte sie mühsam die Tränen zurück. Sie schluckte und vermochte endlich zu antworten.

»Sie sind in Pflege, Madame . Außerhalb von Paris, in einem Dorf in der Nähe von Longchamp.«

»Hat meine Schwester Hortense sie nicht bei sich behalten?«

»Madame Hortense hat sie gleich in Pflege gegeben. Ich bin einmal zu jener Frau gegangen, um ihr das Geld zu bringen, das Ihr mir dagelassen hattet. Madame Hortense hatte verlangt, daß ich ihr das Geld übergebe, aber ich habe ihr nicht alles gegeben. Ich wollte, daß das Geld nur den Kindern zugute kommt. Danach hab’ ich nicht mehr zur Amme gehen können. Ich hatte Madame Hortense inzwischen verlassen . Ich habe mehrere Stellen gehabt . Es ist so schwer, sein Brot zu verdienen.«

Sie überstürzte sich im Reden und vermied es, Angéliques Blick zu begegnen. Die letztere dachte nach. Das Dorf Longchamp war nicht sehr weit entfernt. Für die Damen des Hofes war es ein beliebtes Ausflugsziel; sie pflegten dort das Meßamt der Nonnen von der Abtei zu hören .

Nervös und hastig hatte Barbe ihre unterbrochene Arbeit wiederaufgenommen. Angélique spürte, daß jemand sie anstarrte, wandte sich um und erblickte den jungen Burschen mit der Schürze. Er starrte sie offenen Mundes und mit einem Ausdruck, der über die Gefühle, die ihm die hübsche Frau in Lumpen einflößte, keinen Zweifel zuließ. Angélique war an lüsterne Männerblicke gewöhnt, aber diesmal fühlte sie sich gereizt. Sie stand auf.

»Wo wohnst du, Barbe?«

»Hier im Haus, in einer Bodenkammer.«

In diesem Augenblick kam mit schief sitzender Mütze der Wirt des »Kecken Hahns« herein.

»Nun, was treibt ihr da alle?« erkundigte er sich mit mürrischer Stimme. »David, die Gäste rufen nach dir ... Bist du endlich mit dem Federvieh fertig, Barbe? Soll ich mich vielleicht selbst bemühen, damit ihr weitertratschen könnt? Was will überhaupt das Weibsbild da? Los, raus mit dir! Und untersteh dich nicht, mir einen Kapaun zu stehlen .«

»Oh, Meister Bourgeaud!« rief Barbe entrüstet aus.

Aber an diesem Abend war Angélique nicht passiv gestimmt. Sie stemmte die Arme in die Hüften, und der ganze Wortschatz der Polackin kam ihr auf die Lippen.

»Halt die Klappe, dickes Faß! Mich verlangt nicht nach deinen zähen Pappkartonhähnchen. Klapp deine Pupillen zu, liederlicher alter Junggeselle, und dein Schandmaul dazu, wenn du nicht was drauf kriegen willst!«

»Oh, Madame!« schrie Barbe, die sich vor Entsetzen nicht zu fassen wußte.

Angélique nützte die Verblüffung der beiden Männer aus und flüsterte ihr zu:

»Ich warte draußen im Hof auf dich.«

Als bald darauf Barbe mit einem Leuchter in der Hand im Hof erschien, folgte sie ihr über die schadhafte Treppe in die Bodenkammer, die Meister Bourgeaud seiner Magd für ein paar Sols vermietete.

»Es sieht recht armselig aus bei mir«, sagte Barbe verlegen.

»Brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich kenne die Armut.«

Angélique zog ihre Schuhe aus, um die Kühle des Steinbodens zu genießen, und setzte sich auf das Bett, das aus einem auf Brettern und vier Füßen ruhenden Strohsack bestand.

»Ihr dürft Meister Bourgeaud nicht böse sein«, erklärte Barbe. »Er ist kein schlechter Mensch, aber seit dem Tod seiner Frau hat er den Verstand verloren und trinkt nur noch. Der Küchenjunge ist ein Neffe von ihm, den er zu seiner Hilfe aus der Provinz hat kommen lassen, aber er stellt sich nicht sehr geschickt an. Drum geht das Geschäft schlecht.«

»Wenn es dir nicht unangenehm ist, Barbe«, sagte Angélique, »möcht’ ich bei dir über Nacht bleiben. Morgen will ich in aller Frühe aufbrechen und meine Kinder besuchen. Kann ich mit dir das Bett teilen? Es wäre mir sehr lieb.«

»Madame erweist mir eine große Ehre.«

»Ehre«, sagte Angélique bitter. »Schau mich an und rede nicht mehr so.«

Barbe brach in Tränen aus.

»O Madame!« stammelte sie. »Euer schönes Haar ... Euer wunderschönes Haar! Wer bürstet es Euch jetzt?«

»Ich selber . manchmal. Barbe, weine nicht, ich flehe dich an.«

»Wenn Madame mir erlaubt«, flüsterte die Magd, »ich hab’ dort eine Bürste . Ich könnte vielleicht . ausnützen ... daß ich mit Madame zusammen bin .«

»Wenn du willst.«

Die geschickten Hände der Magd entwirrten sanft die schönen, stumpf gewordenen Locken. Angélique schloß die Augen. Die Macht der Gewohnheit ist groß. Es bedurfte nur der sorgsamen Hände einer Magd, um von neuem eine auf ewig entschwunden geglaubte Atmosphäre zu schaffen. Barbe kämpfte gegen ihre Tränen an.

»Weine nicht«, wiederholte Angélique. »All das wird einmal enden ... ja, ich glaube bestimmt, daß es enden wird. Noch nicht, das weiß ich wohl, aber der Tag wird kommen. Du kannst das nicht verstehen, Barbe. Es ist wie ein infernalischer Kreis, dem man nur durch den Tod entrinnen kann. Aber ich fange an zu glauben, daß ich ihm dennoch entrinnen werde. Weine nicht, Barbe, du gutes Kind .«

Am nächsten Morgen wanderte Angélique über die Landstraße nach Longchamp. Sie hatte die Stadt durch das Tor von Saint-Honoré verlassen, und nachdem sie einer durch schachbrettartige Anpflanzungen führenden Promenade gefolgt war, die man die Champs-Elysees nannte, erreichte sie das Dorf Neuilly, wo sich, wie Barbe gesagt hatte, die Kinder befanden. Sie wußte noch nicht, was sie tun würde. Vielleicht sie aus der Ferne beobachten. Und wenn sich Florimond beim Spielen ihr nähern sollte, würde sie versuchen, ihn durch eine Leckerei zu sich zu locken.

Sie ließ sich das Haus der Mutter Mavaut zeigen, und als sie sich ihm näherte, sah sie Kinder, die im Staub unter der Obhut eines ungefähr dreizehnjährigen Mädchens spielten. Die Kinder waren ziemlich verschmutzt und ungepflegt, wirkten aber gesund.

Vergeblich bemühte sie sich, unter ihnen Florimond zu erkennen, und als eine große, kräftige Frau in Holzpantinen aus dem Hause trat, entschloß sie sich in der Annahme, die Amme vor sich zu haben, den Hof zu betreten.

»Ich möchte gern zwei Kinder besuchen, die Euch von Madame Fallot de Sancé anvertraut wurden.«

Die Bäuerin, eine derbe, braune, fast männlich wirkende Frau, musterte sie mit unverhohlenem Mißtrauen.

»Bringt Ihr uns endlich das schuldig gebliebene Geld?«

»Ist man Euch denn Pflegegeld schuldig geblieben?«

»Und ob!« polterte die Frau los. »Mit dem, was Madame Fallot mir gegeben hat, als ich sie holte, und was ihre Magd mir später brachte, hab’ ich sie grade einen Monat ernähren können. Und seitdem hab’ ich keinen Sol mehr gesehen. Ich bin nach Paris gegangen, um zu reklamieren, aber sie waren verzogen. Das sind so die Manieren dieser Schwarzröcke von Staatsanwälten!«

»Wo sind sie?« fragte Angélique.

»Wer sie?«

»Die Kinder.«

»Was weiß denn ich?« sagte die Amme achselzuk-kend. »Ich hab’ grade genug zu tun mit den Knirpsen derer, die bezahlen.«

Das Mädchen, das herangekommen war, sagte lebhaft: »Der Kleinere ist dort drüben. Ich zeige ihn Euch.«

Sie durchquerte vor Angélique die niedrige Stube des Bauernhauses und führte sie in den Stall, in dem zwei Kühe standen. Hinter der Raufe deckte sie eine Kiste ab, in der Angélique der Dunkelheit wegen nur mit Mühe ein ungefähr sechs Monate altes Kind erkannte. Es war nackt, abgesehen von einem Tuchfetzen über dem Bauch, an dessen einem Ende es gierig saugte. Angélique packte den Rand der Kiste und zog sie in den Raum, um besser sehen zu können.

»Ich hab’ ihn in den Stall getan, weil es da nachts wärmer ist als im Vorratsraum«, flüsterte das Mädchen. »Er hat überall Schorf, aber er ist nicht mager. Ich melke morgens und abends die Kühe, da geb’ ich ihm jedesmal ein bißchen was ab.«

Völlig niedergeschmettert betrachtete Angélique das Kind. Das konnte doch nicht Cantor sein, diese häßliche, mit Pusteln und Ungeziefer bedeckte kleine Larve. Außerdem war Cantor mit blonden Haaren zur Welt gekommen, während das Kind vor ihr braune Locken hatte. In diesem Augenblick erwachte es und schlug seine klaren, wunderschönen Augen auf.

»Er hat die gleichen grünen Augen wie Ihr«, sagte das Mädelchen. »Seid Ihr am Ende gar seine Mutter?«

»Ja, ich bin seine Mutter«, sagte Angélique mit tonloser Stimme. »Wo ist der Ältere?«

»Er muß in der Hundehütte sein.«

»Javotte, kümmer dich um deine eigenen Angelegenheiten!« rief die Bäuerin herüber.

Sie beobachtete mit feindseliger Miene, was die beiden taten, mischte sich aber nicht ein, vielleicht weil sie hoffte, daß diese Frau mit dem armseligen Äußeren am Ende doch Geld mitgebracht hatte.

Die Hundehütte war von einem offensichtlich sehr bösartigen Köter besetzt. Javotte mußte die ver-schiedensten Lockmittel anwenden, um ihn zum Herauskommen zu veranlassen.

»Flo versteckt sich immer hinter Patou, weil er Angst hat.«

»Wovor Angst?«

Das Mädchen sah sich scheu um. »Daß man ihn schlägt.«

Es zog etwas aus dem Hintergrund der Hütte hervor. Eine schwarze, haarige Kugel wurde sichtbar.

»Aber das ist ja auch ein Hund!« rief Angélique aus.

»Nein, das sind seine Haare.«

Freilich, ein solcher Schopf konnte nur dem Sohn Joffreys de Peyrac gehören. Doch unter dieser dichten, dunklen Wolle war noch ein armseliger zum Skelett abgemagerter und mit Lumpen bedeckter kleiner Körper.

Angélique kniete auf die Erde und strich mit zitternder Hand das struppige Haar zurück. Sie machte das abgezehrte, bleiche Gesichtchen frei, in dem zwei aufgerissene, schwarze Augen glänzten. Trotz der Hitze zitterte das Kind unausgesetzt am ganzen Leibe. Seine zarten Knochen traten hervor, und seine Haut war rauh und schmutzig.

Angélique richtete sich auf und trat auf die Amme zu.

»Ihr habt sie hungern lassen«, sagte sie ruhig und bestimmt. »Ihr habt sie verkommen lassen ... Seit Monaten haben diese Kinder keine Pflege, keine Nahrung bekommen. Nur die Reste des Hundes oder die paar Bissen, die dieses Mädchen sich von seinem kümmerlichen Essen abgespart hat. Ihr seid eine ganz gemeine Person!«

Die Bäuerin war puterrot geworden. Sie verschränkte die Arme über ihrem Mieder.

»Na, Ihr macht mir ja Spaß!« rief sie wutschnaubend aus. »Man lädt mir Bälger auf den Hals, ohne zu zahlen, man verschwindet, ohne eine Adresse anzugeben, und nun soll ich mich auch noch von so einem Bettelweib, so einer Herumtreiberin beschimpfen lassen!«

Ohne auf sie zu hören, war Angélique ins Haus zurückgekehrt. Sie erwischte einen Lumpen, der vor dem Herd hing, nahm Cantor und packte ihn sich auf den Rücken, indem sie ihn durch das um ihre Brust geknüpfte Tuch auf die gleiche Art festhielt, wie die Zigeuner es mit ihren Kindern tun.

»Was habt Ihr vor?« fragte die Amme, die ihr nachgegangen war. »Wollt Ihr sie etwa mitnehmen, wie? Dann gebt mir erst das Geld.«

Angélique wühlte in ihren Taschen und warf ein paar Geldstücke auf den Boden. Die Bäuerin lachte höhnisch auf.

»Zehn Livres! Das ist zum Lachen - wo man mir mindestens dreihundert schuldet. Los, bezahle, oder ich hetze die Hunde auf dich.«

In ihrer vollen Größe pflanzte sie sich mit ausgestreckten Armen vor der Tür auf. Angélique griff in ihr Mieder und zog den Dolch hervor. Die Klinge Rodogones des Ägypters funkelte im Halbdunkel genauso bedrohlich wie ihre grünen Augen.

»Verzieh dich«, sagte Angélique mit dumpfer Stimme, »verzieh dich, oder ich stech’ dich ab.«

Als die Bäuerin die Rotwelschausdrücke hörte, wurde sie bleich. Man kannte vor den Toren von Paris nur zu gut die Verwegenheit der Landstreicherinnen und ihr Geschick, mit dem Messer umzugehen.

Verängstigt wich sie zurück. Angélique schob sich an ihr vorbei, die Spitze des Dolchs auf sie gerichtet, wie die Polackin es sie gelehrt hatte.

»Ruf nicht! Hetz weder Hunde noch das Bauerngesindel auf mich, sonst kommt Unglück über dich. Morgen brennt dein Haus nieder ... Und du, du wachst mit gespaltener Kehle auf... Verstanden?«

In der Mitte des Hofes angelangt, barg sie den Dolch wieder in ihrem Gürtel, nahm Florimond auf den Arm und machte sich eilends auf den Rückweg nach Paris, wo sie für ihre beiden halbtoten Kinder keine andere Zuflucht hatte als Ruinen und das finstere Wohlwollen von Bettlern oder Banditen.

Kutschen begegneten ihr und hüllten sie in Wolken von Staub, der an der schweiß nassen Haut ihres Gesichts haftenblieb. Aber sie verlangsamte ihren Schritt nicht; sie spürte ja kaum das - allzu leichte

- Gewicht ihrer doppelten Bürde.

»Ich muß dem eines Tages entrinnen«, dachte Angélique. »Ich muß meine Kinder wieder ins Leben zurückzuführen.«

Als Angélique mit ihren Kindern in der Tour de Nesle erschien, wurde Calembredaine weder zornig noch eifersüchtig, wie sie gefürchtet hatte, aber in seinem groben, dunklen Gesicht drückte sich Entsetzen aus.

»Du bist verrückt, deine Kinder hierherzubringen«, sagte er. »Hast du nicht gesehen, was man hier mit den Kindern macht? Willst du, daß man sie sich ausleiht, um sie betteln zu schicken? Daß die Ratten sie fressen? Daß Jean-Pourri sie stiehlt .?«

Verzweifelt ob dieser unerwarteten Vorwürfe, klammerte sie sich an ihn.

»Wohin sollte ich sie denn bringen, Nicolas? Sieh doch, was man aus ihnen gemacht hat . Sie sind ja schier verhungert! Ich hab’ sie nicht hierhergebracht, daß man ihnen Böses antut, sondern damit du sie unter deinen Schutz nimmst, Nicolas.«

Sie schmiegte sich wie verloren an ihn und schaute ihn an, wie sie es noch nie getan hatte. Aber er achtete nicht auf sie. Er schüttelte den Kopf und sagte:

»Ich kann sie nicht ewig beschützen . diese kleinen Kinder von adligem Blut. Ich kann es nicht.«

»Warum? Du bist stark, man fürchtet dich.«

»So stark bin ich nicht. Du hast an mein Herz gerührt. Wenn bei unsereinem das Herz mitspricht, können wir einpacken. Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und sage zu mir: >Calembredaine, sieh dich vor! Zum Galgen ist’s nicht mehr weit .<«

»Sprich nicht so, wenn ich dich ein einziges Mal um etwas bitte. Nicolas, mein Nicolas, hilf mir meine Kinder retten!«

Man nannte sie »die kleinen Engel«. Von Calembredaine beschützt, teilten sie das umsorgte Leben Angéliques inmitten des Elends und Verbrechens. Sie schliefen in einem großen, mit weichen Mänteln und feinen Laken ausgelegten Lederkoffer. Jeden Morgen bekamen sie ihre frische Milch. Für sie paßte Rigobert oder La Pivoine die Bäuerinnen ab, die sich, die kupferne Kanne auf den Köpfen tragend, zum Milchmarkt begaben. Bald mochten die Milchfrauen nicht mehr den Weg an der Seine entlang benutzen. Bis nach Vaugirard mußte man gehen, um ihnen zu begegnen. Schließlich merkten sie, daß sie sich mit einem Krug Milch loskaufen konnten, und die »Früheren« brauchten nicht einmal mehr ihre Degen zu ziehen.

Florimond und Cantor hatten Angéliques Lebensgeister geweckt. Gleich nach ihrer Rückkehr aus Neuilly brachte sie sie zum Großen Matthieu. Sie wollte eine Salbe für Cantors Wunden. Und für Florimond ...? Was konnte man tun, um diesem ausgemergelten kleinen Körper neues Leben einzuhauchen?

Die Polackin begleitete sie. Der Große Matthieu hob den purpurroten Vorhang, der seine »Bühne« unterteilte, und ließ sie, als handle es sich um vornehme Damen, in sein Privatkabinett eintreten, in dem es inmitten eines unwahrscheinlichen Wirrwarrs von künstlichen Gebissen, Suppositorien, Zangen, Puderdosen, Kochtöpfen und Straußeneiern zwei ausgestopfte Krokodile zu sehen gab.

Der Meister bestrich höchst eigenhändig Cantors Haut mit einer selbstverfertigten Salbe und versprach, in acht Tagen werde nichts mehr zu sehen sein. Die Prophezeiung bewahrheitete sich: Der Schorf fiel ab, und es kam ein rundliches, sanftes Kerlchen mit weißer Haut und braunem, gelocktem Haar zum Vorschein, dessen Munterkeit nichts zu wünschen übrigließ.

Was Florimond betraf, so schaute der Große Matthieu wesentlich bedenklicher drein. Behutsam nahm er den Jungen an sich, untersuchte ihn, machte kleine Späßchen mit ihm und gab ihn Angélique zurück. Dann kratzte er sich verdutzt das Kinn. Angélique war mehr tot als lebendig.

»Was fehlt ihm denn?«

»Nichts. Er muß essen; sehr wenig im Anfang. Später so viel er kann. Vielleicht kriegt er dann wieder ein bißchen was auf die Knochen.«

»Als ich ihn verließ, konnte er sprechen und gehen«, sagte sie verzweifelt. »Jetzt spricht er kein Wort mehr und kann sich kaum auf den Beinen halten.«

»Wie alt war er, als du ihn verließest?«

»Zwanzig Monate, nicht ganz zwei Jahre.«

»Das ist ein böses Alter, um leiden zu lernen«, sagte der Große Matthieu nachdenklich. »Besser, es passiert früher, gleich nach der Geburt. Oder später. Aber solche kleinen Wesen, die eben den ersten Blick in die Welt tun, dürfen nicht zu jäh vom Schmerz überfallen werden.«

Angélique hob ihre tränenverschleierten Augen zum Großen Matthieu. Sie fragte sich, woher dieser gewöhnliche, lärmende Mann von so zarten Dingen wissen mochte.

»Wird er sterben?«

»Vielleicht nicht.«

»Gebt mir jedenfalls ein Heilmittel«, beschwor sie ihn.

Der Quacksalber schüttete ein Kräuterpulver in eine Tüte und empfahl ihr, dem Kind täglich einen Aufguß davon einzuflößen.

»Das wird ihm Kraft geben«, sagte er. Und nach kurzem Überlegen fuhr er fort:

»Was er braucht, ist, daß er auf lange Zeit hinaus nicht mehr hungert, nicht mehr friert, sich nicht mehr ängstigt, daß er sich nicht mehr verlassen fühlt, daß er immer nur dieselben Gesichter um sich sieht . Was er braucht, ist ein Heilmittel, das ich nicht in meinen Töpfen habe . nämlich, daß er glücklich ist. Hast du mich verstanden, Mädchen?«

Sie nickte. Sie war verblüfft und fassungslos. Nie hatte jemand in solcher Weise über Kinder zu ihr gesprochen. In der Welt, in der sie früher gelebt hatte, war das nicht üblich gewesen. Aber vielleicht besaßen die einfachen Menschen tiefere Einsichten in die Seelen der Kleinen.

Ein Patient mit geschwollener Wange, an die er kläglich sein Taschentuch drückte, war auf die Wagenbühne gestiegen, und das Orchester ließ seine Katzenmusik ertönen. Der Große Matthieu schob die Frauen hinaus.

»Bemüht euch, ihn zum Lächeln zu bringen«, rief er ihnen noch nach, bevor er zu seiner Zange griff.

Von nun an ließ man es sich in der Tour de Nesle angelegen sein, Florimond zum Lächeln zu bringen. Vater Hurlurot und Mutter Hurlurette tanzten für ihn, was ihre vom Teufel besessenen Beine hergaben. Pain-Noir lieh ihm seine Pilgermuscheln zum Spielen. Vom Pont-Neufbrachte man ihm Apfelsinen, Kuchen und Windmühlen aus Papier mit. Ein kleiner Auvergnate zeigte ihm sein Murmeltier und einer der Schausteller vom Jahrmarkt in Saint-Germain ließ seine acht dressierten Ratten nach Geigenklängen Menuett vor ihm tanzen.

Doch Florimond hatte Angst und verdeckte seine Augen. Einzig Piccolo, der Affe, brachte es fertig, ihn zu unterhalten. Doch trotz seiner Grimassen und Kapriolen gelang es ihm nicht, ihn zum Lächeln zu bringen.

Dieses Wunder vollbrachte Thibault-le-Veilleur. Eines Tages begann der alte Mann das Lied von der »Grünen Mühle« zu spielen. Angélique, die Florimond auf ihren Knien hielt, spürte, daß er zitterte. Er hob die Augen zu ihr auf. Sein Mund bebte und entblößte die winzigen, an Reiskörner erinnernden Zähne. Und mit leiser, rauher, wie aus weiter Ferne kommender Stimme sagte er:

»Mama!«

Der September kam und war kalt und regnerisch.

»Es wird Winter«, seufzte Pain-Noir und flüchtete mit seinen durchnäßten Hadern ans Feuer. Das feuchte Holz zischte im Kamin. Ausnahmsweise warteten die Bürger und Kaufleute von Paris nicht Allerheiligen ab, um ihre Winterkleider hervorzuholen und sich zur Ader zu lassen, den Traditionen der Hygiene gemäß, die empfahlen, sich bei jedem Wechsel der Jahreszeiten, also viermal im Jahr, der Lanzette des Chirurgen zu überliefern.

Aber die Edelleute und die Gauner hatten andere Sorgen, als sich über Regen und Kälte zu unterhalten. Alle hohen Persönlichkeiten des Hofs und der Finanzwelt standen unter dem Eindruck der Verhaftung des steinreichen Oberintendanten der Finanzen, Monsieur Fouquet. Alle niederen Persönlichkeiten der Gaunerwelt stellten Betrachtungen darüber an, welche Wendung der Streit zwischen Calembredaine und Rodogone dem Ägypter im Augenblick der Eröffnung des Jahrmarkts von Saint-Germain wohl nehmen würde.

Die Verhaftung Monsieur Fouquets war wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen. Ein paar Wochen zuvor waren der König und die KöniginMutter von dem prachtliebenden Intendanten in Vaux-le-Vicomte empfangen worden und hatten wieder einmal das wundervolle, vom Architekten Le Vau entworfene Schloß bewundert, die Fresken des Malers Le Brun betrachtet, die Kochkünste Vatels erprobt, die herrlichen, von Le Nôtre angelegten Gärten mit ihren Wasserspielen und Grotten durchwandert. Endlich hatte der ganze Hof im Heckentheater einer der geistreichsten Komödien applaudieren können: den »Lästigen«, verfaßt von einem schreibenden Komödianten namens Molière.

Nachdem die letzten Fackeln verlöscht waren, hatte sich alles nach Nantes zur Versammlung der Generalstände der Bretagne begeben. Und dort geschah es, daß eines Morgens ein obskurer Musketier namens d’Artagnan auf Fouquet zutrat, als dieser eben im Begriff stand, in seine Kutsche zu steigen.

»Nicht hier sollt Ihr einsteigen, Monsieur«, sagte d’Artagnan, »sondern in jenen Wagen mit den vergitterten Fenstern, den Ihr da drüben seht.«

»Was denn? Was bedeutet das?«

»Daß ich Euch im Namen des Königs verhafte.«

»Der König ist freilich der Gebieter«, murmelte der sehr blaß gewordene Oberintendant, »aber ich hätte um seines Ruhmes willen gewünscht, daß er auf offenere Weise vorginge.«

Langmut, Verstellung, schließlich der vernichtende Schlag aus heiterem Himmel - der ganze Fall trug wiederum das Siegel des königlichen Schülers Kardinal Mazarins. Einen analogen Fall hatte ein Jahr zuvor die Verhaftung des Grafen Peyrac gebildet, doch in der Verblüffung und Angst, die den Hof ob des Mißgeschicks des Oberintendanten erfaßte, kam niemand auf den Gedanken, eine Parallele zu ziehen. Die Großen dachten wenig nach. Man wußte nur, daß man in Fouquets Abrechnungen nicht nur die Spur seiner Veruntreuungen auffinden würde, sondern auch die Namen all jener Männer - und Frauen -, deren Gefälligkeiten er reich honoriert hatte. Man sprach sogar von furchtbar kompromittierenden Schriftstücken, durch die sich Edelleute von hohem Rang, ja sogar Fürsten von Geblüt während der Fronde dem durchtriebenen Finanzmann verkauft hatten.

Nein, niemand erkannte in dieser neuerlichen Verhaftung, die noch aufsehenerregender und be-stürzender war als die erste, dieselbe autoritäre Hand. Nur Ludwig XIV. seufzte, nachdem er eine Depesche erbrochen hatte, die ihn von den durch einen gaskog-nischen Edelmann namens d’Andijos angestifteten Unruhen im Languedoc in Kenntnis setzte: »Es war höchste Zeit!«

Das auf dem Wipfel vom Blitz getroffene Eichhörnchen stürzte von Ast zu Ast. Es war höchste Zeit: Die Bretagne würde sich nicht seinetwegen empören, wie sich das Languedoc des andern wegen empört hatte, jenes seltsamen Mannes wegen, den man lebendigen Leibes auf der Place de Grève hatte verbrennen müssen. Was Fouquet betraf, so würde man vermutlich genötigt sein, einen sehr langwierigen Prozeß einzuleiten. Man würde das Eichhörnchen in einer Festung einsperren. Man würde es vergessen .

Angélique hatte nicht die Muße, über diese neuen Ereignisse nachzusinnen. Das Schicksal wollte es, daß der Sturz desjenigen, dem Joffrey de Peyrac insgeheim geopfert worden war, nur zu bald seinem traurigen Siege folgte.

Aber es war zu spät für Angélique. Sie bemühte sich nicht, sich zu erinnern, zu begreifen. Sie war nur noch eine namenlose Frau, die ihre Kinder ans Herz drückte und dem Herannahen des Winters mit Schrecken entgegensah, während die Gaunerwelt in fieberhafter Erregung den Ausbruch einer Schlacht erwartete, die fürchterlich zu werden versprach.

Diese Schlacht des Jahrmarkts von Saint-Germain, die den Tag seiner Eröffnung mit Blut befleckte, verwirrte in der Folgezeit diejenigen, die sich über ihren Anlaß klarzuwerden bemühten. Niemand fand heraus, wer eigentlich die erste Brandfackel geworfen hatte.

Auch in diesem Fall ließ sich nur ein einziger nicht täuschen. Es war ein Bursche namens Desgray, ein gebildeter Mann mit bewegter Vergangenheit. Desgray hatte soeben die Stelle eines Polizeihauptmanns im Châtelet erhalten. Von allen gefürchtet, begann man von ihm als einem der geschicktesten Polizisten der Hauptstadt zu reden. In der Folgezeit sollte sich dieser junge Mann auch tatsächlich einen bedeutenden Namen machen, indem er die Verhaftung der größten Giftmischerin seiner Zeit und vielleicht aller Zeiten vornahm, nämlich der Marquise de Brinvilliers, wie er auch im Jahre 1678 als erster den Schleier der Gifttragödie lüftete, deren Enthüllung selbst die Stufen des Throns mit Kot bespritzen sollte.

Desgray verfolgte seit langem die Rivalität der beiden mächtigen Bandenführer Calembredaine und Rodogone, die sich um den Besitz des Geländes stritten, auf dem der Jahrmarkt von Saint-Germain stattzufinden pflegte. Er wußte, daß sie außerdem Rivalen auf dem Gebiet der Liebe waren, da sie sich um die Gunst einer Frau mit smaragdgrünen Augen stritten, die Marquise der Engel genannt wurde.

Kurz vor Eröffnung des Jahrmarktes kam er strategischen Vorbereitungen innerhalb der Gaunerzunft auf die Spur, und obwohl er nur ein subalterner Polizeibeamter war, gelang es ihm am Morgen der Jahrmarkteröffnung, sich die Ermächtigung zu verschaffen, alle Polizeikräfte der Hauptstadt am Rande des Vororts Saint-Germain zusammenzuziehen. Er konnte damit zwar den Ausbruch des Kampfs nicht verhindern, der sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit und Heftigkeit ausbreitete, aber er dämmte ihn immerhin mit gleicher brutaler Plötzlichkeit ein, indem er rechtzeitig die Feuersbrünste löschte, die am Ort befindlichen degentragenden Edelleute einen Sperriegel bilden ließ und Massenverhaftungen vornahm. Als der Morgen zu dämmern begann, waren bereits zwanzig Strolche von »Rang« aus der Stadt zum Galgen von Montfaucon geführt und gehenkt worden.

Freilich rechtfertigte die Berühmtheit des Jahrmarkts von Saint-Germain in mehr als einer Hinsicht das erbitterte Treffen, das die Spitzbuben von Paris einander lieferten, um sich das Monopol auf die »Beerenlese« zu sichern.

Von Oktober bis Dezember und vom Februar bis zur Fastenzeit traf sich hier ganz Paris. Sogar der König hielt es nicht für unter seiner Würde, sich an gewissen Abenden mit seinem Hofstaat hierher zu begeben - ein wahres Geschenk des Himmels für die Taschendiebe und Mantelmarder.

Im 16. Jahrhundert hatten die Mönche der Abtei Saint-Germain-des-Pres, denen der Jahrmarkt unterstand, ihn durch eine mit Toren und Wachhäuschen versehene Mauer einschließen lassen. Jedoch konnte man ihn betreten, ohne eine Gebühr zu entrichten. Im Innern fand man vierhundert Krambuden vor, die in Laubengängen untergebracht waren und ein riesiges, von Straßen durchzogenes Schachbrett bildeten. Ringsherum erlaubte ein geräumiger Wiesenstreifen die Unterbringung von Schaustellerbühnen und die Durchfahrt der Kutschen. Indessen herrschte hier gewöhnlich solches Gedränge, daß man nur mühsam vorwärtskam.

Alles nur mögliche und unmögliche wurde feilgeboten. Schlemmerlokale, mit Spiegelglas und vergoldeten Ornamenten geschmückte Schenken und Spielhöllen reihten sich dicht aneinander, und alles war dazu angetan, die Sinne zu beglücken. Kein vom Dämon der Liebe besessenes Pärchen, das hier nicht die Erfüllung seiner Wünsche gefunden hätte.

Doch zu allen Zeiten bildeten die Zigeuner die größte Attraktion des Jahrmarkts. Mit ihren Akrobaten und Wahrsagern waren sie seine Fürsten.

Schon im Hochsommer sah man Karawanen klapperdürrer Pferde mit geflochtenen Mähnen ankom-men, auf denen in buntem Durcheinander Frauen und Kinder mit ihren Küchengeräten, gestohlenen Schinken und Hühnern saßen. Indem sie sie anstaunten, fanden die Pariser zur lüsternen Neugier ihrer Väter zurück, die im Jahre 1427 zum erstenmal die ewig Ruhelosen mit der kupferfarbenen Haut vor den Mauern von Paris hatten auftauchen sehen. Man hatte sie Ägypter genannt. Man sagte auch: Böhmen oder Zigeuner. Die Strolche erkannten ihren Einfluß auf die Gesetze der Gaunerzunft an, und beim Narrenfest schritt der Herzog von Ägypten neben dem König der Bettler, und die hohen Würdenträger des Galiläischen Reichs zogen den Erzgehilfen des Großen Coesre voraus.

Rodogone dem Ägypter, selbst dem Zigeunerstamm angehörend, kam unter den Fürsten der Unterwelt von Paris rechtens eine hohe Stellung zu. Es war nicht mehr als recht und billig, daß er sich den Zutritt zu jenen zauberumwobenen, mit Unken, Skeletten und schwarzen Katzen dekorierten Heiligtümern vorbehalten wollte, welche die Wahrsagerinnen, die braunen Hexen, wie man sie nannte, im Herzen des Jahrmarkts errichteten.

Indessen erhob Calembredaine als Herr der Porte de Nesle alleinigen Anspruch auf diesen auserlesenen Bissen. Diese Rivalität konnte nur durch den Tod des einen oder andern ihr Ende finden.

Während der letzten Tage vor Eröffnung der Messe kam es im Stadtviertel zu zahlreichen Schlägereien. Am Vorabend mußten sich Calembredaines Truppen in völliger Auflösung zurückziehen und in die Tour de Nesle flüchten. Sie versammelten sich um den Tisch im großen Saal, wo Cul-de-Bois das große Wort führte.

»Seit Monaten hab’ ich sie kommen sehen, diese Pleite. Du bist dran schuld, Calembredaine! Deine Marquise hat dich um den Verstand gebracht. Du taugst nichts mehr; die andern Fürsten kriegen Oberwasser. Sie spüren, daß du schlappmachst; sie werden sich mit Rodogone zusammentun, um dich aus dem Sattel zu heben .«

Nicolas stand vor dem Feuer, von dem sich seine kräftige Gestalt schwarz abhob, und säuberte seinen Oberkörper von dem Blut einer Stichwunde. Er dröhnte noch lauter als Cul-de-Bois:

»Ich weiß nur zu gut, daß du ein Verräter bist; daß du alle Fürsten um dich sammelst, daß du sie aufsuchst, daß du drauf aus bist, den Großen Coesre zu ersetzen. Aber sieh dich vor! Ich werde Roland-le-Trapu ein Wörtchen flüstern .«

»Schuft! Gegen mich richtest du nichts aus .«

Angélique wurde wahnsinnig bei dem Gedanken, Florimond könne bei diesem Raubtiergebrüll wach werden und sich ängstigen. Sie hastete ins runde Zimmer hinauf. Aber die Kleinen schliefen friedlich. Cantor glich einem der Engelchen, wie die Niederländer sie malten. Florimond hatte wieder volle Wangen bekommen. Wenn er so dalag, die Lider über die großen, schwermütigen Augen gesenkt, trug sein Gesicht einen rührend kindlichen, glücklichen Ausdruck. Vorsichtig schloß Angélique die schadhafte Tür, so gut es gehen wollte.

Von unten hörte sie die rauhe Stimme Cul-de-Bois’:

»Täusch dich nicht, Calembredaine: Wenn du zurückweichst, ist es um dich geschehen. Rodogone wird kein Erbarmen kennen. Er will nicht nur den Jahrmarkt, sondern auch dein Mädchen, das du ihm auf dem Friedhof der Unschuldigen Kindlein streitig gemacht hast. Er ist auf sie versessen. Er kann sie nur kriegen, wenn du verschwindest. Jetzt heißt es: Er oder du.«

Nicolas schien sich zu beruhigen. »Gut«, murrte er, »gut. Morgen werden wir sehen.«

Der erste Jahrmarktstag verlief ruhig. Calembredaines Leute bewegten sich als unbestrittene Herrscher unter der immer dichter werdenden Menge. Als der Abend zu dämmern begann, erschienen allmählich die Kutschen der vornehmen Gesellschaft, und Tausende und aber Tausende brennender Kerzen verwandelten den Jahrmarkt in einen wahren Feenpalast.

Angélique verfolgte neben Calembredaine das Hin und Her eines Tierkampfs: zwei Doggen gegen einen Keiler. Die von dem grausamen Schauspiel faszinierte Menge drängte sich dicht um die Bretterwände der kleinen Arena.

Ohne zu rechnen und ohne Skrupel zu empfinden, hatte sie das ihr von Nicolas zugesteckte Geld ausgegeben und für Florimond Kasperlefiguren und Süßigkeiten erstanden. Diesmal hatte sich Nicolas, um nicht erkannt zu werden - denn er vermutete, daß die Polizeispitzel auf der Lauer lagen -, säuberlich rasiert und ein etwas weniger zerschlissenes Gewand angelegt als das, das seine übliche Verkleidung darstellte. Mit dem breiten Hut, dessen Krempe seine unheimlichen Augen verbarg, wirkte er wie ein armer Landmann, der sich seiner Armut zum Trotz auf dem Jahrmarkt einen vergnügten Tag machen will.

Er hatte eine Art, seinen Arm um Angélique zu legen, daß sie die Empfindung hatte, in einen jener Eisenringe geschlossen zu sein, in die man die Gefangenen schmiedet. Aber dieser feste Griff war nicht immer unangenehm. So fühlte sie sich an diesem Abend in der Umklammerung des muskulösen Arms klein und schmiegsam, schwach und beschützt. Die Hände voller Süßigkeiten, Spielsachen und Parfümfläschchen, nahm sie teil am Kampf der Tiere und beobachtete mit leisem Schauder, wie der rasend gewordene Keiler seine Angreifer abschüttelte und mit letzter Kraft eine der Doggen, deren Leib schon aufgerissen war, durch die Luft schleuderte.

Plötzlich erkannte sie auf der anderen Seite der Arena Rodogone den Ägypter. Er schwang einen langen, dünnen Dolch mit den Fingerspitzen. Die Waffe pfiff über die kämpfenden Tiere hinweg. Angélique wich blitzschnell zur Seite und riß ihren Begleiter mit. Die Klinge flog dicht an Nicolas’ Hals vorbei und bohrte sich in die Kehle eines Trödlers hinter ihnen. Der Mann zuckte zusammen, glich für einen Atemzug einem aufgespießten Schmetterling, dann spie er einen Strom von Blut aus und stürzte zu Boden.

Im nächsten Augenblick explodierte der Jahrmarkt von Saint-Germain.

Gegen Mitternacht wurde Angélique mit einem Dutzend Mädchen und Frauen, von denen zwei Calembredaines Bande angehörten, in eine niedere Zelle des Chätelet-Gefängnisses gestoßen. Obgleich die schwere Tür wieder verschlossen worden war, schien es, als seien noch immer der Lärm der erregten Menge und das Wutgeschrei der Bettler und Banditen zu hören, die von den Bütteln und Polizisten systematisch »zusammengerecht« und schubweise vom Jahrmarkt nach dem Gefängnis gebracht worden waren.

»Na, da haben wir nun unser Fett«, sagte eines der Mädchen. »So ein verdammtes Pech! Bin ich ein einziges Mal woanders flaniert als in Glatigny, und schon schnappen sie mich. Die sind imstande und binden mich aufs hölzerne Pferd, weil ich nicht im reservierten Bezirk geblieben bin.«

»Tut’s weh, das hölzerne Pferd?« fragte eine Halbwüchsige.

»Und ob! Ich spür’s noch in allen Gliedern. Als der Stockmeister mich draufsetzte, hab’ ich geschrien: Jesus Christus! Heilige Jungfrau, habt Erbarmen mit mir!<«

»Mir«, sagte eine andere, »hat der Stockmeister ein ausgehöhltes Horn in den Schlund gestopft, und dann hat er mir an die sechs Töpfe voll kalten Wassers eingetrichtert. Wenn’s wenigstens noch Wein gewesen wäre! Ich hab’ geglaubt, ich zerplatze wie eine Schweinsblase. Hinterher haben sie mich in die Küche des Châtelet vors Feuer getragen, damit ich wieder zu mir käme.«

Angélique lauschte diesen Stimmen, die aus der fauligen Dunkelheit kamen, ohne sich dabei recht bewußt zu werden, daß man sie im Verlauf des Verhörs zweifellos der Folter unterziehen würde, die für jeden Angeklagten obligatorisch war. Ein einziger Gedanke beherrschte sie: »Und die Kleinen ...? Was wird aus Ihnen? Wer wird sich um sie kümmern? Womöglich vergißt man sie im Turm? Die Ratten werden sie fressen .«

Obwohl es in diesem Verlies eiskalt und feucht war, perlte der Schweiß an ihren Schläfen.

Auf einer fauligen Strohschütte kauernd, lehnte sie sich an die Wand, die Arme um die Knie geschlungen und bemühte sich, nicht zu zittern und Gründe zu ihrer Beruhigung zu finden:

»Sicher nimmt sich eine der Frauen ihrer an. Sie sind nachlässig, unfähig, aber schließlich denken sie doch daran, ihren Kinder Brot zu geben ... Sie werden auch den meinigen welches geben. Im übrigen, wenn die Polackin dort ist, brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Und Nicolas paßt auf .«

Aber war Nicolas nicht auch festgenommen worden? Ein zweites Mal empfand Angélique die panische Angst, die sie erfaßt hatte, als sie, von Gasse zu Gasse laufend, um der blutigen Schlägerei zu entrinnen, immer wieder auf einen Riegel von Häschern gestoßen war.

Sie versuchte sich zu erinnern, ob die Polackin wohl den Jahrmarkt vor Ausbruch der Schlacht verlassen hatte. Als sie ihrer zum letztenmal ansichtig geworden war, hatte das Mädchen eben einen jungen, zugleich verschüchterten und entzückten Provinzler zur Uferböschung der Seine gezogen. Aber bevor sie dort angelangt waren, hatten sie noch an der Auslage so mancher Bude hängenbleiben können.

Unter Aufbietung all ihres Willens gelang es ihr schließlich, sich einzureden, daß die Polackin nicht gefaßt worden war, und dieser Gedanke beruhigte sie ein wenig.

Aus dem Grunde ihres beklommenen Herzens stieg ein beschwörender Ruf auf, und unwillkürlich kamen längst vergessene Gebetworte über ihre Lippen: »Erbarm dich ihrer! Beschütze sie, heilige Jungfrau ... Ich gelobe es«, sagte sie sich immer wieder, »wenn meine Kinder gerettet werden, mache ich diesem entwürdigenden Zustand ein Ende. Ich löse mich von dieser Diebesbande. Ich werde mir meinen Lebensunterhalt mit meiner Hände Arbeit verdienen .«

Sie dachte an die Blumenverkäuferin auf dem Pont-Neuf und schmiedete Pläne. Die Stunden vergingen ihr weniger langsam.

Am Morgen gab es ein großes Schlüsselgerassel, und die Tür flog auf. Ein Aufseher leuchtete mit einer Fackel in die Zelle. Das Tageslicht, das durch die Schießscharte der zwei Meter dicken Mauer drang, war so kümmerlich, daß sich im Raum kaum etwas erkennen ließ.

»Da sind Marquisen, Leute«, rief der Aufseher erfreut. »Tummelt euch. Es gibt eine gute Ernte.«

Drei weitere Wächter traten ein und befestigten die Fackel in einem Ring an der Wand.

»Na, ihr Häschen, ihr werdet doch brav sein, wie?«

Und einer der Männer zog eine Schere aus seinem Kittel.

»Nimm deine Haube ab«, sagte er zu der Frau, die ihm am nächsten stand. »Puh! Graues Haar. Ein paar Sols kriegen wir immerhin dafür. Ich kenne einen Barbier an der Place Saint-Michel, der billige Perücken für die alten Gerichtsschreiber daraus macht.«

Er schnitt die grauen Haare ab, band sie mit einem Stück Schnur zusammen und warf sie in einen Korb. Seine Genossen inspizierten inzwischen die Köpfe der übrigen Gefangenen.

»Bei mir lohnt’s nicht«, sagte eine von ihnen. »Ihr habt mich erst kürzlich geschoren.«

»Sieh einer an, das stimmt«, sagte der Büttel jovial. »Ich erkenn’ es wieder, das Mütterchen. Haha! Man findet Geschmack an der Herberge, scheint mir!«

Einer der Wächter war bei Angélique angelangt. Sie fühlte, wie seine plumpe Hand ihre Haar abtastete.

»Heißa, Freunde!« rief er. »Hier ist ganz was Feines. Leuchtet ein bißchen, damit man sich’s genauer betrachten kann.«

Die Harzflamme beleuchtete das schöne kastanienbraune und gelockte Haar, das der Soldat eben löste, nachdem er die Haube abgenommen hatte. Ein Pfiff der Bewunderung erscholl.

»Das ist der wahre Jakob! Zwar keine blonde Tönung, aber es hat Glanz. Wir werden es dem Sieur Binet in der Rue Saint-Honoré verkaufen können. Dieser Meister schaut nicht auf den Preis, aber er schaut auf die Qualität. Tragt Eure Ungezieferpakete ruhig wieder heim<, sagt er mir jedesmal, wenn ich ihm Mähnen von weiblichen Gefangenen bringe. >Ich fabriziere keine Perücken mit Haaren, die schon wurmstichig sind!< Aber diesmal kann er nicht den Kostverächter spielen.«

Angélique legte beide Hände schützend auf ihren Kopf. Man konnte ihr doch nicht das Haar abschneiden. Es war einfach nicht auszudenken!

»Nein, nein, tut’s nicht!« flehte sie. Doch eine harte Faust packte ihre Handgelenke.

»Mach keine Geschichten, meine Schöne. Hättest nicht ins Châtelet kommen sollen, wenn du dein Haar behalten willst. Wir sind nun mal auf unsere kleinen Nebenverdienste angewiesen.«

Mit hartem Geklapper fuhr die Schere durch die golden schimmernden Locken, die Barbe erst kürzlich mit so viel Andacht gebürstet hatte.

Als die Soldaten gegangen waren, fuhr sich Angélique mit bebender Hand über ihren kahlen Nacken. Es kam ihr vor, als sei ihr Kopf kleiner und allzu leicht geworden.

»Flenn nicht«, sagte eine der Frauen, »das wächst nach. Vorausgesetzt, daß du dich nicht wieder schnappen läßt. Die Leute von der Wache sind nämlich ulkige Schnitter. Und Haar ist eine verdammt einträgliche Ware - bei all den Stutzern, die sich eine Perücke aufstülpen wollen.«

Die junge Frau knüpfte sich wortlos das Haubenband wieder um. Die Wirkung des Zwischenfalls verschwamm bereits. Es hatte ja im Grunde keine Bedeutung. Für sie war nur eins wichtig: das Schicksal ihrer Kinder.

Die Stunden verrannen grauenhaft langsam. Die Frauen um sie her äußerten sich wenig hoffnungsvoll. Sie erzählten Geschichten von weiblichen Gefangenen, die zehn Jahre lang eingesperrt geblieben waren, bis man sich ihrer wieder erinnert hatte. Und diejenigen, die das Châtelet kannten, schilderten die verschiedenen Verliese der düsteren Festung. Da gab es den Kerker »Aus ist’s mit der Bequemlichkeit« voller Unrat und Geziefer, in dem die Luft so verpestet war, daß keine Kerze brennen wollte; »Die Schlächterei«, so genannt, weil man dort die übelkeiterregenden Gerüche des benachbarten Schlachthauses einatmen mußte; »Die Ketten«, einen großen Saal, in dem die Gefangenen aneinandergekettet lagen; »Die Barbarei«, »Die Grotte«, dann »Der Brunnen« und »Die Gruft«, die die Form eines auf der Spitze stehenden Kegels hatte. Dort blieben die Gefangenen mit ihren Beinen ständig im Wasser; sie konnten weder aufrecht stehen noch liegen. Gewöhnlich starben sie nach vierzehn Tagen Haft. Vom »Verlies der Vergessenen«, dem unterirdischen Kerker, aus dem niemand zurückkehrte, sprach man nur mit gedämpfter Stimme.

Graues Licht drang durch die vergitterte Schießscharte herein. Es war unmöglich, die Uhrzeit abzuschätzen. Eine Alte entledigte sich ihrer ausgetretenen Schuhe, zog die Sohlennägel heraus und trieb sie umgekehrt, mit der Spitze nach außen, wieder hinein. Sie zeigte ihren Genossinnen die wunderliche Waffe und empfahl ihnen, ein gleiches zu tun, um sich gegen die Ratten wehren zu können, die sich in der Nacht einstellen würden.

Gegen Mittag öffnete sich indessen mit großem Getöse die Tür, und Hellebardiere ließen die Gefangenen heraustreten. Sie führten sie durch endlose Gänge in einen großen Saal, dessen Wände mit einer blauen Tapete mit gelben Linien bespannt waren. Im Hintergrund befand sich auf einer halbkreisförmigen Estrade eine Art Katheder aus geschnitztem Holz, hinter dem ein Mann in schwarzer Robe mit weißem Überschlag und einer weißen Perücke saß. Ein zweiter mit einer Pergamentrolle in der Hand hielt sich neben ihm. Es waren der Profos von Paris und sein Stellvertreter.

Die Frauen wurden vor die Estrade geschoben, nachdem sie an einem Tisch hatten vorbeigehen müssen, an dem ein Gerichtsschreiber ihre Namen eintrug.

Angélique blieb stumm, als man sie nach ihrem Namen fragte: Sie hatte keinen Namen mehr! Schließlich erklärte sie, sie heiße Anne Sauvert

- es war der Name eines Dorfs in der Umgebung Monteloups, der ihr plötzlich einfiel.

Die Verhandlung war denkbar kurz. Nachdem der Stellvertreter des Profosen jeder der Angeklagten ein paar Fragen gestellt hatte, verlas er die Namensliste, die ihm übergeben worden war, und erklärte, daß »alle genannten Personen dazu verurteilt seien, öffentlich gestäupt und alsdann ins Arbeitshaus verbracht zu werden, wo fromme Frauen sie lehren würden, zu nähen und zu Gott zu beten«.

»Wir kommen noch einmal gut davon«, flüsterte eines der Mädchen Angélique zu. »Das Arbeitshaus ist nicht das Gefängnis. Man schließt uns zwar dort ein, aber wir werden nicht bewacht. Es wird kein Kunststück sein, zu entwischen.«

Dann wurde eine Gruppe von einigen zwanzig Frauen in einen geräumigen Saal im Erdgeschoß geführt, und Büttel hießen sie sich in einer Reihe an der Wand aufstellen. Alsbald öffnete sich die Tür, und ein hochgewachsener, korpulenter Offizier trat ein. Er trug eine mächtige Perücke, die ein rotes Gesicht mit einem dicken Schnurrbart einrahmte. In seinem blauen Uniformrock, der sich über den fettgepolsterten Schultern spannte, mit seinem breiten Degengehänge, das den stattlichen Wanst einzwängte, seinem riesigen, mit dicken, vergoldeten Eicheln verschlossenen Kragen glich er ein wenig dem Großen Matthieu, wenn ihm auch dessen Gutmütigkeit und Jovialität fehlten. Seine Augen unter den buschigen Brauen waren klein und hart. Er trug Stiefel mit hohen Absätzen, die seine mächtige Gestalt noch größer erscheinen ließen.

»Das ist der Hauptmann der Wache«, flüsterte Angéliques Nachbarin. »Oh, er ist schrecklich! Man nennt ihn den Menschenfresser.«

Der Menschenfresser schritt an ihrer Reihe entlang, wobei er seine Sporen auf den Fliesen klirren ließ.

»Hoho, ihr Frauenzimmer, man wird euch eine Tracht Prügel verabfolgen! Los, runter mit dem Kram. Und wehe denen, die zu laut schreien: Für die gibt es einen Extrahieb.«

Einige Frauen, die bereits die Peitschenhiebe erduldet hatten, zogen fügsam ihr Mieder aus. Diejenigen, die ein Hemd trugen, ließen es über die Arme gleiten und stülpten es über ihren Rock. Den Zögernden halfen die Büttel ohne viel Federlesens nach. Einer von ihnen zerrte Angéliques Mieder herunter und zerriß es dabei. Sie beeilte sich, ihren Oberkörper selbst zu entblößten, aus Angst, man könne den Gürtel mit Rodogones Dolch bemerken.

Der Hauptmann der Wache stolzierte auf und ab und musterte die vor ihm aufgereihten Frauen.

Vor den jüngsten blieb er stehen, und seine kleinen Schweinsaugen begannen aufzuglimmen. Schließlich deutete er mit gebieterischer Geste auf Angélique. Einer der Büttel hieß sie mit verständnisinnigem Grinsen vortreten.

»Los, schafft mir dieses ganze Pack fort«, befahl der Offizier. »Und gerbt ihnen tüchtig das Fell! Wie viele sind es?«

»Einige zwanzig, Herr.«

»Jetzt ist es vier Uhr nachmittags. Vor Sonnenuntergang müßt ihr fertig sein.«

»Jawohl, Herr.«

Die Büttel führten die Frauen hinaus. Angélique entdeckte im Hof einen mit Ruten beladenen Karren, der den erbarmungswürdigen Zug bis zu der für die öffentlichen Züchtigungen bestimmten Stätte bei der Kirche Saint-Denis-de-la-Châtre begleiten sollte. Die Tür schloß sich wieder. Angélique blieb allein mit dem Offizier. Sie warf ihm einen verwunderten und ängstlichen Blick zu. Warum teilte sie nicht das Los ihrer Genossinnen? Würde man sie ins Gefängnis zurückbringen?

Es war eisig in dem niederen, gewölbten Saal, dessen alte Mauern Feuchtigkeit durchsickern ließen. Obwohl es draußen noch hell war, dunkelte es drinnen bereits, und man hatte eine Fackel anzünden müssen. Angélique kreuzte fröstelnd die Arme und bog die Schultern nach vorn, weniger vielleicht um sich vor der Kälte zu schützen, als um ihre Brust dem stierenden Blick des Menschenfressers zu entziehen.

Dieser kam gewichtig näher und hüstelte.

»Nun, mein Herzchen, hast du wirklich Lust, dir deinen hübschen weißen Rücken schinden zu lassen?«

Da sie nichts erwiderte, fuhr er nachdrücklich fort:

»Antworte! Hast du wirklich Lust dazu?«

Begreiflicherweise konnte Angélique nicht sagen, daß sie dazu Lust verspürte. Sie zog es vor, den Kopf zu schütteln.

»Nun, wir könnten das schon deichseln«, meinte der Hauptmann in süßlichem Ton. »Es wäre schade, ein so hübsches Hühnchen zu züchtigen. Vielleicht können wir beide miteinander einig werden?«

Er fuhr ihr mit dem Finger unters Kinn, um sie zu zwingen, den Kopf zu heben, und stieß einen Pfiff der Bewunderung aus.

»Hui! Die schönen Augen! Deine Mutter muß Absinth getrunken haben, während sie dich erwartete! Komm, lach ein bißchen!«

Seine groben Finger streichelten den zarten Hals, glitten über die runde Schulter.

Sie wich zurück, ohne einen Schauer des Abscheus unterdrücken zu können, was sein Gelächter in solchem Maße erregte, daß sein Bauch zu schüttern begann. Ungerührt starrte sie ihn aus ihren grünen Augen an, und obwohl er in seiner Breitschultrigkeit der Überlegene war, schien er als erster verlegen zu werden.

»Wir sind uns einig, nicht wahr?« fuhr er fort. »Du kommst mit mir in meine Wohnung. Hinterher gehst du wieder zur Herde zurück, aber die Büttel werden dich in Ruhe lassen. Du wirst nicht gestäupt . Na, bist du zufrieden, mein Häschen?«

Er brach in ein burschikoses Gelächter aus, dann zog er sie mit sicherem Arm zu sich heran. Die Nähe dieses feuchten Mundes mit dem Tabak- und Rotweinatem widerte Angélique an, und sie wand sich wie ein Aal, um sich aus seiner Umarmung zu befreien. Das Degengehänge und die Tressen an der Uniform des Hauptmanns rieben ihr die Brust wund.

Endlich gelang es ihr, sich zu lösen, und sie schlüpfte, so gut es gehen wollte, in ihr zerrissenes Mieder.

»Was soll das?« fragte der Riese verwundert. »Was ist los mit dir? Hast du nicht begriffen, daß ich dir die Züchtigung ersparen will?«

»Ich danke Euch sehr«, sagte Angélique in festem Ton, »aber ich ziehe es vor, gestäupt zu werden.«

Der Mund des Menschenfressers klaffte weit auf, seine Schnurrbartenden zitterten, und er wurde puterrot, als hätten die Schnüre seines Kragens ihn plötzlich erdrosselt.

»Was ... was sagst du?«

»Ich ziehe es vor, gestäupt zu werden«, wiederholte Angélique. »Der Herr Profos von Paris hat mich dazu verurteilt, ich darf mich seinem Rechtsspruch nicht entziehen.«

Entschlossen ging sie auf die Tür zu. Mit einem einzigen Schritt holte er sie ein und packte sie beim Genick.

»O mein Gott«, dachte Angélique, »nie wieder nehme ich ein Huhn beim Hals. Die Wirkung ist zu schrecklich.«

Der Hauptmann betrachtete sie aufmerksam.

»Du bist mir ein komisches Mädchen«, sagte er ein wenig kurzatmig. »Für das, was du da gesagt hast, könnte ich dir eins mit dem Säbel überziehen, daß du nicht so rasch wieder aufstehst. Aber ich will dir nichts zuleide tun. Du bist schön und wohlgebaut. Je länger ich dich anschaue, desto mehr verlangt mich nach dir. Es wäre zu töricht, wenn wir uns nicht einig würden. Ich werde mich erkenntlich zeigen. Sei nett zu mir, und wenn du zu den andern zurückkehrst, nun ... vielleicht schaut der Wächter, der dich begleitet, gerade mal nach der anderen Seite .«

Da war sie, die Möglichkeit des Entrinnens. Die kleinen Gestalten Florimonds und Cantors tanzten vor Angéliques Augen. Verstört starrte sie in das brutale rote Gesicht, das sich über sie neigte. Unwillkürlich lehnte sich ihr Körper auf. Es war unmöglich! Niemals würde sie das über sich bringen! Im übrigen konnte man auch aus dem Arbeitshaus entkommen ... Sogar schon auf dem Wege dorthin könnte sie es versuchen ...

»Ich will lieber ins Arbeitshaus!« schrie sie außer sich. »Ich will lieber .«

Alles andere ging in einem Wirbelsturm unter. Während sie geschüttelt wurde, daß ihr der Atem verging, prasselte ein Hagel wüster Schimpfwörter auf sie nieder. Der lichte Schlund einer Tür öffnete sich, und sie wurde wie eine Kugel hineingefeuert.

»Prügelt mir diese Dirne, bis ihr die Haut in Fetzen abgeht!« brüllte der Hauptmann hinter ihr her. Dann knallte die Tür mit Donnergetöse ins Schloß.

Angélique war in eine Gruppe von Leuten der Bürgerpolizei gestürzt, die eben die Nachtwache übernommen hatten. Es waren in der Hauptsache friedfertige Handwerker und Kaufleute, die nur widerwillig dieser den Zünften und Korporationen um der Sicherheit der Stadt willen turnusmäßig auferlegten Verpflichtung nachkamen. Sie stellten im übrigen die »sitzende« oder »schlafende« Polizei dar und hatten ihre bestimmten Aufgaben. Sie waren gerade im Begriff gewesen, ihre Spielkarten und Pfeifen hervorzuholen, als ihnen das halbnackte Mädchen vor die Füße flog. Die Stimme des Hauptmanns hatte sich derartig überschlagen, daß niemand seinen Befehl verstanden hatte.

»Wieder mal eine, die unser tüchtiger Hauptmann verführt hat«, sagte einer von ihnen. »Man kann nicht sagen, daß die Liebe ihn ausgesprochen sanft macht.«

»Immerhin, er hat Erfolg. Er verbringt seine Nächte niemals einsam.«

»Ei, er greift sie sich aus den Gefangenen heraus und läßt sie zwischen dem Gefängnis und seinem Bett wählen.«

»Wenn der Profos es wüßte, würde er ihm schon die Suppe versalzen!«

Angélique hatte sich ziemlich zerschunden aufgerichtet. Die Polizisten sahen ihr belustigt zu. Sie stopften ihre Pfeifen und mischten die Spielkarten. Zögernd näherte sie sich der Tür der Wachstube. Niemand hielt sie zurück. Ungehindert gelangte sie auf die belebte Straße und rannte in wilder Hast davon.

»Pst! Marquise der Engel! Vorsicht, geh nicht weiter.«

Die Stimme der Polackin hielt Angélique auf, als sie sich der Tour de Nesle näherte.

Sie wandte sich um und erblickte das Mädchen, das ihr aus dem verbergenden Schatten eines Torbogens heraus ein Zeichen gab.

Sie ging zu ihr.

»Nun, mein armes Herzchen«, seufzte die andere, »da haben wir uns also wieder. War eine schöne Rauferei! Zum Glück ist Beau-Garçon eben erschienen. Er hat sich von einem >Bruder< eine Tonsur schneiden lassen, und dann hat er den Leuten von der Polente gesagt, er sei Priester. Und während man ihn vom Châtelet ins Gefängnis des Erzbischöflichen Palastes überführte, hat er sich aus dem Staube gemacht.«

»Warum hinderst du mich, zur Tour de Nesle zu gehen?«

»Weil Rodogone der Ägypter mit seiner ganzen Bande dort ist.«

Angélique wurde leichenblaß. Die Polackin erklärte:

»Hättest sehen sollen, wie sie uns hinausbugsiert haben! Sie haben uns nicht mal Zeit gelassen, un-sern Kram mitzunehmen! Na, ich hab’ wenigstens deinen Koffer und deinen Affen retten können. Sie sind in der Rue du Val d’Amour, in einem Haus, in dem Beau-Garçon Freunde hat und seine Mädchen unterbringen will.«

»Wo sind meine Kinder?« fragte Angélique.

»Was Calembredaine betrifft, so weiß niemand, was aus ihm geworden ist«, fuhr die Polackin zungenfertig fort. »Gefangen? Gehenkt? Einige sagen, sie hätten gesehen, wie er sich in die Seine stürzte. Vielleicht ist er aufs Land geflohen .«

»Ich pfeife auf Calembredaine«, sagte Angélique verbissen. Sie hatte die Frau bei den Schultern gepackt und grub ihr die Nägel ins Fleisch.

»Wo sind meine Kleinen?«

Die schwarzen Augen der Polackin schauten sie hilflos an, dann senkte sie die Lider.

»Ich hab’s bestimmt nicht wollen . aber die an-dern waren stärker .«

»Wo sind sie?« wiederholte Angélique mit tonloser Stimme.

»Jean-Pourri, der Kinderhändler, hat sie genommen ... mit allen Knirpsen, die er finden konnte.«

»Hat er sie dorthin gebracht . in den Faubourg Saint-Denis?«

»Ja. Das heißt, nur Florimond. Cantor nicht. Er hat gesagt, Cantor sei zu dick, als daß er ihn an Bettler vermieten könnte.«

»Was hat er mit ihm gemacht?«

»Er . er hat ihn verkauft . ja, für dreißig Sols . an Zigeuner, die ein Kind brauchten, um es zum Akrobaten auszubilden.«

»Wo sind sie, diese Zigeuner?«

»Was weiß denn ich!« protestierte die Polackin und riß sich verärgert aus ihrem Griff. »Zieh deine Krallen ein, mein Kätzchen, du tust mir weh ... Was soll ich dir sagen? Es waren eben Zigeuner. Sie sind fortgezogen. Die Prügelei hat sie angewidert. Sie haben Paris verlassen.«

»In welche Richtung sind sie gezogen?«

»Vor knapp zwei Stunden hat man sie auf dem Wege zur Porte Saint-Antoine gesehen. Ich bin hierher zurückgekommen, weil ich so was wie ’ne Ahnung hatte, daß ich dir hier begegnen würde. Du bist ja eine Mutter! Eine Mutter kennt keine Hindernisse .«

Angélique wurde von verzweifeltem Schmerz gepeinigt. Sie glaubte den Verstand zu verlieren. Florimond in den Händen des üblen Jean-Pourri, weinend, nach seiner Mutter rufend! Cantor, den man für immer ins Ungewisse entführte!

»Ich muß Cantor suchen«, sagte sie. »Vielleicht sind die Zigeuner noch nicht allzuweit von Paris entfernt.«

»Du bist wohl nicht recht gescheit, mein Täubchen!«

Doch Angélique hatte sich bereits auf den Weg gemacht - und die Polackin folgte.

»Na, schön«, sagte sie, gutmütig resignierend, »gehen wir. Ich hab’ ein bißchen Geld. Vielleicht sind sie willens, ihn an uns zurückzuverkaufen .«

Es hatte den Tag über geregnet. Die Luft war feucht und roch herbstlich. Das Pflaster glänzte.

Die beiden Frauen folgten dem rechten Seineufer und verließen Paris auf dem Quai de l’Arsenal. Am Horizont, auf den sie zuschritten, öffnete sich der niedrige Himmel zu einem gewaltigen Riß von rauchig-dunklem Rot. Kalter Wind war mit dem Abend aufgekommen. Leute in der Vorstadt erzählten ihnen, sie hätten die Zigeuner an der Brücke von Charenton gesehen.

Sie schritten rasch dahin. Von Zeit zu Zeit zuckte die Polackin die Schultern und stieß einen Fluch aus, aber sie protestierte nicht. Sie folgte Angélique mit dem Fatalismus einer Frau, die, ohne zu begreifen, viel gewandert und vielen gefolgt ist, bei jedem Wetter und auf allen Wegen.

Als sie in der Nähe der Brücke von Charenton anlangten, bemerkten sie Lagerfeuer auf einer Wiese, die etwas tiefer als die Straße lag. Die Polackin blieb stehen.

»Das sind sie«, flüsterte sie. »Wir haben Glück.«

Ein Wäldchen mit alten Eichen hatte vermutlich das Völkchen dazu bestimmt, an dieser Stätte haltzumachen. Von Ast zu Ast gespannte Zeltbahnen stellten in der kühlen Regennacht den einzigen Schutz der Zigeuner dar. Frauen und Kinder hockten im Kreis um die Feuer. Man briet einen Hammel an einem dicken Spieß. In einiger Entfernung grasten die mageren Pferde.

Angélique und ihre Begleiterin traten hinzu.

»Sieh dich vor, daß du sie nicht reizt«, flüsterte die Polackin. »Du kannst nicht wissen, wie bösartig sie sind! Sie würden uns genau wie ihren Hammel aufspießen, ohne eine Miene zu verziehen, und man würde nichts mehr von uns hören. Laß mich mit ihnen reden. Ich verstehe mich ein bißchen auf ihre Sprache .«

Ein hochgewachsener Bursche mit einer Pelzmütze löste sich aus dem Schein der lodernden Flammen und kam auf sie zu. Die beiden Frauen machten das Erkennungszeichen der Gaunerzunft, der Mann beantwortete es hochmütig, worauf die Polackin den Zweck ihres Besuchs erklärte. Angélique verstand keines der Worte, die sie wechselten. Sie bemühte sich, vom Gesicht des Zigeuners abzulesen, was er dachte, aber es war mittlerweile so dunkel geworden, daß sie seine Züge nicht mehr erkennen konnte.

Schließlich holte die Polackin ihre Börse hervor; der Mann wog sie in der Hand, gab sie ihr zurück und entfernte sich zu den Lagerfeuern.

»Er sagt, er will mit seinen Leuten reden.«

Sie warteten eine Weile im eisigen Wind, der sich von der Ebene erhob, bis der Mann mit dem gleichen ruhigen und geschmeidigen Schritt zurückkam. Er äußerte ein paar Worte.

»Was sagt er?« fragte Angélique atemlos.

»Er sagt . daß sie das Kind nicht wieder hergeben wollen. Sie finden es schön und anmutig. Sie haben es schon liebgewonnen. Sie sagen, es sei alles so in Ordnung.«

»Aber das ist doch nicht möglich! Ich will mein Kind haben!« schrie Angélique.

Sie wollte zum Lager stürzen, doch die Polackin hielt sie energisch zurück. Der Zigeuner hatte seinen Degen gezogen. Andere kamen hinzu.

Die Dirne zog ihre Gefährtin zur Straße zurück.

»Du bist verrückt! Willst du unbedingt in dein Verderben rennen?«

»Das ist nicht möglich«, wiederholte Angélique. »Es muß etwas geschehen. Sie können Cantor nicht mit sich fortnehmen .«

»Reg dich nicht auf, so ist nun mal das Leben! Irgendwann einmal gehen die Kinder in die Ferne ... Ein bißchen früher oder später, das kommt aufs selbe raus. Ich hab’ ja auch Kinder gehabt. Weiß ich vielleicht, wo sie sind? Deshalb geht das Leben doch weiter!«

Angélique schüttelte den Kopf, um diese Stimme nicht hören zu müssen. Es mußte etwas geschehen .!

»Ich hab’ eine Idee«, erklärte sie. »Kehren wir nach Paris zurück.«

»Ja, kehren wir nach Paris zurück«, stimmte die Polackin zu.

Sie machten sich wieder auf den Weg. Angélique hatte sich in ihren schlechten Schuhen wundgelaufen. Ein feiner, dichter Regen rieselte herab. Der Wind klatschte ihr den durchnäßten Rock gegen die Beine. Sie fühlte sich der Erschöpfung nahe. Seit vierundzwanzig Stunden hatte sie nichts gegessen.

»Ich kann nicht mehr«, murmelte sie und blieb stehen, um wieder zu Atem zu kommen.

»Warte, ich sehe Laternen hinter uns. Es sind Reiter, die nach Paris wollen. Wir werden sie fragen, ob sie uns zu sich auf den Sattel nehmen.«

Dreist pflanzte sich die Polackin mitten auf der Straße auf. Als die Gruppe herangekommen war, rief sie mit ihrer heiseren Stimme, die bei passender Gelegenheit überraschend schmeichelnd klingen konnte:

»Heda, ihr galanten Kavaliere! Wollt ihr euch zweier hübscher Mädchen erbarmen, die sich in Not befinden? Man wird nicht versäumen, sich erkenntlich zu zeigen.«

Die Reiter hielten ihre Pferde an. In der Dunkelheit waren nur ihre Mäntel mit den hochgeschlagenen Kragen und ihre durchnäßten Hüte zu erkennen. Sie wechselten ein paar Worte in einer fremden Sprache, dann steckte sich eine Hand nach Angélique aus, und eine jugendliche Stimme sagte auf französisch:

»Steigt ruhig auf, meine Schöne.«

Die Hilfeleistung der Hand fiel kräftig aus, und die junge Frau fand sich unversehens in bequemem Amazonensitz hinter dem Reiter wieder. Die Pferde setzten sich von neuem in Bewegung.

Ohne sich umzuwenden, sagte Angéliques Reitgenosse: »Haltet Euch gut an mir fest, Mädchen. Mein Tier hat einen harten Trab, und mein Sattel ist schmal. Ihr könntet sonst herunterfallen.«

Sie gehorchte, schlang ihre Arme um den Oberkörper des jungen Mannes und preßte ihre erstarrten Hände an seine warme Brust. Den Kopf gegen den kräftigen Rücken des Unbekannten gelehnt, kostete sie einen Augenblick der Entspannung. Jetzt, da sie wußte, was sie tun würde, fühlte sie sich ruhiger. Was die Reiter betraf, so erfuhr sie, daß es sich um eine Gruppe von Protestanten handelte, die von der Kirche in Charenton zurückkehrten.

Bald darauf ritten sie in Paris ein. Angéliques Gefährte bezahlte für sie das Wegegeld an der Porte Saint-Antoine.

»Wohin darfich Euch bringen, meine Schöne?« fragte er und wandte sich diesmal um, in der Hoffnung, ihr Gesicht erkennen zu können.

Sie schüttelte die Beklemmung ab, die sie seit einer Weile erfaßt hatte.

»Ich möchte Eure Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen, Monsieur, aber freilich würdet Ihr mir einen großen Gefallen erweisen, wenn Ihr mich bis zum Châtelet brächtet.«

»Das tu’ ich gern.«

»Angélique«, rief die Polackin, »du begehst eine große Torheit. Sieh dich vor!«

»Laß mich . Und gib mir deine Börse. Vielleicht kann ich sie brauchen.«

»Nun, in Gottes Namen ...«, murmelte das Mädchen achselzuckend.

Angéliques Reiter lüftete seinen Hut, um sich von den andern zu verabschieden, dann galoppierte er durch die breite und fast menschenleere Straße des Faubourg Saint-Antoine. Ein paar Minuten später machte er vor dem Chätelet-Gefängnis halt, das Angélique wenige Stunden zuvor verlassen hatte.

Sie stieg ab. Am Hauptportal der Festung angebrachte große Fackeln beleuchteten den Platz. In ihrem unruhigen roten Schein konnte Angélique den liebenswürdigen Weggenossen besser erkennen. Es war ein etwa fünfundzwanzigjähriger junger Mann, auf bürgerliche Weise gut, aber schlicht gekleidet.

»Es tut mir leid«, sagte sie, »daß Ihr Euch meinetwegen von Euren Freunden getrennt habt.«

»Das ist nicht schlimm. Meine Begleiter gehören nicht zu meinem Kreis. Sie sind Ausländer. Ich selbst bin Franzose und wohne in La Rochelle. Mein Vater, der Reeder ist, hat mich nach Paris geschickt, wo ich mich nach geschäftlichen Möglichkeiten umsehen soll. Ich habe mich jenen Fremden angeschlossen, weil ich ihnen in der Kirche von Charenton begegnet bin, wo wir an der Beisetzung eines Glaubensbruders teilnahmen. Ihr seht, daß Ihr meine Absichten nicht gestört habt.«

»Ich danke Euch, daß Ihr es mir auf so artige Weise sagt, Monsieur.«

Sie reichte ihm die Hand.

Er ergriff sie, und Angélique blickte in ein gutes und ernstes Gesicht, das sich lächelnd zu ihr herabbeugte.

»Ich freue mich, daß ich Euch einen Dienst erweisen konnte, meine Liebe.«

Sie sah ihm eine Weile nach, wie er sich auf seinem Pferd zwischen den Fleischerständen der belebten Rue de la Grande Boucherie entfernte. Er wandte sich nicht um, aber dieses Begegnung hatte der jungen Frau neuen Mut gegeben.

Beherzt durchquerte sie die Einfahrt und meldete sich bei der Wache. Ein Polizist kam heraus.

»Ich möchte den Hauptmann der königlichen Wache sprechen.«

Der Mann zwinkerte verständnisinnig mit den Augen.

»Den Menschenfresser? Nun, geh nur ruhig zu, wenn er nach deinem Geschmack ist.«

Der Wachraum war von bläulichem Tabaksqualm erfüllt. Während sie ihn zögernd betrat, versuchte sie instinktiv, ihren feuchten Rock zu glätten. Sie bemerkte, daß der Wind ihre Haube abgerissen hatte, und da sie sich ihrer kurzgeschorenen Haare schämte, löste sie ihr Halstuch, schlang es um den Kopf und band die beiden Enden unter dem Kinn fest. Dann durchquerte sie den Raum. Vor dem Kaminfeuer zeichnete sich die imposante Silhouette des Hauptmanns ab. In der einen Hand eine lange Pfeife, in der andern ein Weinglas, erging er sich in lärmenden Reden. Seine Leute hörten ihm gähnend zu und rekelten sich auf ihren Stühlen. Man schien an seine Prahlereien gewöhnt.

»Sieh einer an, wir kriegen Damenbesuch«, sagte einer der Soldaten, über die Ablenkung erfreut.

Der Hauptmann fuhr hoch und lief puterrot an, als er Angélique erkannte.

Sie ließ ihm keine Zeit, sich zu fassen, und rief:

»Herr Hauptmann, hört mich an, und Ihr Herren Polizisten, steht mir bei! Zigeuner haben mein Kind geraubt und schleppen es mit sich. In diesem Augenblick kampieren sie bei der Brücke von Charenton. Ich flehe Euch an, kommt mit mir und zwingt sie, mir mein Kind zurückzugeben. Dem Befehl der Polizei können sie nicht trotzen .«

Es trat verblüfftes Schweigen ein, dann begann einer der Männer dröhnend zu lachen.

»Hoho! So was ist noch nicht dagewesen! Hohoho! Ein Mädchen, das die Polizei in Bewegung setzt, um ... Hoho! Für wen hältst du dich eigentlich, Marquise?«

»Sie hat geträumt! Sie hat geglaubt, sie sei die Königin von Frankreich!« Das Gelächter überflutete die ganze Wachstube. Nur der Hauptmann ließ sich nicht anstecken, und sein hochrotes Gesicht nahm einen fürchterlichen Ausdruck an.

»Er läßt mich ins Gefängnis werfen. Ich bin verloren!« dachte Angélique.

Von panischer Angst ergriffen, sah sie sich im Kreise um.

»Es ist ein acht Monate altes Bübchen«, rief sie. »Es ist schön wie ein Engel. Es gleicht Euren Kleinen, die in diesem Augenblick in ihrer Wiege neben ihrer Mutter schlafen . Und die Zigeuner werden es mit sich nehmen, weit weg ... Es wird nie wieder seine Mutter sehen ... Fern von seiner Heimat, seinem König . Es .«

Tränenlose Schluchzer erstickten ihre Worte. Auf den fidelen Gesichtern der Wachmänner erstarb das Lachen. Sie wechselten verlegene Blicke.

»Meiner Treu«, sagte ein narbenbedeckter Alter, »wenn diese Landstreicherin so an ihrem Knirps hängt ... Es gibt schon genug, die an den Straßenecken verkommen ...«

»Ruhe!« wetterte der Hauptmann.

Breitspurig pflanzte er sich vor der jungen Frau auf. »Also«, sagte er mit unheimlicher Ruhe, »man ist nicht nur eine zur Auspeitschung verurteilte Dirne, nein, man tut auch noch vornehm und kommt mir nichts, dir nichts hierher, um eine Korporalschaft Polizisten in seinen Dienst einzuspannen! Und was bietet man als Gegenleistung, Marquise?«

Sie schaute ihm tapfer ins Gesicht: »Mich.«

Der Koloß kniff verdutzt die Augen zusammen.

»Komm mit mir«, befahl er plötzlich.

Und er drängte sie in einen benachbarten Raum, der als Schreibstube diente.

»Was meinst du eigentlich mit deinem >mich

Angélique schluckte mühsam, aber sie wich nicht aus.

»Ich meine, daß ich tun werde, was Ihr von mir verlangt.«

Unversehens wurde sie von einer unsinnigen Angst erfaßt: daß er sie gar nicht mehr haben wollte, daß er sie zu armselig fand. Cantors und Florimonds Leben hing von den Gelüsten dieses Scheusals ab.

Und er wiederum sagte sich, daß er noch nie ein solches Mädchen gesehen habe. Ein göttlicher Körper! Ja, beim Himmel, das ließ sich unter der schäbigen Kleidung ahnen. Eine hübsche Abwechslung nach den fetten, verblühten Mädchen, die er gemeinhin in die Finger bekam. Aber vor allem das Gesicht! Er sah nie einer Dirne ins Gesicht. Das war uninteressant. Hatte er so alt werden müssen, um endlich zu entdek-ken, was das bedeutete, das Gesicht einer Frau?

Der Menschenfresser wurde nachdenklich, und Angélique zitterte in ihrer Angst. Endlich streckte er die Hände aus und zog Angélique ungestüm an sich.

»Was ich verlange«, sagte er mit verwegener Miene, »was ich verlange .«

Er zögerte, und sie ahnte nicht, wieviel Scheu in diesem Zögern lag.

»Ich verlange eine ganze Nacht«, schloß er. »Verstanden? Nicht nur so zwischen Tür und Angel, wie ich’s dir vorhin vorschlug ... Eine ganze Nacht.« Er ließ sie los und griff mit hämischer Geste nach seiner Pfeife.

»Das wird dich lehren, die Zierpuppe zu spielen! Also? Einverstanden?«

Unfähig, ein Wort hervorzubringen, gab sie nur ein Zeichen der Zustimmung.

»Sergeant!« rief der Hauptmann.

Einer der Männer stürzte herein.

»Die Pferde ...! Und fünf Mann. Tummelt euch!«

Der kleine Trupp verhielt in Sichtweite des Zigeunerlagers, und der Hauptmann erteilte seine Anweisungen: »Zwei Mann dort hinüber hinter das Wäldchen, falls sie auf den Gedanken kommen sollten, sich übers freie Feld davonzumachen. Du, Mädchen, bleibst hier.«

Instinktiv - wie Tiere, die daran gewöhnt sind, in die Nacht zu wittern - spähten die Zigeuner schon nach der Straße und schlossen sich zusammen. Der Hauptmann und drei der Büttel rückten vor, während die beiden anderen das befohlene Umgehungsmanöver ausführten.

Angélique blieb im Dunkel zurück. Bald schon hörte sie die Stimme des Hauptmanns, der dem Anführer der Zigeuner unter Zuhilfenahme wüster Flüche erklärte, daß alle seine Leute, Männer, Frauen und Kinder, sich vor ihm aufzustellen hätten. Man werde ihre Personalien aufnehmen. Es sei eine unumgängliche Formalität, der Vorfälle wegen, die sich am Abend zuvor auf dem Jahrmarkt von Saint-Germain ereignet hätten. Danach werde man sie in Frieden lassen.

Beruhigt fügten sich die Nomaden. Im Laufe der Zeit hatten sie sich an die Scherereien gewöhnt, die ihnen überall auf der Welt von der Polizei gemacht wurden.

»Nun komm her, Kleine«, raunzte die Stimme des Hauptmanns.

Angélique lief hinzu.

»Das Kind dieser Frau befindet sich bei euch«, fuhr er fort. »Gebt es heraus, oder ihr werdet aufgespießt.«

Im gleichen Augenblick entdeckte Angélique Cantor, der friedlich an der braunen Brust einer Zigeunerin schlief. Wie eine Tigerin stürzte sie auf die Frau zu und entriß ihr den Kleinen, der zu weinen begann. Die Zigeunerin schrie auf, aber der Anführer der Horde gebot ihr Schweigen. Der Anblick der berittenen Büttel, deren Hellebarden angriffsbereit im Flammenschein blinkten, hatte ihm klargemacht, daß jeglicher Widerstand sinnlos war.

Indessen setzte er eine hochfahrende Miene auf und erklärte, man habe für das Kind dreißig Sols bezahlt. Angélique warf sie ihm zu, dann schlossen sich ihre Arme leidenschaftlich um den kleinen, runden und glatten Körper.

In Paris war es bei ihrer Rückkehr Nacht geworden. Die biederen Leute begannen ihre Fenster zu verschließen und ihre Kerzen zu löschen. Die Edelleute und Bürger begaben sich in die Schenken oder ins Theater. Vom Turm des Châtelet schlug es zehn Uhr.

Angélique ließ sich vorsichtig vom Pferd heruntergleiten und sah flehend zum Hauptmann auf.

»Laßt mich eine Unterkunft für mein Kind suchen«, sagte sie. »Ich schwöre Euch, daß ich morgen abend wiederkommen werde.«

Er setzte eine drohende Miene auf. »Hintergeh mich ja nicht. Es würde dir übel bekommen.«

»Ich schwöre Euch.«

Und da sie nicht wußte, wie sie ihn von ihrer ehrlichen Absicht überzeugen sollte, kreuzte sie zur Bekräftigung nach Gaunerart zwei Finger.

»In Ordnung«, sagte der Hauptmann. »Dieser Eid wird selten gebrochen. Ich erwarte dich . aber laß mich nicht zu lange schmachten. Und als Abschlagszahlung gibst du mir jetzt einen Kuß.«

Doch sie zuckte zurück und lief davon. Wie konnte er es wagen, sie anzurühren, während sie noch ihr Kindchen im Arm trug!

Die Rue de la Vallée-de-Misère lag gleich hinter dem Châtelet. Ohne ihren Schritt zu verlangsamen, erreichte sie den »Kecken Hahn«, durchquerte die Wirtsstube und betrat die Küche.

Barbe war wie üblich damit beschäftigt, trübsinnigen Gesichts einen alten Hahn zu rupfen.

Angélique legte ihr das Kind auf die Schürze.

»Da ist Cantor«, sagte sie keuchend. »Behalt ihn bei dir, behüt ihn. Versprich mir, daß du ihm nicht im Stich lassen wirst, was auch geschehen mag.«

Die stille Barbe drückte mit ein und der selben Bewegung den Kleinen und das Federvieh an ihre Brust.

»Ich schwöre es, Madame.«

»Wenn dein Meister Bourgeaud böse wird .«

»Dann lass’ ich ihn schreien, Madame. Ich sage ihm, daß das Kind mir gehört und daß ein Musketier es mir gemacht hat.«

»Gut so ... Jetzt, Barbe .«

»Madame?«

»Nimm deinen Rosenkranz.«

»Ja, Madame.«

»Und bete für mich zur Jungfrau Maria.«

»Ja, Madame.«

»Barbe, hast du Branntwein?«

»Dort auf dem Tisch .«

Angélique nahm die Flasche und trank einen tüchtigen Schluck. Sie war am Zusammenbrechen gewesen und mußte sich auf den Tisch stützen. Doch nach einer Weile kehrten ihre Kräfte zurück, und sie spürte, wie sich eine wohlige Wärme in ihr ausbreitete.

Barbe betrachtete sie mit entsetzt aufgerissenen Augen.

»Madame . Wo ist Euer Haar?«

»Wie soll ich wissen, wo mein Haar ist?« fragte Angélique bissig. »Ich habe wichtigere Dinge zu tun, als mein Haar zu suchen.«

Mit festem Schritt ging sie zur Tür.

»Wohin wollt Ihr, Madame?«

»Florimond holen.«

An der Ecke eines verwahrlosten Hauses thronte die Statue des Gottes der Rotwelschen: ein in der Kirche Saint-Pierre-aux-bœufs gestohlener Gottvater. Von hier aus gelangte man durch ein Gewirr häßlicher und stinkender Gäßchen in das Reich der Nacht und der Schrecken. Die Statue bezeichnete die Grenze, die ein einzelner Polizist oder Büttel nur unter Lebensgefahr überschreiten konnte. Die biederen Bürgersleute wagten sich ebensowenig dorthin. Was hätten sie auch in diesem namenlosen Viertel zu suchen gehabt, indem düstere, halbverfallene Häuser, aus Lehm zusammengebackene Hütten, ausgediente Kutschen und Karren, alte Mühlen und Zillen unbekannter Herkunft Tausenden von Familien als Wohnstätten dienten, die ihrerseits namen- und wurzellos waren und keine andere Zuflucht kannten als die der Gaunerzunft?

Angélique wußte, daß sie in den Herrschaftsbereich des Großen Coesre eingedrungen war. Der Gesang der Schenken war hinter ihr verklungen. Hier gab es keine Schenken, keine Laternen, keine Lieder mehr. Nichts als das Elend mit seinem Unrat, seinen Ratten, seinen streunenden Hunden .

Einmal war sie am Tage mit Calembredaine in dieses üble Viertel des Faubourg Saint-Denis gekommen. Er hatte ihr die »Residenz« des Großen Coesre gezeigt, ein merkwürdiges, mehrstöckiges Gebäude, das einmal ein Kloster gewesen sein mußte, denn es wies noch Glockentürmchen und kümmerliche Reste eines Kreuzgangs auf, die man durch Erdaufschüttungen, alte Bretter und Pfosten vor dem völligen Einsturz zu bewahren versucht hatte. Aber auch das Haus selbst war halb zerfallen und schien mit seinen klaffenden Wunden, seinen leeren, spitzbogenförmigen Fensterhöhlen wie geschaffen, dem König der Gauner als Palast zu dienen.

Hier lebte der Große Coesre mit seinem Hofstaat, seinen Frauen, seinen Erzgehilfen, seinem Narren. Und hier war es auch, wo Jean-Pourri, unter den Fittichen des großen Meisters, seine lebende Ware lagerte - die gestohlenen Kinder legitimer und illegitimer Abkunft.

Dieses Haus bemühte sich Angélique wiederzufinden. Ihr Instinkt sagte ihr, daß Florimond sich dort befand. Im Schutz der pechschwarzen Finsternis wanderte sie durch die Gassen. Die Gestalten, denen sie begegnete, interessierten sich nicht für diese zerlumpte Frau, die den Bewohnern der verwahrlosten Häuser glich. Wäre sie angesprochen worden, hätte sie sich aus der Affäre ziehen können, ohne Mißtrauen zu erwecken. Sie kannte Sprache und Gebräuche der Rotwelschen zur Genüge.

Indessen mußte sie sich davor hüten, erkannt zu werden. Zwei Banden, die mit der Calembredaines rivalisierten, bewohnten das Viertel. Was würde geschehen, wenn das Gerücht sich verbreitete, die Marquise der Engel triebe sich in der Gegend her-um?

Zur Sicherheit bückte sie sich und beschmierte ihr Gesicht mit Straßenschmutz.

Zu dieser Stunde unterschied sich das Haus des Großen Coesre dadurch von den übrigen, daß es erleuchtet war. Hier und dort sah man hinter den Fenstern den rötlichen Stern einer primitiven Nachtlampe schimmern, die aus einem mit Öl gefüllten Napf bestand, in den man als Docht einen alten Lappen getaucht hatte. Zudem war das Haus des Großen Coesre das lauteste. Hier versammelten sich die Bettler und Banditen wie einstmals in der Tour de Nesle. Man empfing die Leute Calembredaines. Da es an diesem Abend kalt war, hatte man alle Öffnungen mit alten Brettern verrammelt.

Angélique schlich sich an eins der Fenster und lugte durch einen Spalt zwischen zwei Latten. Der Saal war überfüllt. Sie erkannte einige Gesichter: den Kleinen Eunuchen, den Erzgehilfen Paul-le-Barbon mit dem abstehenden Bart, schließlich Jean-Pourri. Er hielt seine weißen Hände ans Feuer und plauderte mit dem Erzgehilfen.

»Das nenn’ ich eine gelungene Unternehmung, mein lieber Magister. Nicht nur, daß die Polizei uns kein Haar gekrümmt hat, sie hat uns sogar noch geholfen, die Bande dieses unverschämten Calembredaine zu zerschlagen.«

Le Barbon seufzte.

»Eines Tages werden wir uns mit Rodogone schlagen müssen, der seine Nachfolgeschaft angetreten hat. Diese Tour de Nesle, die den Pont-Neuf und den Jahrmarkt von Saint-Germain beherrscht, ist ein gefährlicher strategischer Punkt. Früher, als ich noch im Gymnasium von Navarra ein paar faulen Burschen Geschichte beibrachte .«

Jean-Pourri hörte ihm nicht zu.

»Sei nicht so pessimistisch wegen der Tour de Nesle. Ich für mein Teil wünsche mir nichts Besseres als von Zeit zu Zeit eine solche kleine Revolution. Hab’ ich in der Tour de Nesle nicht prächtig geerntet? Einige zwanzig Knirpse erster Wahl, die mir ein hübsches Sümmchen einbringen werden.«

»Wo sind sie denn, die Engelchen?«

Jean-Pourri deutete zur rissigen Decke hinauf:

»Da droben. In sicherem Gewahrsam.«

In diesem Augenblick begannen zwei Gauner, nach den Klängen einer Schalmei eine Bauernbourrée zu tanzen, und das Gespräch der beiden ging im entstehenden Lärm unter. Immerhin hatte Angélique eine Gewißheit. Die aus der Tour de Nesle entführten Kinder befanden sich im Haus, offenbar in einem Raum, der über dem großen Saal lag.

Vorsichtig schlich sie an der Mauer entlang und entdeckte schließlich eine Pforte, die zu einer Treppe führte. Um kein Geräusch zu verursachen, zog sie ihre Schuhe aus und ging barfüßig.

Die Treppe wand sich steil nach oben und mündete im ersten Stock in einen Gang. Zu ihrer Linken bemerkte sie ein leeres Zimmer, in dem eine Nachtlampe glomm. Ketten waren in der Mauer verankert. Wen kettete man dort an? Wen folterte man dort? Sie erinnerte sich, gehört zu haben, daß Jean-Pourri während der Fronde-Kriege junge Leute und einsam lebende Bauern verschleppt haben sollte, um sie an die Soldatenwerber zu verkaufen ... Die Stille in diesem Teil des Hauses war beängstigend.

Angélique setzte ihren Weg fort. Ein neues Geräusch drang jetzt aus dem Innern des Gebäudes zu ihr: ein Stöhnen, ein Gewimmer, das immer deutlicher wurde. Ihr Herz klopfte bis zum Halse: Es war Kindergewimmer. Im Geiste sah sie Florimonds Gesicht vor sich mit seinen verängstigten schwarzen Augen und seinen bleichen, von Tränen gezeichneten Wangen. Er fürchtete sich in der Dunkelheit. Er rief ... Immer rascher ging sie voran und ließ sich von den Jammerlauten leiten. Sie stieg noch ein Stockwerk höher, durchquerte zwei Räume; Nachtlampen verbreiteten ein schmutzigtrübes Licht. An den Wänden bemerkte sie kupferne Gongs, die zusammen mit auf den blanken Boden geworfenen Strohbündeln und einigen Näpfen die einzige Ausstattung dieser düsteren Wohnstätte ausmachten.

Endlich spürte sie, daß sie ihrem Ziel nahe war, denn deutlich vernahm sie nun das traurige Konzert der kindlichen Jammerlaute, in die sich tröstendes Gemurmel mischte.

In einem kleinen Raum zur Linken des Ganges, durch den sie gekommen war, brannte ein Nachtlicht in einer Nische, aber der Raum war leer. Gleichwohl kamen die Laute von dort. Im Hintergrund entdeckte sie eine dicke, mit Schlössern versperrte Tür. Es war die erste verriegelte Tür, der sie begegnete, denn alle anderen Räume standen jedem Eindringling offen.

In der Türfüllung war ein kleines, vergittertes Fenster angebracht. Sie spähte hindurch und konnte im Innern nichts erkennen, aber es war kein Zweifel, daß die Kinder in dieser luft- und lichtlosen Gruft eingeschlossen waren. Wie konnte sie die Aufmerksamkeit eines verängstigten zweijährigen Jungen wecken?

Die junge Frau preßte die Lippen an die Öffnung und rief leise:

»Florimond! Florimond!«

Das Gewimmer ließ ein wenig nach, dann flüsterte eine Stimme von drinnen: »Bist du’s, Marquise der Engel?«

»Wer ist da?«

»Ich bin’s, Linot. Jean-Pourri hat uns mit Flipot und den andern eingesperrt.«

»Ist Florimond bei euch?«

»Ja.«

»Weint er?«

»Er hat geweint, aber ich hab’ ihm gesagt, du würdest kommen und ihn holen.«

Sie hörte, wie der Junge sich umwandte und begütigend flüsterte: »Siehst du, Flo, deine Mama ist da.«

»Geduldet euch noch, ich werde euch herausholen«, versprach sie.

Sie trat zurück und untersuchte die Tür. Die Schlösser schienen widerstandsfähig zu sein, aber vielleicht ließen sich die Angeln aus der brüchigen Mauer lösen. Verzweifelt grub sie ihre Nägel in den Mörtel, als sie hinter sich ein seltsames Geräusch vernahm, etwas wie ein unterdrücktes Kichern, das rasch zum Gelächter wurde.

Angélique fuhr herum und erblickte den Großen Coesre. Das Ungeheuer lag auf einem niedrigen, vierrädrigen Wagen, den er offenbar durch die Gänge seines unheimlichen Labyrinths bewegte, indem er sich mit seinen Armen vorwärtsschob.

Von der Türschwelle aus fixierte er die junge Frau mit seinen grausam glitzernden Augen. Und sie erkannte, von Entsetzen gelähmt, die phantastische Erscheinung vom Friedhof der Unschuldigen Kindlein wieder.

Er hörte nicht auf zu lachen; das wüste Gewieher schüttelte seinen verkrüppelten Oberkörper, an dem die dünnen, schlaffen Beinchen hingen.

Dann setzte er sich, noch immer lachend, schwerfällig mit seinem Gefährt in Bewegung. Wie gebannt folgte ihm Angélique mit dem Blick. Er kam nicht auf sie zu, sondern durchquerte den Raum in der Diagonalen, und plötzlich bemerkte sie an der Wand einen der kupfernen Gongs, wie sie sie schon in anderen Räumen gesehen hatte. Auf dem Boden unter ihm lag ein Eisenstab.

Der Große Coesre war im Begriff, den Gong zu schlagen. Und auf dessen hallenden Ruf hin würden sich aus den Tiefen des Hauses alle Bettler, alle Banditen, alle Dämonen dieser Hölle auf Angélique, auf Florimond stürzen .

Die Augen des erstochenen Tiers wurden glasig.

»Oh, du hast ihn getötet!« sagte eine Stimme.

Auf derselben Schwelle, auf der vor kurzem der Große Coesre erschienen war, stand jetzt ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, mit einem Madonnengesicht.

Angéliques Blick glitt über die blutgerötete Klinge ihres Dolchs. Dann sagte sie mit leiser Stimme:

»Keinen Laut! Sonst muß ich auch dich töten.«

»O nein, sei unbesorgt. Ich bin ja froh, daß du ihn getötet hast!«

Sie näherte sich. »Niemand hatte den Mut, ihn zu töten«, murmelte sie. »Alle hatten sie Angst. Dabei war er nichts als ein widerliches kleines Männchen.«

Sie hob ihre schwarzen Augen zu Angélique auf. »Aber jetzt mußt du dich schleunigst davonmachen.«

»Wer bist du?«

»Ich bin Rosine . Die letzte Frau des Großen Coesre.«

Angélique barg den Dolch wieder in ihrem Gürtel.

»Du mußt mir helfen, Rosine. Mein Kind ist hinter jener Tür. Jean-Pourri hat es dort eingeschlossen. Ich muß es wiederhaben.«

»Der Doppelschlüssel ist dort«, sagte das Mädchen. »Jean-Pourri hat ihn dem Großen Coesre anvertraut. In seinem Wagen.«

Sie bückte sich zu dem reglosen, abstoßenden Körper. »Da ist er.«

Sie selbst schob den Schlüssel in die knirschenden Schlösser. Die Tür ging auf. Angélique tastete sich ins Innere des Verlieses und ergriff Florimond, den Linot auf dem Arm hielt. Das Kind weinte nicht, noch schrie es, aber es war vor Kälte erstarrt und umfing mit seinen beiden mageren Ärmchen so fest ihren Hals, daß ihr fast der Atem verging.

»Jetzt hilf mir, aus dieser Höhle herauszukommen«, bat sie Rosine.

Linot und Flipot klammerten sich an ihre Röcke. Sie befreite sich von den kleinen, schmierigen Händen, aber die Jungen liefen hinter ihr drein.

»Laß uns nicht im Stich, Marquise der Engel!«

Plötzlich legte Rosine, die sie zu einer Treppe gedrängt hatte, den Finger an die Lippen.

»Pst! Es kommt jemand herauf.«

Schwere Schritte hallten im unteren Stockwerk wider.

»Es ist Bavottant, der Schwachsinnige. Kommt schnell!«

Und sie zog Angélique und die Kinder mit sich. Als sie eben atemlos die Straße erreichten, stieg ein unmenschliches Jammergeschrei aus den Gründen des Palasts des Großen Coesre auf. Es war Bavottant, der Schwachsinnige, der vor dem Leichnam des königlichen Zwergs, den er so lange umsorgt hatte, seinem Schmerz freien Lauf ließ.

»Rasch, rasch!« drängte Rosine.

Keuchend rannten sie durch das Gewirr der dunklen Gassen, das kein Ende zu nehmen schien. Immer wieder glitten ihre bloßen Füße auf dem schlüpfrigen Pflaster aus. Endlich verlangsamte das junge Mädchen den Schritt.

»Da sind die Laternen«, sagte es. »Das ist die Rue Saint-Martin.«

»Wir müssen noch weiter. Sie könnten uns verfolgen.«

»Bavottant kann nicht sprechen. Niemand wird begreifen, was geschehen ist. Vielleicht glaubt man sogar, daß er ihn umgebracht hat. Später wird man einen neuen Großen Coesre einsetzen. Und ich werde niemals dorthin zurückkehren. Ich bleibe bei dir, weil du ihn getötet hast.«

»Und wenn Jean-Pourri uns findet?« fragte Linot.

»Er wird euch nicht finden. Ich beschütze euch alle.«

Rosine deutete auf einen blassen Schimmer am Firmament, der die Laternen verbleichen ließ.

»Schau, die Nacht ist vorbei.«

»Ja, die Nacht ist vorbei«, wiederholte Angélique nachdrücklich.

Im Kloster Saint-Martin-des-Champs verteilte man des Morgens eine Suppe an die Armen. Die vornehmen Damen, die der Frühmesse beigewohnt hatten, halfen den Nonnen bei diesem Liebeswerk. Ihre Gäste, die sich oft genug mit dem Straßengraben als Nachtquartier hatten begnügen müssen, genossen im großen Refektorium ein paar flüchtige Augenblicke des Wohlbehagens. Jeder von ihnen bekam einen Napf mit heißer Fleischbrühe und ein rundes Brot.

Hier war es, wo Angélique mit Florimond auf dem Arm landete, gefolgt von Rosine, Linot und Flipot. Alle fünf waren sie erschöpft und schmutzbedeckt.

Der Duft der Suppe war recht einladend, aber Angélique wollte erst Florimond trinken lassen, bevor sie sich selbst sättigte. Behutsam führte sie die Schale an die Lippen des Kleinen, der mit halbgeschlossenen Augen hastig atmete, als könne sein durch die Angst überanstrengtes Herz nicht zum normalen Rhythmus zurückfinden. Apathisch ließ er die Fleischbrühe von seinen Lippen herabrinnen. Indessen belebte ihn die Wärme der Flüssigkeit, er stieß auf, und es gelang ihm, einen Mundvoll zu schlucken. Dann streckte er selbst die Hände nach der Schale aus, um gierig zu trinken.

Angélique betrachtete das kleine, unter dem dunklen, wirren Haarschopf fast verschwindende Gesicht-chen.

»Das also«, sagte sie bei sich, »hast du aus dem Sohn Joffreys de Peyrac gemacht, aus dem Nachkommen der Grafen von Toulouse, dem Kind der Blumenspiele, zum Licht und zur Freude geboren .«

Es war, als erwache sie endlich aus langer Stumpfheit und als gebe ihr erst dieses Erwachen den Blick frei auf ihr grausiges, ruiniertes Leben. Was hatte sie mit ihrem Kind geschehen lassen! Ein wilder Zorn auf sich selbst und die Welt überkam sie, und obgleich sie nach dieser fürchterlichen Nacht hätte erschöpft und leer sein müssen, fühlte sie sich jäh von einer wunderbaren Kraft überflutet.

»Nie mehr ...«, sagte sie sich, »nie mehr wird er hungern ... wird er frieren ... Nie mehr wird er sich ängstigen. Ich schwöre es.«

Aber warteten draußen vor der Klostertür nicht der Hunger, die Kälte und die Angst auf sie? Es mußte etwas geschehen. Sofort.

Angélique sah sich um. Sie war nur eine jener bejammernswürdigen Mütter, eine jener »Armen«, die nichts zu fordern haben und über die sich die eleganten Damen aus Barmherzigkeit neigten, bevor sie wieder zu ihren literarischen Zirkeln und Hofintrigen zurückkehrten.

Mit einem Schleiertuch über dem Haar, das die gleißenden Perlen verbarg, und einer an Samt und Seide gehefteten Schürze gingen die hochwohlgeborenen Wohltäterinnen vom einen zum andern. Eine Magd folgte ihnen mit einem Korb, dem die Damen Kuchen, Obst, zuweilen Pasteten oder halbe Hühner entnahmen, die Reste der fürstlichen Tafeln.

»O meine Liebe«, sagte eine von ihnen, »Ihr seid recht mutig, Euch in Eurem Zustand zu so früher Stunde zum Almosenausteilen zu begeben. Gott wird es Euch lohnen.«

»Ich will es hoffen, Teuerste.«

Das Auflachen, das diesen Worten folgte, kam Angélique vertraut vor. Sie blickte auf und erkannte die Herzogin von Soissons, der die rothaarige Bertille einen Umhang aus blauer Seide reichte. Die Herzogin hüllte sich fröstelnd in ihn ein.

»Es ist nicht recht vom lieben Gott, daß er die Frauen zwingt, neun Monate lang die Frucht eines kurzen Vergnügens in ihrem Schoß zu tragen«, sagte sie zu der Äbtissin, die sie zur Tür begleitete.

»Was bliebe den Menschen, wenn in den irdischen Dingen alles nur Vergnügen wäre«, erwiderte die Nonne lächelnd.

Angélique erhob sich und reichte Linot ihren Sohn.

»Hüte Florimond.«

Aber der Kleine klammerte sich an sie und schrie. So entschloß sie sich, ihn bei sich zu behalten, und gebot den andern:

»Bleibt da und rührt Euch nicht von der Stelle.«

Eine Kutsche wartete in der Rue Saint-Martin. Als die Herzogin von Soissons sich anschickte einzusteigen, trat eine ärmlich gekleidete Frau mit einem Kind im Arm zu ihr und sagte: »Madame, mein Kind stirbt vor Hunger und Kälte. Gebt einem Eurer Lakaien Anweisung, an einen von mir bezeichneten Ort einen Karren mit Brennholz, einen Topf Suppe, Brot, Decken und Kleidung zu bringen.«

Die vornehme Dame musterte die Bettlerin verwundert.

»Ihr seid ja reichlich keck, Mädchen. Habt Ihr heute früh nicht Euren Teller Suppe bekommen?«

»Von einem Teller Suppe kann ich nicht leben, Madame. Was ich von Euch erbitte, ist wenig im Vergleich zu Eurem Reichtum. Ihr werdet mir einen Karren voll Holz und Nahrung zukommen lassen, bis ich mich auf andere Weise behelfen kann.«

»Unerhört!« rief die Herzogin aus. »Hörst du das, Bertille? Diese Bettlerinnen werden jeden Tag unverschämter! Laßt mich los, Weib! Rührt mich nicht an mit Euren schmutzigen Händen, sonst lasse ich Euch von meinen Lakaien prügeln.«

»Seht Euch vor, Madame«, sagte Angélique leise. »Seht Euch vor, daß ich nichts von Kouassi-Bas Kind erzähle!«

Die Herzogin, die ihre Röcke gerafft hatte, um in die Kutsche zu steigen, hielt wie erstarrt inne.

Angélique fuhr fort:

»Ich kenne im Faubourg Saint-Denis ein Haus, in dem ein Mohrenkind aufgezogen wird .«

»Sprecht leiser«, zischte Madame de Soissons wütend.

Sie drängte sie ein Stück beiseite.

»Was ist das für eine Geschichte?« fragte sie in trok-kenem Ton. Und um sich Haltung zu geben, schlug sie ihren Fächer auf und bewegte ihn heftig, obwohl ein scharfer Wind wehte.

Da Florimond auf Angéliques steifen Gliedern zu lasten begann, nahm sie ihn auf den andern Arm.

»Ich kenne ein Mohrenkind, das nicht bei seiner Mutter aufwächst. Es ist in Fontainebleau an einem gewissen, mir bekannten Tage zur Welt gekommen, unter dem Beistand einer gewissen Frau, deren Namen ich jedem, der es wissen will, sagen könnte. Der Hof wird sich vermutlich höchlichst amüsieren, wenn er erfährt, daß Madame de Soissons ein Kind dreizehn Monate lang in ihrem Schoß getragen hat!«

»O dieses liederliche Weibsbild!« rief die schöne Olympe aus, die ihr südliches Temperament wieder einmal nicht zu zügeln vermochte. Sie fixierte Angélique und versuchte, sie zu identifizieren, aber die junge Frau senkte nur die Augen, fest überzeugt, daß niemand hinter ihrem ärmlichen Äußeren die strahlende Madame de Peyrac vermuten würde.

»Nun ist es wirklich genug!« erklärte die Herzogin von Soissons zornig und rauschte auf ihre Kutsche zu. »Ihr verdient, daß ich Euch prügeln lasse. Ich kann es nicht leiden, wenn man sich über mich lustig macht.«

»Der König kann es auch nicht leiden, wenn man sich über ihn lustig macht«, flüsterte Angélique, die ihr auf dem Fuße folgte.

Die Dame wurde puterrot, ließ sich auf das Samtpolster sinken und ordnete erregt ihre Röcke.

»Der König! Der König ...! Eine Landstreicherin ohne Hemd erlaubt sich, vom König zu reden! Es ist unerträglich! Nun, und? Was wollt Ihr .?«

»Ich habe es Euch bereits gesagt, Madame. Sehr wenig: eine Fuhre Holz, warme Kleider für mich selbst, für mein Kleines und meine acht- und zehnjährigen Jungen, ein wenig Nahrung .«

»Oh, daß man mit mir so zu sprechen wagt! Welche Erniedrigung!« knirschte Madame de Soissons. »Und da beglückwünscht sich dieser Narr von Polizeipräfekt zu seinem Unternehmen auf dem Jahrmarkt von Saint-Germain und behauptet, er habe die gefährlichste Gaunerbande der Stadt zerschlagen ... Warum schließt ihr den Wagenschlag nicht, ihr Tölpel!« rief sie, zu den Lakaien gewandt.

Einer von ihnen schob Angélique beiseite, um dem Befehl seiner Herrin nachzukommen, aber sie gab sich nicht geschlagen und trat abermals an die Kutschentür.

»Kann ich mich im Palais Soissons, Rue Saint-Honoré, melden?«

»Meldet Euch«, sagte die Herzogin trocken. »Ich werde Anweisungen erteilen.«

So sah denn Meister Bourgeaud, Bratkoch der Rue de la Vallée-de-Misère, der gerade über seiner ersten Pinte Wein hockte und melancholisch an die lustigen Liedchen dachte, die ehedem zu dieser Stunde die Meisterin Bourgeaud zu singen pflegte, einen wunderlichen Aufzug in seinem Hof eintreffen.

Ein aus zwei jungen Frauen und drei Kindern bestehendes Grüppchen abgerissener Gestalten schritt vor einem Diener in vornehmer, kirschroter Livree einher, welch letzterer höchst mißvergnügt einen mit Holz und Kleidungsstücken beladenen Karren zog. Um das seltsame Bild zu vervollständigen, hockte ein kleiner Affe auf dem Karren, dem es offensichtlich Spaß machte, sich spazierenfahren zu lassen, und der den Vorübergehenden Grimassen schnitt. Einer der Knaben trug eine Bettlerleier, deren Saiten er munter zupfte.

Meister Bourgeaud sprang auf, fluchte, schlug mit der Faust auf den Tisch und erschien in der Küche, als Angélique eben Florimond in Barbes Arme legte.

»Ja, was denn? Was ist denn das?« stammelte er außer sich. »Willst du mir gar wieder erzählen, daß der da dir gehört? Wo ich dich für ein braves und ehrsames Mädchen gehalten habe, Barbe?«

»Meister Bourgeaud, hört mich an .«

»Ich will nichts hören! Man betrachtet meine Bratstube als ein Asyl! Ich bin entehrt .«

Er warf seine Kochmütze auf den Boden und lief hinaus, um einen Polizisten zu holen.

»Behalte die beiden Kleinen hier bei dir in der Wärme«, sagte Angélique zu Barbe. »Ich mache droben in deinem Zimmer Feuer.«

Der verdutzte und gekränkte Lakai der Madame de Soissons mußte also die Holzscheite über eine wacklige Treppe in den siebenten Stock hinaufschaffen und sie in einem kleinen Raum ablegen, der nicht einmal ein mit Vorhängen versehenes Bett auf wies.

»Und du wirst der Frau Herzogin einschärfen, daß sie mir dasselbe jeden Tag bringen läßt«, sagte Angélique zu ihm, als sie ihn verabschiedete.

Der Lakai räusperte sich ominös. »Hör mal, meine Schöne, wenn du meine Meinung wissen willst .«

»Ich will deine Meinung nicht wissen, Dummkopf, und ich verbiete dir, mich zu duzen«, schloß Angélique in einem Ton, der sich mit ihrem zerrissenen Mieder und den abgeschnittenen Haaren schlecht vertrug.

Der Lakai stieg die Treppe hinunter, und auch er fühlte sich wie Meister Bourgeaud entehrt.

Ein wenig später kam Barbe mit Florimond und Cantor auf dem Arm die Treppe herauf. Als sie das Zimmer betrat, bliesen Linot und Flipot mit vollen Backen in ein prächtig knisterndes Holzfeuer.

»Laß sie ruhig hier, wo es jetzt so schön warm ist«, sagte Angélique, »und geh an deine Arbeit. Barbe, du bist doch nicht böse, daß ich mit meinen Kleinen zu dir gekommen bin?«

»O Madame, ich bin ja glücklich darüber!«

»Und du mußt auch diese armen Kinder aufnehmen«, sagte Angélique, indem sie auf Rosine und die beiden Knaben wies. »Wenn du wüßtest, woher sie kommen!«

»Madame, mein ärmliches Zimmer steht zu Eurer Verfügung.«

»Baaarbe ...!«

Meister Bourgeaud brüllte unten im Hof. Die ganze Nachbarschaft hallte wider von seinem Geschrei. Nicht nur, daß sein Haus von Bettelvolk mit Beschlag belegt worden war, jetzt verlor auch noch seine Magd den Kopf.

Einen Spieß mit sechs Kapaunen hatte sie mir nichts, dir nichts verbrennen lassen ... Und was war denn das, dieser Funkenregen, der dort oben aus dem Kamin stob? Einem Kamin, in dem seit fünf Jahren kein Feuer mehr gebrannt hatte. Alles würde in Flammen aufgehen! Das war der Ruin. Ach, warum war auch die Meisterin Bourgeaud gestorben!

Das von Madame de Soissons geschickte Kochgeschirr enthielt Rindfleisch, Suppe und schöne Gemüse. Auch zwei Brote und ein Topf mit Milch waren dabei.

Rosine ging hinunter, um am Brunnen im Hof einen Eimer Wasser zu holen, das sie später auf den Feuerböcken heiß werden ließ. Angélique wusch ihre beiden Kinder und hüllte sie in neue Hemden und warme Decken. Nie mehr würden sie hungern und frieren ...!

Cantor lutschte an einem Hühnerknochen, den er in der Küche aufgelesen hatte, und plapperte vor sich hin, während er mit seinen Füßchen spielte. Florimond schien sich noch nicht so recht erholt zu haben. Er schlummerte ein und wachte schreiend wieder auf. Er zitterte, und sie wußte nicht, war es vor Fieber oder vor Angst. Doch nach seinem Bade schwitzte er ausgiebig und sank endlich in friedlichen Schlaf.

Angélique schickte Linot und Flipot hinaus und wusch sich ihrerseits in dem Kübel, dessen sich die Magd zu bedienen pflegte.

»Wie schön du bist!« sagte Rosine bewundernd zu ihr. »Ich kenne dich nicht, aber sicher bist du eins der Liebchen von Beau-Garçon.«

Angélique rieb sich energisch den Kopf und stellte fest, daß es wirklich sehr einfach war, sich die Haare zu waschen, wenn man keine mehr hatte.

»Nein, ich bin die Marquise der Engel.«

»Oh, du bist das!« rief das Mädchen verblüfft aus.

»Ich hab’ so viel von dir reden hören. Stimmt es, daß Calembredaine gehenkt worden ist?«

»Ich weiß es nicht, Rosine. Schau, wir sind in einer sehr schlichten und sehr ehrbaren kleinen Stube. Dort an der Wand hängen ein Kruzifix und ein Weihwassergefäß. Wir dürfen von alldem nicht mehr reden.«

Sie streifte ein grobes Leinenhemd über, einen Rock und ein Mieder aus dunkelblauem Wollstoff, die zu der Fracht des Karrens gehört hatten. Die unförmigen, derben Kleidungsstücke waren viel zu weit für Angéliques schmale Taille, aber sie waren sauber, und sie empfand es als große Erleichterung, ihre Lumpen von sich werfen zu können.

Dem Köfferchen, das sie samt dem Affen Piccolo in der Rue du Val d’Amor abgeholt hatte, entnahm sie einen kleinen Spiegel. In diesem Köfferchen befanden sich alle möglichen interessanten Dinge, auf die sie Wert legte, unter anderem ein Schildpattkamm, mit dem sie sich kämmte. Ihr Gesicht mit den abgeschnittenen Haaren kam ihr fremd vor.

»Haben dir die Büttel die Perücke gestutzt?« fragte Rosine.

»Ja ... Pah, das wächst nach. O Rosine, was hab’ ich denn da?«

»Wo?«

»In meinen Haaren. Schau.«

Rosine beugte sich über sie.

»Es ist eine weiße Strähne«, sagte sie.

»Eine weiße Strähne!« wiederholte Angélique entsetzt. »Aber das ist doch nicht möglich. Gestern hab’ ich noch keine gehabt. Ich weiß es ganz sicher.«

»Das passiert eben so. Vielleicht heut nacht?«

»Ja, heute nacht.«

Angéliques Beine versagten den Dienst, und sie mußte sich auf Barbes Bett setzen.

»Rosine . Bin ich alt geworden?«

Das Mädchen kniete vor ihr nieder und sah sie ernst an, dann streichelte sie ihre Wange.

»Ich glaube, nicht. Du hast keine Runzeln, deine Haut ist glatt.«

Angélique ordnete ihr Haar, so gut es gehen wollte, und versuchte, die unglückselige Locke unter den andern zu verbergen. Dann band sie ein schwarzseidenes Tuch um den Kopf.

»Wie alt bist du, Rosine?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht vierzehn, vielleicht auch fünfzehn.«

»Jetzt erinnere ich mich an dich. Ich habe dich eines Nachts auf dem Friedhof der Unschuldigen Kindlein gesehen. Du gingst im Zug des Großen Coesre, und deine Brüste waren bloß. Es war im Winter. Hast du nicht gefroren?«

Rosine richtete ihre großen, dunklen Augen auf Angélique, ein stiller Vorwurf lag in ihnen. »Du hast es selbst gesagt. Wir wollen nicht mehr davon sprechen«, flüsterte sie.

In diesem Augenblick trommelten Flipot und Linot an die Tür. Vergnügt kamen sie herein. Barbe hatte ihnen heimlich eine Pfanne, ein Stück Speck und eine Schüssel mit Teig zugesteckt. Es würde Speckpfannkuchen geben.

An diesem Abend gab es in Paris kaum einen Ort, an dem es fröhlicher herging als in der kleinen Stube hoch über der Rue de la Vallée-de-Misère. Angélique buk die Pfannkuchen, und Linot zupfte auf der Bettlerleier Thibault-le-Veilleurs. Die Polackin war es gewesen, die das Instrument in einem Straßenwinkel gefunden und dem Enkel des alten Musikanten übergeben hatte. Niemand wußte, was aus diesem bei der großen Schlägerei geworden war.

Ein wenig später kam Barbe mit ihrem Leuchter herauf. Sie erzählte, daß kein Gast mehr in der Bratstube gewesen sei und Meister Bourgeaud verärgert seine Tür abgeschlossen habe. Um das Unglück des Gastwirts vollzumachen, habe man ihm auch noch die Uhr gestohlen. Kurz, sie sei viel früher frei als gewöhnlich. Als sie mit ihrem Bericht zu Ende war, fiel ihr Blick auf eine wunderliche Sammlung von Gegenständen, die auf dem Kasten ausgebreitet war, in dem sie ihre Habseligkeiten verstaute. Da waren zwei Tabakreiben, eine gestickte Börse mit einigen Geldstücken, Knöpfe, ein Haken, und mitten drin.

»Aber ... das ist ja die Uhr Meister Bourgeauds!« sagte sie verdutzt.

»Flipot!« rief Angélique.

Flipot wich ihrem Blick aus.

»Ja, ich war’s«, gab er zu. »Als ich wegen des Teigs in die Küche ging.« Angélique packte ihn beim Ohr und schüttelte ihn gehörig.

»Wenn du wieder zu mausen anfängst, verflixter kleiner Taschendieb, dann setz’ ich dich vor die Tür, und zu kehrst zu Jean-Pourri zurück.«

Zerknirscht schlich sich der Junge in eine Ecke des Raums, legte sich nieder und schlief bald darauf ein. Linot folgte seinem Beispiel und nach ihm Rosine, die sich auf dem Strohsack zusammenkauerte. Auch die Kleinen waren längst wieder eingeschlummert.

Vor dem Feuer blieben nur Barbe und Angélique wach. Man hörte kaum ein Geräusch, denn das Zimmer ging nach einem Hof und nicht nach der Straße, die sich zu dieser Stunde mit Zechern und Spielern zu bevölkern begann.

»Es ist noch nicht spät. Eben schlägt es neun Uhr vom Châtelet«, sagte Barbe.

Sie wunderte sich, als Angélique mit einem wie erstarrten Gesichtsausdruck den Kopf hob und sich gleich darauf entschlossen aufrichtete. Einen Augenblick lang betrachtete sie ihre schlafenden Kinder. Dann ging sie zur Tür.

»Bis morgen, Barbe«, flüsterte sie.

»Wohin geht Madame?«

»Es bleibt mir noch ein Letztes zu tun«, sagte Angélique. »Dann bin ich endlich fertig damit. Das Leben kann neu beginnen.«

Von der Rue de la Vallée-de-Misère waren es nur ein paar Schritte bis zum Châtelet. Angélique mochte ihren Schritt noch so sehr verlangsamen, sie befand sich bald vor dem von zwei Türmchen eingerahmten und von einem Uhrturm überragten Hauptportal. Wie am Tage zuvor war das Gewölbe von Fackeln erleuchtet.

Angélique näherte sich dem Eingang, dann zögerte sie, schlug eine andere Richtung ein und begann durch die benachbarten Straßen zu wandern, in der Hoffnung, ein plötzliches Wunder werde das düstere Schloß vom Erdboden verschwinden lassen, dessen dicke Mauern schon sechs Jahrhunderten getrotzt hatten. Die Geschehnisse dieses letzten Tages hatten das dem Hauptmann der Wache gegebene Versprechen aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Erst Barbes Worte hatten es ihr wieder in Erinnerung gerufen. Nun war die Stunde gekommen, es einzulösen.

»Komm«, sagte sie sich, »du gewinnst nichts, wenn du draußen bleibst. Es muß nun mal sein.«

Also kehrte sie zum Gefängnis zurück und trat beherzt in die Wachstube.

»Ah, da bist du ja!« sagte der Hauptmann.

Er saß rauchend am Kamin und hatte beide Füße auf den Tisch gelegt.

»Ich hätte nicht gedacht, daß sie wiederkommen würde«, sagte einer der Männer.

»Ich schon«, versicherte der Hauptmann. »Weil ich zwar Kerls gesehen habe, die wortbrüchig geworden sind, aber nie eine Dirne. Nun, mein Schätzchen .?«

Ein eiskalter Blick traf sein hochgerötetes Gesicht. Ungerührt streckte der Hauptmann die Hand aus und zwickte sie freundschaftlich ins Hinterteil.

»Man wird dich jetzt zum Wundarzt bringen, damit er nachsehen kann, ob du nicht etwa krank bist. Wenn du es bist, wird er dir Salbe auflegen. Ich bin nämlich sehr heikel, mußt du wissen. Also, vorwärts!«

Ein Polizist führte Angélique zum Amtsraum des Wundarztes und von dort nach erfolgter Untersuchung über düstere Treppen und Flure ins Zimmer des Hauptmanns. Eine Weile blieb sie allein in dem Raum, dessen Fenster wie die einer Zelle vergittert und dessen dicke Wände nur mangelhaft mit schäbigen, ausgefransten Bergamo-Teppichen verkleidet waren. Die Luft roch nach altem Leder, nach Tabak und Wein. Angélique blieb stehen, wo der Polizist sie verlassen hatte, unfähig, sich zu setzen oder überhaupt etwas zu tun, krank vor Beklemmung und immer mehr erstarrend, denn die kühle Feuchtigkeit des Orts war durchdringend.

Endlich war im Gang die raunzende Stimme des Hauptmanns zu vernehmen. Polternd und eine wahre Flut wüster Beschimpfungen ausstoßend, trat er ein.

»Was für ein faules Gesindel! Unfähig, allein mit etwas fertig zu werden! Wenn ich nicht wäre!«

Er schleuderte seinen Degen und seine Pistole auf den Tisch, ließ sich schnaufend auf den nächsten Schemel sinken und befahl, Angélique einen Fuß entgegenstreckend: »Zieh mir meine Stiefel aus!«

Angéliques Blut wallte auf.

»Ich bin nicht Eure Magd!«

»Hör sich das einer an!« murmelte der Hauptmann und stemmte seine Hände auf die Knie.

Doch schon sagte sich Angélique, daß es töricht sei, in einem Augenblick den Zorn des Menschenfressers zu reizen, in dem sie völlig seiner Gnade ausgeliefert war. Sie versuchte, nachträglich ihre unüberlegten Worte zu mildern:

»Ich würde es gern tun, aber ich versteh’ mich nicht auf das Soldatenzeug. Eure Stiefel sind so groß und meine Hände so klein. Schaut doch.«

»Stimmt, sie sind klein, deine Hände. Du hast Prinzessinnenhände.«

»Ich kann’s versuchen .«

»Laß sein, Täubchen«, knurrte er und stieß sie zurück. Danach packte er einen seiner Stiefel und begann, aus Leibeskräften zu ziehen, wobei er fürchterliche Grimassen schnitt. Bis draußen eilige Schritte über den fliesenbelegten Gang klapperten; und eine bedrängte Stimme rief:

»Herr Hauptmann! Herr Hauptmann!«

»Was ist los?«

»Eben haben sie eine Leiche angeschleppt, die beim Petit-Pont aufgefischt worden ist.«

»Schafft sie ins Schauhaus.«

»Ja ... Aber sie hat eins mit dem Dolch in den Bauch gekriegt. Ihr müßt schon kommen und bestätigen.«

Der Hauptmann fluchte, stieß den schon halbwegs befreiten Fuß wieder in den Stiefel zurück und stürzte hinaus.

Angélique wartete von neuem und erstarrte immer mehr zu Eis. Sie begann schon zu hoffen, daß die Nacht auf diese Weise vergehen oder daß er nicht wiederkommen oder daß ihm am Ende gar ein Unglück zustoßen werde, als das Châtelet abermals von seiner gewaltigen Stimme widerhallte. Ein Polizist begleitete ihn.

»Zieh mir die Stiefel aus«, sagte er zu ihm. »So. Und nun verdufte. Und du, Mädchen, leg dich in die Falle, statt zähneklappernd herumzustehen.«

Angélique wandte sich zum Alkoven und begann sich auszuziehen. Es war ihr, als presse ihr eine Hand das Herz zusammen. Sie wußte nicht recht, ob sie sich auch ihres Hemdes entledigen solle, und entschied sich schließlich, es anzubehalten. Trotz ihrer Beklemmung empfand sie dann doch ein Gefühl des Wohlbehagens, als sie unter die Decken schlüpfte. Die Pfühle waren weich, und ganz allmählich wurde ihr wieder warm. Sie zog das Laken übers Kinn, während sie den Hauptmann sich gleichfalls ausziehen hörte.

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