Die Menge machte Platz, um die kleinen Geschöpfe und den Hund vorbeizulassen.

»Das ist die Zwergin der Infantin und ihr Narr Tomasini«, erklärte jemand. »Offenbar nimmt sie sie mit nach Frankreich.«

»Wozu braucht sie diese Knirpse? In Frankreich wird sie genug zum Lachen haben.«

»Sie sagt, nur die Zwergin könne ihr ihre Zimtschokolade zubereiten.«

Über Angélique reckte sich eine bleiche, imposante Gestalt auf. Monseigneur de Fontenac, in malvenfar-bener Seide und hermelinbesetzter Mozetta, strebte einer der Estraden aus vergoldetem Holz zu. Er beugte sich über das Geländer. In seinen Augen brannte ein zerstörerisches Feuer. Er redete mit jemandem, den Angélique nicht sah.

In plötzlicher Unruhe bahnte sie sich einen Weg in seiner Richtung. Am Fuß der Treppe hob Joffrey de Peyrac sein ironisches Gesicht zum Erzbischof auf.

»Erinnert Euch des >Goldes von Toulouse<«, sagte der letztere mit gedämpfter Stimme. »Als Servilius Cepion die Tempel von Toulouse ausgeraubt hatte, wurde er zur Strafe für seine Gottlosigkeit besiegt. Deshalb wendet man den sprichwörtlichen Ausdruck >das Gold von Toulouse< auf das Unglück an, das auf unredliche Weise erworbene Reichtümer bringen.«

Graf Peyrac lächelte noch immer.

»Ich liebe Euch«, murmelte er, »ich bewundere Euch. Ihr besitzt die Milde und die Grausamkeit der Reinen. Ich sehe in Euren Augen die Flammen der Inquisition brennen. So werdet Ihr mich also nicht verschonen?«

»Adieu, Monsieur«, sagte der Erzbischof mit zusammengepreßten Lippen.

»Adieu, Foulques de Neuilly.« Die Kerzen warfen ihren Schimmer auf Joffreys Gesicht. Er sah in die Ferne.

»Was geht da wieder vor?« flüsterte Angélique.

»Nichts, meine Schöne. Unser alter Streit ...«

Bleich wie der Tod schritt der König von Spanien durch das Kirchenschiff und führte die Infantin an der linken Hand.

Sie hatte eine weiße, vom Halbdunkel der Madrider Paläste gebleichte Haut, blaue Augen, seidiges, durch unechte Zutaten aufgebauschtes Haar, eine ergebene und ruhige Haltung. Sie wirkte eher flämisch als spanisch. Man fand ihr wollenes, kaum besticktes Kleid unmöglich.

Der König führte seine Tochter zum Altar, wo sie niederkniete. Don Luis de Haro, der im Namen des Königs freite, hielt sich in gleicher Höhe mit ihr, doch ziemlich entfernt.

Als der Augenblick für die Gelöbnisse gekommen war, streckten die Infantin und Don Luis einander den Arm entgegen, ohne sich jedoch zu berühren. Mit derselben Bewegung legte die Infantin ihre Hand in die ihres Vaters und küßte ihn. Tränen rannen über die elfenbeinfarbenen Wangen des Monarchen. Die Grande Mademoiselle schneuzte sich geräuschvoll.

»Werdet Ihr für uns singen?« fragte der König.

Joffrey de Peyrac zuckte zusammen. Er warf einen stolzen Blick auf Ludwig XIV. und fixierte ihn, als sei er irgendein Unbekannter, der ihm nicht vorgestellt worden war. Angélique zitterte; sie griff nach seiner Hand. »Sing für mich!« flüsterte sie.

Der Graf lächelte und gab Bernard d’Andijos ein Zeichen, worauf dieser hinauseilte.

Das Fest näherte sich seinem Ende. Neben der Königin-Mutter, dem Kardinal, dem König und seinem Bruder saß die Infantin in starrer Haltung und schlug die Augen vor dem Manne nieder, mit dem die Zeremonien des folgenden Tages sie verbinden würden. Ihre Trennung von Spanien war vollzogen. Philipp IV. und seine Hidalgos kehrten wehen Herzens nach Madrid zurück und hinterließen die stolze und reine Infantin als Pfand des neugewonnenen Friedens .

Der kleine Violinist Giovanni drängte sich zwischen den Höflingen hindurch und reichte dem Grafen Peyrac seine Gitarre und die Samtmaske.

»Weshalb maskiert Ihr Euch?« fragte der König.

»Die Stimme der Liebe hat kein Gesicht«, erwiderte Peyrac, »und wenn die schönen Augen der Damen träumen, darf nichts Häßliches sie stören.«

Er präludierte und begann zu singen, indem er die alten Weisen in der langue d’oc mit modischen Liebesliedern mischte.

Schließlich ließ er sich neben der Infantin nieder und stimmte einen verwegenen spanischen Refrain an, den rauhe arabische Schreie unterbrachen und in dem die ganze Leidenschaftlichkeit und das Feuer der Iberischen Halbinsel brannten.

Das ausdruckslose perlmutterfarbene Gesicht begann aufzublühen; die Lider der Infantin hoben sich, und man sah ihre Augen leuchten. Vielleicht erlebte sie ein letztes Mal das eingeschlossene Dasein einer kleinen Gottheit, wie sie es kannte, zwischen ihren Frauen und ihren Zwergen, die sie lachen machten; ein düsteres, schales, aber geruhsames Dasein: Man spielte Karten, empfing weissagende Nonnen, veranstaltete Nachmittagseinladungen mit Konfekt, Orangenblüten- und Veilchenkuchen.

Ihre Miene nahm einen verstörten Ausdruck an, als sie sich plötzlich unter all den französischen Gesichtern wiederfand.

»Ihr habt uns bezaubert«, sagte der König zu dem Sänger. »Ich wünsche mir nur das eine, daß wir noch oft Gelegenheit haben werden, Euch zu hören.«

Joffreys Blick funkelte seltsam hinter seiner Maske.

»Niemand hofft das so sehr wie ich, Sire. Aber alles hängt von Eurer Majestät ab. Ist es nicht so?«

Angélique glaubte zu bemerken, daß der Monarch leicht die Stirn runzelte.

»So ist es. Ich freue mich, Euch das sagen zu hören, Monsieur de Peyrac«, bemerkte er ein wenig trocken.

Nachdem Angélique zu vorgerückter Stunde in ihr Quartier zurückgekehrt war, streifte sie hastig ihre Kleider ab, ohne auf die Hilfe der gähnenden Zofe zu warten, und warf sich mit einem Seufzer auf das Bett. »Ich fühle mich völlig zerschlagen, Joffrey. Ich glaube, ich bin dem Hofleben noch nicht gewachsen. Wie machen es nur diese Leute, daß sie sich in so viele Vergnügungen stürzen und doch die Zeit finden, in der Nacht einander zu betrügen?«

Der Graf streckte sich neben ihr aus, ohne zu antworten. Es war so heiß im Raum, daß schon die Berührung eines Leintuchs lästig wurde. Durch das offene Fenster fiel zuweilen der rötliche Schein von Fackeln bis auf das Bett, dessen Vorhänge sie nicht zugezogen hatten. Saint-Jean-de-Luz war noch eifrig mit den Vorbereitungen für den kommenden Tag beschäftigt.

»Wenn ich nicht ein wenig schlafe, werde ich morgen bei der Zeremonie zusammenbrechen«, meinte Angélique gähnend. Sie streckte sich, dann schmiegte sie sich an den braunen, trockenen Körper ihres Gatten.

Er streichelte die runde Hüfte, die im Halbdunkel wie Alabaster leuchtete, folgte der sanften Krümmung der Taille und fand die kleine, feste Brust. Seine Finger bebten, wurden drängender, kehrten zum geschmeidigen Leib zurück. Als er eine kühnere Liebkosung wagte, wehrte Angélique im Halbschlaf ab: »O Joffrey, ich bin so müde!«

Er ließ ab, und sie warf ihm zwischen halbgeschlos-senen Lidern einen Blick zu, um zu sehen, ob er ärgerlich war. Auf seinen Ellbogen gestützt, betrachtete er sie lächelnd.

»Schlaf, Liebes«, flüsterte er.

Als sie wieder aufwachte, hätte sie meinen können, er habe sich nicht gerührt, denn er betrachtete sie noch immer. Sie lächelte ihn an.

Es war kühl, und der Morgen begann eben zu dämmern. Schlaftrunken drängte sie sich an ihn, und sie umschlangen einander mit ihren Armen.

Er hatte sie den kunstvollen Genuß gelehrt, den raffinierten Kampf mit seinen Finten, seinen Verzögerungen, seinen Verwegenheiten, das geduldige Werk, bei dem die beiden Körper sich gegenseitig dem Paroxysmus der Wollust entgegenführen. Als sie endlich voneinander ließen, erschöpft, gesättigt, stand die Sonne schon hoch am Himmel.

»Sollte man meinen, daß wir einen anstrengenden Tag vor uns haben?« fragte Angélique lachend.

Margot klopfte an die Tür.

»Madame, Madame, es ist Zeit! Die Kutschen fahren bereits zur Kathedrale, und Ihr werdet keinen Platz mehr finden, um den Aufzug zu sehen.«

Der Aufzug war klein. Sechs Personen bewegten sich zu Fuß durch die mit Teppichen belegte Straße. Aber was für Personen! Ihre Namen waren bereits im Buche der Geschichte vermerkt.

An der Spitze schritt der Kardinal Fürst Gondy, strahlend und feurig, der einstige Held der Fronde, dessen Anwesenheit an diesem schönen Tage den beiderseitigen Willen kundtat, jene traurigen Erinnerungen zu vergessen.

Dann kam Kardinal Mazarin in seinem fließenden Purpur.

In einigem Abstand folgte der König in einem Gewand aus Goldbrokat, dessen Glanz reiche schwarze Spitzen dämpften. Er wurde vom Marquis d’Humières und Péguillin de Lauzun begleitet.

Danach die Infantin, die neue Königin, unter einer von zwei Damen getragenen Krone, zur Rechten geführt von Monsieur, dem Bruder des Königs, zur Linken von ihrem Ehrenkavalier, Monsieur de Bernonville. Ihr Kleid war aus Silberbrokat, ihr Mantel aus violettem Samt mit aufgestickten goldenen Lilien. Der Mantel war an den Seiten sehr kurz gehalten, seine Schleppe jedoch maß zehn Ellen. Sie wurde von den jungen Kusinen des Königs getragen, Mesdemoiselles de Valois und d’Alençon, sowie der Fürstin Carignan.

Nur mühsam kam die funkelnde Gruppe in der engen Straße vorwärts, die Schweizergarden, französische Leibgardisten und Musketiere säumten.

Die Königin-Mutter, in ihre silberbestickten schwarzen Schleier gehüllt, folgte dem Paar, umgeben von ihren Damen. Den Abschluß bildete Mademoiselle de Montpensier, das große enfant terrible der Familie, in Schwarz gekleidet, aber mit zwanzig Perlenreihen behängt, was ein reichlich kokettes Trauergewand ergab.

Dank ihrer Protektion konnte Angélique alle noch folgenden Festlichkeiten aus der Nähe beobachten: die Trauung, das Festgelage, den Ball. Am Abend befand sie sich in dem langen Zug von Höflingen und Edelleuten, die sich nacheinander vor dem großen Bett verneigten, in dem der König und seine junge Gemahlin ruhten.

Unbeweglich wie Puppen lagen die beiden jungen Leute da, den Blicken der Menge ausgesetzt.

Wie nur würden diese Ehegatten, die sich bis gestern nicht gekannt hatten und die nun in all ihrer Pracht und steifen Würde wie aufgebahrt wirkten, wie würden sie sich einander zuwenden, einander umschlingen können, nachdem die Königin-Mutter dem Brauch gemäß die Vorhänge über das Prunkbett hatte fallen lassen? Angélique verspürte Mitleid mit der regungslosen Infantin, die angesichts der neugierigen Blicke ihre Jungmädchenverwirrung verbergen mußte. Vielleicht war sie aber auch von Kindheit an so sehr an den Zwang des Repräsentierens gewöhnt, daß sie gar nichts empfand. Dies hier bedeutete nichts anderes als einen weiteren Ritus. Man konnte sich getrost auf das bourbonische Blut Ludwigs XIV. verlassen. Während sie die Treppe wieder hinabstiegen, tauschten Edelleute und Damen gewagte Scherze.

Angélique dachte an Joffrey, der sich ihr gegenüber so zart und geduldig verhalten hatte. Wo war er? Sie hatte ihn den ganzen Tag über nicht gesehen ... In der Halle des Königshauses trat Péguillin de Lauzun auf sie zu. Er schien ein wenig atemlos.

»Wo ist der Graf, Euer Gatte?«

»Mein Gott, ich suche ihn auch.«

»Wann habt Ihr ihn zum letztenmal gesehen?«

»Ich habe ihn heute früh verlassen, um mit Mademoiselle zur Kathedrale zu gehen. Er selbst hat Monsieur de Gramont begleitet.«

»Ihr seid ihm seither nicht begegnet?«

»Aber nein, ich sagte es schon. Ihr seht so erregt aus. Was wollt Ihr von ihm?«

Der kleine Mann nahm ihre Hand und zog sie mit sich fort.

»Gehen wir in die Wohnung des Herzogs von Gramont.«

»Was geht denn vor?«

Er gab keine Antwort. Er trug noch immer seine Prunkuniform, aber die gewohnte Fröhlichkeit war aus seinem Gesicht geschwunden.

Der Herzog von Gramont, der inmitten einer Gruppe von Freunden bei Tisch saß, sagte ihnen, Graf Peyrac habe ihn morgens nach der Messe verlassen. »War er allein?« fragte Lauzun.

»Allein? Allein?« polterte der Herzog. »Was wollt Ihr damit sagen, mein Kleiner? Gibt es einen einzigen Menschen in Saint-Jean-de-Luz, der sich rühmen kann, heute allein zu sein? Peyrac hat mir seine Absichten nicht anvertraut, aber ich kann Euch sagen, daß sein Mohr ihn begleitete.«

»Gut. Das beruhigt mich«, sagte Lauzun.

»Er wird wohl mit den Gaskognern zusammen sein; die Gesellschaft amüsiert sich in einer Schenke am Hafen. Falls er nicht einer Aufforderung der Prinzessin Henriette von England gefolgt ist, die ihn bitten wollte, für sie und ihre Damen zu singen.«

»Kommt, Angélique!« sagte Lauzun.

Die englische Prinzessin war jenes sympathische junge Mädchen, neben dem Angélique beider Überfahrt zur Fasaneninsel gesessen hatte. Auf Péguillins Frage schüttelte sie verneinend den Kopf.

»Er ist nicht hier. Ich habe einen meiner Edelleute nach ihm ausgesandt, aber er hat ihn nirgends gefunden.«

»Sein Mohr Kouassi-Ba ist doch eine Erscheinung, die man nicht übersehen kann.«

»Auch der Mohr ist nicht gesehen worden.«

In der Schenke zum »Goldenen Walfisch« erhob sich Bernard d’Andijos mühsam vom Tisch, um den die Blüte der Gascogne und des Languedoc versammelt war. Nein, niemand hatte Monsieur de Peyrac gesehen. Und dabei hatte man lange genug nach ihm Ausschau gehalten, ihn gerufen, ja sogar Kieselsteine an die Fenster seines Quartiers in der Rue de la Rivière geworfen. Aber von Peyrac keine Spur.

Lauzun faßte sich ans Kinn, um zu überlegen.

»Suchen wir de Guiche. Der kleine Monsieur hat Euerm Gatten schmachtende Blicke zugeworfen. Vielleicht hat er ihn zu einer aparten Gesellschaft bei seinem Busenfreund mitgenommen.«

Angélique folgte dem Herzog durch die überfüllten, von Fackeln und bunten Laternen erleuchteten Gassen. Sie traten ein, fragten, gingen wieder hinaus. Die Leute saßen bei Tisch, im Dunst der Speisen, im Rauch der abertausend Kerzen, im muffigen Odeur der Dienstboten, die den ganzen Tag aus den Weinfontänen getrunken hatten.

Man tanzte auf den Plätzen nach dem Klang der Tamburine und Kastagnetten. Die Pferde wieherten im Halbdunkel der Höfe.

Graf Peyrac war verschwunden.

Angélique packte Péguillin plötzlich beim Arm.

»Nun ist es genug, Péguillin, redet! Weshalb seid Ihr so besorgt um meinen Gatten? Wißt Ihr etwas?«

Er seufzte, nahm diskret seine Perücke ab und wischte sich die Stirn.

»Ich weiß nichts. Ein Edelmann aus dem Gefolge des Königs weiß nie etwas, es könnte ihn zu teuer zu stehen kommen. Aber ich habe schon eine ganze Weile den Verdacht, daß ein Komplott gegen Euren Gatten im Gange ist.«

Er flüsterte ihr ins Ohr:

»Ich fürchte, man hat versucht, ihn zu verhaften.«

»Ihn zu verhaften?« wiederholte Angélique. »Aber weshalb denn?«

Er zuckte die Schultern.

»Ihr seid verrückt«, sagte Angélique. »Wer kann den Befehl geben, ihn zu verhaften?«

»Der König natürlich.«

»Der König hat anderes zu tun, als an einem solchen Tage Leute verhaften zu lassen. Das ist ja Unsinn, was Ihr da erzählt.«

»Ich hoffe es. Ich habe ihm gestern abend eine Warnung zukommen lassen. Er hatte noch genügend Zeit, um sich auf sein Pferd zu schwingen. Madame, seid Ihr Euch ganz sicher, daß er die Nacht bei Euch verbracht hat?«

»O ja, ganz sicher!« sagte sie und errötete ein wenig.

»Also hat er nicht begriffen, hat weitergespielt, mit dem Schicksal jongliert.«

»Péguillin, Ihr macht mich wahnsinnig!« rief Angélique und schüttelte ihn. »Ich glaube, Ihr seid im Begriff, Euch einen Scherz mit mir zu erlauben.«

»Ssst!«

Er zog sie an sich wie ein Mann, der mit den Frauen umzugehen weiß, und drückte ihre Wange an die seine, um sie zu beruhigen.

»Ich bin ein ziemlich verworfener Bursche, meine Liebe, aber Euer kleines Herz zu martern, das ist etwas, dessen ich nie fähig wäre. Und außerdem gibt es nach dem König keinen Menschen, dem ich so zugetan bin wie dem Grafen Peyrac. Wir wollen uns keine unnötigen Sorgen machen, Kindchen. Vielleicht ist er rechtzeitig entwischt.«

»Ja, aber ...«, riefAngélique aus.

Er machte eine beschwörende Geste.

»Ja, aber«, wiederholte sie leiser, »warum sollte der König gesonnen sein, ihn zu verhaften? Seine Majestät hat noch gestern abend sehr huldvoll mit ihm gesprochen, und ich selbst habe Worte belauscht, mit denen er der Sympathie Ausdruck gab, die Joffrey ihm eingeflößt hat.«

»Ach, Sympathie! Staatsraison ... Einflüsse ...! Es steht uns armen Höflingen nicht zu, die Beweggründe des Königs zu werten. Denkt daran, daß er Schüler Mazarins war und daß der Kardinal folgendes über ihn sagte: >Er wird sich spät auf den Weg machen, aber er wird es weiter bringen als die andern.<«

»Glaubt Ihr nicht, daß eine Intrige des Erzbischofs von Toulouse dahintersteckt?«

»Ich weiß nichts ... ich weiß gar nichts«, wiederholte Péguillin.

Er begleitete sie bis zu ihrem Haus und versprach, weiter nachzuforschen und sie am Morgen aufzusuchen.

Als Angélique eintrat, hoffte sie verzweifelt, ihr Mann werde dasein und sie erwarten, aber sie fand nur Margot vor, die den schlafenden Florimond hütete, und die alte Tante, die man über dem Festtrubel völlig vergessen hatte. Die übrigen Dienstboten waren zum Tanz in die Stadt gegangen.

Angélique warf sich in ihren Kleidern aufs Bett, nachdem sie lediglich Schuhe und Strümpfe abgelegt hatte. Ihre Füße waren geschwollen von dem irrsinnigen Gang, den sie mit dem Herzog von Lauzun durch die Stadt gemacht hatte. Ihr Hirn lief leer.

»Ich will morgen nachdenken«, sagte sie zu sich.

Und sie fiel in tiefen Schlaf.

Sie wurde durch einen Ruf geweckt, der von der Straße heraufdrang.

»Médême! Médême ...!«

Der Mond wanderte über die flachen Dächer der kleinen Stadt. Vom Hafen und vom Hauptplatz tönten noch Lärm und Gesang herüber, aber in der nächsten Umgebung war alles still. Fast alle Menschen schliefen, zutiefst erschöpft.

Angélique hastete auf den Balkon und erkannte den schwarzen Kouassi-Ba, der drunten im Mondlicht stand.

»Médême! Médême ...!«

»Warte, ich mach’ dir auf.«

Ohne sich die Zeit zu nehmen, ihre Schuhe anzuziehen, lief sie hinunter, zündete im Flur eine Kerze an und schloß die Haustür auf.

Der Schwarze glitt mit einem geschmeidigen Raubtiersprung ins Innere. Seine Augen funkelten seltsam; sie sah, daß er bebte, als befände er sich in einem Trancezustand.

»Woher kommst du?«

»Von dort drüben«, sagte er mit einer unbestimmten Armbewegung. »Ich brauche ein Pferd. Sofort ein Pferd!«

Seine Zähne entblößten sich in einer wilden Grimasse.

»Mein Herr ist angegriffen worden«, flüsterte er, »und ich hatte meinen großen Säbel nicht bei mir. Oh, warum hatte ich ausgerechnet heute meinen großen Säbel nicht bei mir?«

»Angegriffen, Kouassi-Ba? Von wem?«

»Ich weiß nicht, Herrin. Wie soll ich es wissen, ich, ein armer Sklave? Ein Page brachte ihm ein Briefchen. Der Herr ist hingegangen. Ich bin ihm gefolgt. Es waren keine Leute im Hofjenes Hauses; nur eine Kutsche mit dunklen Vorhängen. Männer kamen heraus und umzingelten ihn. Der Herr zog seinen Degen. Weitere Männer kamen dazu und zerrten ihn in die Kutsche. Ich habe geschrien und mich an die Kutsche geklammert. Zwei Diener waren hinten aufgestiegen. Sie schlugen auf mich ein, bis ich zu Boden stürzte. Aber ich habe einen von ihnen mitgerissen und erdrosselt.«

»Du hast ihn erdrosselt?«

»Mit meinen Händen. So«, sagte der Schwarze, wobei er seine rosigen Handflächen wie eine Zange öffnete und schloß. »Die Sonne brannte zu sehr, und meine Zunge ist dicker als mein Kopf, so durstig bin ich.«

»Trink erst etwas, nachher wirst du reden.«

Sie folgte ihm in den Stall, wo er einen Eimer ergriff und lange trank.

»Jetzt«, sagte er, indem er sich die wulstigen Lippen wischte, »werde ich ein Pferd nehmen und ihnen nachsetzen. Ich werde sie alle mit meinem großen Säbel umbringen.«

Er schob das Stroh beiseite und holte seine wenigen Habseligkeiten hervor. Während er sein zerrissenes und beschmutztes Seidengewand auszog, um es mit einer einfacheren Dienerlivree zu vertauschen, machte Angélique das Pferd des Negers los. Die Strohhalme stachen in ihre nackten Füße, aber sie achtete nicht darauf. Es war ihr, als sei sie in einem quälenden Traum befangen, in dem alles zu langsam ging, viel zu langsam ... Sie lief ihrem Gatten entgegen, sie breitete die Arme nach ihm aus, aber nie mehr würde sie ihn umfangen können, nie mehr ...

Sie beobachtete, wie der schwarze Reiter davonstob. Die Hufe des Pferdes schlugen Funken auf den Pflastersteinen der Straße. Das Geräusch des Galopps verklang, während ein anderes Geräusch dem klaren Morgen entsproß: das der Glocken, die einen Dankgottesdienst einläuteten.

Die königliche Hochzeitsnacht ging zu Ende. Die Infantin Maria-Theresia war Königin von Frankreich.

Durch das blühende Land reiste der Hof nach Paris zurück.

Es war eine lange Karawane, die da mit ihren sechsspännigen Kutschen, ihren Gepäckwagen, ihren Lasttieren, ihren berittenen Lakaien und Leibwachen zwischen dem jungen Korn ihres Weges zog. An den Stadttoren warteten Abordnungen der Bürgerschaft und traten demütig an die Karosse des Königs heran, um ihm auf silberner Schale oder auf einem Samtkissen die Schlüssel darzureichen.

Sie zogen Bordeaux, Saintes und Poitiers vorüber, das die in diesem Trubel wie verlorene Angélique kaum erkannte.

Auch sie reiste mit dem Hof nach Paris.

»Da man Euch nichts sagt, tut so, als ob nichts wäre«, hatte Péguillin geraten. »Euer Gatte wollte nach Paris gehen, so geht auch Ihr dorthin. Alles wird sich dort klären. Vielleicht handelt es sich nur um ein Mißverständnis.«

»Aber was wißt Ihr, Péguillin?«

»Nichts, nichts ... ich weiß nichts.«

Er entfernte sich mit sorgenvoller Miene, um vor dem König den Hanswurst zu spielen.

Schließlich schickte Angélique, nachdem sie Andijos und Cerbaland gebeten hatte, sie zu begleiten, einen Teil ihres Trosses nach Toulouse zurück. Sie behielt nur eine Kutsche und einen Gepäckwagen, außerdem Margot, eine kleine Kindsmagd bei Florimond, drei Lakaien und die beiden Kutscher. Im letzten Augenblick baten der Perückenmacher Binet und der kleine Violinist Giovanni inständig, mitgenommen zu werden.

»Wenn der Herr Graf uns in Paris erwartet und ich nicht komme, wird er sehr ungehalten sein, das versichere ich Euch«, sagte François Binet.

»Paris kennenlernen, oh, Paris kennenlernen!« wiederholte der junge Musikus. »Wenn es mir gelingt, dort dem Hofkomponisten des Königs, Baptiste Lully, zu begegnen, von dem man so viel redet, dann wird er mich gewiß beraten, und ich werde ein großer Künstler.«

»Also gut, steig ein, großer Künstler!« gab Angélique am Ende nach.

Sie bewahrte ihr Lächeln und beherrschte sich, indem sie sich an die Worte Péguillins klammerte: »Vielleicht ist es nur ein Mißverständnis.« Abgesehen von der Tatsache, daß Graf Peyrac spurlos verschwunden war, schien sich tatsächlich nichts geändert zu haben; nichts verlautete, daß er in Ungnade gefallen war.

Die Grande Mademoiselle ließ keine Gelegenheit zu einem freundschaftlichen Gespräch mit der jungen Frau ungenutzt. Sie, die ein völlig naiver Mensch ohne jede Verstellung war, hätte nicht zu heucheln vermocht.

Hie und da erkundigte sich jemand auf ungezwungene Weise nach Monsieur de Peyrac. Angélique erklärte schließlich, er sei nach Paris vorausgefahren, um ihre Ankunft vorzubereiten. Bevor sie jedoch Saint-Jean-de-Luz verließ, bemühte sie sich vergeblich, Monseigneur de Fontenac zu begegnen. Er war nach Toulouse zurückgekehrt.

In manchen Augenblicken glaubte sie, geträumt zu haben, und schalt sich eine Närrin. Vielleicht war Joffrey ganz einfach in Toulouse .?

Aber in der Gegend von Dax, als man die sandige und heiße Provinz des Landes durchquerte, brachte sie ein schauerlicher Zwischenfall in die tragische Wirklichkeit zurück. Die Bewohner eines Dorfs meldeten sich und fragten, ob ein paar Leute der Leibwache ihnen bei einer Treibjagd helfen könnten, die sie auf ein schwarzes blutrünstiges Ungeheuer veranstalten wollten.

Andijos galoppierte zu Angélique und flüsterte ihr zu, es handele sich zweifellos um Kouassi-Ba.

Sie verlangte die Leute zu sehen. Diese bestärkten die junge Frau in ihren Befürchtungen. Ja, vor zwei Tagen hätten sie Schreie und Schüsse auf der Straße gehört. Als sie an Ort und Stelle angelangt seien, hätten sie gesehen, wie ein Reiter mit schwarzem Gesicht, der einen gekrümmten Säbel schwang, wie die Türken sie tragen, eine Kutsche attackierte. Glücklicherweise hätten die Leute von der Kutsche eine Pistole besessen. Der schwarze Mann müsse verwundet worden sein und sei davongelaufen.

»Wer waren die Leute dieser Kutsche?« fragte Angélique.

»Wir wissen es nicht«, erwiderte sie. »Die Vorhänge waren zugezogen. Wir sahen nur zwei Männer, die die Eskorte bildeten. Sie gaben uns ein Geldstück, damit wir den begraben sollten, dem das Ungeheuer den Kopf abgehauen hatte.«

»Den Kopf abgehauen?« wiederholte Andijos entsetzt.

»Jawohl, Herr, und mit einem solchen Schwung, daß wir ihn im Graben suchen mußten, in den er gerollt war.«

In der folgenden Nacht, in der die Insassen der meisten Equipagen sich gezwungen sahen, in den Dörfern der Umgebung von Bordeaux zu kampieren, hörte Angélique im Schlaf abermals den düsteren Ruf:

»Médême! Médême!«

Sie wurde unruhig und wachte endlich auf. Ihr Bett war im einzigen Raum eines Bauernhauses aufgestellt worden, dessen Bewohner im Stall schliefen. Florimonds Wiege stand vor dem Herd. Margot und die kleine Magd hatten sich auf einem Strohsack ausgestreckt.

Angélique sah, daß Margot aufgestanden war und sich nun eilig einen Rock überstreifte.

»Wohin gehst du?«

»Es ist Kouassi-Ba, ich bin dessen ganz sicher«, flüsterte die Zofe. Und schon war Angélique aus dem Bett gesprungen.

Vorsichtig öffneten die beiden Frauen die wacklige Tür. Glücklicherweise war die Nacht sehr finster.

»Kouassi-Ba, komm!« flüsterten sie.

Ein mächtiger, schwankender Körper stolperte über die Schwelle. Sie hießen ihn, sich auf eine Bank setzen. Seine Kleider waren blutbespritzt. Seit drei Tagen irrte er verwundet durch die Gegend.

Margot wühlte in den Truhen und ließ ihn einen Schluck Branntwein trinken. Darauf begann er zu reden.

»Einen einzigen Kopf, Herrin, ich habe nur einen einzigen Kopf abhauen können.«

»Das genügt vollkommen, ich versichere es dir«, sagte Angélique lächelnd.

»Ich habe meinen langen Säbel und mein Pferd verloren.«

»Du bekommst neue. Reg dich nicht auf . Du hast uns wiedergefunden, das ist die Hauptsache. Wenn der Herr dich sieht, wird er sagen: >Gut so, Kouassi-Ba.<«

»Werden wir den Herrn wiedersehen?«

»Wir werden ihn wiedersehen, verlaß dich drauf.«

Im Reden hatte sie ein Leintuch zerrissen, um Scharpie daraus zu machen. Sie fürchtete, die Pistolenkugel könne unter dem Schlüsselbein stek-kengeblieben sein; aber sie entdeckte eine zweite Wunde unter der Achsel, die bewies, daß das Geschoß wieder ausgetreten war. Umsichtig goß sie Branntwein auf beide Stellen und legte einen festen Verband an.

»Was sollen wir mit ihm machen, Madame?« fragte Margot ängstlich.

»Ihn behalten, natürlich! Er wird wieder seinen Platz auf dem Gepäckwagen einnehmen.«

»Aber was wird man sagen?«

»Wer >man

Um sich selbst Mut einzuflößen, wiederholte sie nachdrücklich: »Du weißt ja, Margot, all das ist ein Mißverständnis.«

Am Abend des fünften Tages machte der Hof auf Schloß Vaux-le-Vicomte Station, bei Monsieur Nicolas Fouquet, dem Oberintendanten der Finanzen.

Angélique wäre eigentlich lieber weitergefahren, aber ihre Neugier war doch zu groß. Hier bot sich die seltene Gelegenheit, dem berühmten Fouquet zu begegnen, dessen Namen sie das erstemal unter so eigenartigen Umständen gehört hatte. Vielleicht würde ihr auch Clément Tonnel auf den Gängen des Schlosses über den Weg laufen?

Sie schickte Andijos voraus, um für die nächste Etappe in Rambouillet Vorbereitungen zu treffen, und behielt nur Cerbaland bei sich, der dank seiner sanften Augen und Seele noch immer der junge Cerbaland genannt wurde. Er tat sein möglichstes, um eine passende Unterkunft für sie auf zutreiben, aber jedermann hatte bei Fouquet wohnen wollen. Angélique fand nur ein ziemlich unbequemes Quartier über den Ställen, an dem sie jedoch keinen Anstoß nahm. Sie hatte ja nicht die Absicht, sich in den Vordergrund zu drängen oder sich vorstellen zu lassen.

In der Menge der Hofdamen und Edelleute verborgen, bewunderte sie das weiße Gebäude mit der harmonischen Fassade, durchquerte das viereckige, mit einer dorischen Säulenreihe und antiken Statuen ausgestattete Vestibül und betrat den großen, ovalen Salon, der unter der Hauptkuppel lag. Sechs Hermen stützten sie, die auf ihren Häuptern Körbe mit Blumen und Obst trugen. Die Fresken der Kuppel waren noch unvollendet. Ein Maler, dem viel Gutes nachgesagt wurde, der Sieur Charles Le Brun, befaßte sich, unterstützt von zehn Handwerkern, mit ihrer Ausführung.

Der Hof reckte die Nasen hoch und konnte erkennen, daß der Künstler im Begriff war, eine Art himmlischen Sonnentempel darzustellen. Inmitten eines leuchtenden Himmels war das Gestirn in Form eines Eichhörnchens, des Fouquetschen Emblems, abgebildet. Die Götter und Göttinnen des Olymp, die Jahreszeiten, die Monate, die Wochen, die Tage, die Stunden huldigten ihm und reichten die Gaben der Erde und des Himmels dar.

Die Leute gerieten in Ekstase, und selbst der König verbarg seine Bewunderung nicht, aber manche schauten einander schweigend an. Wußte denn Fouquet nicht, daß der junge König bereits die Sonne zum Emblem genommen hatte? War es nicht eine Vermessenheit sondergleichen, das mutwillige Eichhörnchen mit ihr in Verbindung zu bringen, auf dessen allegorische Darstellung man hier überall stieß, begleitet von dem anmaßenden Wahlspruch des Hausherrn:

>Quo non ascendat?<

Danach besichtigte der König den vom Gartenkünstler Le Nôtre entworfenen Park, und während auch Angélique die großartige Perspektive der parallel angelegten Gehölze bewunderte, die Gartenbeete, auf denen die Blumen schillernde Stickereimuster bildeten, mußte sie mit einem Male an ihre Mutter denken. Welche Freude hätte Madame de Sancé an der harmonischen Anordnung der Gebüsche, Gewässer und Pflanzen gehabt!

In einer Kalesche sah Angélique Nicolas Fouquet und den König vorüberfahren. Sie betrachtete ihn neugierig. Wer hätte wohl für möglich gehalten, daß hinter diesem ausgemergelten Gesicht mit den großen melancholischen Augen, in denen sich Schüchternheit mit Tücke mischte, so viel Ehrgeiz loderte?

»Er sieht wirklich nicht furchterregend aus, dieser Fouquet«, dachte sie.

Aufs neue rollte die Kutsche durch den Wald. Angélique war eingenickt, denn die Hitze war drük-kend. Florimond schlief auf Margots Knien. Plötzlich ließ das Geräusch einer trockenen Detonation alle in die Höhe fahren. Es gab einen Stoß. Angélique hatte die Vision einer sich jäh öffnenden tiefen Schlucht. In einer Staubwolke kippte die Kutsche mit fürchterlichem Krachen um. Florimond heulte, halb erdrückt von der Dienerin. Man vernahm das trompetenartige Wiehern der Pferde, die Schreie des Postillions, das Knallen der Peitsche.

Das gleiche kurze, trockene Geräusch erscholl abermals, und in der Scheibe der Kutsche entdeckte Angélique einen merkwürdigen Stern, ähnlich den Eisblumen im Winter, mit einem kleinen Loch in der Mitte. Sie versuchte, sich im Innern des umgestürzten Wagens aufzurichten und Florimond in die Arme zu nehmen, als der Schlag aufgerissen wurde und das Gesicht Péguillin de Lauzuns sich über die Öffnung beugte.

»Nichts Schlimmes passiert, hoffentlich?«

»Alles schreit. Also nehme ich an, daß alles lebt«, erwiderte Angélique.

Sie reichte dem Herzog das Kind und ließ sich sodann von Louvigny beim Herausklettern helfen. Auf der Straße nahm sie Florimond sofort wieder an sich und bemühte sich, ihn zu beruhigen. Das Geschrei des Kleinen übertönte allen Lärm, und es war unmöglich, dabei Worte zu wechseln.

»Was ist denn nun eigentlich geschehen?« fragte sie, sobald Florimond sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

Der Kutscher sah verstört aus. Er war nicht sehr zuverlässig, ziemlich großtuerisch und geschwätzig, und er hatte vor allem eine ausgesprochene Schwäche für den Alkohol.

»Du hattest getrunken und bist eingeschlafen?«

»Nein, Madame, auf Ehre. Es war mir heiß, das gebe ich zu, aber ich hatte meine Tiere fest am Zügel. Plötzlich sind zwei Männer aus dem Schatten der Bäume aufgetaucht. Der eine hatte eine Pistole. Er schoß in die Luft, und die Pferde scheuten. Sie gingen hoch und wichen zurück. In diesem Augenblick stürzte die Kutsche um. Einer der Männer hatte die Pferde beim Gebiß gepackt. Ich schlug mit meiner Peitsche auf ihn ein. Der andere lud die Pistole von neuem, kam heran und schoß in den Wagen. Dann ist der Gepäckwagen erschienen, und dann diese berittenen Herren ... Die beiden Kerle haben sich aus dem Staub gemacht.«

»Das ist eine merkwürdige Geschichte«, sagte Lau-zun. »Der Wald ist wegen des königlichen Zuges von allen fragwürdigen Elementen gesäubert worden. Wie sahen die Burschen denn aus?«

»Ich weiß nicht, Herr Herzog. Es waren bestimmt keine Wegelagerer. Sie waren gut angezogen und wohl rasiert. Ich kann nur sagen, daß sie wie Hausbediente wirkten.«

»Zwei hinausgeworfene Diener, die einen üblen Streich ausgeheckt haben«, vermutete de Guiche.

Eine schwere Kutsche fuhr langsam an der Kolonne vorbei und hielt dann an.

Mademoiselle de Montpensier streckte den Kopf aus dem Fenster.

»Sind das schon wieder die Gaskogner, die einen solchen Spektakel machen? Wollt Ihr die Vögel der Ile-de-France mit Euren Trompetenstimmen erschrecken?«

Lauzun näherte sich ihr grüßend. Er schilderte den Unfall, den Madame de Peyrac erlitten hatte, und erklärte, es werde noch ein Weilchen dauern, bis man ihre Kutsche aufgerichtet und wieder in Ordnung gebracht habe.

»Aber so soll sie doch bei uns einsteigen!« rief die Grande Mademoiselle. »Mein kleiner Péguillin, holt sie schleunigst. Kommt, meine Liebe, wir haben noch eine ganze Bank frei. Da werdet Ihr es mit Eurem Kindchen sehr bequem haben. Das arme Engelchen! Das arme Schätzchen!«

Sie war selbst Angélique beim Einsteigen und Platznehmen behilflich.

»Ihr seid verletzt, meine arme Freundin. Sobald wir wieder haltmachen, werde ich Euch meinen Arzt schicken.«

Mit Entsetzen stellte die junge Frau fest, daß die Person, die im Fond neben Mademoiselle saß, niemand anders als die Königin-Mutter war.

»Eure Majestät mögen mir verzeihen«, murmelte sie.

»Ihr braucht nicht um Verzeihung zu bitten, Madame«, erwiderte Anna von Österreich huldvoll. »Mademoiselle hatte hundertmal recht, Euch aufzufordern, unsern Wagen zu teilen. Die Bank ist bequem, und Ihr werdet Euch hier rascher von Eurer Aufregung erholen. Was mich verdrießt, ist die Sache mit den bewaffneten Männern, die Euch überfallen haben.«

»Mein Gott! Womöglich hatten es die Männer auf die Person des Königs oder der Königin abgesehen«, rief Mademoiselle mit gerungenen Händen. »Ihre Wagen werden von Wachen beschützt, und ich glaube, wir brauchen uns um sie nicht zu sorgen. Gleichwohl werde ich mit dem Polizeileutnant reden.«

Angélique spürte jetzt die Wirkung des erlittenen Schocks. Sie merkte, daß sie sehr blaß wurde, schloß die Augen und stützte den Kopf auf die gutgepolsterte Lehne der Bank. Der Mann hatte aus nächster Nähe auf die Fensterscheibe gezielt. Wie durch ein Wunder war keiner der Insassen verletzt worden. Sie drückte Florimond an sich. Durch die dünnen Kleider des Kindes spürte sie, daß es abgemagert war, und sie machte sich Vorwürfe. Es war erschöpft vom dauernden Reisen. Seitdem man es von seiner Amme und dem kleinen Negerknaben getrennt hatte, jammerte es und verweigerte die Milch, die Margot sich in den Dörfern verschaffte. Es wimmerte im Schlaf, und Tränen hingen in den langen, schwarzen Wimpern, die seine blaßgewordenen Wangen beschatteten. Es hatte einen winzigen Mund, rund und rot wie eine Kirsche.

Sanft betupfte Angélique mit ihrem Taschentuch die weiße, gewölbte Stirn, auf der der Schweiß perlte. Und plötzlich mußte sie zwischen den beiden versöhnten Gegnerinnen von einst an die Briefe denken, die der kleine, vergessene Kasten im Türmchen des Schlosses Plessis barg. Würde deren Wiederauftauchen nicht genügen, um von neuem die große Feuersbrunst ausbrechen zu lassen, deren Flammen nur darauf warteten, emporlodern zu können .?

Es schien Angélique, als habe sie das Kästchen in ihrem eigenen Innern aufbewahrt und als laste es jetzt wie Blei auf ihrem Leben. Sie ließ ihre Augen geschlossen. Sie fürchtete, man könne seltsame Bilder in ihnen vorbeiziehen sehen: den Fürsten Condé, der sich über das Giftfläschchen beugte oder den Brief las, den er eben unterschrieben hatte: »An Monsieur Fouquet . Ich verpflichte mich, einzig ihm ergeben zu sein, nur ihm zu dienen .«

Angélique fühlte sich einsam. Sie konnte sich niemandem anvertrauen. Die angenehmen Hofbekanntschaften erwiesen sich nun als wertlos. Jeder gierte nach Protektion, nach Vorteilen und würde sich beim geringsten Anzeichen von Ungnade von ihr abwenden. Bernard d’Andijos war ergeben, aber oberflächlich! Kaum vor den Toren von Paris angekommen, würde man ihn nicht mehr zu sehen bekommen, denn er würde am Arm seiner Mätresse, Mademoiselle de Mortemart, zu den Hofbällen gehen und in Gesellschaft von Gaskognern sich nächtelang in den Schenken und Spielhäusern herumtreiben.

Im Grunde war es gleichgültig. Es kam vor allem darauf an, Paris zu erreichen. Dort würde man wieder Boden unter die Füße bekommen. Angélique würde das schöne Palais beziehen, das Graf Peyrac im Stadtteil Saint-Paul besaß. Dann würde sie Nachforschungen anstellen und die nötigen Schritte tun, um herauszubekommen, was aus ihrem Gatten geworden war.

»Wir werden vor Mittag in Paris sein«, informierte sie Andijos, als sie am nächsten Morgen mit Florimond wieder in ihrer Kutsche Platz nahm, deren durch den Unfall hervorgerufene Schäden inzwischen behoben worden waren. Der Gedanke, daß Paris bald erreicht sein würde, versetzte sie in angeregte Stimmung. Der Morgen war so klar, ein richtiger frischer und würziger Ile-de-France-Morgen. Schon herrschte reges Leben auf den Straßen und ließ die Nähe der großen Stadt ahnen. Die Schlösser und Lusthäuser, beschützt von Gittertoren am Ende kurzer Alleen, wurden zahlreicher. Gemüse- und Obstgärten drängten sich um Gebäude, um einen Bauernhof oder ein kleines Wohnhaus - die letzteren wurden zunehmend häufiger und schlossen sich zu Weilern, zu Dörfern zusammen, die bald ohne Unterbrechung einander folgten.

Angélique glaubte sich bereits in Paris, als man noch die Vororte durchquerte. Und als sie endlich die Porte Saint-Honoré hinter sich gelassen hatte, war sie enttäuscht über die engen und schmutzigen Straßen. Die Rufe der Händler und vor allem der Kutscher, der Lakaien, die den Equipagen und Sänftenträgern vorauszogen, hoben sich vom dumpfen Grollen des allgemeinen Lärms ab, das ihr wie das erste Donnerrollen eines noch fernen Gewitters vorkam. Die Luft war glühend und mit Gestank erfüllt.

Angéliques Kutsche, von Bernard d’Andijos zu Pferde eskortiert und dem Gepäckwagen mit den Lakaien gefolgt, brauchte über eine Stunde bis Saint-Paul. Schließlich bog man in die Rue de la Tournelle ein.

Die Müßiggänger gafften die vorbeifahrende Equipage an und spähten nach dem Wappen, das auf den Wagenschlag gemalt war. Einige wichen wie von Entsetzen gepackt zurück. Kinder rannten davon, liefen schreiend in die Kaufläden, kamen wieder heraus und deuteten aufWagen und Reiter.

Angélique, aufs höchste gespannt, bemühte sich, zwischen den neuen Häusern das ihrige zu entdek-ken, und achtete nicht auf das, was da vorging. Doch als die Kutsche durch einen Heuwagen aufgehalten wurde und vor dem Laden eines Kurzwarenkrämers stehenblieb, hörte sie den Mann von der Schwelle aus rufen: »Der Teufel hat es mit diesem Wappen!«

Dann verschwand er hastig in seinem Laden und verschloß geräuschvoll die Tür.

»Die Leute dieser Straße scheinen uns für Zigeuner zu halten«, bemerkte die Zofe Margot mit zusammengekniffenen Lippen. »Ich bedaure, daß der Herr Graf sein Palais nicht im neuen Stadtteil Luxembourg hat errichten lassen, wo ich früher bei einer inzwischen verstorbenen Tante des Grafen in Stellung war.«

»Hält sich Kouassi-Ba noch unter seiner Plane versteckt? Vielleicht ist es sein Barbarenkopf, der die Leute erschreckt?«

»Das beweist, daß sie selber Barbaren sind, wenn sie noch nie einen Mohren gesehen haben.«

Die Equipage hatte vor einem großen Tor aus hellem Holz mit Türklopfer und Schlössern aus Schmiedeeisen gehalten. Hinter der weißen Steinmauer des Vorhofs erhob sich das Palais, das in modernem Stil aus großen, behauenen Quadern errichtet war, mit hohen, blinkenden Fenstern und einem Dach aus neuen, in der Sonne matt schimmernden Schieferplatten. Ein Lakai öffnete den Wagenschlag.

»Hier ist es, Madame«, sagte der Marquis d’Andijos. Er blieb zu Pferde und starrte wie versteinert auf das Tor.

Angélique stieg aus und lief auf das Häuschen zu, das vermutlich dem Pförtner als Wohnung diente. Zornig zog sie an der Glocke. Es war unerhört, daß noch niemand es für nötig befunden hatte, das Haupttor zu öffnen. Die Glocke schien in der Öde zu verhallen. Die Fenster der Pförtnerwohnung waren schmutzig. Alles wirkte wie ausgestorben.

Nun erst fiel Angélique das merkwürdige Aussehen des Portals auf, das Andijos noch immer wie vom Blitz getroffen anstarrte.

Sie trat näher. Ein Geflecht roter Schnüre hing querüber an dicken Siegeln aus verschiedenfarbigem Wachs. Ein gleichfalls an Siegeln befestigtes Blatt Papier bildete einen weißen Fleck.

Sie las:


Königliches Kammergericht

Paris 1. Juli 1660


Mit offenem Mund starrte sie auf die Schrift, ohne zu begreifen. In diesem Augenblick öffnete sich das Türchen des Pförtnerhauses um eine Spaltbreite, und das ängstliche Gesicht eines Dieners in abgenutzter Livree wurde sichtbar. Beim Anblick der Kutsche zog er sich hastig wieder zurück, dann öffnete er, sich eines Bessern besinnend, von neuem und kam zögernd heraus.

»Seid Ihr der Pförtner hier?« fragte die junge Frau.

»Ja ... ja, Madame, das bin ich. Baptiste ... und ich erkenne wohl die ... die Kutsche von ... von ... meinem ... meinem Herrn.«

»Hör auf zu stottern, Tölpel«, schrie sie und stampfte mit dem Fuße auf. »Und sag mir rasch, wo Monsieur de Peyrac ist?«

Der Bediente spähte ängstlich um sich. Da niemand von den Nachbarn sich zeigte, schien er sicherer zu werden. Er trat einen Schritt näher, hob die Augen zu Angélique auf und fiel plötzlich vor ihr in die Knie, nicht ohne sich auch noch weiterhin besorgt umzublicken.

»O meine arme junge Herrin!« rief er aus. »Mein armer Herr ... o welch furchtbares Unglück!«

»Aber so sprich doch! Was ist denn?«

Sie schüttelte ihn in wilder Angst an der Schulter.

»Steh auf, Dummkopf! Ich verstehe nichts von all-dem, was du sagst. Wo ist mein Gatte? Ist er tot?«

Der Mann richtete sich mühsam auf und murmelte:

»Es heißt, er sei in der Bastille. Das Palais ist versiegelt. Ich hafte mit meinem Leben. Und Ihr, Madame, seht zu, daß Ihr so rasch wie möglich von hier wegkommt, solange es noch Zeit ist.«

Nach der furchtbaren Angst, die sie befallen hatte, wirkte das Wort Bastille fast beruhigend auf Angélique. Aus einem Gefängnis konnte man entlassen werden. Sie wußte, daß in Paris das gefürchtetste Gefängnis das des Erzbischöflichen Palastes war - es lag unter dem Niveau der Seine, und im Winter konnte man da leicht ertrinken - und daß in den beiden nächsten, im Châtelet und im Hôpital Général, nur Bürgerliche verwahrt wurden. Die Bastille war das Gefängnis für Aristokraten. Trotz gewisser finsterer Legenden, die über die Zellen ihrer sechs dicken Türme umliefen, war es allgemein bekannt, daß ein Aufenthalt zwischen ihren Mauern niemand entehrte.

Angélique stieß einen Seufzer aus und bemühte sich, der Situation ins Auge zu sehen.

»Ich glaube, es ist besser, ich bleibe nicht hier«, sagte sie zu Andijos.

»Ja, ja, Madame, geht so rasch wie möglich«, sagte der Diener beschwörend.

»Zuerst muß ich wissen, wohin. Aber ich habe ja eine Schwester hier in Paris. Ich kenne ihre Adresse nicht, ich weiß nur, daß ihr Gatte Staatsanwalt ist, ein gewisser Maître Fallot. Ich glaube sogar, daß er sich seit seiner Vermählung Fallot de Sancé nennt.«

»Wenn wir zum Justizpalast fahren, wird man uns sicher Auskunft geben können.«

Die Kutsche und ihr Gefolge bewegten sich wieder durch Paris. Angélique sah nicht aus dem Fenster. Diese Stadt, die sie so feindselig empfing, übte keinen Reiz mehr auf sie aus. Florimond weinte. Er zahnte, und vergeblich rieb ihm Margot die Kiefer mit einer Tinktur aus Honig und zerstoßenem Fenchel ein.

Schließlich bekam man die Adresse des Staatsanwalts, der wie viele Beamte nicht weit vom Justizpalast auf der Ile de la Cité wohnte. Die Straße hieß Rue de l’Enfer[4], was Angélique als ein düsteres Vorzeichen erschien. Die Häuser waren dort noch grau und mittelalterlich, mit spitzen Giebeln, spärlichen Fensteröffnungen, Skulpturen und Wasserspeiern.

Das, vor dem die Kutsche schließlich hielt, wirkte kaum minder düster als die anderen, obwohl es drei ziemlich hohe Fenster in jedem Stockwerk aufwies.

Im Erdgeschoß befand sich die Kanzlei, an deren Tür ein Schild befestigt war mit der Aufschrift:

»Maître Fallot de Sancé. Staatsanwalt.«

Zwei Gehilfen, die sich auf der Schwelle rekelten, stürzten auf Angélique zu, kaum daß sie den Fuß auf die Erde gesetzt hatte, und überschütteten sie mit einem Schwall von Worten in einem unverständlichen Kauderwelsch. Schließlich erfaßte sie, daß die Burschen ihr die Kanzlei Maître de Sancés als den einzigen Ort in Paris priesen, wo auf das Gewinnen ihres Prozesses erpichte Leute gut beraten würden.

»Ich komme nicht wegen eines Prozesses«, sagte Angélique. »Ich möchte Madame Fallot besuchen.«

Enttäuscht deuteten sie auf eine Tür zur Linken, die zur Privatwohnung des Anwalts führte.

Angélique betätigte den Türklopfer. Ohne das Verschwinden ihres Gatten hätte sie Hortense gewiß nicht aufgesucht. Sie hatte zu dieser Schwester, deren Wesen von dem ihrigen so verschieden war, nie ein herzliches Verhältnis gehabt. Nun wurde sie sich bewußt, daß sie im Grunde eine gewisse Freude empfand, sie wiederzusehen. Die Erinnerung an die kleine Madelon wob ein unsichtbares Band zwischen ihnen. Sie gedachte der Nächte, in denen sie, alle drei in ihrem großen Bett eng aneinandergedrängt, die Ohren gespitzt hatten, um etwa die flüchtigen Schritte des Gespensts von Monteloup zu erlauschen, jener alten, weißen Dame, die mit tastender Hand von Raum zu Raum wanderte. Sie waren sogar fest überzeugt gewesen, in einer bestimmten Winternacht gesehen zu haben, wie sie durch ihr Schlafzimmer schritt ...

So wartete sie in einer gewissen Spannung, daß man ihr öffnen kam.

Eine säuberlich gekleidete, dicke Magd in weißem Häubchen führte sie ins Vestibül, und fast zu gleicher Zeit schon erschien Hortense auf der Höhe der Treppe. Sie hatte die Kutsche vom Fenster aus gesehen.

Angélique hatte den Eindruck, daß ihre Schwester im Begriff gewesen war, ihr um den Hals zu fallen; doch alsbald besann sie sich eines anderen und nahm ein zurückhaltendes Wesen an. Im übrigen war es im Vorraum so dunkel, daß man einander kaum sehen konnte. Sie umarmten sich kühl.

Hortense wirkte noch dürrer und größer als früher.

»Meine arme Schwester!« sagte sie.

»Warum nennst du mich >meine arme Schwester

Madame Fallot machte eine auf die Magd bezügliche Geste und zog Angélique in ihr Schlafzimmer. Es war ein großer Raum, der zugleich als Salon diente, denn um das Bett mit seinen schönen Vorhängen und der gelben Damastdecke waren zahlreiche Sessel und Schemel sowie Stühle und Bänke gruppiert. Angélique fragte sich, ob ihre Schwester wohl die Angewohnheit hatte, ihre Freunde auf dem Bett liegend zu empfangen, wie es die Preziösen taten. Freilich hatte Hortense früher als geistreich gegolten und sich einer gewählten Sprache befleißigt.

Auch hier war es infolge der farbigen Fenster dunkel, aber bei der herrschenden Hitze war das nicht unangenehm. Die Fliesen wurden durch hier und dort ausgestreute grüne Grasbüschel kühl gehalten. Angélique sog ihren guten, ländlichen Geruch ein.

»Es ist gemütlich bei dir«, sagte sie zu Hortense.

Ihre Schwester verzog keine Miene.

»Versuche nicht, mich durch dein harmloses Gehabe hinters Licht zu führen. Ich weiß über alles Bescheid.«

»Dann hast du Glück, denn ich muß gestehen, daß ich selber nicht im geringsten weiß, was eigentlich vorgeht.«

»Welche Unvorsichtigkeit, dich hier mitten in Paris zu zeigen!« sagte Hortense, indem sie die Augen zum Himmel aufschlug.

»Hör mal, Hortense, fang nicht wieder an, deine Augen zu verdrehen. Ich weiß nicht, ob dein Mann wie ich ist, aber ich entsinne mich, daß ich diese Grimasse nie mit ansehen konnte, ohne dir eine Ohrfeige zu verabfolgen. Jetzt werde ich dir sagen, was ich weiß, und danach wirst du mir sagen, was du weißt.«

Sie erzählte ihr, wie Graf Peyrac plötzlich verschwunden war, während sie sich wegen der Hochzeit des Königs in Saint-Jean-de-Luz befanden. Da die Mutmaßungen gewisser Freunde sie zu der Ansicht gebracht hätten, er sei entführt und nach Paris gebrächt worden, sei sie ebenfalls in die Hauptstadt gereist. Hier habe sie ihr Palais versiegelt vorgefunden und erfahren, ihr Gatte sei höchstwahrscheinlich in der Bastille.

Hortense sagte streng: »Da konntest du ja wohl ermessen, wie kompromittierend dein Erscheinen am hellichten Tage für einen hohen Beamten des Königs sein mußte. Und dennoch bist du hierhergekommen!«

»Ja, das war freilich gewagt«, erwiderte Angélique, »aber mein erster Gedanke war, daß die Leute meiner Familie mir helfen könnten.«

»Das erstemal, daß du dich deiner Familie erinnerst, wie mir scheint. Ich bin sicher, du wärest niemals zu mir gekommen, wenn du in deinem schönen, neuen Haus in Saint-Paul wie ein Pfau hättest herumstolzieren können. Warum hast du nicht die prächtigen Freunde deines so reichen und schönen Herrn Gemahls um Gastfreundschaft gebeten, all jene Fürsten, Herzöge und Grafen, statt uns durch deine Gegenwart in Unannehmlichkeiten zu bringen?«

Angélique war nahe daran, aufzustehen und türknallend das Haus zu verlassen, aber sie glaubte, von der Straße her das Weinen Florimonds zu hören, und beherrschte sich.

»Hortense, ich mache mir keine Illusionen. Als liebevolle und ergebene Schwester setzt du mich vor die Tür. Aber ich habe ein vierzehn Monate altes Kind bei mir, das gebadet, genährt und frisch gekleidet werden muß. Es ist spät. Wenn ich mich jetzt noch auf die Suche nach einer Unterkunft mache, kann es mir passieren, daß ich an einer Straßenecke nächtigen muß. Nimm mich für diese eine Nacht auf.«

»Das ist für die Sicherheit meines Heims eine Nacht zuviel.«

»Man könnte meinen, ich stände im Ruf, ein lasterhaftes Leben zu führen!«

Madame Fallot kniff die Lippen zusammen, und ihre braunen, lebhaften, wenn auch ziemlich kleinen Augen funkelten.

»Dein Ruf ist nicht fleckenlos. Was den deines Gatten betrifft - der ist grauenvoll.«

Angélique konnte sich angesichts dieser pathetischen Redeweise eines Lächelns nicht erwehren.

»Ich versichere dir, daß mein Gatte der beste aller Männer ist. Du würdest es sofort merken, wenn du ihn kennenlerntest .«

»Gott behüte mich davor! Ich würde vor Angst sterben. Wenn es stimmt, was man mir gesagt hat, dann begreife ich nicht, wie du mehrere Jahre in seinem Hause leben konntest. Er muß dich behext haben.«

Nach kurzer Überlegung fügte sie hinzu:

»Freilich hast du schon als Kind eine ausgesprochene Vorliebe für alle möglichen Laster gehabt.«

»Du bist ja wirklich von seltener Liebenswürdigkeit, meine Teure! Freilich hattest du deinerseits schon als Kind eine ausgesprochene Vorliebe für Verleumdung und Boshaftigkeit.«

»Das wird ja immer schöner! Jetzt beschimpfst du mich auch noch unter meinem eigenen Dach.«

»Weshalb weigerst du dich, mir zu glauben? Ich sage dir, daß mein Mann nur infolge eines Mißverständnisses in der Bastille ist.«

»Wenn er in der Bastille ist, dann deshalb, weil es eine Gerechtigkeit gibt.«

»Wenn es eine Gerechtigkeit gibt, wird er alsbald freigelassen werden.«

»Verstattet mir, mich einzumischen, meine Damen, die Ihr so trefflich über die Gerechtigkeit zu reden wißt«, ließ sich hinter ihnen eine ernste Stimme vernehmen.

Ein Mann hatte den Raum betreten. Er mußte in den Dreißigern sein, wirkte jedoch schon sehr gesetzt. Unter der braunen Perücke trug sein volles, sorgfältig rasiertes Gesicht eine zugleich ernste und aufmerksame Miene zur Schau, die etwas Priesterliches hatte. Er hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt wie jemand, der durch seinen Beruf daran gewöhnt ist, vertrauliche Mitteilungen zu empfangen.

An seinem vornehmen, aber nur durch eine schwarze Litze und Hornknöpfe belebten Gewand aus schwarzem Tuch und dem makellosen, jedoch schlichten Kragen erkannte Angélique, daß sie ihren Schwager, den Staatsanwalt, vor sich hatte. Um ihn durch Schmeichelei zu gewinnen, verneigte sie sich vor ihm, aber er trat auf sie zu und küßte sie feierlich auf die Wangen, wie es sich zwischen Familienmitgliedern geziemte.

»Gebraucht nicht die bedingte Form, Madame. Es gibt eine Gerechtigkeit. Und in ihrem Namen heiße ich Euch in meinem Hause willkommen.«

Hortense fuhr wie von der Tarantel gestochen hoch.

»Aber Gaston, Ihr seid wohl nicht bei Trost! Seit ich verheiratet bin, erklärt Ihr mir bis zum Überdruß, daß Eure Karriere vor allem andern den Vorrang hat und daß sie einzig vom König abhängt .«

»Und von der Gerechtigkeit, meine Liebe«, unterbrach ihr Gatte sanft.

»Was nicht hindert, daß Ihr seit einigen Tagen unaufhörlich die Befürchtung äußert, meine Schwester könne bei uns Zuflucht suchen. In Anbetracht dessen, was Ihr über die Verhaftung ihres Mannes wißt, würde eine solche Möglichkeit, wie Ihr sagtet, un-serm sicheren Ruin gleichkommen.«

»Schweigt, Madame, Ihr laßt mich bereuen, in gewissem Maße das Berufsgeheimnis verletzt zu haben, indem ich Euch mitteilte, was ich zufällig erfuhr.«

Angélique beschloß, all ihren Stolz preiszugeben.

»Ihr habt etwas erfahren? O Monsieur, um Gottes willen, laßt es mich wissen! Ich befinde mich seit einigen Tagen in völliger Ungewißheit.«

»Ach, Madame, ich will mich nicht hinter einer falschen Diskretion verschanzen, noch mich in tröstlichen Worten ergeben. Ich gestehe es Euch gleich, ich weiß sehr wenig. Ich habe nur dank einer vertraulichen Mitteilung - mit Entsetzen, wie ich zugeben muß - von der Verhaftung des Grafen Peyrac gehört. Und ich bitte Euch in Eurem wie auch im Interesse Eures Gatten, vorläufig keinen Gebrauch von dem zu machen, was ich Euch anvertrauen werde. Es ist im übrigen, ich wiederhole es, eine recht magere Auskunft. Nämlich: Euer Gatte ist auf Grund eines geheimen Verhaftbefehls dritter Ordnung festgenommen worden, das heißt >im Namen des Königs<. Der betreffende Offizier oder Edelmann wird darin vom König aufgefordert, sich insgeheim, jedoch frei, wenn auch in Begleitung eines königlichen Kommissars, an einen Ort zu begeben, den man ihm bezeichnet. Und was Euren Gatten betrifft, so hat man ihn zuerst nach Fort-Lévêque gebracht und von dort gemäß einer mit

Séguier gezeichneten Anweisung in die Bastille.«

»Ich danke Euch, Maître, für Eure im Grunde beruhigenden Nachrichten. Viele Leute sind in der Bastille gewesen und rehabilitiert wieder herausgekommen, nachdem die Verleumdungen für nichtig erklärt worden waren, die sie dorthin gebracht hatten.«

»Ich sehe, daß Ihr kaltes Blut bewahrt«, sagte Maître Fallot, indem er beifällig nickte, »aber ich möchte Euch nicht die Illusion vermitteln, daß sich die Dinge auf einfache Weise erledigen werden, denn ich habe außerdem erfahren, daß der vom König unterzeichnete Verhaftbefehl die Anweisung enthielt, in die Gefangenenliste weder den Namen noch das Vergehen des Beschuldigten einzutragen.«

»Sicher wünscht der König nicht, einem seiner treuen Untertanen einen Schimpf zuzufügen, bevor er selbst die Dinge untersucht hat, die man ihm vorwirft. Er möchte ihn für unschuldig erklären können, ohne viel Aufhebens zu machen.«

»Oder ihn vergessen.«

»Wieso das, ihn vergessen?« wiederholte Angélique, während sie ein jäher Schauer überkam.

»Es gibt viele Menschen, die man in den Gefängnissen vergißt«, sagte Maître Fallot, indem er die Augen halb schloß und in die Ferne blickte, »so sicher wie im Grunde eines Grabes. Gewiß ist es an sich nicht entehrend, in der Bastille eingesperrt zu sein, denn sie ist das Gefängnis für hervorragende Persönlichkeiten, in das viele Fürsten von Geblüt gelangt sind, ohne daß es ihrer Würde Abbruch getan hätte. Dennoch muß ich nachdrücklich betonen, daß der Umstand, ein anonymer Gefangener zu sein, ein Anzeichen für den außerordentlichen Ernst der Angelegenheit ist.«

Angélique blieb eine Weile stumm. Mit einem Male wurde sie sich ihrer Erschöpfung bewußt, und der Hunger plagte ihren Magen. Oder war es die Angst ...? Sie blickte zu dem Manne auf, den sie als Bundesgenossen zu gewinnen hoffte.

»Da Ihr so gütig seid, mich aufzuklären, Monsieur, sagt mir, was soll ich tun?«

»Noch einmal, Madame, es geht hier nicht um Güte, sondern um Gerechtigkeit. Es ist das Gerechtigkeitsgefühl, das mich dazu treibt, Euch unter meinem Dach aufzunehmen, und da Ihr mich um Rat fragt, werde ich Euch einen andern Anwalt zuweisen. Denn ich fürchte, man wird mich in dieser Angelegenheit als parteiisch und befangen bezeichnen, wenn auch unsere familiären Beziehungen bisher nicht eben eng waren.«

Hortense, die ihren Zorn verbissen hatte, rief mit der scharfen Stimme ihrer frühen Jugend aus:

»Das kann man allerdings sagen. Solange sie ihre Schlösser und das Geld ihres Hinkefußes hatte, hat sie sich nicht um uns gekümmert. Findet Ihr nicht, Graf Peyrac, der dem Parlament von Toulouse angehörte, hätte Euch gewisse Vorteile verschaffen können, indem er Euch hohen Pariser Beamten empfahl?«

»Joffrey hatte kaum Beziehungen zu den Leuten der Hauptstadt.«

»Natürlich! Natürlich!« erklärte die Schwester, indem sie sie nachäffte. »Nur ein paar ganz kleine Beziehungen zum Statthalter des Languedoc und des Béarn, zum Kardinal Mazarin, zur Königin-Mutter und zum König.«

»Du übertreibst .«

»Bitte: Seid Ihr zur Hochzeit des Königs eingeladen worden oder nicht .?«

Angélique gab keine Antwort und verließ den Salon. Es hatte keinen Sinn, dieses fruchtlose Gerede fortzuführen. Sie wollte lieber Florimond holen, da der Schwager ja einverstanden war. Während sie die Treppe hinunterging, ertappte sie sich bei einem Lächeln. Wie rasch sie doch zu dem altvertrauten zänkischen Ton zurückgefunden hatten, Hortense und sie .! Monteloup war also noch nicht tot. Es war immer noch besser, sich gegenseitig an den Haaren zu zerren, als einander fremd gegenüberzustehen.

Die Lakaien und die beiden Kutscher saßen im Schatten des Gepäckwagens, tranken Rotwein und aßen saure Heringe, denn es war Freitag.

Angélique betrachtete ihr staubbedecktes Kleid und den bis zu den Wimpern mit Nasenschleim und Honig verschmierten Florimond, den Binet auf dem Arm trug. Welch kläglicher Aufzug!

Doch sie schien gleichwohl auf die Frau des in bescheidenen Verhältnissen lebenden Staatsanwalts höchst luxuriös zu wirken, denn Hortense, die ihr gefolgt war, lachte höhnisch:

»Nun, meine Liebe, für eine Frau, die sich beklagt, an einer Straßenecke nächtigen zu müssen, bist du nicht grade übel dran: eine Kutsche, ein Packwagen, insgesamt sechs Pferde, vier oder fünf Lakaien und zwei Dienerinnen?«

»Ich habe ein Bett«, erklärte Angélique. »Soll ich es hinaufschaffen lassen?«

»Das ist unnötig. Wir haben genügend Schlafgelegenheiten, um dich aufzunehmen. Hingegen ist es mir unmöglich, dieses ganze Bedientenvolk unterzubringen.«

»Du hast doch sicher eine Mansarde für Margot und die Kindermagd? Was die Männer betrifft, so werde ich ihnen Geld geben, damit sie in der Herberge übernachten können.«

Mit zusammengekniffenem Mund und angewiderter Miene starrte Hortense auf diese Männer aus dem Süden, die es für unter ihrer Würde erachteten, sich durch die Frau eines Staatsanwalts stören zu lassen, und unbekümmert weiteraßen, während sie sie mit ihren glühenden Augen herausfordernd anstierten.

»Die Leute deines Gefolges sehen entschieden wie Banditen aus«, erklärte sie mit gedämpfter Stimme.

»Du tust ihnen unrecht. Alles was man ihnen vorwerfen kann, ist eine Vorliebe für das Schlafen in der Sonne.«

Sanft nahm Angélique Florimond aus François Binets Armen, der eben dem Kleinen zur Linderung seiner Schmerzen eine selbstbereitete Arznei aus Opium und zerstoßener Minze eingeflößt hatte. Nun vollführte der junge Barbier eine ehrerbietige Verbeugung vor Madame Fallot, was diese ein wenig besänftigte. Resignation heuchelnd, stieß sie einen Seufzer aus.

»Schön, ich werde die Mädchen und vielleicht auch diesen Burschen unterbringen, der mir manierlich zu sein scheint. Hingegen weiß ich nicht, was mit deinen Wagen und Pferden geschehen soll. Du siehst, woraus unsere Ställe bestehen.«

Mit sarkastischer Miene deutete sie auf einen Winkel, in dem einer jener zweirädrigen Wagen stand, die man Halbkutsche nannte.

»Das ist mein ganzer Wagenpark! Mein Hausbursche, der für die Leuchter und das Holz sorgt, zwängt mich da hinein, wenn ich mich zu weit entfernt wohnenden Freunden begeben muß. Was Bertrand betrifft, so ist sein Pferd in einem Stall in der Nachbarschaft untergebracht, wo die Beamten monatsweise einen Verschlag mieten können.«

Schließlich lud man zwei Kästen vom Gepäckwagen ab und rief einen Kanzleiangestellten, um die Kutscher und ihre Fahrzeuge zum öffentlichen Stall zu geleiten.

In dem großen Zimmer, das ihr im zweiten Stock angewiesen worden war, konnte sich Angélique endlich ein wenig entspannen und erfrischen, indem sie in einen Kübel stieg und sich mit kühlem Wasser besprengte. Sie wusch sogar ihr Haar, dann frisierte sie sich schlecht und recht vor einem über dem Kamin aufgehängten Spiegel aus Stahl. Der Raum war dunkel, die Ausstattung sehr häßlich, aber ausreichend. In einem kleinen, sauber bezogenen Bett schlief Florimond friedlich weiter.

Nachdem Angélique sich sehr zurückhaltend geschminkt hatte - sie vermutete, daß ihr Schwager es nicht schätzte, wenn Frauen allzuviel Rot auflegten -, geriet sie bei der Auswahl ihres Kleides in Verlegenheit. Selbst das einfachste mußte neben den Toiletten der armen Hortense, die höchstens ein paar Samtborten am Mieder trug, noch zu prunkvoll wirken.

Schließlich entschloß sie sich für ein kaffeebraunes Hauskleid mit ziemlich diskreten Goldstickereien und ersetzte die zarte Spitzenkrause durch einen Kragen aus schwarzer Seide. Sie war eben mit ihrer Toilette fertig, als Margot erschien. Wie alle Hugenotten, hatte das Mädchen eine erklärte Vorliebe für Wasser, und so war sie schnurstracks in eines der öffentlichen Bäder gegangen. Sie entschuldigte sich ob ihrer Verspätung und fügte verachtungsvoll hinzu, die Leute von Paris kämen ihr ausgesprochen hinterwäldlerisch vor. Die Sainte-Jeanne-Badestuben hatten sie erschauern lassen. Sie hielten keinen Vergleich mit den römischen Bädern von Toulouse aus, wo selbst das niedere Volk seine Gesundheit durch Schwitzen fördern konnte. In Sainte-Jeanne war zwar das Wasser schön heiß, die Badelaken aber waren von höchst zweifelhafter Sauberkeit, und alle Augenblicke schaute jemand durch die Kabinentür herein, die zum Räume des Baders führte, der zugleich Wundarzt war und bald einen Kunden rasierte, bald ein Karbunkel aufschnitt.

Danach hatte sie auf die Kindsmagd warten und sie abkanzeln müssen, weil sie natürlich die günstige Gelegenheit benützt hatte, sich auf den Straßen herumzutreiben.

Mit geübter Hand brachte Margot das Haar ihrer Herrin wieder in die gewohnte graziöse Form und konnte der Versuchung nicht widerstehen, es zu parfümieren.

»Gib acht, ich darf nicht zu elegant aussehen! Ich muß meinem Schwager, dem Staatsanwalt, Vertrauen einflößen.«

»Ach, da mache ich Euch nun schön, damit Ihr einen Staatsanwalt verführt, nachdem Ihr so viele vornehme Edelleute zu Euren Füßen gesehen habt!«

»Das ist viel schwieriger, als man denkt. Schau mich genau an. Wirke ich einigermaßen schlicht und zugleich anmutig?«

»Solange Ihr Augen von solcher Farbe habt, werdet Ihr nie schlicht aussehen«, erklärte die Zofe. »Selbst damals, als ich Euch in Eurem Schloß im Poitou zum erstenmal sah und Ihr noch ein unbändiges junges Mädchen wart, schautet Ihr die Männer auf eine Art an, als wolltet Ihr zu ihnen sagen: >Ich bin dein, wenn du dich ein bißchen bemühst.<«

»Ich? O Margot!« rief Angélique entrüstet aus.

Streng fügte sie hinzu: »Wie kommst du auf solche Ideen? Du hattest mehr als jede andere Gelegenheit festzustellen, was für ein sittenstrenges Leben ich führte.«

»Weil Ihr einen eifersüchtigen und wachsamen Gatten hattet - obwohl er es sich nicht anmerken ließ -, den alle Welt fürchtete«, erwiderte die Zofe schlagfertig. »Aber ich, die ich so viele vornehme Damen kennengelernt und beobachtet habe, ich sage Euch, daß Ihr bestimmt zur gefährlichsten Art gehört.«

»Ich?« wiederholte Angélique, unsicher geworden.

Sie ließ sich immer noch leicht von dieser großen Frau bestimmen, die sie um Haupteslänge überragte und deren Gebaren sie an die selbstbewußte Art ihrer Amme erinnerte.

»Jawohl, Madame. Weil Ihr bei den Männern nicht eine flüchtige Neigung erregt, sondern die große Liebe, die Liebe, auf die sie ihr ganzes Leben lang gewartet haben, und es ist ärgerlich, wenn das mehreren Männern zu gleicher Zeit passiert. Wißt Ihr, daß ein junger Mann aus Toulouse sich Euretwegen in die Garonne gestürzt hat?«

»Nein, das habe ich nicht gewußt.«

»Ich werde Euch seinen Namen nicht sagen, da Ihr nie Notiz von ihm genommen habt. Eben deshalb hat er sich ertränkt.«

Ein markerschütterndes Geheul, das aus dem Erdgeschoß heraufdrang, unterbrach sie, und sie eilten auf den Flur.

Es waren Angstschreie einer Frau, die durch das Treppenhaus schallten. Angélique lief hinunter und fand ihre Dienerschaft mit verwunderten Mienen im Vestibül versammelt. Die Schreie dauerten an, klangen aber jetzt gedämpfter und schienen aus einer hohen Truhe zu kommen, die den Vorraum zierte.

Hortense war gleichfalls herbeigeeilt, schlug die Truhe auf und zog mit einige Mühe die dicke Magd heraus, die Angélique die Tür geöffnet hatte, sowie zwei Kinder von acht und zwölf Jahren, die sich an deren Röcke klammerten.

Madame Fallot verabfolgte dem Mädchen eine Ohrfeige und fragte sie dann, was eigentlich mit ihr los sei.

»Dort! Dort!« stammelte die Unglückselige mit ausgestrecktem Finger.

Angélique wandte sich in die betreffende Richtung und bemerkte den guten Kouassi-Ba, der verschüchtert hinter den Dienstboten stand.

Hortense fuhr unwillkürlich zusammen, beherrschte sich aber und sagte trocken: »Nun ja, das ist ein Schwarzer, ein Mohr, deshalb braucht man doch nicht so zu schreien. Habt Ihr noch nie einen Mohren gesehen?«

»N... nein, nein, Madame.«

»Es gibt niemanden in Paris, der noch keinen Mohren gesehen hat. Da merkt man, daß Ihr vom Lande kommt. Ihr seid eine alberne Person.«

Sie trat zu Angélique und flüsterte ihr zu:

»Alle Achtung, meine Liebe! Du verstehst es, mein Heim auf den Kopf zu stellen. Sogar einen Wilden schleppst du mir ins Haus! Vermutlich wird mich dieses Mädchen stehenden Fußes verlassen, nachdem ich solche Mühe hatte, es zu bekommen!«

»Kouassi-Ba!« rief Angélique. »Diese kleinen Kinder und dieses Fräulein fürchten sich vor dir. Zeig Ihnen deine Kunststücke!«

»Gern, Médême.«

Mit einem Satz sprang der Neger vor. Die Magd schrie auf und lehnte sich an die Truhe, als ob sie wieder in ihr verschwinden wolle. Aber Kouassi-Ba zog, nachdem er ein paar Purzelbäume geschlagen hatte, bunte Bälle aus seinen Taschen und begann mit einer verblüffenden Geschicklichkeit zu jonglieren. Er schien durch seine kürzlich empfangene Wunde keineswegs behindert zu sein. Schließlich, als er die Kinder lächeln sah, ergriff er die Gitarre des kleinen Giovanni, hockte sich mit gekreuzten Beinen auf die Erde und begann mit seiner weichen und gedämpften Stimme zu singen.

Angélique trat zu den übrigen Dienstboten.

»Ich werde Euch etwas geben, damit ihr in der Herberge nächtigen und essen könnt«, sagte sie.

Der Kutscher der Equipage trat vor und drehte verlegen den Filzhut mit der roten Feder, der zu der stattlichen Livree der Leute des Grafen Peyrac gehörte.

»Vergebung, Madame, wir möchten Euch bitten, uns auch den restlichen Lohn zu geben. Wir sind in Paris, und das ist eine Stadt, wo man viel ausgibt.«

Nach kurzem Zögern stimmte die junge Frau dem Verlangen zu. Sie bat Margot, ihr die Kassette zu bringen, und zahlte jedem aus, was ihm zustand. Die Männer dankten und verneigten sich. Der kleine Giovanni sagte, er käme morgen wieder und stände der Frau Gräfin zu Diensten. Die andern zogen sich stumm zurück. Als sie über die Türschwelle traten, rief ihnen Margot von der Treppe aus etwas im Languedoc-Dialekt zu, aber sie antworteten nicht.

»Was hast du ihnen gesagt?« fragte Angélique nachdenklich.

»Daß der Herr sie behexen werde, wenn sie morgen nicht zum Dienst kämen.«

»Du glaubst, sie kommen nicht mehr?«

»Ich fürchte sehr.«

Angélique fuhr sich müde über die Stirn.

»Du hättest nicht sagen sollen, daß der Herr sie behexen wird, Margot. Solche Worte fügen ihm mehr Schaden zu, als sie ihm Macht verleihen. Komm, bring die Kassette wieder in mein Zimmer und richte den Brei für Florimond, damit er essen kann, wenn er aufwacht.«

»Madame«, ließ sich eine zarte Stimme neben Angélique vernehmen, »mein Herr Vater hat mich beauftragt, Euch mitzuteilen, daß die Mahlzeit aufgetragen ist und daß wir Euch im Speisezimmer zum Tischgebet erwarten.«

Es war der achtjährige Junge, den sie vorhin in der Truhe gesehen hatte.

»Du fürchtest dich doch nicht mehr vor Kouassi-Ba?« fragte sie ihn.

»Nein, Madame, ich bin sehr froh, daß ich jetzt einen schwarzen Mann kenne. Alle meine Kameraden werden mich beneiden.«

»Wie heißt du?«

»Martin.«

Im Speisezimmer hatte man die Fenster geöffnet, um mehr Licht zu haben und die Leuchter nicht anzünden zu müssen. Denn die Abenddämmerung senkte sich bereits rosafarben und rein über die Dächer. Es war die Stunde, da die Glocken der Gemeindekirchen das Angelus einläuteten. Dunkle und volle Klänge aus einiger Nähe übertönten die andern und schienen das Gebet der Stadt selbst in die Ferne zu tragen.

»Ihr habt sehr schöne Glocken auf Eurer Pfarrkirche«, bemerkte Angélique, um über die anfängliche Beklemmung hinwegzukommen, nachdem man sich gesetzt und das Tischgebet gesprochen hatte.

»Das sind die Glocken von Notre-Dame«, berichtigte Maître Fallot. »Unsere Gemeindekirche ist Saint-Landry, aber die Kathedrale liegt ganz in der Nähe. Wenn Ihr Euch aus dem Fenster beugt, könnt Ihr die beiden großen Türme und die Spitze des Vierungsturms sehen.«

Der kleine Martin reichte ein mit aromatischem Wasser gefülltes Becken und ein Handtuch. Jeder wusch sich die Finger. Der Junge tat seinen Dienst mit ernster Miene. Er hatte ein mageres Gesicht und sah Hortense sehr ähnlich. Es waren noch ein etwa sechsjähriges Bübchen, ein wenig untersetzt wie sein Vater, und ein kleines Mädchen von vier Jahren da, von dem man nur das über den braunen Locken sitzende runde Häubchen sah, weil es hartnäckig den Kopf senkte.

Hortense bemerkte, sie habe noch zwei weitere Kinder gehabt, die früh gestorben seien. Die Kleine käme gerade von der Amme zurück, zu der sie sie gleich nach ihrer Geburt gegeben habe, in ein Holzhauerdorf namens Chaillot in der Nähe von Paris. Deshalb zeige sie sich so scheu und verlange dauernd nach der Bäuerin, die sie aufgezogen habe, sowie nach ihrem Milchbruder.

In diesem Moment hob das Mädelchen ein wenig den Kopf, und Angélique sah seinen klaren Blick.

»Oh, sie hat grüne Augen!« rief sie aus.

»Ja, leider’«, seufzte Hortense gereizt.

»Fürchtest du, daß neben dir eine zweite Angélique aufwachsen könnte?«

»Ich weiß nicht. Es ist eine Farbe, die mir kein Vertrauen einflößt.«

Am anderen Ende des Tisches saß weise und stumm ein Greis, der Onkel Maître Fallots, ein ehemaliger Beamter.

Zu Beginn der Mahlzeit ließen er und sein Neffe mit der gleichen heimlichen Geste ein Stückchen Horn vom Einhorn in ihre Gläser gleiten. Das erinnerte Angélique daran, daß sie am Morgen unterlassen hatte, die Giftpastille einzunehmen, an die sie sich nach Joffreys Wunsch gewöhnen sollte.

Die Bedienerin reichte die Suppe. Das gestärkte weiße Tischtuch zeigte noch die Falten vom Plätten in regelmäßiger Viereckform.

Das Silber war recht schön, aber die Familie Fallot benützte keine Gabeln, deren Gebrauch noch nicht allgemein verbreitet war. Joffrey war es gewesen, der Angélique gelehrt hatte, sich ihrer zu bedienen, und sie erinnerte sich, daß sie sich am Tage ihrer Hochzeit in Toulouse mit diesem Instrument in der Hand reichlich ungeschickt vorgekommen war. Es gab mehrere aus Fisch, Eiern und Milchspeise bestehende Gänge. Angélique vermutete, daß ihre Schwester zwei oder drei Gerichte aus einer benachbarten Bratküche hatte kommen lassen, um das Menü zu vervollständigen.

»Du darfst meinetwegen aber keine Umstände machen, Hortense.«

»Bildest du dir ein, die Familie eines Staatsanwalts ißt nur Haferbrei und Kohlsuppe?« erwiderte die Schwester scharf.

Am Abend konnte Angélique trotz ihrer Müdigkeit lange nicht einschlafen. Sie lauschte den Rufen, die aus den stickigen Gassen der unbekannten Stadt heraufdrangen.

Das Glöckchen eines Totenausrufers erklang.

»Betet zu Gott, ihr Schläfer allzumal, daß er die Toten aufnehm’ in seinen Himmelssaal.«

Angélique erschauerte und barg ihr Gesicht im Kopfkissen. Sie tastete nach dem langen, warmen Körper Joffreys. Wie sehr sehnte sie sich nach seiner Heiterkeit, seiner Lebhaftigkeit, seiner wunderbaren, stets gütigen Stimme, seinen liebkosenden Händen!

Wann würden sie einander wiederfinden? Wie glücklich würden sie dann sein! Sie würde sich in seine Arme schmiegen und ihn bitten, sie an sich zu drücken, sie ganz fest an sich zu pressen .!

Sie schlief ein, das Kopfkissen aus grobem, nach Lavendel duftendem Leinen im Arm.

Angélique schob den hölzernen Ladenflügel zurück, dann rüttelte sie an dem bunten Butzenscheibenfenster. Schließlich gelang es ihr, es zu öffnen. Man mußte Pariser sein, um bei solcher Hitze bei geschlossenem Fenster schlafen zu können. Sie atmete die frische Morgenluft ein, dann hielt sie verblüfft und staunend inne.

Ihr Zimmer lag nicht nach der Rue de l’Enfer, sondern nach der Hinterseite des Hauses hinaus. Es hing über einem Wasserlauf, der in der aufsteigenden Sonne golden glitzerte und von Kähnen und schwerbeladenen Zillen durchpflügt wurde.

Auf dem gegenüberliegenden Ufer bildete das mit Leinen überdachte Verdeck eines Waschboots einen leuchtend weißen Fleck in der von leichtem Dunst verschleierten Landschaft. Das Gekreisch der Frauen, das Schlaggeräusch ihrer Waschbeutel drangen bis zu Angélique, vermischt mit den Rufen der Flußschiffer und dem Wiehern der Pferde, die von Knechten zur Tränke geführt wurden.

Zur Rechten, an der Spitze der Insel, befand sich ein kleiner, von Zillen erfüllter Hafen. Dort wurden Körbe mit Apfelsinen, Kirschen, Trauben und Birnen ausgeladen. Zerlumpte junge Burschen, die am äußersten Ende ihrer Kähne standen, bissen herzhaft in Apfelsinen und warfen die Reste in die Fluten, die sie träge an den Häusern vorbeitrieben; dann legten sie ihre Lumpen ab und tauchten ins fahle Wasser. Ein grellrot bemalter hölzerner Steg verband, vom Hafen ausgehend, die Stadt mit einer kleinen Insel.

Gegenüber, kurz hinter dem Waschboot, erstreckte sich eine weitere, von Frachtschiffen wimmelnde Häfenanlage. Dort wurden Fässer und Säcke aufgestapelt und Berge von Heu für die Ställe ausgeladen. Mit Bootshaken bewaffnete Flußschiffer hielten Holzflöße auf, die mit der Strömung herunterkamen, und zogen sie ans Ufer, wo Tagelöhner die Stämme aufschichteten.

Überall dieser Geschäftigkeit lag ein duftiges, gelbliches Licht von der Farbe der Schlüsselblume und verwandelte jede Szene in ein köstliches, traumartiges Gemälde, das durch den Reflex eines Lakens oder einer weißen Haube, einer dicht über den Wasserspiegel hinwegstreichenden Möwe plötzlich belebt wurde.

»Die Seine«, murmelte Angélique.

Die Seine, das war Paris. Stellte das Wappen der Stadt nicht ein silbernes Schiff dar, das die Verdienste der Kaufleute versinnbildlichte, denen sie ihren Reichtum verdankte?

Am Tage zuvor hatte Angélique nur düstere und übelriechende Straßen gesehen. Doch dieses andere Bild der Stadt versöhnte sie ein wenig mit Paris. Sie dachte mit größerem Optimismus an die Schritte, die sie gleich heute unternehmen mußte. Zuallererst würde sie in die Tuilerien gehen und die Grande Mademoiselle um Audienz bitten. Sie würde ihr ganz offen ihre Situation schildern: das Verschwinden des Gatten, der versiegelte Besitz, die in absolutes Schweigen gehüllte Angelegenheit. Man hatte keine Erklärung gegeben. Niemand außer den direkt Interessierten wußte Bescheid. Von ihrer erlauchten Freundin hoffte Angélique etwas über die Intrigen zu erfahren, die zu Joffreys Verhaftung geführt hatten. Wer weiß, vielleicht würde sie bis zum König vordringen? Der König, der den Verhaftbefehl unterschrieben hatte, mußte ja schließlich einen Grund gehabt haben. Er sollte ihn nennen. Auch jetzt noch fragte sich Angélique, ob all das nicht eine Ausgeburt ihrer Phantasie war. Sie vergegenwärtigte sich noch einmal die Atmosphäre der Festlichkeiten von Saint-Jean-de-Luz, die Fröhlichkeit, den Glanz; jedermann dachte nur an seine Juwelen, an seinen Platz in der Kathedrale und daran, daß man ja nichts versäume.

Und dann war mit einem Male die Stimme Joffreys für Angélique verstummt. Nichts mehr. Sie war plötzlich allein gewesen.

Jemand klopfte an die Tür, und Hortenses Magd trat mit einem Milchtopf ein.

»Ich bringe Milch für den Kleinen, Madame. Es ist besonders gute. Ich habe sie selbst zu früher Stunde geholt. Die Frauen aus den Dörfern waren gerade erst gekommen. Die Milch in ihren Kannen war noch kuhwarm.«

»Das ist sehr lieb, mein Kind, daß Ihr Euch solche Mühe macht. Aber Ihr hättet die Kleine schicken sollen, die ich bei mir habe, um mir die Milch heraufzu-bringen.«

»Ich wollte doch sehen, ob das Kerlchen aufgewacht ist. Ich habe die kleinen Kinder so gern, Madame. Es ist schade, daß Madame Hortense die ihrigen in Pflege gibt. Vor sechs Monaten hat sie eins bekommen, das ich ins Dorf Chaillot zur Amme brachte. Ach, jeden Tag hab’ ich Angst, jemand könnte kommen und mir sagen, daß es gestorben ist; denn die gute Frau hatte kaum Milch, und ich glaube, daß sie es mit in Wasser und Wein getauchtem Brot nährt.«

»Das kleine Mädchen, das man jetzt zurückgebracht hat, scheint hübsch zu sein.«

»Wenn eins mal durchkommt - wie viele müssen sterben!« sagte die Magd seufzend.

Sie hatte runde Apfelbäckchen und blaue, kindliche Augen. Angélique empfand eine plötzliche Zuneigung für sie.

»Wie heißt du, Mädchen?«

»Zu dienen, Madame, ich heiße Barbe.«

»Weißt du, Barbe, ich habe mein Kind in der ersten Zeit selbst gestillt. Ich hoffe, es wird kräftig werden.«

»Nichts ersetzt die Pflege einer Mutter«, sagte Barbe tendenziös.

Florimond erwachte. Er klammerte sich mit beiden Händen an das Gitter seines Bettchens, setzte sich auf und betrachtete mit seinen dunklen, leuchtenden Augen das neue Gesicht.

»Das goldige Schätzchen, das süße Engelchen! Guten Morgen, mein Herzchen«, koste Barbe, nahm den schlaftrunkenen Kleinen in ihre Arme und trug ihn ans Fenster, um ihm die Kähne, die Möwen und die Apfelsinenkörbe zu zeigen.

»Wie heißt der kleine Hafen?« fragte Angélique.

»Das ist der Saint-Landry-Hafen, der Fruchthafen, und das dort hinten ist die Rote Brücke, die zur Insel Saint-Louis führt. Gegenüber wird auch viel ausgeladen: Es gibt da einen Heuhafen, einen Holzhafen, einen Getreidehafen und einen Weinhafen. Diese Güter gehen vor allem die Herren vom Stadthaus an, jenem schönen Gebäude, das Ihr dort drüben am Ufer seht.«

»Und der große Platz, der davor liegt?«

»Das ist die Place de Grève.«

Barbe kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.

»Heute morgen sind eine Menge Leute dort. Sicher wird da wieder einer gehängt.«

»Gehängt?« rief Angélique entsetzt aus.

»Freilich! Auf der Place de Grève finden die Hinrichtungen statt. Von meiner Dachstube aus, die genau hier drüber liegt, entgeht mir keine einzige, wenn es auch ein bißchen weit entfernt ist. Das Hängen ist mir noch das liebste, weil ich ein empfindsames Herz habe. Und es ist das Übliche, aber ich habe auch zwei Köpfe mit dem Beil abhauen sehen und einen Scheiterhaufen für einen Hexenmeister.«

Angélique erschauerte und wandte sich ab. Der Ausblick aus ihrem Fenster kam ihr mit einem Male weniger lieblich vor.

Nachdem Angélique sich einigermaßen elegant gekleidet hatte, da sie in die Tuilerien zu gehen gedachte; bat sie Margot, ihren Umhang zu nehmen und sie zu begleiten. Die Kindsmagd würde Florimond hüten, und Barbe sollte auf beide ein wachsames Auge haben. Angélique war froh, das Hausmädchen zur Verbündeten zu haben, denn das war Hortenses wegen sehr wichtig, die wenig Hilfe hatte. Außer Barbe gab es nur ein Küchenmädchen und einen Hausburschen, der das Wasser und das Holz für die Feuer im Winter besorgte, sich um die Kerzen kümmerte und die Böden auf wusch.

»Eure Dienerschaft wird bald nicht mehr sehr stattlich sein«, bemerkte die große Margot mit verächtlich verzogenem Mund. »Was ich befürchtete, ist eingetreten, Madame. Euer Diener- und Kutscherpack hat sich davongemacht, und es ist niemand mehr da, um Eure Kutsche zu fahren und Eure Pferde zu versorgen.«

Nach der ersten Verblüffung heiterte sich Angéliques Miene auf.

»Eigentlich ist das ganz gut so. Ich habe nur viertausend Livres bei mir. Ich will zwar Monsieur d’Andijos nach Toulouse schicken, damit er mir Geld bringt, aber inzwischen und da man nicht weiß, was die Zukunft bringt, ist es mir lieb, daß ich diese Leute nicht zu bezahlen brauche. Ich werde meine Pferde und meine Kutsche an den Besitzer des öffentlichen Stalls verkaufen, und wir gehen eben zu Fuß. Ich habe große Lust, mir die Kaufläden anzuschauen.«

»Madame macht sich keine Vorstellung von dem Schmutz auf den Straßen. An manchen Stellen versinkt man bis zum Knöchel im Morast.«

»Meine Schwester hat mir gesagt, daß man sehr bequem geht, wenn man Schuhe mit Holzsohlen anzieht. Komm, Margot, Liebe, brumme nicht, wir wollen uns Paris anschauen. Ist das nicht herrlich?«

Im Vestibül fand Angélique François Binet, Kouassi-Ba und den kleinen Musikanten vor.

»Ich danke Euch für Eure Treue«, sagte sie bewegt zu dem Barbier und Giovanni, »aber ich glaube, wir müssen uns trennen, denn ich kann Euch künftig nicht mehr in meinem Dienst behalten. Binet, soll ich dich Mademoiselle de Montpensier empfehlen? In Anbetracht des Erfolgs, den du in Saint-Jean-de-Luz bei ihr hattest, bin ich sicher, daß sie eine Beschäftigung für dich finden oder dich an einen Edelmann weiterempfehlen wird.«

Zu ihrer großen Verwunderung lehnte der junge Mann das Angebot ab.

»Ich danke Euch für Eure Güte, Madame, aber ich glaube, ich werde mich ganz bescheiden einem Barbiermeister verdingen.«

»Du«, protestierte Angélique, »der du bereits der größte Barbier und Perückenmacher von Toulouse warst?«

»Ich kann leider keine bessere Stelle in dieser Stadt finden, in der die Zünfte keinen Fremden zulassen.«

»Aber am Hof.«

»Um die Gunst der Großen zu gewinnen, braucht man einen langen Atem, Madame. Es ist nicht gut, wenn man mit einem Schlag im vollen Licht steht, zumal wenn es sich um einen bescheidenen Handwerker wie mich handelt. Es bedarf nur einer Geringfügigkeit, eines Worts, einer giftigen Anspielung, und man stürzt vom höchsten Gipfel in ein größeres Elend, als man es je erfahren hätte, wäre man bescheiden im Schatten geblieben. Die Gunst der Fürsten ist so trügerisch, daß ein Ruhmestitel zugleich auch Euren Untergang bedeuten kann.«

Sie sah ihn prüfend an. »Du willst ihnen Zeit lassen zu vergessen, daß du der Barbier des Grafen Peyrac warst?«

Er schlug die Augen nieder.

»Ich selbst werde das nie vergessen, Madame. Sobald mein Herr über seine Feinde triumphiert hat, wird es für mich nur noch ein Ziel geben, nämlich ihm aufs neue zu dienen. Aber ich bin nur ein einfacher Barbier.«

»Du hast recht, Binet«, sagte Angélique lächelnd. »Deine Offenheit gefällt mir. Es hat keinen Sinn, dich in unser Mißgeschick zu verwickeln. Hier sind hundert Silberstücke, und ich wünsche dir viel Glück.«

Derjunge Mann dankte, nahm seinen Barbierkasten und verließ unter vielen Bücklingen das Haus.

»Und du, Giovanni, soll ich versuchen, dich mit Monsieur Lully bekannt zu machen?«

»O ja, Herrin, o ja!«

»Und du, Kouassi-Ba, was willst du tun?«

»Ich will mit dir Spazierengehen, Médême.«

Angélique lächelte.

»Gut denn, so kommt beide mit. Wir gehen in die Tuilerien.«

In diesem Augenblick öffnete sich eine Tür, und Maître Fallot streckte seine schöne, braune Perücke durch die Spalte.

»Ich höre Eure Stimme, Madame, und ich war gerade auf der Suche nach Euch, um Euch um eine kurze Unterredung zu bitten.«

Angélique bedeutete den drei Dienstboten, auf sie zu warten.

»Ich stehe zu Eurer Verfügung, Monsieur.«

Sie folgte ihm in die Kanzlei, wo Schreiber und Aktuare bei der Arbeit waren. Der fade Tintengeruch, das Kratzen der Gänsekiele, das gedämpfte Licht, die schwarze Kleidung dieser geschäftigen Leute machten aus diesem Raum keine ausgesprochen freundliche Stätte. An den Wänden hing eine Menge schwarzer Beutel, die die Akten der einzelnen Fälle enthielten.

Maître Fallot führte Angélique in ein anstoßendes kleines Büro, in dem sich jemand erhob. Der Staatsanwalt stellte vor:

»Monsieur Desgray, Advokat. Monsieur Desgray wäre bereit, Euch in der schwierigen Angelegenheit Eures Gatten zu beraten.«

Angélique musterte bestürzt ihr Gegenüber. Das sollte der Advokat des Grafen Peyrac werden? Ein fadenscheinigerer Rock, ein verschlisseneres Hemd, ein kläglicherer Filzhut hätte sich kaum auftreiben lassen. Der Staatsanwalt, der gleichwohl in ehrerbietigem Ton mit ihm redete, wirkte neben ihm geradezu luxuriös gekleidet. Der arme Mann trug nicht einmal eine Perücke, und seine langen Haare schienen aus der gleichen braunen und rauhen Wolle wie sein Gewand zu bestehen. Trotz seiner in die Augen fallenden Armut war ihm dennoch eine starke Selbstsicherheit eigen.

»Madame«, erklärte er sofort, »wir wollen weder in der Zukunft noch in der bedingten Form reden; ich stehe zu Eurer Verfügung. Nun vertraut mir ohne Scheu an, was Ihr wißt.«

»Mein Gott, Herr Advokat«, erwiderte Angélique einigermaßen kühl, »ich weiß nichts oder fast nichts.«

»Um so besser, dann gehen wir jedenfalls nicht von falschen Vermutungen aus.«

»Immerhin gibt es eine sichere Tatsache«, mischte sich Maître Fallot ein.

»Den vom König unterzeichneten Verhaftbefehl.«

»Sehr richtig, Maître. Der König. Vom König müssen wir ausgehen.«

Der junge Advokat faßte sich ans Kinn und runzelte die Stirn.

»Nicht eben günstig. Als Anhaltspunkt einer Fährte kann man kaum höher greifen.«

»Ich habe die Absicht, Mademoiselle de Montpen-sier aufzusuchen, die Base des Königs«, sagte Angélique. »Vielleicht kann ich von ihr genauere Auskünfte bekommen, besonders wenn es sich um eine Hofkabale handelt, wie ich vermute. Und über sie kann ich möglicherweise bis zu Seiner Majestät vordringen.«

»Mademoiselle de Montpensier, pah!« machte der andere mit verächtlicher Miene. »Diese lange Hopfenstange ist eine ungeschickte Person, die alles verdirbt. Vergeßt nicht, Madame, daß sie eine Anhängerin der Fronde war und auf die Truppen ihres königlichen Vetters schießen ließ. Aus diesem Grunde wird sie bei Hofe immer verdächtig bleiben. Im übrigen ist der König neidisch auf ihren ungeheuren Reichtum. Sie wird bald einsehen, daß es nicht in ihrem Interesse liegt, sich den Anschein zu geben, einen in Ungnade gefallenen Edelmann zu stützen.«

»Ich glaube und ich habe es auch immer sagen hören, daß die Grande Mademoiselle ein gutes Herz hat.«

»Gebe der Himmel, daß sie es Euch beweist, Madame. Als Pariser Kind setze ich kein allzu festes Vertrauen in die Herzen der Großen, die das Volk mit den Früchten ihrer Zwistigkeiten nähren. Aber unternehmt ruhig diesen Schritt, Madame, wenn Ihr ihn für nützlich haltet. Ich empfehle Euch jedoch, Euch Mademoiselle wie auch allen anderen hohen Persönlichkeiten gegenüber eines sachlichen Tons zu befleißigen, ohne auf die Ungerechtigkeit Nachdruck zu legen, die Euch zugefügt worden ist.«

»Habe ich es nötig, mir von einem kleinen Advokaten mit durchgetretenen Schuhen sagen zu lassen, wie man mit den Leuten vom Hof redet?« sagte sich Angélique ärgerlich.

Trotzdem zog sie ihre Geldbörse hervor und entnahm ihr einige Silberstücke.

»Hier ist ein Vorschuß auf die Unkosten, die Euch durch Eure Nachforschungen entstehen könnten.«

»Ich danke Euch, Madame«, erwiderte der Advokat und steckte die Geldstücke, nachdem er einen Blick auf sie geworfen hatte, befriedigt in einen Lederbeutel, den er an seinem Gürtel trug und der sehr flach wirkte.

Darauf verbeugte er sich sehr höflich und ging hinaus.

Sofort sprang eine große Dogge mit weißem, braungesprenkeltem Fell auf, die geduldig an der Hausecke gewartet hatte, und heftete sich an die Fersen des Advokaten. Dieser, die Hände in den Taschen, entfernte sich lustig pfeifend.

»Dieser Mann flößt mir wenig Vertrauen ein«, sagte Angélique zu ihrem Schwager. »Ich halte ihn für einen Schwätzer und zugleich für einen unfähigen Großtuer.«

»Er ist ein überaus tüchtiger Bursche«, versicherte der Staatsanwalt, »aber er ist arm ... wie viele seinesgleichen. Es gibt in Paris unzählige Advokaten ohne Mandanten. Dieser da muß seine Praxis von seinem Vater geerbt haben, denn er hätte sie nicht kaufen können. Aber ich habe ihn Euch empfohlen, weil ich einerseits seine Intelligenz schätze und weil er andererseits nicht viel von Euch verlangen wird. Mit der kleinen Summe, die Ihr ihm gegeben habt, wird er Wunder ausrichten.«

»Die Geldfrage darf keine Rolle spielen. Wenn es nötig ist, werden die berühmtesten Advokaten meinem Manne Beistand leisten.«

Maître Fallot warf einen zugleich hochmütigen und listigen Blick auf Angélique.

»Habt Ihr ein unerschöpfliches Vermögen zu Eurer Verfügung?«

»Hier nicht, aber ich werde den Marquis d’Andijos nach Toulouse schicken. Er wird unseren Bankier aufsuchen und ihn beauftragen, falls ich sofort flüssiges Geld brauche, ein paar Ländereien zu verkaufen.«

»Fürchtet Ihr nicht, Euer toulousanischer Besitz könne beschlagnahmt und versiegelt sein wie Euer Palais in Paris?«

Angélique starrte ihn entsetzt an; daran hatte sie noch nicht gedacht.

»Das ist unmöglich«, stammelte sie. »Weshalb sollte man das getan haben? Warum sollte man uns so hartnäckig verfolgen? Wir haben niemandem ein Unrecht zugefügt.«

Der Staatsanwalt machte eine salbungsvolle Gebärde.

»Ach, Madame! Gar viele Leute, die in diese Kanzlei kommen, äußern die gleichen Worte. Wenn man ihnen so zuhört, könnte man glauben, niemand füge je einem andern ein Unrecht zu. Und dennoch gibt es immer wieder Prozesse .«

»Und Arbeit für die Staatsanwälte«, dachte Angélique.

Mit dieser neuerlichen Unruhe im Herzen hatte sie wenig Sinn für den Spaziergang, der sie durch die Rue de la Colombe, die Rue des Marmousets und die Rue de la Lanterne vor den Justizpalast führte. Sie folgten dem Quai de l’Horloge und erreichten den Pont-Neuf am äußersten Ende der Insel. Seine Belebtheit begeisterte die Dienstboten. Kleine fliegende Kramläden drängten sich um die Bronzestatue des guten Königs Heinrich IV., und tausend Rufe priesen eine Unmenge der verschiedenartigsten Waren an. Hier war es ein wunderwirkendes Pflaster, dort zog man schmerzlos Zähne, dort wurden Bücher verkauft, dort Spielzeug, dort Halsketten aus Schildkrot gegen Leibschmerzen. Man hörte Trompeten blöken und Spieldosen schnarren. Eine abgezehrte, in ein vertragenes Kostüm gekleidete Gestalt schob Angélique ein Stück Papier in die Hand und verlangte zehn Sols dafür. Sie gab sie ihr mechanisch und steckte das Blatt in die Tasche. Dann forderte sie ihre Trabanten auf, sich etwas mehr zu beeilen.

Sie war nicht in der Stimmung, dieses lärmende Treiben zu genießen. Überdies wurde sie bei jedem Schritt von Bettlern aufgehalten, die plötzlich vor ihr auftauchten und auf eine eitrige Wunde deuteten, oder von zerlumpten Weibern, die Kinder auf dem Arm trugen, deren schorfige Gesichter von Fliegen bedeckt waren. Sie traten aus dem Schatten der Toreinfahrt, aus dem Winkel eines Kaufladens, tauchten über den Uferböschungen auf und stießen jammernde Rufe aus, die alsbald einen drohenden Ton annahmen.

Schließlich fühlte sich Angélique angeekelt, und da sie auch keine Münzen mehr hatte, wies sie Kouassi-Ba an, das Bettelvolk zu verjagen. Sofort fletschte der Schwarze seine Kannibalenzähne und drohte einem an Krücken humpelnden Manne, der eben auf sie zukam, worauf dieser sich mit erstaunlicher Behendigkeit aus dem Staube machte.

»Das hat man davon, wenn man wie ein armer Schlucker zu Fuß geht«, bemerkte die große Margot in beleidigtem Ton.

Der kleine Trupp durchschritt die endlose Galerie des Louvre, die das Königsschloß mit der Tuilerien-Residenz verbindet.

Eben erst vollendet und aus scharfkantigen Steinen von zartem Grau gefügt, das mit dem Pariser Himmel übereinstimmt, entfaltete die große, an der Wasserseite gelegene Galerie ihre abwechselnd dreieckigen und runden Giebel, ihre regelmäßige, schlichte, nur von griechischen Pilastern mit Akanthusblättern belebte Fassade.

Angélique, die für so strenge Reize nicht recht empfänglich war, fand vor allem, daß dieses lange Gemäuer kein Ende nahm. Es kam ihr düster vor. Es hieß, die lange Galerie sei von Karl IX. erbaut worden, dem verbrecherischen König, der darauf bedacht gewesen war, im Falle eines Aufruhrs aus Paris fliehen zu können, ohne seinen Palast verlassen zu müssen. Tatsächlich konnte er über die große Galerie vom Louvre in den Stall der Tuilerien gelangen, sich dort aufs Pferd schwingen und durch die Pforte Saint-Honoré sofort das freie Feld erreichen.

Angélique stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie endlich den Tour du Bois erblickte, den zerfallenden und von Efeu bedeckten Überrest der Stadtmauer des alten Paris. Kurz danach tauchte der Pavillon de Flore auf, der die Galerie abschloß und sie in rechtem Winkel mit dem Tuilerien-Schloß verband.

Die Luft wurde kühler. Ein leichter Wind erhob sich von der Seine und verwehte die übelriechenden Ausdünstungen der Stadt.

Endlich betrat man die Tuilerien, den mit tausend Ornamenten verzierten, mit einer mächtigen Kuppel und kleinen Hauben versehenen Palast, eine Sommerresidenz von weiblicher Grazie, denn sie war für eine Frau erbaut worden, für Katharina von Mediä, die prunkliebende Italienerin.

Hier hieß man sie warten. Die Grande Mademoiselle war zum Luxembourg gefahren, um ihren Einzug vorzubereiten, denn Monsieur, der Bruder des Königs, war entschlossen, sie aus den Tuilerien zu vertreiben, in denen sie doch schon seit Jahren wohnte. Er hatte sich mit seinem gesamten Gefolge in einem Flügel des Palastes niedergelassen. Mademoiselle hatte ihn freimütig einen infamen Intriganten genannt, worauf es zu einem großen Gezeter gekommen war. Schließlich gab Mademoiselle wie immer nach. Sie war eben wirklich zu gutmütig.

Monsieur de Préfontaines, ihr Kammerherr, der Angélique all dies anvertraute, schlug die Augen zum Himmel auf und bat die junge Frau, in einem kleinen Salon Platz zu nehmen, dessen Fenster nach den Tuileriengärten gingen; dann fuhr er mit seinen Klagen fort. Ach, das war ja noch nicht alles! Mademoiselle wünschte sich durch Augenschein von der Vermögenslage ihres verstorbenen Vaters zu überzeugen. Vor drei Tagen war man zurückgekehrt, und seitdem lief sie mit einem Schwarm von Advokaten und Aktuaren herum und vertiefte sich in alte Aktenstücke, als habe sie den Ehrgeiz, Kanzleiangestellte eines Anwalts zu werden.

Und auch damit noch nicht genug, Gott sei’s geklagt! Denn da wartete ein Abgesandter des Königs von Portugal, der den Auftrag hatte, über die Heirat seines Monarchen mit der reichen Erbin zu verhandeln.

»Aber das ist doch großartig«, sagte Angélique. »Mademoiselle ist bezaubernd, und ich bin überzeugt, daß sie schon viele schmeichelhafte Anträge europäischer Fürstlichkeiten bekommen hat.«

»O ja, das hat sie allerdings«, stimmte der gute Monsieur de Préfontaines zu, »bis zu einem Prinzen in der Wiege, der ihr erst vor sechs Monaten angetragen wurde. Aber Mademoiselle ist schwierig. Ich weiß tatsächlich nicht, ob sie sich überhaupt einmal entscheiden wird. Sie fühlt sich in Paris so wohl, daß sie nie den Mut aufbringen wird, an einem langweiligen kleinen Hof in Deutschland oder Italien zu leben. Was Seine Majestät Alphons IV. von Portugal betrifft, so hat sie mich gebeten, den Jesuiten, den er mit der Überbringung seiner Botschaft beauftragt hat, noch hinsichtlich einiger Einzelheiten auszuhorchen. Ja, nun muß ich mich zurückziehen, Madame. Vergebt mir.«

Allein geblieben, setzte sich Angélique ans Fenster und betrachtete den wunderbaren Garten. Jenseits der mosaikartigen Blumenbeete sah man die weißen Flocken einer großen Mandelbaum-Anpflanzung schimmern und etwas weiter entfernt die grüne Masse des Parks.

Angélique genoß die ländliche Luft und schaute den sich drehenden kleinen Windmühlen auf den fernen Anhöhen von Chaillot, Passy und Roule zu. Gegen Mittag entstand endlich Bewegung im Schloß, und Mademoiselle de Montpensier erschien, schwitzend und sich fächelnd.

»Meine kleine Freundin«, sagte sie zu Angélique, »Ihr kommt immer im richtigen Augenblick. Wenn ich von lauter albernen Ohrfeigengesichtern umgeben bin, hat Euer reizendes Gesichtchen mit den klugen und klaren Augen etwas ... ja etwas geradezu Erfrischendes für mich. Wird man uns nun endlich Limonade und Eis bringen oder nicht?«

Sie ließ sich in einen Sessel sinken und kam allmählich zu Atem.

»Daß Ihr’s nur wißt: Ich hätte heute morgen den kleinen Monsieur am liebsten erdrosselt, und das wäre mir nicht schwergefallen. Er verjagt mich aus diesem Palast, in dem ich seit meiner Kindheit gelebt, ja, ich möchte sogar sagen: geherrscht habe. Von hier aus habe ich meine Diener und meine Wachen auf die Leute Mazarins gehetzt. Der Kardinal wollte sich dem Volkszorn durch die Flucht entziehen, aber unversehens konnte er nicht mehr aus Paris heraus. Um ein Haar hätte man ihn ermordet und seine Leiche in den Fluß geworfen.«

»Seine Eminenz scheint es Euch nicht nachzutragen.«

»Oh, er ist äußerst liebenswürdig. Was wollt Ihr? Die Fronde ist vorbei. Aber es war höchste Zeit. Wenn ich durch Paris galoppierte, jubelte mir das Volk zu und ließ die Ketten fallen, mit denen es die Straßen verbarrikadiert hatte. Jetzt langweile ich mich. Ich müsse heiraten, sagt man. Was haltet Ihr von diesem Alphonso von Portugal?

»Ich gestehe Eurer Hoheit, daß ich noch nie etwas von ihm gehört habe.«

»Préfontaines hat mir da gerade einiges mitgeteilt, was mich kaum ermuntert. Er scheint ein kleiner Dickwanst mit unangenehmem Körpergeruch zu sein, der dauernd Geschwüre zwischen seinen Speckfalten hat .«

»Ich verstehe, daß Eure Hoheit sich nicht für ihn begeistern kann .«

Angélique fragte sich, ob sie angesichts dieses Wortschwalls das Thema würde anschlagen können, das ihr am Herzen lag. Sie mußte an die Skepsis des jungen Advokaten hinsichtlich der Hochherzigkeit der Großen denken. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und sagte:

»Eure Hoheit möge mir verzeihen, aber ich weiß, daß Ihr über alle Vorgänge bei Hof auf dem laufenden seid. Ist es Euch nicht zu Ohren gekommen, daß mein Gatte in der Bastille ist?«

Die Prinzessin schien ehrlich überrascht und bewegt.

»In der Bastille? Ja, was für ein Verbrechen hat er denn begangen?«

»Eben das weiß ich nicht, und ich setze große Hoffnungen auf Euch, Hoheit, daß Ihr mir bei der Lösung dieses Rätsels behilflich seid.«

Sie berichtete von den Ereignissen in Saint-Jean-de-Luz und dem mysteriösen Verschwinden des Grafen Peyrac. Die am Palais in Saint-Paul angebrachten Siegel bewiesen deutlich, daß seine Entführung auf eine Verfügung der Justizbehörden zurückgehe, aber das Geheimnis werde streng gehütet.

»Laßt uns ein wenig überlegen«, sagte Mademoiselle de Montpensier. »Euer Gatte hatte Feinde - wie jedermann. Wer könnte wohl nach Eurer Ansicht darauf aus sein, ihm zu schaden?«

»Mein Gatte stand sich mit dem Erzbischof von Toulouse nicht sonderlich gut. Aber ich glaube nicht, daß Seine Eminenz etwas gegen ihn vorbringen konnte, was das Eingreifen des Königs gerechtfertigt hätte.«

»Vielleicht hat Graf Peyrac jemanden vor den Kopf gestoßen, der einen starken Einfluß auf Seine Majestät ausübt? Ich erinnere mich da an einen gewissen Vorfall, meine Liebe. Monsieur de Peyrac hat einmal meinem Vater gegenüber eine ungewöhnliche Halsstarrigkeit an den Tag gelegt, als dieser sich in Toulouse als Statthalter des Languedoc vorstellte. Oh, mein Vater hat es ihm nicht nachgetragen, und außerdem ist er tot. Mein Vater war nicht neidisch, wenn er auch seine Zeit mit dem Aushecken von Komplotten verbrachte. Ich habe diese Leidenschaft geerbt, das gebe ich zu, und deshalb bin ich beim König nicht eben gut angeschrieben. Er ist ein so argwöhnischer junger Mann . Ach, da fällt mir ein, könnte Monsieur de Peyrac am Ende nicht den König selbst vor den Kopf gestoßen haben?«

»Mein Gatte ist kein Mensch, der sich in Schmeicheleien ergeht. Gleichwohl empfand er Achtung vor dem König. Hat er sich nicht bemüht, ihm gefällig zu sein, als er ihn in sein Haus in Toulouse einlud?«

»Oh, welch ein herrliches Fest«, erinnerte sich Mademoiselle begeistert und schlug die Hände zusammen. »Die kleinen Vögelchen, die von einem mächtigen Felsen aus Zuckerwerk aufflogen .! Aber ich habe mir auch sagen lassen, daß der König über das alles ein wenig gereizt war. Genau wie damals bei diesem Monsieur Fouquet in Vaux-le-Vicomte. All diese großen Herren sind sich nicht bewußt, daß der König, mag er auch lächeln, sich insgeheim darüber ärgert, wenn seine eigenen Untertanen ihn mit ihrem Prunk zu überstrahlen versuchen.«

»Ich kann nicht glauben, daß Seine Majestät von so kleinlicher Gesinnung ist.«

»Der König wirkt gutmütig und ehrenhaft, ich gebe es zu. Aber wie dem auch sei, er erinnert sich immer der Zeit, als die Fürsten ihn noch bekriegten. Ich habe es auch getan, ich weiß eigentlich nicht mehr, weshalb. Kurzum, Seine Majestät mißtraut all denen, die den Kopf ein wenig zu hoch erheben.«

»Mein Gatte hat niemals versucht, gegen den König zu intrigieren. Er ist stets ein ergebener Untertan gewesen und hat allein ein Viertel der gesamten Steuern des Languedoc gezahlt.«

Mademoiselle de Montpensier versetzte ihr einen freundschaftlichen kleinen Schlag mit dem Fächer.

»Wie feurig Ihr ihn verteidigt! Ich gestehe, daß sein Anblick mich ein wenig erschreckte, aber als ich mich in Saint-Jean-de-Luz mit ihm unterhielt, begann ich zu begreifen, warum er solchen Erfolg bei den Frauen hat. Weint nicht, Liebe, man wird Euch Euren verführerischen großen Hinkefuß zurückgeben, und müßte ich den Kardinal selbst ins Gebet nehmen und mich dabei wie üblich in die Nesseln setzen!«

Ein wenig aufgemuntert, trennte sich Angélique von der Grande Mademoiselle. Man war übereingekommen, daß diese sie benachrichtigen würde, sobald sie verläßliche Auskünfte bekommen hätte. Um sich ihrer Freundin gefällig zu erweisen, willigte die Prinzessin ein, sich um den kleinen Giovanni zu kümmern und ihn in ihre Kapelle aufzunehmen, bis sich die Gelegenheit ergeben würde, ihn Baptiste Lully, dem Hofkomponisten des Königs, vorzustellen.

»Jedenfalls kann ich erst etwas unternehmen, wenn der König Einzug in Paris gehalten hat«, schloß sie. »Alles ist bis nach den Festlichkeiten zurückgestellt. Die Königin-Mutter befindet sich im Louvre, der König und die Königin müssen jedoch bis dahin in Vincennes bleiben. Das verzögert die Sache. Aber werdet nicht ungeduldig. Ich vergesse Euch nicht und werde Euch holen lassen, sobald es angebracht erscheint.«

Nachdem Angélique sich verabschiedet hatte, irrte sie eine Weile durch die Gänge des Schlosses, in der Hoffnung, Péguillin de Lauzun zu begegnen, der, wie sie wußte, Mademoiselle sehr ergeben war. Sie sah ihn nicht, traf jedoch Cerbaland, der ein langes Gesicht machte. Auch er wußte nicht, was er über die Verhaftung des Grafen Peyrac denken sollte; alles, was er sagen konnte, war, daß niemand von ihm redete oder einen Verdacht zu hegen schien.

»Man wird es bald erfahren«, versicherte Angélique im Vertrauen auf die Grande Mademoiselle.

Nichts schien ihr jetzt schrecklicher als die Mauer des Schweigens, die das Verschwinden Joffreys umgab. Wenn man der Sache jetzt wirklich nachging, mußte sie ja ans Licht kommen.

Sie erkundigte sich nach dem Marquis d’Andijos. Cerbaland sagte, er habe sich gerade nach dem Pré-aux-Clercs zu einem Duell begeben.

»Er schlägt sich in einem Duell?« rief Angélique entsetzt aus.

»Er nicht. Lauzun und d’Humières tragen irgendeine Ehrenangelegenheit aus.«

»Begleitet mich, ich möchte sie aufsuchen.«

Als sie die Marmortreppe hinunterging, wurde sie von einer Frau mit großen, schwarzen Augen angesprochen. Sie erkannte die Herzogin von Soissons, eine der Mancini-Schwestern: Olympia, die Nichte des Kardinals.

»Madame de Peyrac, ich bin erfreut, Euch wiederzusehen«, erklärte die schöne Dame. »Aber mehr noch als Ihr selbst entzückt mich Euer ebenholzschwarzer Leibgardist. Ich bin schon in Saint-Jean-de-Luz mit dem Gedanken umgegangen, Euch seinetwegen anzugehen. Wollt Ihr ihn mir abtreten? Ich zahle Euch einen guten Preis.«

»Kouassi-Ba ist nicht verkäuflich«, protestierte Angélique. »Wohl hat ihn mein Gatte in Narbonne gekauft, als er noch ganz klein war, aber er hat ihn nie wie einen Sklaven behandelt, und er zahlt ihm Lohn wie einem Bedienten.«

»Ich werde ihm gleichfalls Lohn zahlen, einen sehr guten sogar.«

»Ich bedaure, Madame, aber ich kann Euren Wunsch nicht erfüllen. Kouassi-Ba ist mir nützlich, und mein Gatte wäre untröstlich, würde er ihn bei seiner Rückkehr nicht vorfinden.«

»Nun, dann eben nicht«, erklärte Madame de Soissons mit enttäuschtem Achselzucken.

Sie warf noch einen neidischen Blick auf den bronzenen Riesen, der regungslos hinter Angélique stand.

»Es ist schier unglaublich, wie ein solcher Hintergrund die Schönheit, die Zartheit und die weiße Hautfarbe einer Frau hervortreten läßt. Seid Ihr nicht auch dieser Ansicht, meine Teure?«

Angélique bemerkte den Marquis de Vardes, der auf die kleine Gruppe zusteuerte. Da sie keine Lust hatte, diesem Edelmann zu begegnen, der sich gegen sie so brutal und widerwärtig benommen hatte, verabschiedete sie sich eilig und stieg zu den Gärten hinunter.

»Ich habe den Eindruck, daß die schöne Olympia lüsterne Blicke auf Euern Neger wirft«, sagte Cerbaland. »De Vardes, ihr derzeitiger Liebhaber, scheint ihr nicht zu genügen. Sie brennt darauf, festzustellen, wie ein Mohr sich im Bett benimmt.«

»Oh, beeilt Euch lieber, anstatt so schreckliche Dinge zu reden«, erklärte Angélique ungeduldig. »Ich meinerseits möchte vor allem wissen, ob Lauzun und d’Humières nicht im Begriff sind, sich gegenseitig aufzuspießen.«

Wie überdrüssig sie dieser oberflächlichen Leute mit ihren hohlen Köpfen und egoistischen Herzen war! Sie hatte das Gefühl, wie in einem Traum hinter etwas Dunklem, Ungreifbarem herzulaufen und sich vergeblich zu mühen, verstreute Elemente zusammenzufügen. Doch alles entglitt ihr und löste sich auf.

Sie befanden sich schon auf dem Uferdamm, als eine Stimme sie anrief und abermals aufhielt. Ein hochgewachsener Edelmann, den Angélique nicht kannte, bat sie um eine kurze Unterredung.

»Ja, aber beeilt Euch.«

Er zog sie zur Seite.

»Madame, mich schickt seine Königliche Hoheit, Philippe d’Orléans, der Bruder des Königs. Monsieur wünscht Euch zu sprechen. Es handelt sich um Monsieur de Peyrac.«

»Mein Gott!« murmelte Angélique, deren Herz wild zu klopfen begann.

Würde sie endlich etwas Genaues erfahren? Sie mochte zwar den Bruder des Königs, diesen kleinen Mann mit den düsteren und kalten Augen, nicht sehr, doch erinnerte sie sich der bewundernden, wenn auch recht zweideutigen Worte, die er über den Grafen Peyrac geäußert hatte. Was mochte er über den Gefangenen der Bastille erfahren haben?

»Seine Hoheit erwartet Euch heute nachmittag gegen fünf Uhr«, fuhr der Edelmann mit gedämpfter Stimme fort. »Ihr werdet durch die Tuileriengärten gehen und Euch zum Pavillon de Flore begeben, wo Monsieur seine Gemächer hat. Redet zu niemandem von alldem.«

»Ich werde mich von meiner Zofe begleiten lassen.«

»Dem steht nichts im Wege.« Er grüßte und entfernte sich sporenklirrend. »Wer ist dieser Edelmann?« erkundigte sich Angélique bei Cerbaland.

»Der Chevalier de Lorraine, der neue Günstling Monsieurs. Ja, de Guiche hat enttäuscht: Er brachte nicht genügend Begeisterung für die perversen Liebschaften auf und interessierte sich zu sehr für das schöne Geschlecht. Aber auch der kleine Monsieur ist kein eingeschworener Frauenverächter. Es heißt, man werde ihn nach dem Einzug des Königs vermählen, und wißt Ihr, wen er heiratet? Die Prinzessin Henriette von England, die Tochter des armen Karls L, den die Engländer enthauptet haben ...«

Angélique hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie begann hungrig zu werden und sah sich um, in der Hoffnung, einen Waffelhändler zu entdecken.

Ihr neuerlicher Gang durch die Stadt hatte sie auf die andere Seite der Seine geführt, zur alten, von ihrem Turm flankierten Porte de Nesle. Lange schon existierte der Pré-aux-Clercs nicht mehr, wo sich einstmals die Studenten vergnügt hatten. Geblieben aber war zwischen der Abtei Saint-Germain-des-Prés und den alten Gräben ein freies, mit Gesträuch bepflanztes Gelände, wo die empfindlichen jungen Leute, vor neugierigen Blicken sicher, ihre Ehre reinwaschen konnten.

Im Näherkommen hörten sie Rufe und erkannten Lauzun und den Marquis d’Humières, die sich eben noch in Duellstellung befunden hatten und sich nun anschickten, auf Andijos loszustürzen. Beide erzählten, sie hätten vorher Andijos heimlich gebeten, sie im Namen der Freundschaft zu trennen, sobald sie auf dem Felde angekommen sein würden. Aber der Verräter hatte sich hinter einem Gebüsch versteckt und höchst erheitert das ängstliche Gebaren der beiden »Gegner« verfolgt, die ihre Auseinandersetzung krampfhaft hinauszögerten, indem sie fanden, der eine Degen sei kürzer als der andere, die Fechtschuhe seien zu eng und so weiter .

Schließlich protestierten sie, als der Vermittler erschien.

»Wären wir nicht so gefühlvolle Menschen, hätten wir einander hundertmal die Kehle durchgeschnitten«, schrie der kleine Péguillin. Und auch Angélique machte ihrem Ärger Luft.

»Bildet Ihr Euch ein, mein Gatte habe Euch fünfzehn Jahre lang ernährt, damit Ihr alberne Possen treibt, während er im Gefängnis ist?« fuhr sie ihn an. »Ach, diese Leute aus dem Süden .!«

Sie packte ihn am Arm, zog ihn beiseite und befahl ihm, unverzüglich nach Toulouse aufzubrechen und ihr in kürzester Frist Geld zu bringen. Ziemlich kleinlaut gestand er ihr darauf, er habe am Abend zuvor bei der Prinzessin Henriette gespielt und dabei alles verloren, was er besaß. Sie gab ihm fünfhundert Livres mit und Kouassi-Ba zu seiner Begleitung.

Als sie gegangen waren, stellte Angélique fest, daß Lauzun und d’Humières sowie ihre Sekundanten sich gleichfalls davongemacht hatten.

Sie fuhr sich müde über die Stirn.

»Ich muß gegen fünf Uhr in die Tuilerien zurückkehren«, sagte sie zu Margot. »Gehen wir so lange in eine Schenke, wo man uns zu trinken und zu essen geben wird.«

»Eine Schenke?« wiederholte die Zofe entrüstet. Madame, das ist kein Ort für Euch.«

»Findest du, daß das Gefängnis ein Ort für meinen Gatten ist? Ich bin hungrig und durstig. Du bist es ganz gewiß auch. Mach keine Geschichten, wir wollen uns ausruhen.«

Sie nahm sie vertraulich beim Arm und lehnte sich an sie. Sie war kleiner als Margot, und daher kam es wohl, daß sie sich lange Zeit hindurch von der Kammerfrau hatte bestimmen lassen.

Jetzt kannte sie sie genau. Lebhaft, heftig und empfindlich, wie sie war, bewahrte Marguerite, genannt Margot, eine unerschütterliche Anhänglichkeit zur Familie de Peyrac.

»Vielleicht möchtest auch du mich verlassen?« sagte Angélique unvermittelt. »Ich weiß absolut nicht, wie das alles ausgehen wird. Du hast ja gesehen, wie schnell die Diener es mit der Angst zu tun bekamen, und sie haben vielleicht nicht unrecht.«

»Ich habe nie daran gedacht, dem Beispiel der Diener zu folgen«, erklärte Margot, deren Augen wie glühende Kohlen funkelten, verächtlich. Nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu:

»Mein ganzes Leben wird von einer einzigen Erinnerung beherrscht. Ich bin zu ihm in die Kiepe des katholischen Bauern gesteckt worden, der ihn zu seinen Eltern nach Toulouse zurückbrachte. Es war nach dem Massaker der Leute meines Dorfs, bei dem auch meine Mutter, seine Amme, den Tod fand. Ich war knapp vier Jahre alt, aber ich erinnere mich an jede Einzelheit. Er war völlig erschöpft und stöhnte. Ich wischte sein blutendes Gesichtchen ungeschickt ab, und da er vor Durst umkam, stopfte ich ihm ein wenig Schnee zwischen die Lippen. Genausowenig wie damals werde ich ihn heute im Stich lassen, und sollte ich auf dem Stroh einer Gefängniszelle sterben ...«

Angélique erwiderte nichts, aber sie schmiegte sich noch enger an sie und legte einen Augenblick ihre Wange an die Schulter der Zofe.

Nicht viel später fanden sie in der Nähe der Porte de Nesle vor der kleinen Brücke, die den alten Stadtgraben überquerte, eine Schenke. Die Wirtin bereitete ihnen ein Frikassee auf dem Herd, während sie Rotwein tranken und runde Brötchen verzehrten.

Es waren kaum Leute im Raum, nur ein paar Soldaten, die neugierig die vornehm gekleidete Dame musterten, die da an einem derben Tisch saß.

Durch die offenstehende Tür betrachtete Angélique die finstere Tour de Nesle mit ihrem kleinen Anbau. Von ihr waren einstmals die Liebhaber der mannstollen Marguerite de Bourgogne, Königin von Frankreich, die maskiert durch die Gassen gegangen war und sich Studenten mit frischen Gesichtern gegriffen hatte, in den Fluß gestürzt worden.

Jetzt war der verfallene Turm von der Stadt an Wäscherinnen vermietet worden, die ihre Wäsche über die Zinnen und Schießscharten hängten.

Der Ort war still und fast menschenleer. Flußschiffer zogen ihre Kähne in den Morast der Ufer. Kinder angelten in den Gräben ...

Als es zu dunkeln begann, überquerte Angélique abermals den Fluß, um sich in die Tuilerien zu begeben.

Am Pavillon de Flore kam ihnen der Chevalier de Lorraine persönlich entgegen und führte sie zu einer Bank im Vorzimmer. Seine Hoheit werde bald erscheinen, erklärte er und ließ sie allein.

Der Durchgang, der die Verbindung zwischen den Tuilerien und dem Louvre herstellte, war sehr belebt. Wiederholt bemerkte Angélique Gesichter, die ihr schon in Saint-Jean-de-Luz begegnet waren. Man begab sich zum Souper bei Mademoiselle. Man kam bei Madame Henriette zum Kartenspiel zusammen. Manche bedauerten, daß sie ins Schloß Vincennes zurückkehren mußten, das dem König bis zu seinem Einzug in Paris als Unterkunft zu dienen hatte, obwohl es so ungemütlich war.

Allmählich wurde es auf den Gängen dunkel. Lakaien erschienen mit Leuchtern, die sie auf die Konsolen zwischen den hohen Fenstern stellten.

»Madame«, sagte Margot unversehens, »wir müssen gehen. Es wird Nacht. Wenn wir jetzt nicht aufbrechen, werden wir nicht heimfinden oder von irgendeinem Räuber ermordet werden.«

»Ich rühre mich nicht von der Stelle, bevor ich Monsieur gesprochen habe«, erklärte Angélique trotzig. »Und wenn ich die Nacht auf dieser Bank verbringen muß.«

Die Zofe schwieg. Doch nach einer Weile begann sie mit gedämpfter Stimme von neuem:

»Madame, ich fürchte, man hat es auf Euer Leben abgesehen!«

Angélique fuhr auf.

»Du bist verrückt. Wie kommst du auf solche Ideen?«

»Das ist nicht so abwegig. Man hat ja erst vor vier Tagen versucht, Euch umzubringen.«

»Wie meinst du das?«

»Im Wald von Rambouillet. Man hatte es nicht auf den König und die Königin abgesehen, Madame, sondern auf Euch. Und wäre der Wagen nicht ins Schwanken geraten, so hätte Euch der Schuß, den man aus nächster Nähe auf die Fensterscheibe abgab, ganz zweifellos in den Kopf getroffen.«

»Wie kommst du nur auf so unsinnige Gedanken! Die Diener, die auf einen üblen Streich aus waren, hätten jeden beliebigen Wagen angegriffen .«

»So! Wie kommt es dann, daß der, der auf Euch schoß, ausgerechnet Euer ehemaliger Haushofmeister Clément Tonnel war?«

Angélique sah sich in dem jetzt verlassenen Vorzimmer um, an dessen Wände die steilen Flammen der Wachskerzen regungslose Schatten warfen.

»Bist du dessen gewiß, was du da sagst?«

»Ich verbürge mich mit meinem Leben dafür. Ich habe ihn ganz deutlich erkannt, trotz des in die Stirn gezogenen Huts. Vermutlich hat man ihn ausgesucht, weil er Euch gut kennt und man die Gewißheit hatte, daß er sich nicht in der Person irren würde.« - »Wer ist das: >man

Angélique fröstelte und hüllte sich enger in ihren weiten Umhang aus brauner Seide.

»Ich weiß nicht, wer einen Grund dazu haben könnte. Und weshalb sollte man gerade mich umbringen wollen?«

Blitzartig erschien die Vision des Giftkästchens vor ihren Augen. In dieses Geheimnis hatte sie nur Joffrey eingeweiht. War es möglich, daß diese alte Geschichte immer noch spukte?

»Gehen wir, Madame«, wiederholte Margot in drängendem Ton.

In diesem Augenblick hallten Schritte in der Galerie. Angélique begann zu zittern. Jemand näherte sich. Sie erkannten den Chevalier de Lorraine, der einen Leuchter mit drei Kerzen trug. Die Flammen beleuchteten sein kantiges, ein wenig verfettetes Gesicht, dessen leutseliger Ausdruck kaum über die brutalen Züge hinwegtäuschte.

»Seine Königliche Hoheit bedauert unendlich«, sagte er mit einer Verbeugung. »Sie ist aufgehalten worden und kann zu der für heute abend mit Euch vereinbarten Verabredung nicht erscheinen. Seid Ihr mit einer Verschiebung auf morgen zur gleichen Stunde einverstanden?«

Angélique war grenzenlos enttäuscht. Gleichwohl stimmte sie der neuen Verabredung zu.

Der Chevalier de Lorraine sagte ihr, die Tore der Tuilerien seien geschlossen; er werde sie zum andern Ende der Großen Galerie geleiten. Wenn sie von dort aus einen kleinen Garten durchquerten, den sogenannten Garten der Infantin, würden sie mit wenigen Schritten den Pont-Neuf erreichen.

Der Chevalier schritt voraus und hielt seinen Leuchter in die Höhe. Seine hölzernen Absätze erzeugten auf den Fliesen des Flurs ein unheimlich hallendes Geräusch. Von Zeit zu Zeit begegnete man einer Wache, oder eine Tür öffnete sich, und ein la-chendes Paar erschien. An ihm vorbei konnte man einen Blick in einen festlich erleuchteten Salon werfen, in dem eine Gesellschaft beim Kartenspiel saß. Irgendwo hinter Wandteppichen spielten Violinen eine zierliche, sanfte Weise.

Endlich schien der Weg ein Ende zu nehmen. Der Chevalier de Lorraine blieb stehen.

»Hier ist die Treppe, über die Ihr zu den Gärten gelangt. Ihr werdet alsbald zu Eurer Rechten eine kleine Pforte finden, die ins Freie führt.«

Angélique wagte nicht zu sagen, daß sie keinen Wagen hatte, und er erkundigte sich auch nicht danach. Er verbeugte sich mit der Korrektheit eines Mannes, der seinen Auftrag ausgeführt hat, und entfernte sich.

Abermals nahm Angélique die Kammerfrau beim Arm.

»Beeilen wir uns, Margot, Liebe. Ich bin nicht ängstlich, aber dieser nächtliche Spaziergang ist mir ganz und gar nicht sympathisch.«

Rasch stiegen sie die steinernen Stufen hinunter.

Ihr kleiner Schuh war es, der Angélique rettete. Sie war den ganzen Tag über so viel gegangen, daß das brüchig gewordene Leder band plötzlich riß. Während Margot erkundend zum Fuß der Treppe vorausging, beugte sie sich nieder, um zu versuchen, den Schaden notdürftig zu beheben.

Mit einem Male erklang ein markerschütternder Schrei in der Finsternis, der Schrei einer in Todesnotbefindlichen Frau.

»Zu Hilfe, Madame, man ermordet mich ...! Flieht! Flieht!«

Dann verstummte die Stimme.

Ein grausiges Stöhnen ließ sich vernehmen, das allmählich schwächer wurde.

Starr vor Entsetzen tastete Angélique vergeblich in dem finsteren Treppenschacht umher, dessen Stufen sich nicht erkennen ließen. Sie rief:

»Margot! Margot!«

Ihre Stimme verhallte in tiefer Stille. Die kühle, vom Duft der Orangenbäume im Garten erfüllte Nachtluft drang bis zu ihr, aber kein Laut war mehr zu hören. - Von Panik erfaßt, lief Angélique wieder die Treppe hinauf und gelangte in die erleuchtete Große Galerie. Ein Offizier kam ihr entgegen. Sie stürzte auf ihn zu.

»Monsieur! Monsieur! Zu Hilfe! Man hat meine Dienerin ermordet.«

Um einiges zu spät erkannte sie den Marquis de Vardes, aber in ihrem Entsetzen schien er ihr von der Vorsehung gesandt.

»Nanu, da haben wir ja die Frau in Gold!« sagte er in seinem spöttischen Ton. »Die Frau mit den flinken Fingern!«

»Monsieur, Eure Scherze sind übel angebracht. Ich wiederhole: Man hat meine Dienerin ermordet.«

»Na und? Soll ich vielleicht darüber weinen?«

Angélique rang die Hände.

»Aber es muß doch etwas geschehen. Man muß die Räuber verjagen, die sich unter jener Treppe verbergen. Margot ist vielleicht nur verletzt?«

Er lächelte immer noch, während er sie betrachtete.

»Immerhin kommt Ihr mir weniger arrogant vor als bei unserer ersten Begegnung. Und die Erregung steht Euch nicht schlecht zu Gesicht.«

Sie war nahe daran, ihn zu ohrfeigen. Aber sie hörte, wie er den Degen zog, während er gelassen sagte:

»Wir wollen mal nachsehen.«

Bemüht, nicht zu zittern, folgte sie ihm und stieg an seiner Seite die ersten Stufen hinab.

Der Marquis beugte sich über das Geländer.

»Man sieht nichts, aber man riecht. Die Witterung des Gesindels trügt selten: Zwiebel, Tabak und dunkler Wein der Schenken. Es müssen vier oder fünf sein, die da drunten rumoren.« Er faßte sie am Handgelenk: »Horcht!«

Das Geräusch eines ins Wasser stürzendes Körpers zerriß die düstere Stille. »Aha. Sie haben die Leiche in die Seine geworfen.«

Er schaute sie mit halbgeschlossenen Augen an wie ein Reptil, das seine Beute belauert, und fuhr fort:

»Oh, der Ort ist geradezu klassisch! Da drunten ist eine kleine Pforte, die man häufig abzuschließen vergißt, zuweilen absichtlich. Es ist ein leichtes, dort ein paar gedungene Mörder zu postieren. Die Seine ist zwei Schritte entfernt. Die Sache ist rasch erledigt. Spitzt Euer Ohr ein wenig, Ihr werdet sie flüstern hören. Sie sind sich vermutlich klargeworden, daß sie nicht die Person erwischt haben, die man ihnen bezeichnet hatte. Ihr müßt ja beachtliche Feinde haben, meine Teuerste?«

Angélique biß die Zähne zusammen.

Mühsam brachte sie endlich heraus:

»Was werdet Ihr tun?«

»Im Augenblick nichts. Ich verspüre keine Lust, meinen Degen mit den rostigen Rapieren dieser Banditen zu kreuzen. Aber in einer Stunde werden die Schweizer die Wache in diesem Winkel übernehmen. Die Mörder werden sich aus dem Staube machen, um sich nicht ertappen zu lassen. Jedenfalls könnt Ihr dann unbesorgt vorbeigehen. Inzwischen ...«

Er hielt sie noch immer am Handgelenk fest und führte sie in die Galerie zurück. Sie folgte ihm willenlos und wie betäubt. Immer die gleiche Gedankenfolge ging ihr im Kopf herum:

»Margot ist tot . Man hat mich umbringen wollen ... Es ist das zweitemal ... Und ich weiß nichts, gar nichts . Margot ist tot .«

Vardes hatte sie in eine Art Nische geleitet, die offenbar als Vorraum für eine angrenzende Zimmerflucht diente. Geruhsam schob er seinen Degen in die Scheide, schnallte sein Wehrgehänge ab und legte es zusammen mit der Waffe auf die Konsole. Dann trat er auf Angélique zu.

Sie erfaßte plötzlich, was er wollte, und stieß ihn mit Abscheu zurück.

»Ich habe gerade erleben müssen, Monsieur, daß man ein Mädchen ermordete, dem ich zugetan war, und Ihr glaubt, ich würde mich bereit finden .?«

»Es ist mir völlig gleichgültig, ob Ihr Euch bereit findet oder nicht. Was die Frauen im Kopf haben, kümmert mich nicht. Ich interessiere mich für sie nur vom Gürtel an abwärts. Die Liebe ist eine Formalität. Wißt Ihr nicht, daß die schönen Damen auf diese Weise ihren Wegezoll auf den Gängen des Louvre entrichten? Also seid vernünftig.«

Im Dunkeln sah sie ihn nicht, aber sie erriet das süffisante und ein wenig brutale Lächeln auf seinem hübschen Gesicht. Ein matter Schimmer fiel von der Galerie her auf seine hellblonde Perücke.

»Ihr werdet mich nicht anrühren«, sagte sie keuchend, »sonst rufe ich.«

»Rufen würde nichts nützen. In diesen Winkel kommt selten jemand. Ihr würdet mit Euerm Geschrei höchstens die Herren mit den rostigen Rapieren anlocken. Macht keinen Skandal, meine Liebe. Ich will Euch haben, und ich werde Euch haben. Das ist längst beschlossene Sache, und das Schicksal ist mir zu Hilfe gekommen. Wollt Ihr lieber allein nach Hause gehen?«

»Ich werde mir schon Schutz suchen.«

»Wer soll Euch in diesem Palast beschützen, in dem sich alles gegen Euch verschworen zu haben scheint? Wer hat Euch zu jener berüchtigten Treppe geleitet?«

»Der Chevalier de Lorraine.«

»Sieh an! Da steckt also der kleine Monsieur dahinter. Nun, es wäre nicht das erstemal, daß er eine hin-derliche >Rivalin< aus dem Wege räumt. Ihr seht also, daß es in Eurem Interesse liegt, zu schweigen .«

Sie blieb stumm, und als er sich ihr von neuem näherte, rührte sie sich nicht mehr.

Ohne jede Hast, in schamloser Gelassenheit, hob er ihre langen Taftröcke, und sie spürte, wie seine warmen Hände genießerisch über ihre Hüften und Schenkel strichen.

»Bezaubernd«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Ein Genuß ohnegleichen.«

Angélique war außer sich vor Scham und Angst. In ihrem verwirrten Geist jagten sich die absurdesten Bilder: der Chevalier de Lorraine mit seinem Leuchter, die finstere Bastille, Margots Schrei, das Giftkästchen. Dann erlosch alles, und sie wurde von der Angst überwältigt, von der physischen Panik der Frau, die nur einen einzigen Mann gehabt hat. Diese neue Berührung beunruhigte sie und stieß sie ab. Sie wand sich und versuchte, sich der Umschlingung zu entziehen. Sie wollte schreien, aber kein Laut kam aus ihrer Kehle. Gelähmt, zitternd ließ sie sich nehmen und erfaßte kaum, was mit ihr geschah .

Ein Lichtschein fiel plötzlich ins Innere des Raums. Dann zog ein vorbeikommender Edelmann rasch einen Leuchter zurück und entfernte sich lachend, indem er rief: »Ich habe nichts gesehen.« Die Bewohner des Louvre schienen an solche Szenen gewöhnt zu sein.

Der Marquis de Vardes hatte sich durch diesen kleinen Zwischenfall nicht stören lassen. Erschöpft und halb ohnmächtig überließ sich Angélique den männlichen Armen, die sie umklammerten. Doch ganz allmählich versetzte sie die Neuartigkeit dieses Liebesspiels in eine Erregung, die sie nicht zu bekämpfen versuchte. Als sie sich dessen bewußt wurde, war es zu spät. Der Funke der Wollust entzündete ein vertrautes Verlangen in ihr, das sich bald zu einem verzehrenden Feuer steigerte.

Der junge Mann durchschaute sie. Er lachte spöttisch und bot all seine Liebeskünste auf.

Noch einmal lehnte sie sich innerlich auf, wandte den Kopf ab und seufzte ganz leise: »Nein, nein!« Aber der Widerstand beschleunigte nur ihre Niederlage. Bald gab sie ihre Passivität auf und drängte sich hemmungslos an ihn, überwältigt vom Strom der Lust. Im Gefühl seines Triumphs erließ er ihr nichts, und sie gab sich ihm hin, willenlos, mit halbgeöffneten Lippen und jenen röchelnden Lauten in der Kehle, die den Groll und die Dankbarkeit des besiegten Weibes ausdrücken.

Kaum hatten sie sich gelöst, als sich Angélique auch schon von einem furchtbaren Schamgefühl überwältigt fühlte. Sie barg das Gesicht in den Händen. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken, um nie wieder das Licht sehen zu müssen.

Wortlos schnallte der Offizier seinen Degen um.

»Die Wachen müssen jetzt da sein«, sagte er. »Komm.«

Da sie sich nicht rührte, nahm er sie beim Arm und zog sie aus der Nische. Sie machte sich los, folgte ihm jedoch stumm. Das Schamgefühl brannte noch immer wie glühendes Eisen. Nie mehr würde sie Joffrey ins Gesicht sehen, nie mehr Florimond in die Arme nehmen können. Vardes hatte alles zerstört, alles geschändet. Sie hatte das einzige verloren, was ihr blieb: das Wissen um ihre Liebe.

Am Fuße der Treppe stand, auf seine Hellebarde gestützt, ein Schweizer in weißer Halskrause und einem Wams mit gelben und roten Ärmeln; er hatte eine Laterne neben sich gestellt und pfiff vor sich hin. Als er seinen Hauptmann erkannte, nahm er Haltung an.

»Keine Spitzbuben in der Gegend?« fragte der Marquis.

»Ich habe niemanden gesehen, Monsieur. Aber bevor ich kam, muß hier allerhand los gewesen sein.«

Er hob seine Laterne auf und deutete auf eine große Blutlache.

»Die Pforte nach dem Uferdamm stand offen. Ich habe die Blutspur bis dorthin verfolgt. Vermutlich haben sie den Burschen ins Wasser geschmissen.«

»Es ist gut, Schweizer. Sei wachsam.«

Die Nacht war mondlos. Vom Uferhang stieg ein mulmiger Geruch auf. Man hörte die Mücken summen und das schläfrige Murmeln des Flusses. Angélique blieb am Uferrand stehen und rief ganz leise: »Margot!«

Sie verspürte den Drang, sich in dieses murmelnde Dunkel zu stürzen, ihrerseits in den Schoß der feuchten Nacht zu tauchen.

»Wo bleibst du?« fragte die Stimme des Marquis de Vardes sachlich.

»Ich verbiete Euch, mich zu duzen«, fuhr sie ihn an, während sie von neuem der Zorn überkam.

»Ich duze alle Frauen, die ich mir genommen habe.«

»Ich schere mich nicht um Eure Angewohnheiten. Laßt mich.«

»Hoppla! Vorhin warst du weniger stolz. Ich hatte nicht das Gefühl, dir übermäßig zu mißfallen.«

»Vorhin war vorhin. Jetzt hasse ich Euch.«

Sie wiederholte mehrmals mit zusammengebissenen Zähnen: »Ich hasse Euch!« und spuckte ihn an. Dann setzte sie sich mit unsicheren Schritten in Bewegung.

Es war stockfinster. Nur hie und da beleuchtete eine Laterne das Schild eines Kaufladens, den Torbogen eines Bürgerhauses.

Angélique wußte, daß der Pont-Neuf sich zu ihrer Rechten befand. Sie konnte unschwer die weiße Brüstung erkennen, aber als sie sich in ihre Richtung wenden wollte, schob sich ihr plötzlich eine menschliche Gestalt in den Weg. An ihrem übelkeiterregenden Geruch merkte sie, daß es einer jener Bettler war, die sie am Tage so erschreckt hatten. Sie wich zurück und stieß einen durchdringenden Schrei aus. Hinter ihr erklangen eilige Schritte, und die Stimme des Marquis de Vardes ließ sich vernehmen:

»Zurück, Strolch, oder ich spieße dich auf!«

Der andere blieb mitten im Wege stehen.

»Habt Erbarmen, edler Herr! Ich bin ein armer Blinder.«

»Aber nicht so blind, daß dir meine Börse entgangen wäre!«

Vardes setzte die Spitze seines Degens gegen den Bauch des mißgestalten Wesens, das zusammenzuckte und stöhnend davonlief.

»Vielleicht verratet Ihr mir jetzt, wo Ihr wohnt!« sagte der Offizier hart.

Widerstrebend nannte Angélique die Adresse ihres Schwagers, des Staatsanwalts. Dieses nächtliche Paris beängstigte sie. Man glaubte, das Raunen unsichtbarer Wesen zu vernehmen, ein unterirdisches Leben, dem der Kellerasseln vergleichbar. Stimmen kamen aus den Mauern, Geflüster, höhnisches Gelächter. Hin und wieder drang ein Lichtschein durch die offene Tür einer Schenke oder eines Bordells, und man sah im Pfeifenqualm Musketiere an Tischen sitzen, nackte Mädchen auf dem Schoß. Im nächsten Augenblick schlug das Dunkel der nächtlichen Gassen wieder über ihnen zusammen.

De Vardes sah sich des öfteren um. Von einer zur Seite eines Brunnens versammelten Gruppe hatte sich ein Individuum gelöst und folgte ihnen leisen und geschmeidigen Schrittes.

»Ist es noch weit?«

»Wir sind schon da«, sagte Angélique, die die Wasserspeier und mittelalterlichen Giebel der Häuser der Rue de l’Enfer wiedererkannte.

»Gottlob, denn ich glaube, daß ich genötigt sein werde, ein paar Wänste zu durchbohren. Laßt Euch sagen, meine Kleine, geht nie wieder in den Louvre. Verbergt Euch, bringt Euch in Vergessenheit.«

»Wenn ich mich verberge, werde ich meinen Gatten nie freibekommen.«

Er lachte spöttisch:

»Wie es Euch beliebt, o getreue und tugendhafte Gattin!«

Angélique spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht drang. Sie hätte ihn beißen, ihn erwürgen mögen.

Doch in diesem Augenblick tauchte eine zweite Gestalt mit einem Satz aus dem Dunkel der Gasse auf. Der Marquis drängte die junge Frau an die Mauer und stellte sich mit gezogenem Degen vor sie.

Mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen starrte Angélique die in Lumpen gehüllten Männer an, die im Lichtkreis der vor dem Hause Maître Fallots aufgehängten großen Laterne auftauchten. Der eine von ihnen trug einen Stock in der Hand, der andere ein Küchenmesser.

»Wir wollen Eure Börsen«, sagte der erstere mit heiserer Stimme.

»Ihr werdet zweifellos etwas bekommen, Messires, nämlich ein paar saftige Degenhiebe.«

Angélique bewegte den bronzenen Türhammer mit verdoppelter Kraft. Endlich öffnete sich die Tür um Spaltbreite. Sie schlüpfte ins Haus, während hinter ihr der Marquis de Vardes zurückblieb und sich mit seinem Degen die beiden gierigen Räuber vom Leibe hielt.

Hortense war es, die ihr die Tür geöffnet hatte. In einem Nachthemd aus grober Leinwand, eine Kerze in der Hand, stieg sie, in scharfem Tone flüsternd, hinter ihrer Schwester die Treppe hinauf.

Sie habe es ja immer gesagt. Eine Herumtreiberin, das sei Angélique schon seit ihrer frühen Kindheit gewesen. Eine Intrigantin. Eine ehrgeizige Person, die nur auf das Vermögen ihres Mannes aus gewesen sei und obendrein noch vorgebe, ihn zu lieben, während sie sich nicht entblöde, sich mit Wüstlingen in den verrufensten Gegenden von Paris herumzutreiben.

Angélique hatte kein Ohr für sie. Sie horchte angespannt auf die Straße hinaus und vernahm ganz deutlich Waffengeklirr, dann einen dumpfen Schrei und eilig sich entfernende Schritte.

»Hör doch«, murmelte sie und packte Hortense ängstlich beim Arm.

»Was denn?«

»Dieser Schrei! Sicher ist jemand verwundet worden.«

»Na und? Die Nacht gehört den Räubern und Raufbolden. Keine anständige Frau würde auf den Gedanken kommen, sich nach Sonnenuntergang in Paris herumzutreiben. Außer meiner leiblichen Schwester!«

Sie hob die Kerze hoch, um Angéliques Gesicht zu beleuchten.

»Du solltest dich nur im Spiegel betrachten. Puh! Du siehst aus wie eine Dirne, die eine geschäftige Nacht hinter sich hat.«

Angélique riß ihr den Leuchter aus den Händen.

»Und du siehst wie eine alte Jungfer aus, deren Nächte zu ruhig sind. Leg dich doch wieder zu deinem eheherrlichen Staatsanwalt, der nichts Besseres zu tun weiß als zu schnarchen.«

Sie blieb lange am Fenster sitzen und konnte sich nicht entschließen, sich hinzulegen und zu schlafen. Sie weinte nicht. Sie erlebte ein zweites Mal die verschiedenen Etappen dieses furchtbaren Tages. Es kam ihr vor, als sei ein Jahrhundert seit jenem Augenblick vergangen, da Barbe mit den Worten ins Zimmer getreten war: »Hier ist gute Milch für den Kleinen.« Inzwischen war Margot ums Leben gekommen, und sie selbst hatte Joffrey betrogen.

»Wenn es mir nur nicht solches Vergnügen gemacht hätte!« sagte sie sich immer wieder; und aufs neue überkam sie ein Schauer der Wollust und des Grausens.

Die Begierde ihres Körpers entsetzte sie. Solange sie an Joffreys Seite gewesen war, hatte sie nicht gewußt, in welchem Maße sein häufig wiederholter Ausspruch zutraf: »Ihr seid für die Liebe geschaffen.«

Zuweilen hatte sich Joffrey über ihre von ihm selbst geweckte Sinnlichkeit ein wenig beunruhigt gezeigt. Sie erinnerte sich eines Sommernachmittags, als sie, seinen Liebkosungen wollüstig hingegeben, auf dem Bett gelegen hatte. Plötzlich hatte er innegehalten und unvermittelt zu ihr gesagt: »Wirst du mich betrügen?«

»Nein, niemals. Ich liebe nur dich.«

»Wenn du mich betrügst, werde ich dich töten!«

»Nun, so soll er mich töten!« dachte Angélique, sich jäh aufrichtend. »Es wird schön sein, von seiner Hand zu sterben. Ihn ganz allein liebe ich.«

In der Stille des Raums waren die regelmäßigen Atemzüge des Kindes vernehmbar. Schließlich gelang es Angélique, eine Stunde zu schlafen, aber schon im Morgengrauen war sie wieder auf den Beinen. Nachdem sie ein Tuch um ihr Haar geschlungen hatte, schlich sie auf Zehenspitzen hinunter und verließ das Haus.

Sie mischte sich unter die Mägde, unter die Handwerker- und Kaufmannsfrauen und machte sich auf den Weg nach Notre-Dame, um die Frühmesse zu hören.

In den Gassen, über denen die Nebel der Seine im Licht der ersten Sonnenstrahlen wie Zauberschleier golden erglänzten, atmete man noch die muffige Nachtluft ein. Vagabunden und Langfinger suchten ihre Schlupfwinkel auf, während Bettler, Stelzfüße, Musikanten sich an den Straßenecken zu ihrem Broterwerb niederließen. Scheele Blicke verfolgten die sittsamen Frauen, die zu ihrem Herrn beten gingen, bevor sie ihr Tagewerk begannen. Die Handwerker schlossen ihre Ladengitter auf. Die Lehrlinge der Perückenmacher liefen, Pudersäckchen und Kamm in der Hand, zu ihrer Kundschaft, um die Perücke des Herrn Rats oder des Herrn Staatsanwalts in Ordnung zu bringen.

Angélique schritt durch das düstere Hauptschiff der Kathedrale, in der die farbigen Fenster aufzuglühen begannen. In ihren Filzpantoffeln schlurfend, richteten die Küster die Monstranzen und Meßkännchen auf den Altären, füllten die Weihwasserkessel auf und reinigten die Leuchter.

Im ersten besten Beichtstuhl kniete sie nieder und bezichtigte sich mit pochenden Schläfen, Ehebruch begangen zu haben. Nachdem sie Absolution empfangen hatte, wohnte sie der Messe bei, dann bestellte sie drei Seelenämter für ihre Zofe Marguerite.

Als sie wieder auf dem Vorhof stand, fühlte sie sich erleichtert. Sie empfand keine Gewissensbisse mehr. Jetzt würde sie all ihren Mut darauf verwenden, zu kämpfen und Joffrey aus dem Gefängnis zu befreien.

Bei einem kleinen Händler kaufte sie noch ofenheiße Waffeln und schaute in die Runde. Es herrschte bereits reger Verkehr auf dem Platz vor der Kathedrale. Karossen brachten vornehme Damen zur Messe. Goldglänzend und mit Federbüschen geschmückt, bogen sie unter mächtigem Gelärm der Räder- und Scheibengeklirr zur Auffahrt ein, während junge Burschen, Bettler und Straßenverkäufer hastig zur Seite wichen.

Obwohl der Platz durch eine kleine Mauer abgeschlossen war, herrschte auf ihm noch immer das malerische Durcheinander, das ihn einstens zum beliebtesten Platz von Paris gemacht hatte. Noch immer kamen die Bäcker hierher, um ihr altbackenes Brot zu ermäßigtem Preis an die Armen zu verkaufen. Noch immer versammelten sich die Müßiggänger vor dem Großen Faster, jener riesigen, mit Blei überzogenen Gipsstatue, die seit Jahrhunderten hier stand.

Niemand wußte, wen dieses Denkmal darstellte: ein Mann, der in der einen Hand ein Buch, in der andern einen Stab hielt, um den sich Schlangen wanden.

Es war die berühmteste Figur von Paris. Man schrieb ihr die Fähigkeit zu, sich in Zeiten des Aufruhrs als Stimme des Volks vernehmen zu lassen.

Und unzählige Spottverse gingen damals um mit der Unterschrift: »Der Große Faster von Notre-Dame« ...

»Lauschet dem Mahner auf seinem Postament, den für gewöhnlich den Faster man nennt.

Weil, wie die Geschichte zu melden weiß, tausend Jahr’ er schon lebt ohne Trank und Speis’.«

Und auf eben diesen Platz waren im Lauf der Jahrhunderte alle Verbrecher im Hemd und mit der Fünfzehn-Livres-Kerze in der Hand gekommen, um Notre-Dame um Vergebung zu bitten, bevor sie verbrannt oder gehenkt wurden.

Angélique erschauerte bei dem Gedanken an den Zug der gespenstischen Gestalten. Diebe, Gotteslästerer, Geldfälscher, Juden, Ketzer, Mörder, Unschuldige und Schuldige - wie viele waren hier in die Knie gesunken, inmitten des wilden Geschreis der Menge, im blinden Angesicht der alten, steinernen Heiligen!

Sie schüttelte den Kopf, um diese düsteren Gedanken zu verjagen, und schickte sich eben an, zum Staatsanwalt zurückzukehren, als ein Geistlicher in städtischer Kleidung sie anredete.

»Madame de Peyrac, ich begrüße Euch. Ich wollte mich soeben zu Maître Fallot begeben, um mit Euch zu sprechen.«

»Ich stehe zu Eurer Verfügung, Herr Abbé, aber ich kann mich nicht an Euern Namen erinnern.«

»Wirklich nicht?«

Der Abbé lüftete seinen breitrandigen Hut und nahm mit der gleichen Bewegung eine kurze, graue Roßhaarperücke ab. Verblüfft erkannte Angélique den Advokaten Desgray.

»Ihr seid es! Aber weshalb diese Verkleidung?«

Der junge Mann hatte sich wieder bedeckt. Mit gedämpfter Stimme sagte er:

»Weil man gestern in der Bastille einen Anstaltsgeistlichen brauchte.«

Er zog aus den Schößen seines Ordenskleides eine kleine Tabaksdose aus Horn hervor, nahm eine Prise, nieste, schneuzte sich und fragte sodann Angélique:

»Was sagt Ihr dazu? Wirkt es nicht echt?«

»Gewiß. Ich habe mich selbst täuschen lassen. Aber ... sagt mir, Ihr habt Euch in die Bastille einschmuggeln können?«

»Pst! Gehn wir zum Herrn Staatsanwalt. Dort werden wir ungestört reden.«

Unterwegs beherrschte Angélique mühsam ihre Ungeduld. Ob der Advokat endlich etwas wußte? Ob er Joffrey gesehen hatte?

Er schritt höchst gemessen an ihrer Seite dahin, in der würdevollen und bescheidenen Haltung eines gottesfürchtigen Vikars.

»Veranlaßt Euch Euer Beruf häufig zu derartigen Verkleidungen?« fragte Angélique.

»Nein, mein Beruf nicht. Meiner Advokatenehre widersprechen sogar solche Maskeraden. Aber man muß ja leben. Wenn ich es satt habe, auf den Stufen des Justizpalastes Prozesse zu angeln, die mir lumpige drei Livres einbringen, biete ich der Polizei meine Dienste an. Das würde mir schaden, wenn man’s erführe, aber ich kann immer vorgeben, daß ich für meine Klienten Nachforschungen anstelle.«

»Ist es nicht allzu gewagt, sich als Geistlicher zu verkleiden?« erkundigte sich Angélique. »Ihr könntet doch in die Zwangslage versetzt werden, etwas wie Religionsfrevel zu begehen.«

»Ich stelle mich nicht ein, um das Sakrament zu spenden, sondern als Beichtiger. Das Priestergewand flößt Vertrauen ein. Niemand wirkt in seiner Erscheinung harmloser als ein Vikar, der eben aus dem Seminar kommt. Man vertraut ihm alles an. Gewiß, dergleichen ist nicht sehr rühmlich, ich gebe es zu. Mit Eurem Schwager Fallot, der mein Mitschüler an der Sorbonne war, kann ich mich nicht vergleichen. Er ist ein Mann, der von sich reden machen wird! Während ich, zum Beispiel, den armseligen kleinen Abbé neben einer liebreizenden jungen Dame spiele, verbringt dieser gewissenhafte Beamte den ganzen Vormittag kniend im Justizpalast, um eine Verteidigungsrede Maître Talons in einem Erbschaftsprozeß anzuhören.«

»Weshalb kniend?«

»Das ist seit Heinrich IV. Tradition bei Gericht. Der Advokat hat Vorrang vor dem Staatsanwalt. Dieser muß knien, während der andere redet. Aber der Advokat hat einen hohlen Bauch, wohingegen der Staatsanwalt sich mästet. Verdammt, er hat nach den zwölf Stationen des Verfahrens einiges zusammengescheffelt!«

»Das kommt mir reichlich kompliziert vor.«

»Versucht gleichwohl, Euch diese Einzelheiten zu merken. Sie können von Wichtigkeit sein, falls es je zu einem Prozeß gegen Euren Gatten kommen sollte.«

»Glaubt Ihr, daß es dazu kommen wird?« rief Angélique angsterfüllt aus. »Es muß dazu kommen«, versicherte der Advokat ernst. »Das ist seine einzige Chance.«

In Maître Fallots kleinem Büro nahm er die Perücke ab und fuhr sich durch sein struppiges Haar. Sein Gesicht, das für gewöhnlich heiter und lebendig wirkte, zeigte mit einem Male einen sorgenvollen Ausdruck. Angélique setzte sich neben den kleinen Tisch und begann mechanisch mit einem der Gänsekiele des Staatsanwaltes zu spielen. Eine Frage an Desgray zu stellen, wagte sie nicht.

Schließlich hielt es sie nicht länger.

»Habt Ihr ihn gesehen?«

»Wen?«

»Meinen Gatten?«

»O nein, davon ist gar keine Rede. Er ist streng isoliert. Der Gouverneur der Bastille haftet mit seinem Kopf dafür, daß er mit niemandem in Verbindung tritt.«

»Wird er gut behandelt?«

»Im Augenblick ja. Er hat sogar ein Bett und zwei Stühle, und er bekommt das gleiche Essen wie der Gouverneur. Ich habe mir auch sagen lassen, daß er häufig singt, daß er mit Hilfe jedes kleinsten Gipsbröckchens mathematische Formeln an die Wände seiner Zelle malt und daß er sich nebenbei damit beschäftigt, zwei riesige Spinnen zu dressieren.«

»O Joffrey«, murmelte Angélique lächelnd. Aber ihre Augen füllten sich mit Tränen. So lebte er also noch, er war zu keinem blinden und tauben Gespenst geworden, und die Mauern der Bastille waren noch nicht dick genug, um die Äußerungen seiner Vitalität zu ersticken.

Sie hob den Blick zu Desgray auf.

»Danke, Maître.«

Der Advokat wandte sich ärgerlich ab.

»Ihr sollt mir nicht danken. Die Sache ist ungemein heikel. Ich muß Euch gestehen, daß mich diese geringfügigen Auskünfte bereits den ganzen Vorschuß gekostet haben, den Ihr mir gabt.«

»Das Geld spielt keine Rolle. Sagt mir, was Ihr braucht, um Eure Nachforschungen weiterzubetreiben.«

Aber der junge Mann starrte weiterhin mit abgewandtem Gesicht vor sich hin, als sei er trotz seiner Redefertigkeit äußerst verlegen.

»Offen gesagt«, erklärte er in brüskem Ton, »ich frage mich sogar, ob ich nicht versuchen sollte, Euch dieses Geld zurückzugeben. Ich glaube, es war unklug von mir, diesen Fall zu übernehmen, der mir sehr verwickelt scheint.«

»Ihr lehnt es ab, meinen Gatten zu verteidigen?« rief Angélique aus.

Gestern noch hatte sie sich diesem Juristen gegenüber, der trotz aller glänzenden Diplome zweifellos ein armer Schlucker war und sich nicht alle Tage satt essen konnte, eines leisen Mißtrauens nicht erwehren können. Doch jetzt, da er davon redete, sie im Stich zu lassen, wurde sie von panischer Angst erfaßt.

Kopfschüttelnd sagte er:

»Um ihn zu verteidigen, müßte er erst einmal angegriffen werden.«

»Wessen klagt man ihn an?«

»Offiziell klagt man ihn überhaupt nicht an. Er existiert gar nicht.«

»Aber dann kann man ihm doch nichts tun.«

»Man kann ihn auf ewig vergessen, Madame. In den Kerkerlöchern der Bastille gibt es Leute, die schon dreißig oder vierzig Jahre dort sind und die sich weder auf ihren Namen besinnen können noch auf das, was sie verbrochen haben. Eben deshalb sage ich: Seine einzige Chance ist, daß man einen Prozeß erzwingt. Aber selbst dann wird dieser Prozeß zweifellos im Geheimen und ohne Beistand eines Advokaten stattfinden. So würde dieses Geld, das Ihr für mich ausgeben wollt, vergeudet sein!«

Sie richtete sich auf und fixierte ihn.

»Habt Ihr Angst?«

»Nein, aber ich gehe mit mir zu Rate. Wäre es zum Beispiel für mich nicht vernünftiger, ein Advokat ohne Mandant zu bleiben, statt einen Skandal zu riskieren? Und für Euch, Euch mit dem Kind und dem Euch verbliebenen Geld irgendwo tief in der Provinz zu verbergen, statt das Leben zu verlieren?

Für Euren Gatten, ein paar Jahre im Gefängnis zu verbringen, statt sich in einen Prozeß wegen ... Hexerei und Gotteslästerung zerren zu lassen?« Angélique stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.

»Hexerei und Gotteslästerung? Das ist es also, wessen man ihn anklagt?«

»Jedenfalls hat man das zum Vorwand für seine Verhaftung genommen.«

»Aber dann brauchen wir uns doch keine Sorgen zu machen. Alles geht auf eine Dummheit des Erzbischofs von Toulouse zurück.«

Sie erzählte Desgray in aller Ausführlichkeit, was zwischen dem Erzbischof und dem Grafen Peyrac vorgefallen war, wie der letztere ein Verfahren zur Ausscheidung von Gold aus Felsgestein vervollkommnet und wie der Erzbischof, neidisch auf dessen Reichtum, beschlossen hatte, ihm das Geheimnis zu entreißen, das im Grunde nichts anderes als eine technische Formel war.

»Es handelt sich absolut nicht um Zauberwerk, vielmehr um wissenschaftliche Forschungen.«

Der Advokat verzog das Gesicht.

»Madame, ich persönlich fühle mich in diesen Dingen nicht kompetent. Wenn diese Arbeiten die Grundlage der Anklage bilden, wird es erforderlich sein, Zeugen beizubringen, das Verfahren vor den Richtern zu demonstrieren und ihnen zu beweisen, daß weder Magie noch Hexerei dabei im Spiel ist.«

»Mein Gatte ist kein Frömmler, aber er besucht jeden Sonntag die Messe, er fastet und geht an den hohen Feiertagen zur Kommunion. Er spendet beträchtliche Summen für die Kirche. Aber Seine Eminenz fürchtete seinen Einfluß, und sie befehdeten sich seit Jahren.«

»Unglücklicherweise ist mit dem Titel des Erzbischofs von Toulouse beträchtliche Autorität verbunden. In gewisser Hinsicht hat dieser Kirchenfürst mehr Macht als der Erzbischof von Paris, vielleicht sogar mehr als der Kardinal. Aber im Grunde ist es gar nicht so sehr seine Unerbittlichkeit, die ich in diesem speziellen Falle fürchte. Hier, lest Euch das einmal durch.« Aus einem abgenutzten Plüschsäckchen zog er ein Blatt Papier hervor, das in einer Ecke den Vermerk »Kopie« trug.

Angélique las:

Verfügung:

Durch Philibert Vénot, Generalanwalt der Angelegenheiten des Bischöflichen Stuhls von Toulouse, Ankläger wegen Verbrechens der Magie und Hexerei gegen den Sieur Joffrey de Peyrac, Grafen Morens, Beklagten.

In Ansehung, daß genannter Joffrey de Peyrac hinreichend überführt ist, Gott verleugnet und sich dem Teufel ergeben zu haben, auch zu wiederholten Malen die Höllengeister angerufen und sich mit ihnen besprochen zu haben, schließlich wiederholt und auf verschiedene Weise Hexenkünste getrieben zu haben, wird er für diese und andere Fälle dem weltlichen Richter übergeben, um für seine Verbrechen abgeurteilt zu werden.

Am 26. Juni 1660 durch P Vénot gegeben, hat genannter de Peyrac weder Klage noch Widerspruch erhoben, vielmehr gesagt: >Gottes Wille geschehe!<

Desgray erklärte:

»In weniger sibyllinischen Worten heißt das, daß das Kirchengericht Euren Gatten, nachdem es ihn in contumaciam, das heißt in Abwesenheit des Angeklagten, verurteilte und im voraus seine Schuld feststellte, der weltlichen Gerichtsbarkeit des Königs überliefert hat.«

»Und Ihr glaubt, der König werde solchen Flausen Glauben schenken? Sie entspringen einzig der Eifersucht eines Bischofs, der über seine Provinz unbeschränkt herrschen möchte und der sich von den Hirngespinsten eines falschen Wissenschaften ergebenen Mönchs wie dieses Becher beeinflussen läßt.«

»Ich kann nur die Tatsachen beurteilen«, fiel der Advokat ein. »Nun, das Papier hier beweist, daß der Erzbischof sorgsam darauf bedacht ist, bei dieser Angelegenheit im Hintergrund zu bleiben: Ihr seht, sein Name erscheint gar nicht auf diesem Aktenstück, und dennoch besteht kein Zweifel, daß er es war, der die erste Verurteilung hinter verschlossenen Türen veranlaßt hat. Wohingegen der Verhaftbefehl die Unterschrift des Königs wie auch die Séguiers, des Gerichtspräsidenten, trug. Séguier ist ein untadeliger, aber schwacher Mensch, für den die Befehle des Königs den Vorrang vor allem andern haben.«

»Aber wenn der Prozeß eröffnet ist, kommt es doch auf die Meinung der Geschworenen an?«

»Ja«, gab Desgray zögernd zu. »Aber wer wird die Geschworenen bestimmen?«

»Und was riskiert mein Gatte nach Eurer Ansicht bei einem solchen Prozeß?«

»Die Folterung peinlichen und hochnotpeinlichen Grades zunächst, sodann den Scheiterhaufen, Madame!«

Angélique fühlte sich erbleichen, und ein Übelkeitsgefühl stieg ihr in die Kehle.

»Aber man kann doch einen Mann seines Standes auf alberne Gerüchte hin nicht einfach verurteilen!« wiederholte sie.

»Sie dienen ja nur als Vorwand. Wollte Ihr meine Ansicht wissen, Madame? Der Erzbischof von Toulouse hat nie die Absicht gehegt, Euren Gatten einem weltlichen Gericht zu überliefern. Er hoffte zweifellos, eine Verurteilung von seiten der Kirche werde genügen, um seinen Hochmut zu brechen und ihn sich gefügig zu machen. Aber Seine Eminenz hat falsch spekuliert, und wißt Ihr, weshalb?«

»Nein.«

»Weil da noch etwas anderes im Spiele ist«, sagte François Desgray, indem er den Finger hob. »Sicher hat Euer Gatte an sehr hoher Stelle Neider gehabt, eine Gruppe von Feinden, die sich geschworen hatten, ihn aus dem Weg zu räumen. Die Intrige des Erzbischofs von Toulouse bot ihnen ein treffliches Sprungbrett. Früher pflegte man seine Feinde in aller Stille zu vergiften. Heutzutage macht man sich ein Vergnügen daraus, unter Wahrung aller Formen vorzugehen: Man klagt an, richtet, verurteilt. So hat man ein ruhiges Gewissen. Wenn der Prozeß Eures Gatten zustande kommt, wird er sich auf die Beschuldigung der Hexerei stützen, aber das wirkliche Motiv seiner Verdammung wird man nie erfahren.«

Wieder einmal erschien Angélique blitzartig die Vision des Giftkästchens. Sollte sie Desgray etwas sagen? Sie zögerte. Davon reden hieß, einem unbegründeten Verdacht Gestalt geben, vielleicht auch die ohnehin vagen Spuren verwirren. Sie fragte mit unsicherer Stimme:

»Von welcher Art könnte die Sache sein, die Ihr andeutet?«

»Davon habe ich nicht die leiseste Vorstellung. Ich kann Euch nur versichern, daß ich, je nachhaltiger ich meine lange Nase in diese Geschichte steckte, desto entsetzter zurückgeprallt bin angesichts der hohen Persönlichkeiten, die in sie verwickelt scheinen. Kurz, ich möchte wiederholen, was ich Euch letzthin gesagt habe: Die Spur beginnt beim König. Wenn er diesen Verhaftbefehl unterzeichnet hat, so bedeutet das, daß er ihn billigte.«

»Wenn ich daran denke«, murmelte Angélique, »daß er ihn bat, vor ihm zu singen, und ihn mit liebenswürdigen Worten überschüttete, während er schon wußte, daß man ihn verhaften würde.«

Desgray nickte.

»Unser König ist in einer guten Schule gewesen, was das Heucheln betrifft. Es bleibt die Tatsache, daß nur er einen solchen speziellen und geheimen Verhaftbefehl widerrufen kann. Weder Tellier noch vor allem Séguier oder andere Gerichtsbeamte sind dazu imstande. Infolgedessen muß man versuchen, an die Königin-Mutter heranzukommen, die einen starken Einfluß auf ihren Sohn ausübt, oder an dessen Jesuiten-Beichtvater oder sogar an den Kardinal.«

»Ich habe die Grande Mademoiselle aufgesucht«, sagte Angélique. »Sie hat versprochen, in ihrer Umgebung Erkundigungen einzuziehen und mich zu benachrichtigen. Aber sie sagt, ich dürfe mir vor den Einzugsfeierlichkeiten des Königs . in Paris . nichts versprechen .«

Angélique brachte ihren Satz nur mit Mühe zu Ende. Seit einer Weile, seitdem der Advokat vom Scheiterhaufen gesprochen hatte, verspürte sie eine zunehmende Übelkeit. Sie fühlte den Schweiß an ihren Schläfen perlen und fürchtete, ohnmächtig zu werden. Sie hörte Desgray zustimmen:

»Ich teile ihre Ansicht. Vor dem Fest ist nichts zu machen. Ihr tut am besten, ganz ruhig hier abzuwarten. Ich meinerseits werde mich bemühen, mit meinen Nachforschungen weiterzukommen.«

Wie in einem Nebel stand Angélique auf und streckte die Hände aus. Ihre kalte Wange berührte den steifen Stoff eines Priestergewands.

»Ihr weigert Euch also nicht, ihn zu verteidigen?« Der junge Mann schwieg einen Augenblick, dann sagte er mürrisch:

»Schließlich bin ich noch nie um meine Haut in Sorge gewesen. Ich habe sie unzählige Male bei albernen Schenkenprügeleien aufs Spiel gesetzt. Da kann ich sie ruhig noch einmal um einer gerechten Sache willen riskieren.

Nur müßt Ihr mir Geld geben, denn ich bin arm wie eine Kirchenmaus, und der jüdische Trödler, der mir Kostüme leiht, ist ein Erzgauner.«

Die kräftigen Worte wirkten belebend auf Angélique. Dieser Bursche war sehr viel ernster zu nehmen, als sie im Anfang geglaubt hatte. Hinter seinem ungenierten Gehaben verbarg er eine profunde Kenntnis aller einschlägigen Rechtskniffe, und er schien sich tüchtig ins Zeug zu legen, wenn man ihm eine Aufgabe anvertraute.

Angélique gewann ihre Ruhe zurück und zählte ihm hundert Livres vor. Nach kurzer Verabschiedung entfernte sich François Desgray, nicht ohne einen besorgten Blick auf das blasse, müde Gesicht geworfen zu haben, dessen grüne Augen im düsteren Licht dieses nach Tinte und Siegellack riechenden Büros wie Edelsteine funkelten.

Angélique stieg langsam zu ihrem Zimmer hinauf, wobei sie sich an das Geländer klammerte. Zweifellos war dieser Schwächeanfall den Aufregungen der vergangenen Nacht zuzuschreiben. Sie wollte sich niederlegen und ein wenig zu schlafen versuchen, ohne sich den Bissigkeiten ihrer Schwester auszusetzen. Doch kaum hatte sie ihr Zimmer betreten, als sie abermals von Übelkeit befallen wurde; sie konnte eben noch ihr Waschbecken erreichen.

»Was habe ich nur?« fragte sie sich entsetzt.

Und wenn Margot recht gehabt hatte? Ob man tatsächlich darauf ausging, sie umzubringen? War der Zwischenfall mit der Kutsche und das Attentat im Louvre ein zufälliges Zusammentreffen? Wollte man sie am Ende vergiften?

Doch mit einem Male entspannten sich ihre Züge, und ein Lächeln erhellte ihr Gesicht.

»Wie dumm ich mich anstelle! Ich bin eben ganz einfach schwanger!«

Sie erinnerte sich, daß ihr schon bei der Abreise von Toulouse die Vermutung gekommen war, sie erwarte ein zweites Kind. Jetzt bestätigte sich ihre Annahme, und es gab gar keinen Zweifel mehr.

»Wie wird sich Joffrey freuen, wenn er aus dem Gefängnis kommt«, sagte sie sich.

Diese Entdeckung vor allem löste den Alpdruck der vergangenen Nacht. Es war wie eine Antwort des Himmels auf ihre Verzweiflung. Trotz tödlicher Schläge ging das Leben der Familie weiter.

Sie hatte das brennende Bedürfnis, ihr schönes Geheimnis jemandem mitzuteilen, aber Hortense würde es sicher nicht unterlassen, eine spitze Bemerkung über die zweifelhafte Vaterschaft gewisser Kinder zu machen. Was ihren Schwager, den Staatsanwalt, betraf, der zu dieser Stunde vermutlich noch mit immer steifer werdenden Gliedern vor dem Advokaten Talon kniete, so würde den die Neuigkeit kalt lassen.

Schließlich ging Angélique in die Küche hinunter, wo sie Florimond auf den Arm nahm und ihm wie auch der Magd Barbe das frohe Ereignis zu wissen tat.

Während der folgenden Tage war Angélique bemüht, sich in Geduld zu fassen. Man mußte den triumphalen Einzug des Königs in Paris abwarten. Es hieß, er werde Ende Juli erfolgen, aber die umfangreichen Vorbereitungen für die Feierlichkeiten machten immer wieder eine Verlegung des Termins erforderlich. Die Menge der zu dem großen Ereignis nach Paris geströmten Provinzler begann schon ungeduldig zu werden.

Angélique nutzte die Zeit, um ihre Kutsche, ihre Pferde und einige Schmuckstücke zu verkaufen. Sie teilte das bescheidene Leben des bürgerlichen Stadtviertels, in dem sie hauste. Sie machte sich in der Küche nützlich, spielte mit Florimond, der unermüdlich durch das Haus trippelte, wobei er über sein langes Kleid stolperte. Seine kleinen Vettern liebten ihn innig. Von ihnen, von Barbe, von der kleinen Magd aus Béarn verwöhnt, schien er glücklich zu sein; er hatte auch wieder rote Backen bekommen. In dem von Angélique gestickten roten Häubchen und mit seinem reizenden, von schwarzen Locken umrahmten Gesichtchen bildete er das Entzücken der ganzen Familie. Sogar Hortense entrunzelte zuweilen ihre Stirn und bemerkte, ein Kind in diesem Alter sei zweifellos sehr reizvoll. Sie selbst habe leider nie die Mittel gehabt, eine Amme ins Haus zu nehmen, so daß sie ihre Kinder immer erst kennenlerne, wenn sie vier Jahre alt seien. Nun ja, nicht jedermann könne einen lahmen und mißgestalteten, durch den Umgang mit dem Satan reich gewordenen Edelmann heiraten, und es sei immer noch besser, die Frau eines Staatsanwalts zu sein, als des ewigen Seelenheils verlustig zu gehen.

Angélique stellte sich taub. Um ihren guten Willen zu beweisen, ging sie allmorgendlich in der wenig unterhaltsamen Gesellschaft ihres Schwagers und ihrer Schwester zur Messe. Allmählich lernte sie die besondere Eigenart der Cité-Insel kennen, die in zunehmendem Maße von Robenträgern bevölkert wurde.

Die meisten von ihnen führten ein würdiges und sittenstrenges Dasein. Am Morgen beeilten sie sich, eine Messe zu hören, bevor sie zu den Gerichtssitzungen stürzten. Am Nachmittag kehrten sie in ihre Kanzleien zurück, wo neue Mandanten und neue Pflichten ihrer harrten. Sie lernten die Welt nur von der Seite des Neides, des Betrugs und des Hasses kennen, wurden dadurch nur um so scharfsichtiger und gerissener und schlugen Kapital aus dieser Anhäufung von Schandtaten, aus diesem Abschaum der Menschheit. Zu ihrer Entspannung spielten sie auf den Uferdämmen Boule - unter den verdutzten Blicken der Müßiggänger, die ihr Berufsjargon einschüchterte.

Am Sonntag zwängten sie sich mit ihren Freunden in gemietete Kutschen und fuhren in die Vororte, wo jeder Beamte ein kleines Landhaus und ein Rebstück besaß.

Genau besehen, teilten die Beamten die Souveränität über die Ile de la Cité mit den Domherren von Notre-Dame und den Dirnen der Rue de Glatigny.

Das einstige »Tal der Liebe« hatte sich ja in nächster Nähe des Pont-aux-Meuniers[5] befunden, so daß das Geräusch der Mühlenräder das der Küsse und minder harmlosen Belustigungen übertönte.

Am anderen Ende der Insel, auf dem rötlichgelben, lärmerfüllten Pont-Neuf, trugen sich Dinge zu, die den Herren von der Justiz recht wenig genehm waren. Wenn man einen Lakaien auf einen Botengang in diese Gegend schickte und ihn fragte, wann er zurück sein werde, pflegte er zu antworten: »Das hängt von den Liedern ab, die man heute auf dem Pont-Neuf zu hören bekommt.«

Zusammen mit den Liedern entquoll dem unaufhörlichen Gewoge um die kleinen Krambuden ein Schwarm von Gedichten, Libellen und Pamphleten. Auf dem Pont-Neuf wußte man alles. Und die Großen hatten die angeschmutzten fliegenden Blätter zu fürchten gelernt, die der Seinewind davontrug und die man die »Ponts-neufs« nannte.

Eines Abends, als man bei Maître Fallot vom Tische aufstand und der eine oder andere sich bei einem Gläschen Quitten- oder Himbeerwein gütlich tat, zog Angélique mechanisch einen Zettel aus der Tasche. Sie betrachtete ihn verwundert, dann erinnerte sie sich, daß sie ihn am Morgen ihres Ganges zu den Tuilerien einem armen Schlucker auf dem Pont-Neuf abgekauft hatte. Halblaut las sie:

»Und nun gehn wir ins Justizpalais, und da merken wir, daß Rabelais nicht so viele Spötterein könnt’ schreiben, als man hier sieht Schurkereien treiben.

Hier begeht den abgefeimtesten Betrug der Erlauchte, der den Schwachen schlug.

Laßt uns sehn, wie man die Unschuld preßt ...«

Zwei empörte Ausrufe unterbrachen sie. Der alte Onkel und Maître Fallot verschluckten sich fast an ihrem Wein. Mit einer Heftigkeit, die sie in ihrem gemessenen Schwager nicht vermutet hätte, riß dieser ihr das Blatt aus den Händen, zerknitterte es zu einer Kugel und warf es aus dem Fenster.

»Welche Schande, Schwester!« rief er aus. »Wie könnt Ihr es wagen, solchen Unflat in unser Haus zu bringen! Ich wette, Ihr habt ihn bei einem jener heruntergekommenen Zeitungsverkäufer des Pont-Neuf gekauft.«

»Allerdings. Man drückte mir das Blatt in die Hand und verlangte zehn Sols dafür. Ich habe es nicht zurückzuweisen gewagt.«

»Die Schamlosigkeit dieser Leute übersteigt jedes Maß. Ihre Feder verschont nicht einmal die Gerichtsbeamten. Und da sperrt man sie in der Bastille ein, als wären sie Leute von Stand, während doch das finsterste Verlies des Châtelet noch viel zu gut für sie wäre.«

Hortenses Gatte schnaubte wie ein Stier. Nie hätte sie ihn für fähig gehalten, dermaßen in Wut zu geraten.

»Man überschüttet uns mit Pamphleten, Libellen und Spottversen. Die Kerle verschonen niemand, weder den König noch den Hof, und ergehen sich in den gottlosesten Schmähungen.«

»Zu meiner Zeit«, sagte der alte Onkel, »fing das Journalistenvolk eben an, sich auszubreiten. Jetzt ist es eine wahre Seuche, der Schandfleck unserer Hauptstadt.«

Er redete selten und tat den Mund nur auf, um ein Gläschen Quittenwein oder seine Tabaksdose zu verlangen. Dieser lange Satz verriet, wie sehr ihn das Vorlesen des Pamphlets erregt hatte.

»Keine anständige Frau wagt sich zu Fuß auf den Pont-Neuf«, erklärte Hortense.

Maître Fallot war zum Fenster gegangen.

»Der Fluß hat dieses schmähliche Machwerk davongetragen. Aber ich hätte gern gewußt, ob es vom >Schmutzpoeten< unterzeichnet war.«

»Zweifellos. Kein andrer verspritzt soviel Gift.«

»Der Schmutzpoet«, murmelte Maître Fallot dumpf, »der Mann, der die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit kritisiert, der geborene Aufwiegler, der berufsmäßige Parasit! Ich habe ihn einmal von einem Podest aus, ich weiß nicht welches zersetzende Elaborat an die Menge verteilen sehen. Es ist ein gewisser Claude Le Petit. Wenn ich daran denke, daß diese Hopfenstange mit dem wachsbleichen Gesicht es fertigbringt, Fürsten und sogar den König in ohnmächtige Wut zu versetzen, dann sage ich mir, daß es ein Jammer ist, in einer solchen Zeit leben zu müssen. Wann wird uns die Polizei endlich von solchen Gesellen befreien?«

Man gab noch ein paar Seufzer von sich, dann wurde der Zwischenfall abgeschlossen.

Ganz Paris lebte in Gedanken an den Einzug des Königs. Bei dieser Gelegenheit kamen Angélique und ihre Schwester einander näher. Eines Tages trat Hortense in Angéliques Zimmer, wobei sie die lieblichste Miene aufsetzte, die ihr zur Verfügung stand.

»Stell dir vor, was passiert ist«, rief sie. »Du erinnerst dich doch meiner alten Pensionsfreundin Athénaïs de Rochechouart, der ich in Poitiers innig verbunden war?«

»Nein, absolut nicht.«

»Das tut nichts. Sie ist nach Paris gekommen, und da sie von jeher eine Intrigantin war, hat sie es bereits fertiggebracht, sich an verschiedene hochgestellte Persönlichkeiten heranzumachen. Kurz, am Einzugstag kann sie ins Hôtel de Beauvais gehen, das in der Rue Saint-Antoine liegt, wo der Festzug beginnen wird. Wir werden also von den Dachfenstern aus zuschauen, womit nicht gesagt ist, daß wir schlechte Aussicht haben, im Gegenteil.«

»Warum sagst du >wir

»Weil sie uns aufgefordert hat, mitzukommen. Ihre Schwester, ihr Bruder und eine andere Freundin, die gleichfalls aus Poitiers stammt, werden auch dabeisein. Das gibt eine ganze Kutsche voller Poitou-Leute. Ist das nicht nett?«

»Wenn es meine Kutsche ist, auf die du rechnest, muß ich dir leider mitteilen, daß ich sie verkauft habe.«

»Ich weiß, ich weiß. Aber das macht nichts. Athénaïs kommt mit der ihrigen. Sie ist ein bißchen klapprig, denn die Familie nagt am Hungertuch, vor allem weil Athénaïs sehr verschwenderisch ist. Ihre Mutter hat sie mit einer Frau, einem Lakaien, der alten Kalesche und der strikten Weisung nach Paris expediert, in kürzester Frist einen Mann zu finden. Oh, sie wird es schaffen, sie strengt sich gehörig an! Was nun aber den Einzug des Königs betrifft, hat sie mir zu verstehen gegeben, daß sie ein wenig knapp an Kleidern ist. Weißt du, diese Madame de Beauvais, die uns eins ihrer Dachfenster zur Verfügung stellt, ist nicht irgendwer. Es heißt sogar, die Königin-Mutter, der Kardinal und alle möglichen hohen Persönlichkeiten würden während des Festzuges bei ihr speisen. Wir werden uns also in vornehmster Gesellschaft befinden. Da können wir natürlich nicht so auftreten, daß man uns für Kammerfrauen oder Bettelweiber hält und die Lakaien uns womöglich verjagen.«

Schweigend öffnete Angélique einen ihrer großen Koffer.

»Schau nach, ob du etwas Passendes für sie findest und auch für dich selbst. Du bist größer als ich, aber es dürfte keine Schwierigkeiten bereiten, einen Rock durch eine Spitze oder ein Volant zu verlängern.«

Mit leuchtenden Augen trat Hortense herzu. Sie konnte ihr Staunen nicht verbergen, während Angélique die prächtigen Toiletten auf dem Bett ausbreitete. Angesichts des Kleides aus Goldstoff stieß sie einen bewundernden Schrei aus.

»Ich glaube, das wäre für unser Dachfenster nicht ganz passend«, erklärte Angélique.

»Na ja, du bist bei der Hochzeit des Königs gewesen. Da steht es dir natürlich an, die Hochnäsige zu spielen.«

»Ich versichere dir, daß ich vollkommen zufrieden bin. Niemand erwartet mit größerer Ungeduld den Einzug des Königs als ich. Aber dieses Kleid möchte ich behalten, um es später verkaufen zu können, falls Andijos mir kein Geld mitbringt, wie ich allmählich fürchte. Über die andern kannst du nach Gutdünken verfügen. Es ist nur billig, daß du dich für die Kosten schadlos hältst, die mein Aufenthalt dir verursacht.«

Nach langem Zögern entschloß sich Hortense endlich zu einem Kleid aus himmelblauem Satin für ihre Freundin. Für sich selbst wählte sie ein apfelgrünes, das ihren ein wenig verwaschenen brünetten Typ betonte.

Als Angélique am Morgen des 26. August die magere, durch die Polster der Mantille ein wenig ausgestopfte Gestalt ihrer Schwester musterte, den matten, durch das kräftige Grün hervorgehobenen Teint, das etwas spärliche, aber weiche und feine kastanienbraune Haar, stellte sie kopfschüttelnd fest: »Wirklich,

Hortense, du wärest geradezu hübsch, wenn du nicht eine so gallige Art hättest.«

Zu ihrer großen Überraschung wurde Hortense nicht zornig. Sie seufzte, während sie fortfuhr, sich im großen Stahlspiegel zu betrachten.

»Ich glaube es auch«, sagte sie. »Weißt du, ich habe nie etwas für Mittelmäßigkeit übrig gehabt und doch nichts anderes kennengelernt. Es macht mir Freude zu reden, mit geistreichen und gut gekleideten Leuten zusammen zu sein, ich liebe das Theater. Aber es ist so schwer, sich von den häuslichen Pflichten freizumachen. Im vergangenen Winter konnte ich zu den Leseabenden eines satirischen Schriftstellers gehen, des Dichters Scarron. Ein gräßlicher Mensch, verkrüppelt, böse, aber was für ein Geist, meine Liebe! Diese Abende sind mir eine kostbare Erinnerung. Leider ist Scarron kürzlich gestorben. Da muß ich eben wieder mit der Mittelmäßigkeit vorliebnehmen.«

»Im Augenblick flößt du mir kein Mitleid ein. Ich versichere dir, du wirkst ungemein vornehm.«

»Natürlich hätte ein solches Kleid bei einer >rich-tigen< Staatsanwaltsgattin nicht die gleiche Wirkung. Man kann die Vornehmheit nicht kaufen. Man hat sie im Blut.«

Während sie sich auswählend über die Schmuckkästchen beugten, gewannen sie den Stolz ihres Standes zurück. Sie vergaßen das düstere Zimmer, die geschmacklosen Möbel und die faden bergamas-kischen Wandteppiche, die in der Normandie für die Kleinbürger gewebt wurden.

Im Morgengrauen des großen Tages brach der Herr Staatsanwalt zu Pferd nach Vincennes auf, wo die Vertreter des Staats sich zur Begrüßung des Königs versammeln mußten.

Die Kanonen antworteten donnernd den Kirchenglocken. Die Bürgerwehr in Galauniform, von Lanzen, Hellebarden und Musketen starrend, belegte die Straßen mit Beschlag, die die Ausrufer mit ohrenbetäubendem Geschrei erfüllten, während sie Heftchen verteilten, die das Festprogramm, die Beschreibung der Triumphbogen und der Route des königlichen Geleitzugs enthielten.

Gegen acht Uhr hielt die durch die Zeit längst ihres Goldglanzes beraubte Kutsche Mademoiselle Athénaïs de Rochechouarts vor dem Haus. Es war ein bildhübsches Mädchen mit frischen Farben: goldblondem Haar, rosigen Wangen, einer perlmutterglänzenden, durch ein Schönheitspflästerchen belebten Stirn. Das blaue Kleid paßte wundervoll zu ihren saphierfarbenen, lebhaften und klugen Augen.

Sie fand für Angélique kaum ein Wort des Dankes, obwohl sie außer dem Kleid einen sehr schönen Diamantenschmuck von ihr trug. Ihrer Überzeugung nach war es eine Ehre, Mademoiselle de Rochechouart dienen zu dürfen, und trotz der heiklen Situation ihrer Familie war sie der Ansicht, daß ihr alter Adel ein Vermögen aufwog. Ihre Schwester und ihr Bruder schienen die gleiche Einstellung zu haben. Allen dreien war übersprudelnde Vitalität, beißender Witz, seltene Begeisterungsfähigkeit und hemmungsloser Ehrgeiz eigen, so daß der Umgang mit ihnen eine ebenso amüsante wie beängstigende Angelegenheit war.

Es war ein lustiges Völkchen, das die knarrende, altersmüde Kutsche durch die verstopften Straßen führte.

Inmitten der immer dichter werdenden Volksmenge sah man Reiter und endlose Wagenkolonnen der Porte Saint-Antoine zustreben, wo der Festzug sich aufstellen sollte.

»Wir werden einen Umweg machen müssen, um die arme Françoise abzuholen«, sagte Athénaïs. »Das wird nicht einfach sein.«

»Gott behüte uns vor Madame Scarron, der Witwe des beinlosen Krüppels!« rief ihr Bruder aus.

Er saß neben Angélique und drückte sie ungeniert an sich, obwohl sie ihn mehrmals aufforderte abzurücken, weil er ihr den Atem benahm.

»Ich habe Françoise versprochen, sie mitzunehmen«, erklärte Athénaïs. »Sie ist ein tapferes Mädchen und hat wenig Zerstreuung, seitdem ihr Krüppel von Mann tot ist. Ich glaube fast, sie vermißt ihn noch immer.«

»Nun, so abstoßend er auch gewesen sein mag - jedenfalls hat er Geld ins Haus gebracht. Die KöniginMutter hatte ihm eine Rente ausgesetzt.«

»War er denn schon verkrüppelt, als sie ihn heiratete?« fragte Hortense. »Über dieses Paar habe ich mir immer Gedanken gemacht.«

»Freilich war er ein Krüppel. Er nahm die Kleine zu sich, um Pflege zu haben. Da sie Waise war, willigte sie ein: Sie war fünfzehn Jahre alt.«

»Glaubt Ihr, daß sie eine richtige Ehe geführt haben?« fragte die junge Schwester.

»Wer kann das wissen? Scarron erklärte jedem, der es hören wollte, daß sein Leiden ihn impotent gemacht habe. Aber er war nichtsdestoweniger reichlich lasterhaft. Er hat ihr sicher allerlei beigebracht. Im übrigen kamen eine Menge Leute zu ihnen ins Haus, so daß sich vermutlich der eine oder andere junge Mann ihrer angenommen hat.«

»Man muß anerkennen«, sagte Hortense, »daß Madame Scarron hübsch ist und stets ein bescheidenes Wesen an den Tag gelegt hat. Sie ist nicht vom Rollstuhl ihres Mannes gewichen, hat ihm beim Aufrichten geholfen, ihm seinen Kräutertee gereicht. Auf diese Weise hat sie sich mancherlei Wissen und große Redegewandtheit angeeignet.«

Die Witwe wartete schon auf dem Trottoir vor einem unscheinbaren Hause.

»Mein Gott, dieses Kleid!« flüsterte Athénaïs und fuhr sich mit der Hand an den Mund. »Ihr Rock ist ja ganz fadenscheinig.«

»Warum habt ihr mir nichts gesagt?« fragte Angélique. »Ich hätte doch etwas für sie herausgeben können.«

»Meiner Treu, ich habe nicht daran gedacht. Steigt doch ein, Françoise!«

Die junge Frau drückte sich in eine Ecke, nachdem sie die Gesellschaft anmutig nickend begrüßt hatte. Sie besaß schöne braune Augen, die sie häufig mit ihren langen Wimpern verschleierte. In Niort geboren, hatte sie in Amerika gelebt und war als Waise nach Frankreich zurückgekehrt.

Mit einiger Mühe gelangten sie schließlich in die nicht allzu verkehrsreiche Rue Saint-Antoine. Die Kutschen stauten sich in den benachbarten Gassen. Vor dem Palais Beauvais herrschte jedoch ein geschäftiges Treiben. Ein Baldachin aus dunkelrotem Samt mit goldenen Borten und Fransen zierte den Mittelbalkon. Teppiche verschönten die Fassade.

Von der Türschwelle aus dirigierte eine alte, einäugige, wie ein Reliquienschrein mit Juwelen geschmückte Dame mit beträchtlichem Stimmaufwand die Dekorateure.

»Was macht denn diese schreckliche Megäre da?« fragte Angélique, während die Gruppe auf das Palais zuschritt.

Hortense bedeutete ihr zu schweigen, aber Athénaïs prustete hinter ihrem Fächer.

»Es ist die Hausherrin, meine Liebe, Catherine de Beauvais. Sie war Kammerzofe bei Anna von Österreich, die ihr den Auftrag erteilte, unsern jungen König aufzuklären, als er fünfzehn wurde. Das ist das Geheimnis ihres Reichtums.«

Angélique mußte lachen.

»Vermutlich hat ihre Erfahrung den fehlenden Charme ersetzt ...«

»Das Sprichwort sagt, daß es für Jünglinge und Mönche keine häßlichen Frauen gibt«, versetzte der junge Rochechouart.

Ihre ironische Stimmung hinderte sie nicht, sich vor der ehemaligen Kammerzofe tief zu verbeugen, die ihnen aus ihrem einzigen Auge einen strengen Blick zuwarf.

»Aha, die Leutchen aus dem Poitou. Kinder, haltet mich nicht auf. Macht, daß Ihr hinaufkommt, bevor sich meine Dienstboten die guten Plätze weggeschnappt haben. Aber die da, wer ist das?« fragte sie und deutete mit dem gekrümmten Zeigefinger auf Angélique.

Mademoiselle de Rochechouart stellte vor: »Eine Freundin, die Gräfin Peyrac de Morens.«

»Sieh einer an! Hähä!« kicherte die alte Dame spöttisch.

»Ich bin überzeugt, sie weiß etwas über dich«, flüsterte Hortense auf der Treppe. »Es wäre naiv zu glauben, daß es nicht über kurz oder lang zum Skandal kommen wird. Ich hätte dich niemals mitnehmen dürfen. Am besten, du gehst sofort nach Hause.«

»Schön, aber dann gib mir das Kleid zurück«, sagte Angélique und griff nach dem Mieder ihrer Schwester.

»Laß das sein, dumme Gans!« zischte Hortense, indem sie sich losriß.

Kurz entschlossen hatte Athénaïs de Rochechouart das Fenster eines Mägdezimmers mit Beschlag belegt und ließ sich in Gesellschaft ihrer Freunde häuslich nieder.

»Man sieht wunderbar«, rief sie aus. »Schaut, dort ist die Porte Saint-Antoine, durch die der König einziehen wird!«

Angélique beugte sich gleichfalls hinaus und fühlte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Was sie da unter dem weiten Himmel erblickte, war nicht die endlose Avenue, in der sich die Menge aufstellte, war nicht die Porte Saint-Antoine mit ihrem Triumphbogen aus weißem Stein, sondern etwas weiter zur Rechten die wuchtige Masse einer Festung, die sich wie ein düsterer Felsen aufreckte.

Halblaut fragte sie ihre Schwester, was für ein Kastell das sei.

»Die Bastille«, flüsterte Hortense hinter ihrem Fächer zurück.

Angélique konnte den Blick nicht von dem düsteren Bild lösen. Acht massive, von Wachttürmchen gekrönte Bastionen, blinde Fassaden, Mauern, Fallgatter, Zugbrücken, Gräben: eine Insel des Jammers, wie verloren im Meer einer gleichgültigen Stadt, eine abgeschlossene Welt, in welche nicht einmal an diesem Tage die Jubelrufe drangen: die Bastille!

Die Geduld der kleinen Gesellschaft wurde auf eine harte Probe gestellt. Endlich ließen die Rufe der Menge erkennen, daß der Festzug sich in Bewegung gesetzt hatte. Aus dem Dunkel der Porte Saint-Antoine tauchten die ersten Gruppen auf, aber erst gegen zwei Uhr nachmittags war es so weit, daß der König und die Königin nahten.

Weit aus dem Fenster gelehnt, ließen sich die jungen Frauen nicht die geringste Kleinigkeit des Schauspiels entgehen. Sie drängten sich eng zusammen, um Platz für alle zu schaffen. Angélique hatte ihre Arme um die Schultern Madame Scarrons und Athénaïs de Rochechouarts gelegt. Hortense, der junge Rochechouart und seine Schwester hatten an einem andern Dachfenster Platz gefunden.

Es war der Zug Seiner Eminenz Monseigneur Mazarins, der den lange erwarteten Höhepunkt der Ereignisse ankündigte.

Nie hatte man einen Kardinal-Minister solche Pracht entfalten sehen. Zweiundsiebzig Maultiere eröffneten einzeln hintereinandergehend das Geleit, über der Stirn im Rhythmus der Schritte schwankende weiße Federn, den Rücken mit goldbesticktem Samt bedeckt. Die Mundstücke, Beschläge und Maulkörbe bestanden aus massivem Silber.

In Seide gekleidete Pagen, Maultiertreiber und Pferdeknechte begleiteten die störrischen Tiere, denen zwölf lebhafte spanische Pferde folgten, deren vergoldete Steigbügel in der Sonne funkelten.

Rossewiehern, Hufgeklapper, Glöckchengeklingel, das Rauschen der prächtigen Gewänder vermischten sich mit dem Geräusch der heranrollenden elf Kutschen, die jeweils von sechs Pferden gezogen wurden.

Die mit wundervollen Goldschmiedearbeiten verzierte Karosse des Kardinals hielt vor dem Palais Beauvais, und man sah die Hausherrin sich in tiefem Knicks vor der roten Robe verneigen. Der Kardinal begab sich auf den Balkon zur Königin-Mutter und deren Schwägerin, der Exkönigin von England, Gattin des enthaupteten Königs Karls L, und nahm an ihrer Seite Platz. Indessen defilierte die Eskorte Seiner Eminenz vor den staunenden Augen der Menge: zuerst vierzig Diener zu Fuß, darauf die Edelleute und Offiziere; hundert Gardisten in schönen roten Kasacken mit goldenen und silbernen Aufschlägen beschlossen die herausfordernde Karawane.

Doch alle Welt applaudierte aus vollem Herzen. Mazarin hatte den Pyrenäenfrieden unterzeichnet. Man liebte ihn nicht mehr als zur Zeit der »Mazarinaden«, aber im Grunde war ihm jeder dankbar, daß er das französische Volk vor der Dummheit bewahrt hatte, seinen König zu verbannen, diesen König, den man jetzt in einem Paroxysmus der Bewunderung und Verehrung erwartete.

Musketiere in blauer Uniform, die leichte Reiterei, der Generalprofoß und seine Stellvertreter kündigten endlich den königlichen Trupp an. In ihm erkannte Angélique manche Gesichter. Sie zeigte ihren Gefährtinnen den Marquis d’Humières und den Herzog von Lauzun an der Spitze ihrer hundert Edelleute. Lauzun, schalkhaft wie immer, warf den Damen ungeniert Küsse zu. Die Menge antwortete mit gerührtem Gelächter.

Wie beliebt sie waren, diese so tapferen und glänzenden jungen Herren! Um ihrer kriegerischen und galanten Heldentaten willen sah man über ihre Verschwendungssucht, ihren Dünkel und ihre schamlosen Ausschweifungen in den Schenken hinweg.

Plötzlich wich Angélique ein wenig zurück und preßte die Lippen aufeinander: Unten zog der Marquis de Vardes vor seinen hundert Schweizern dahin, das von der blonden Perücke umrahmte harte Gesicht herausfordernd erhoben.

Dann schwoll der Sturm des Jubels zu ohrenbetäubender Gewalt: Der König nahte, er war da, schön und gewaltig wie das Tagesgestirn!

Wie groß er war, der König von Frankreich! Ein richtiger König endlich! Weder verächtlich wie Karl IX., wie Heinrich III., noch zu schlicht wie Heinrich IV., noch zu streng wie Ludwig XIII.

Ein leutseliger und majestätischer Monarch, dessen Joch man mit Vergnügen tragen würde, um dieses Pompes willen, den das glückselige kleine Volk mit seinem Schweiß bezahlt hatte, um seine Augen zu erfreuen. Ludwig, der von Gott Gegebene, das vierundzwanzig Jahre lang unter den Gebeten und Tränen des Volkes erwartete Kind, das Wunderkind, das nicht enttäuschte.

Auf einem braunroten Pferd ritt Ludwig XIV. langsam daher, in einigem Abstand eskortiert von seinem ersten Kammerherrn, seinem Oberstallmeister, seinem Schloßhauptmann.

Er hatte den Baldachin zurückgewiesen, den die Stadt für ihn hatte sticken lassen. Er wollte, daß das Volk ihn sah, in seinem silberdurchwirkten Gewand, das die vorteilhafte Linie seines kräftigen Oberkörpers betonte. Ein Hut, dessen Reiherfedern durch Brillantennadeln befestigt waren, schützte sein lächelndes Gesicht vor der Sonne.

Er grüßte winkend.

Vor dem Palais Beauvais angelangt, neigte er sich zu einer graziösen Verbeugung, die jeder der Adressaten auf seine Weise auslegte. Anna von Österreich erblickte in ihr die Zärtlichkeit des Sohnes, der ihr größtes Glück und ihre größte Sorge gewesen war; die bekümmerte Witwe des Königs von England den Ausdruck des Mitgefühls und der Bewunderung angesichts versunkener Größe und würdig getragenen Unglücks; der Kardinal die Dankbarkeit eines Schülers, dem er die Krone bewahrt hatte. Bewegt, gierig und mit einer Träne im einzigen Auge, gedachte Catherine de Beauvais des schönen, glühenden Jünglings, den sie einmal in ihren kundigen Armen gehalten hatte.

Der Monarch kam nicht auf den Gedanken, die kastanienbraunen Augen bis zu den Fenstern des Dachstocks zu erheben. Dort hätten sie drei auf ihn herabgebeugte Köpfe erblickt, einen blonden, einen braunen und einen goldkäferfarbenen, deren dank dem seltsamsten aller Zufälle vereinigte Besitzerinnen in seinem Leben eine Rolle spielen sollten: Athénaïs de Rochechouart, Angélique de Peyrac, Françoise Scarron, geborene d’Aubigné.

Unter ihrer Hand spürte Angélique die golden glänzende Haut Françoises erschauern.

»Wie schön er ist!« flüsterte die Witwe.

Ob der Anblick des göttergleichen Mannes, der sich unter brausenden Jubelrufen entfernte, in ihr den Gedanken an den lüsternen Krüppel auslöste, dessen Dienerin und Spielzeug sie acht lange Jahre gewesen war?

Athénaïs murmelte mit vor Begeisterung glänzenden Augen:

»Gewiß ist er schön in seinem silbernen Rock. Aber ich möchte annehmen, daß er auch ohne Rock nicht übel aussieht, und erst recht ohne Hemd. Die Königin kann froh sein, einen solchen Mann im Bett zu haben.«

Angélique schwieg.

»Das ist ER«, dachte sie, »er, der unser Schicksal in Händen hält. Gott sei uns gnädig, er ist zu groß, er ist zu erhaben!«

Jubelrufe der Menge lenkten ihren Blick wieder nach unten.

»Monsieur le Prince! Vive Monsieur le Prince!«

Hager, ausgemergelt, verächtlich dreinblickend, das Gesicht mit den feurigen Augen und der Adlernase hochmütig geradeaus gerichtet, zog der Fürst Condé wieder in Paris ein. Er kam aus Flandern, wohin ihn seine Erhebung gegen die königliche Autorität geführt hatte. Er empfand weder Skrupel noch Reue, und das Volk von Paris seinerseits trug ihm nichts nach. Man vergaß den Verräter, man jubelte dem Sieger von Rocroi und Lens zu.

Neben ihm ritt Monsieur, der Bruder des Königs, in eine Wolke von Spitzen gehüllt und mehr denn je einem verkleideten Mädchen gleichend.

Schließlich erschien die junge Königin in einem von sechs Pferden gezogenen Wagen, deren Schabracken mit goldenen Lilien und Edelsteinen besetzt waren.

Die scharfzüngigen Neuigkeitskrämer des Pont-Neuf hatten das Gerücht verbreitet, die neue Königin sei linkisch, häßlich und dumm. Um so erfreuter war man, nun feststellen zu können, daß sie, wenn auch nicht ausgesprochen hübsch, so doch mit ihrem Perlmutterteint, ihren großen blauen Augen, ihrem feinen, blaßgoldnen Haar jedenfalls recht reizvoll war. Man bewunderte ihre Haltung, ihre wahrhaft königliche Würde, die Ausdauer, mit der diese zarte junge Frau die Last ihres mit Diamanten, Perlen und Rubinen besetzten Goldbrokatkleides trug. Nachdem sie vorübergezogen war, wurden die Absperrungen aufgehoben. Man hatte bis zur Erschöpfung bestaunt und bewundert.

Im Palais Beauvais aber ließen sich die fürstlichen Gäste an einer Tafel nieder, auf der zur Stillung von Hunger und Durst alles aufs prächtigste vorbereitet war.

Загрузка...