Die Hausherrin stand am Fuße der Treppe und schien nach jemandem zu spähen. Als die kleine Gruppe der Poitou-Leute, der Angélique angehörte, herunterkam, rief sie ihnen mit ihrer rauhen Stimme zu:
»Nun, habt ihr alles bequem beaugenscheinigen können?«
Sie bejahten leidenschaftlich mit vor Erregung geröteten Wangen und bedankten sich.
»Gut so. Geht dort hinein und eßt ein Stück Kuchen.«
Sie faltete ihren großen Fächer und schlug damit Angélique leicht auf die Schulter«
»Ihr, meine Schöne, kommt einmal mit mir.«
Verwundert folgte die junge Frau Madame de Beauvais durch die von Gästen erfüllten Säle. Schließlich langten sie in einem kleinen, verlassenen Boudoir an.
»Hu!« machte die alte Dame, während sie sich fächelte. »Es ist nicht einfach, sich abzusondern.«
Aufmerksam musterte sie Angélique. Das über die leere Augenhöhle halb herabhängende Lid gab ihrer Physiognomie einen tückischen Ausdruck, den die Spuren roter Schminke, die sich in den Runzeln verkrustet hatte, und das Lächeln des zahnlosen Mundes noch verstärkten.
»Ich glaube, es wird gehen«, äußerte sie als Ergebnis ihrer Prüfung. »Meine Schöne, was würdet Ihr zu einem großen Schloß in der Umgebung von Paris sagen, mit einem Haushofmeister, Dienern, Lakaien, Zofen, sechs Kutschen, Pferden und hunderttausend Livres Rente?«
»Mir bietet man das alles an?« fragte Angélique lachend.
»Euch.«
»Und wer, wenn ich fragen darf?«
»Jemand, der es gut mit Euch meint.«
»Es scheint so. Wer ist es?«
Die andere kam näher und sagte in vertraulichem Ton:
»Ein reicher Edelmann, der sich in Eure schönen Augen verliebt hat.«
»Hört zu, Madame«, sagte Angélique, die sich alle Mühe gab, ernst zu bleiben, um die gute Dame nicht zu verletzen, »ich bin diesem Herrn sehr dankbar, wer er auch sein mag, aber ich fürchte, man versucht meine Naivität zu mißbrauchen, indem man mir solche fürstlichen Angebote macht. Dieser Herr kennt mich sehr schlecht, wenn er meint, daß allein die Schilderung solchen Glanzes mich bestimmen könnte, ihm anzugehören.«
»Lebt Ihr denn in Paris in so bequemen Verhältnissen, daß Ihr es Euch erlauben könnt, die Stolze zu spielen? Ich habe mir sagen lassen, daß Euer Besitz versiegelt sei und Ihr Eure Equipagen verkauft.«
Ihr böses Elsternauge wich nicht von dem Gesicht der jungen Frau.
»Ich sehe, daß Ihr gut informiert seid, Madame. Ich habe jedoch noch nicht die Absicht, meinen Körper zu verkaufen.«
»Wer redet denn davon, kleine Törin?« stieß Madame de Beauvais zwischen ihren schadhaften Zähnen hervor.
»Ich glaubte zu verstehen ...«
»Pah! Ihr nehmt einen Liebhaber oder Ihr laßt es bleiben. Ihr könnt meinetwegen als Nonne leben, wenn Euch das Spaß macht. Alles, was man von Euch verlangt, ist, daß Ihr auf dieses Angebot eingeht.«
»Aber ... was soll die Gegenleistung sein?« erkundigte sich Angélique verblüfft.
»Das ist doch ganz einfach«, erklärte sie in gütig-großmütterlichem Ton. »Ihr laßt Euch in jenem wunderbaren Schloß nieder. Ihr geht zum Hof. Ihr geht nach Saint-Germain, nach Fontainebleau. Nicht wahr, das wird Euch sicher Freude machen, an den Festen des Hofs teilzunehmen, umschwärmt, verwöhnt, verehrt zu werden? Natürlich, wenn Ihr großen Wert darauf legt, könnt Ihr Euch weiterhin Madame de Peyrac nennen . Aber vielleicht zieht Ihr es vor, den Namen zu wechseln. Beispielsweise in Madame de Sancé. Das klingt sehr hübsch. Es wird heißen: >Oh, da geht die schöne Madame de Sancé vorbei!< ... Na? Na? Ist das nicht nett?«
Angélique wurde ungeduldig.
»Ja, aber ... Ihr glaubt doch nicht etwa, daß ich so dumm bin, mir einzubilden, ein Edelmann würde mich mit Reichtümern überschütten, ohne eine Gegenleistung zu fordern?«
»Tja, gleichwohl trifft das beinahe zu. Alles, was man von Euch verlangt, ist, daß Ihr nur noch an Eure Toiletten, Euren Schmuck, Eure Vergnügungen denkt. Ist denn das so schwer für ein hübsches Mädchen? Ihr versteht doch?« sagte sie mit einigem Nachdruck und schüttelte Angélique dabei ein wenig. »Ihr versteht mich doch?«
Angélique starrte auf das Gesicht, das dem einer bösen Fee glich und an dessen haarigem Kinn weißer Puder haftete.
»Ihr versteht mich! An nichts mehr denken! Vergessen ...!«
»Ich soll Joffrey vergessen«, sagte sich Angélique. »Ich soll vergessen, daß ich seine Frau bin, soll die Erinnerung an ihn auslöschen, jegliche Erinnerung in mir auslöschen. Ich soll schweigen, vergessen .«
Die Vision des Giftkästchens tauchte vor ihr auf. Hier lag, das wußte sie jetzt genau, der Ursprung des Dramas. Wer konnte an ihrem Schweigen interessiert sein? An höchster Stelle stehende Persönlichkeiten: Fouquet, Fürst Condé, all jene Adligen, deren sorgfältig ausgeklügelte Verräterei seit Jahren in dem Kästchen aus Sandelholz beschlossen lag.
Angélique schüttelte gelassen den Kopf.
»Ich bedaure unendlich, Madame, aber ich bin offenbar schwer von Begriff, denn ich verstehe kein einziges Wort von alldem, was Ihr mir da auseinandergesetzt habt.«
»Nun, Ihr werdet es Euch überlegen, Teuerste, Ihr werdet es Euch überlegen. Aber nicht gar zu lange. Ein paar Tage, nicht wahr? Sagt doch selbst, mein Kind, ist es genau besehen nicht immer noch besser ...«
Sie näherte sich Angéliques Ohr und flüsterte:
». als das Leben zu verlieren?«
»Könnt Ihr Euch denken, Monsieur Desgray, mit welcher Absicht ein anonymer Edelmann mir ein Schloß und hunderttausend Livres Rente anbietet?«
»Meiner Treu«, sagte der Advokat, »ich vermute, es geschieht mit der gleichen Absicht, die ich ins Auge fassen würde, wenn ich Euch hunderttausend Livres Rente anbieten könnte.«
Angélique starrte ihn verständnislos an, dann errötete sie ein wenig unter dem kühnen Blick des jungen Mannes. Sie war noch nie darauf verfallen, ihren Advokaten von diesem speziellen Blickwinkel aus zu betrachten. In leiser Unruhe stellte sie fest, daß seine abgetragene Kleidung einen kräftigen, wohlproportionierten Körper verhüllen mußte. Mit seiner großen Nase und seinen unregelmäßigen Zähnen war er nicht hübsch, aber er hatte eine ausdrucksvolle Physiognomie. Maître Fallot behauptete, abgesehen von Talent und Bildung fehlten ihm alle Voraussetzungen für einen ehrenwerten Beamten. Er pflege keinen Umgang mit seinen Kollegen und treibe sich noch immer wie in seiner Studentenzeit in den verrufensten Kneipen herum. Das war auch der Grund, weshalb man ihm gewisse Fälle anvertraute, die Nachforschungen an Stätten erforderlich machten, wohin sich jene Herren aus der Rue Saint-Landry aus Angst um ihr Seelenheil nicht trauten.
»Nun, es ist absolut nicht so, wie Ihr denkt«, sagte Angélique. »Ich will die Frage anders stellen: Weshalb hat man zweimal versucht, mich zu ermorden, was eine viel zuverlässigere Art ist, mich zum Schweigen zu bringen?«
Das Gesicht des Advokaten verfinsterte sich jäh.
»Aha, hab’ ich mir’s doch gedacht!« sagte er.
Er gab die ungezwungene Haltung auf, in der er auf dem Tischrand in Maître Fallots kleinem Büro gehockt hatte, und ließ sich mit ernster Miene Angélique gegenüber nieder.
»Madame«, fuhr er fort, »ich flöße Euch als Rechtsberater vielleicht nicht allzuviel Vertrauen ein. Trotzdem dürfte, wie die Dinge nun einmal liegen, Euer Herr Schwager keine schlechte Wahl getroffen haben, indem er Euch an mich verwies, denn die Angelegenheit Eures Gatten erfordert eher die Fähigkeiten eines Privatdetektivs, der ich zwangsläufig geworden bin, als die Kenntnis der Paragraphen und der Prozeßordnung. Ich kann dieses Imbroglio aber nur entwirren, wenn Ihr mich über all seine einzelnen Elemente aufklärt. Zunächst eine Frage, die mir ganz besonders wichtig erscheint .«
Er stand auf, schaute hinter die Tür, hob einen Vorhang hoch, der einen Aktenschrank verbarg, kehrte zu der jungen Frau zurück und fragte mit gedämpfter Stimme:
»Von welchem Geheimnis wißt Ihr, Ihr und Euer Gatte, das imstande ist, einer der höchsten Persönlichkeiten des Königreichs Furcht einzujagen? Ich will sie nennen: Fouquet.«
Angélique erbleichte bis in die Lippen. Sie starrte den Advokaten entgeistert an.
»Ich habe mich also nicht getäuscht, wie ich sehe«, fuhr Desgray fort. »Ich erwarte täglich den Bericht eines Spitzels, den ich in Mazarins Umgebung eingeschmuggelt habe. Inzwischen hat mich ein anderer auf die Spur eines Bedienten namens Clément Tonnel gesetzt, der früher einmal im Dienste des Fürsten Condé stand .«
»Er war auch Haushofmeister bei uns in Toulouse.«
»Richtig. Dieser Bursche steht außerdem in enger Verbindung mit Fouquet. Tatsächlich arbeitet er ausschließlich für ihn, während er von Zeit zu Zeit beträchtliche Zuwendungen von seinem ehemaligen Herrn, dem Fürsten, bezieht, die er sich vermutlich durch Erpressung ergaunert. Nun eine andere Frage: Durch welche Mittelsperson hat man Euch jenen Vorschlag gemacht, Euch in solch fürstliche Verhältnisse zu begeben?«
»Durch Madame de Beauvais.«
»Aha! Diesmal ist die Sache klar. Dahinter steckt Fouquet. Er zahlt dieser alten Megäre riesige Summen, um alle Hofgeheimnisse zu erfahren. Früher stand sie im Sold Mazarins, der sich jedoch weniger großzügig zeigte als der Oberintendant. Ich füge hinzu, daß ich einer weiteren hohen Persönlichkeit auf die Spur gekommen bin, die Eures Gatten Untergang und auch den Eurigen beschlossen hat.«
»Und das wäre?«
»Monsieur, der Bruder des Königs.«
Angélique stieß einen Schrei aus. »Ihr seid verrückt!«
Der junge Mann verzog sein Gesicht zu einer hämischen Grimasse:
»Glaubt Ihr, ich habe Euch um Eure fünfzehnhundert Livres geprellt? Ich mag Euch als Hanswurst erscheinen, Madame, aber wenn die Auskünfte, die ich einhole, viel Geld kosten, so deshalb, weil sie immer stimmen. Der Bruder des Königs ist es, der Euch im Louvre eine Falle stellte und versuchte, Euch ermorden zu lassen. Ich weiß es von dem Burschen selbst, der Eure Dienerin Margot erdolchte, und es hat mich nicht weniger als zehn Finten Wein im >Roten Hahn< gekostet, um ihm dieses Geständnis zu entreißen.«
Angélique legte die Hand an die Stirn. In abgerissenen Sätzen berichtete sie Desgray den seltsamen Zwischenfall, dessen Zeuge sie einige Jahre zuvor im Schloß Plessis-Bellière gewesen war.
»Wißt Ihr, was aus Eurem Verwandten, dem Marquis du Plessis, geworden ist?«
»Nein. Vielleicht ist er in Paris oder bei der Armee.«
»Die Fronde liegt weit zurück«, murmelte der Advokat nachdenklich, »aber es bedarf nur eines Funkens, um die noch rauchende Strohfackel wieder aufflammen zu lassen. Zweifellos gibt es viele Leute, die davor bangen, daß ein solches Zeugnis ihres Verrats ans Tageslicht kommt.«
Mit einer einzigen Bewegung schob er die auf dem Tisch aufgehäuften Schriftstücke und Gänsekiele beiseite.
»Fassen wir kurz zusammen. Da haben wir also Euch, Mademoiselle Angélique de Sancé, ein kleines Mädchen, das man jedoch verdächtigt, im Besitz eines furchtbaren Geheimnisses zu sein. Der Fürst beauftragt seinen Diener Clément, Euch zu bespitzeln. Lange Jahre hindurch hat dieser ein Auge auf Euch. Endlich wird ihm zur Gewißheit, was bis dahin nur ein Verdacht war: Ihr seid es, die das Kästchen hatte verschwinden lassen, Ihr allein samt Eurem Gatten wißt um das Geheimnis seiner Aufbewahrung. Diesmal sucht unser Diener Fouquet auf und läßt sich seine Auskunft mit Gold bezahlen. Von diesem Augenblick an ist Euer Untergang beschlossene Sache. Alle diejenigen, die auf Kosten des Oberintendanten leben, alle diejenigen, die fürchten, ihre Pension und die Gunst des Hofs zu verlieren, verbünden sich insgeheim gegen den toulousanischen Edelmann, der eines schönen Tages vor dem König erscheinen und sagen könnte: >Hört an, was ich weiß!< Wären wir in Italien, hätte man zu Dolch oder Gift gegriffen. Aber man weiß, daß Graf Peyrac gegen Gift gefeit ist, und im übrigen gibt man in Frankreich den Dingen gern einen legalen Anstrich. So kommt also die von Monsieur de Fontenac eingefädelte Kabale höchst gelegen. Man wird den kompromittierenden Mann als Hexenmeister verhaften. Der König ist für die Sache gewonnen. Man schürt seine Eifersucht auf den allzu reichen Edelmann. Und siehe da, die Tore der Bastille schließen sich hinter dem Grafen Peyrac! Alle Welt kann aufatmen.«
»Nein«, sagte Angélique heftig. »Ich werde sie nicht aufatmen lassen. Ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, bis uns Gerechtigkeit widerfährt. Ich gehe selbst zum König und sage ihm, warum wir so viele Feinde haben.«
»Pst!« machte Desgray. »Laßt Euch nicht fortreißen. Ihr tragt eine Pulverladung in Euren Händen, aber gebt acht, daß Ihr nicht als erste von ihr in Stücke gerissen werdet. Wer garantiert Euch, daß der König oder Mazarin über diese Geschichte nicht bereits im Bilde ist?«
»Aber sie sollten doch die Opfer des damaligen Komplotts sein: Man wollte den Kardinal und, wenn möglich, auch den König und seinen Bruder ermorden.«
»Ich verstehe, meine Schöne, ich verstehe sehr wohl«, sagte der Advokat. »Ich erkenne die Logik Eurer Argumentation durchaus an, Madame. Aber seht, die Intrigen der Großen gleichen einem Rattenkönig. Man riskiert das Leben, wenn man ihre Gefühle entwirren will. Es ist sehr wohl möglich, daß Monsieur de Mazarin durch einen seiner Spitzel in Kenntnis gesetzt worden ist. Aber was kümmert Mazarin eine Vergangenheit, aus der er als unbestrittener Sieger hervorging? Der Kardinal war im Begriff, mit den Spaniern die Rückkehr des Fürsten Condé auszuhandeln. War das der Moment, dem düsteren Bild, das man eben mit dem Schwamm aufhellen wollte, ein weiteres Verbrechen hinzuzufügen? Er stellte sich taub. Man will diesen Edelmann aus Toulouse verhaften - nun gut, soll man ihn verhaften. Ein vorzüglicher Gedanke. Der König tut immer, was der Kardinal sagt, und im übrigen hat der Reichtum Eures Gatten seinen Neid erregt. Es wird ein Kinderspiel sein, ihn den Verhaftbefehl für die Bastille unterschreiben zu lassen.« - »Aber der Bruder des Königs?« - »Der Bruder des Königs? Nun, auch den kümmert es kaum mehr, daß Fouquet ihn hatte umbringen lassen wollen, als er noch klein war. Nur das Heute interessiert ihn, und heute ist es Fouquet, der ihn erhält. Fouquet überschüttet ihn mit Gold, verschafft ihm Günstlinge. Der kleine Monsieur ist weder von seiner Mutter noch von seinem Bruder verwöhnt worden: Er zittert davor, daß man seinen Beschützer kompromittieren könnte. - Kurz und gut, diese Geschichte wäre bestens verlaufen, wenn Ihr nicht auf der Bildfläche erschienen wäret. Man hoffte, Ihr würdet, des Beistands Eures Gatten beraubt, geräuschlos verschwinden ... irgendwohin. Man will es gar nicht wissen. Das Schicksal der Ehefrauen bleibt immer unbekannt, wenn ein Edelmann in Ungnade fällt. Sie sind so taktvoll, sich in Rauch aufzulösen. Vielleicht gehen sie ins Kloster. Vielleicht wechseln sie den Namen. Nur Ihr paßt Euch dem herrschenden Gesetz nicht an. Ihr verlangt Gerechtigkeit! Das ist höchst vermessen - hab’ ich nicht recht? Zweimal versucht man, Euch umzubringen. Als es mißlingt, spielt Fouquet den Versucher .«
Angélique stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Es ist grauenhaft«, murmelte sie. »Wohin man auch schaut, man sieht nur Feinde, haßerfüllte, neidische, verächtliche, drohende Blicke .«
»Seid vernünftig, Madame, noch ist es Zeit«, sagte Desgray. »Fouquet bietet Euch die Möglichkeit, Euch auf anständige Weise aus der Affäre zu ziehen. Zwar gibt man Euch nicht das Vermögen Eures Gatten zurück, aber man verhilft Euch zu einem sorgenlosen Leben. Was wollt Ihr mehr?«
»Ich will meinen Mann!« schrie Angélique und sprang wütend auf.
Der Advokat musterte sie mit einem ironischen Blick.
»Ihr seid wirklich eine wunderliche Frau.«
»Und Ihr seid ein elender Feigling. In Wahrheit zittert Ihr um Euer Leben wie alle andern.«
»Freilich, in den Augen jener hohen Persönlichkeiten ist das Leben eines kümmerlichen Kanzlisten keinen Deut wert.«
»Schön, dann behütet es doch, Euer armseliges Leben! Behütet es für die Krämer, die sich von ihren Lehrlingen bestehlen lassen, und für die neidischen Erben. Ich brauche Euch nicht.«
Der Advokat erhob sich wortlos und entfaltete umständlich ein Blatt Papier.
»Hier ist die Aufstellung meiner Auslagen. Ihr werdet daraus ersehen, daß ich nichts für mich selbst einbehalten habe.«
»Ob Ihr ehrlich seid oder ein Gauner, ist mir gleichgültig.«
»Einen Ratschlag noch.«
»Ich bedarf Eurer Ratschläge nicht mehr. Ich werde mich von meinem Schwager beraten lassen.«
»Euer Schwager hat keineswegs die Absicht, in dieser Angelegenheit Partei zu ergreifen. Er hat Euch aufgenommen und an mich verwiesen, weil er, wenn die Dinge günstig verlaufen, Ruhm zu ernten hofft, andernfalls seine Hände in Unschuld waschen wird und sich in jedem Fall hinter seiner Verpflichtung dem König gegenüber verschanzen kann. Und deshalb sage ich Euch abermals: Versucht, bis zum König vorzudringen.«
Er verneigte sich ehrerbietig, setzte seinen abgetragenen Hut auf und wandte sich in der Tür noch einmal um.
»Wenn Ihr mich braucht, könnt Ihr mich in den >Drei Mohren< rufen lassen, wo ich mich jeden Abend aufhalte.«
Als er gegangen war, verspürte Angélique plötzlich das Bedürfnis zu weinen. Nun fühlte sie sich völlig allein. Es war ihr, als laste ein Gewitterhimmel über ihr, ein bedrohliches Wolkengebilde, das sich aus allen Richtungen zusammengezogen hatte: der Ehrgeiz des Erzbischofs von Toulouse, die Angst Fouquets und Condés, die Charakterlosigkeit des Kardinals und in ihrer nächsten Umgebung die mißtrauische Wachsamkeit ihres Schwagers und ihrer Schwester, die bereit waren, sie beim ersten beunruhigenden Anzeichen aus dem Hause zu jagen .
Im Vestibül begegnete sie Hortense, die eine weiße Schürze um ihre magere Taille gebunden hatte. Das Haus duftete nach Himbeeren und Apfelsinen. Im September pflegten die guten Hausfrauen ihre Marmelade zu bereiten. Es war ein gewichtiges Unternehmen, das da zwischen großen Kupferkesseln, zerstoßenen Zuckerhüten und Barbes Tränen abrollte. Der Haushalt stand drei Tage lang auf dem Kopf.
Hortense trug einen der kostbaren Zuckerhüte in den Händen und stieß gegen Florimond, der, seine silberne Rassel schwingend, eben aus der Küche schoß. Das genügte, um das Gewitter losbrechen zu lassen.
»Man ist nicht nur eingeengt und kompromittiert«, kreischte sie, »nein, ich kann nicht einmal meinen Pflichten nachgehen, ohne daß man mich stößt und taub macht. Der Kopf zerspringt mir schier vor Migräne. Und während ich mich abschufte, empfängt Madame ihren Advokaten und treibt sich unter dem Vorwand, einen gräßlichen Gatten befreien zu wollen, nach dessen Vermögen sie giert, auf den Straßen herum.«
»Schrei nicht so«, sagte Angélique. »Ich helfe dir gerne beim Einmachen. Ich kenne sehr gute Rezepte aus dem Süden.«
Hortense, den Zuckerhut in der Hand, richtete sich auf, als umwoge sie das Faltengewand der antiken Tragödin.
»Niemals«, erklärte sie empört, »niemals werde ich zulassen, daß du die Nahrung berührst, die ich für meinen Gatten und meine Kinder zubereite. Ich vergesse nicht, daß du einen Gehilfen des Teufels zum Manne hast, einen Hexenmeister und Giftmischer. Es wäre durchaus möglich, daß seine Seele in dich gefahren ist. Gaston hat sich verändert, seitdem du hier bist.«
»Dein Mann? Ich schaue ihn ja überhaupt nicht an.«
»Aber er schaut dich an ... viel häufiger, als es sich geziemt. Du solltest dir bewußt sein, daß dein Aufenthalt hier sich ungebührlich in die Länge zieht. Du hattest von einer einzigen Nacht gesprochen .«
»Ich versichere dir, daß ich mir alle erdenkliche Mühe gebe, die Situation zu klären.«
»Du wirst dadurch nur auffallen, und man wird dich gleichfalls verhaften.«
»In meiner augenblicklichen Lage frage ich mich tatsächlich, ob ich im Gefängnis nicht besser aufgehoben wäre. Jedenfalls würde ich dort umsonst und ohne Scherereien wohnen.«
»Du weißt nicht, was du redest, meine Liebe«, sagte Hortense, höhnisch lachend. »Man muß zehn Sols pro Tag bezahlen, und zweifellos wird man sie von mir als deiner einzigen Anverwandten fordern.«
»Das ist nicht übermäßig viel. Weniger als das, was ich dir gebe. Ohne die Kleider und Schmuckstücke zu rechnen, die ich dir überlassen habe.«
»Mit zwei Kindern wird es dreißig Sols täglich ausmachen .«
Angélique stieß einen Seufzer des Überdrusses aus.
»Komm, Florimond«, sagte sie zu dem Kleinen. »Du siehst ja, daß du Tante Hortense im Wege bist. Ihre Marmeladendämpfe steigen ihr in den Kopf, und sie redet irre.«
Das Kind lief davon und schüttelte von neuem seine hübsche, schimmernde Klapper. Das brachte Hortense zur Weißglut.
»Allein schon diese Klapper«, schrie sie. »Nie haben meine Kinder dergleichen besessen. Du beklagst dich, kein Geld mehr zu haben, und kaufst ein so teures Spielzeug für deinen Sohn!«
»Er hat es sich so sehr gewünscht. Und außerdem ist es gar nicht teuer. Das Kind des Seifenhändlers an der Ecke hat ein ähnliches.«
»Es ist eine bekannte Tatsache, daß die einfachen Leute nicht sparsam zu leben verstehen. Sie verwöhnen ihre Kinder und erziehen sie nicht, wie es sich gehört. Denk daran, daß du in der Armut lebst, bevor du überflüssige Dinge kaufst, und daß ich durchaus nicht gesonnen bin, dich zu erhalten.«
»Das verlange ich auch gar nicht von dir«, erwiderte Angélique scharf. »Sobald Andijos zurück ist, werde ich in die Herberge ziehen.«
Hortense zuckte mit einem mitleidigen Lächeln die Schultern.
»Du bist wirklich noch dümmer, als ich dachte. Du kennst das Gesetz und die Taktik der Gerichtsbehörden nicht. Er wird dir nichts mitbringen, dein Marquis d’Andijos.«
Hortenses trübe Prophezeiung erwies sich als nur zu richtig. Als endlich der Marquis d’Andijos in Begleitung des getreuen Kouassi-Ba erschien, mußte sie hören, daß der gesamte Besitz des Grafen in Toulouse versiegelt worden war. Es war dem Marquis lediglich geglückt, tausend Livres mitzubringen, die er leihweise und unter dem Siegel der Verschwiegenheit von zwei begüterten Pachtbauern bekommen hatte.
Der größte Teil von Angéliques Schmuck, das Service aus Gold und Silber und fast alle wertvollen Gegenstände, die das Palais enthielt, waren einschließlich der Gold- und Silberbarren beschlagnahmt und in die Statthalterei von Toulouse, teilweise auch nach Montpellier gebracht worden.
Andijos benahm sich seltsam gezwungen. Er hatte seine gewohnte Redseligkeit und Umgänglichkeit verloren und warf scheue Blicke auf seine Umgebung. Er erzählte noch, Toulouse sei auf die Verhaftung des Grafen Peyrac hin in große Erregung geraten, und da sich das Gerücht verbreitete, daß der Erzbischof dafür verantwortlich sei, hatten vor dem Bischofspalast Demonstrationen stattgefunden. Ratsherren hatten Andijos aufgesucht und ihn aufgefordert, sich an ihrer Spitze gegen die königliche Autorität zu empören.
Dem Marquis war es nur unter größten Schwierigkeiten gelungen, die Stadt zu verlassen und nach Paris zurückzukehren.
»Und was gedenkt Ihr jetzt zu tun?«
»Eine Weile in Paris zu bleiben. Meine Geldmittel sind leider wie die Eurigen sehr begrenzt. Ich habe einen alten Bauernhof und ein kleines Häuschen verkauft. Vielleicht kann ich bei Hof ein Amt bekommen .«
Auch seine sonst so sprudelnde Redeweise hatte ihre übermütigen Akzente eingebüßt. Der ganze Mann wirkte wie eine Fahne auf halbmast.
»O diese Leute aus dem Süden«, dachte Angélique. »Großer Mund, viel Gelächter, und wenn ein Unglück kommt, erlischt das Feuerwerk.«
»Ich möchte Euch nicht kompromittieren«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich danke Euch für all Eure Dienste, Monsieur d’Andijos, und wünsche Euch viel Glück bei Hofe.«
Er küßte ihr wortlos die Hand und machte sich verlegen davon.
Angélique starrte auf die bunt bemalte Haustür. Wie viele Dienstboten hatten sie bereits durch diese Tür verlassen, gesenkten Blicks, aber erleichtert, der in Ungnade gefallenen Herrschaft entronnen zu sein.
Kouassi-Ba kauerte zu ihren Füßen. Sie streichelte den mächtigen, krausen Kopf, und der Riese lächelte kindlich.
In der folgenden Nacht beschloß Angélique, das Haus ihrer Schwester zu verlassen, dessen Atmosphäre allmählich unerträglich geworden war. Die kleine béar-nische Magd und Kouassi-Ba wollte sie mitnehmen. Man würde schon irgendeine bescheidene Herberge finden. Es blieben ihr noch ein paar Schmuckstücke und das Kleid aus golddurchwirktem Stoff. Was würde sie dafür bekommen?
Das Kindchen, das sie erwartete, hatte sich in ihr zu regen begonnen, aber sie dachte kaum daran, und es bewegte sie nicht im gleichen Maße wie damals bei Florimond. Nachdem die erste freudige Aufwallung vorüber war, wurde sie sich klar, daß die Ankunft eines zweiten Kindes in einem solchen Augenblick geradezu einer Katastrophe gleichkam. Aber man durfte nicht zu weit in die Zukunft schauen und mußte all seinen Lebensmut zusammenhalten.
Der nächste Morgen brachte einen Hoffnungsschimmer in Gestalt eines Pagen aus dem Haushalt Mademoiselle de Montpensiers, der in seiner gemsfarbenen Livree mit goldenen und schwarzen Samtbesätzen gar prächtig anzuschauen war. Selbst Hortense war beeindruckt.
Die Grande Mademoiselle forderte Angélique auf, sie am Nachmittag im Louvre zu besuchen. Der Page betonte ausdrücklich, daß Mademoiselle nicht mehr in den Tuilerien, sondern schon im Louvre wohne.
Zitternd vor Ungeduld, überschritt Angélique zur genannten Stunde den Pont Notre-Dame, zur größten Enttäuschung von Kouassi-Ba, der nach dem Pont-Neuf schielte. Doch Angélique wollte sich nicht von den Händlern und Bettlern belästigen lassen. Sie hatte sich ursprünglich überlegt, ob sie Hortense um die fahrbare Sänfte bitten sollte, um ihr letztes halbwegs luxuriöses Kleid zu schonen. Angesichts der verkniffenen Miene ihrer Schwester hatte sie dann
aber davon Abstand genommen.
Schließlich langte sie vor dem massigen Palaste an, dessen mit hohen Kaminen bespickte Dächer und Kuppeln in den grau verhangenen Himmel ragten, und erreichte über den Innenhof und ausladende Marmortreppen den Flügel, den man ihr als derzeitige Wohnung Mademoiselles bezeichnet hatte. Sie erschauerte leise, als sie sich in den langen Gängen wiederfand, die trotz ihrer vergoldeten Kassettendecken, ihrer blumenverzierten Täfelungen und kostbaren Wandteppiche düster wirkten. Blut- und grauenerfüllte Geschichte wurde bei jedem Schritt in diesem alten Königsschloß lebendig, in dem gleichwohl der Hof eines sehr jungen Königs ein wenig Fröhlichkeit zu wecken suchte.
Monsieur de Préfontaines, der sie bei Mademoiselle de Montpensier empfing, machte sich unbewußt zum Echo von Angéliques düsteren Gedanken.
Da Mademoiselle bei ihrem Maler in der Großen Galerie war, geleitete er die junge Frau dorthin.
Zerknirscht schritt er an ihrer Seite einher. Er war ein Mann in mittlerem Alter, verständig und klug, dessen Ratschlägen die Grande Mademoiselle so viel Wert beimaß, daß die Königin-Mutter, um sie zu ärgern, bereits zweimal die Verbannung des armen Mannes verlangt hatte.
Obwohl ihr nicht danach zumute war, bemühte sich Angélique, ihn zu unterhalten, und erkundigte sich nach den Plänen Mademoiselles. Ob sich denn die Prinzessin nicht bald im Luxembourg-Palais niederlassen werde, wie es vorgesehen sei?
Monsieur de Préfontaines seufzte. Mademoiselle habe sich’s in den Kopf gesetzt, ihre Wohnung im Luxembourg-Palais neu richten zu lassen, obwohl sie doch sehr schön und fast neu sei. In der Zwischenzeit habe sie sich im Louvre einquartiert, da sie das Zusammenwohnen mit Monsieur, dem Bruder des Königs, in den Tuilerien nicht ertrage. Andererseits hoffe Mademoiselle immer noch, in die Tuilerien zurückkehren zu können, da ja viel von der ehelichen Verbindung zwischen Monsieur und der jungen Henriette von England und von der Übersiedlung des jungen Paars in das Palais Royal geredet werde.
»Ich für meine Person, Madame«, schloß Monsieur de Préfontaines, »bin der Ansicht: ob Luxembourg oder Tuilerien, alles andere ist besser, als im Louvre zu wohnen.«
Sie waren im dunklen und feuchten Tunnel der unteren Galerie angelangt, im Erdgeschoß der Großen Galerie. Seit den Zeiten Heinrichs IV. waren hier Künstlern und Handwerkern Räume vorbehalten. Bildhauer, Maler, Uhrmacher, Edelsteingraveure, Waffenschmiede, die geschicktesten Vergolder, Da-maszierer, Instrumentenmacher, Tapezierer, Buchdrucker wohnten hier mit ihren Familien auf Kosten des Königs. Hinter den Türen aus massivem, lak-kiertem Holz hörte man das Klopfen der Hämmer, das Klappern der Webstühle, den dumpfen Stoß der Druckerpressen.
Der Maler, von dem Mademoiselle de Montpensier sich porträtieren ließ, war ein blondbärtiger, hochgewachsener Holländer, mit frischen, blauen Augen in einem rosigen Gesicht. Als bescheidener und begabter Künstler setzte van Ossel den Launen der Damen des Hofes die Festung eines friedlichen Wesens und eines mangelhaften Französisch entgegen. Wenn die Mehrzahl der Großen ihn duzte, wie es einem Diener oder Handwerker gegenüber üblich war, so ließ er nichtsdestoweniger seine Klienten nach seiner Pfeife tanzen.
So hatte er gewünscht, Mademoiselle mit einer entblößten Brust zu malen, und im Grunde hatte er gar nicht so unrecht, denn eben dies war das vollkommenste, was die robuste Junggesellin auf zuweisen hatte. Wenn, wie zu vermuten stand, das Gemälde für irgendeinen neuen Bewerber bestimmt war, würde die Beredtheit dieser runden, weißen verführerischen Fülle den Wert ihrer Mitgift und ihrer Adelstitel um ein bedeutendes steigern.
Mademoiselle, mit einem üppigen, faltenreichen dunkelblauen Samtstoff drapiert und von Perlen und Geschmeide starrend, lächelte Angélique zu. »Einen Augenblick noch, mein Kind. Van Ossel, entschließe dich endlich, meiner Marter ein Ende zu bereiten!«
Der Maler brummelte etwas in seinen Bart und setzte um der Form willen der einzigartigen Brust, dem Hauptobjekt seiner Sorgfalt, noch einige Glanzlichter auf.
Während eine Kammerzofe Mademoiselle de Mont-pensier beim Ankleiden behilflich war, überließ der Maler seine Pinsel einem kleinen Jungen, der sein Sohn zu sein schien und ihm als Gehilfe diente. Er betrachtete Angélique und ihren Gefolgsmann Kouassi-Ba mit großem Interesse. Schließlich zog er seinen Hut und vollführte eine tiefe Verbeugung vor Angélique. »Madame, wollt Ihr, daß ich Euch male? Oh, sehr schön! Die helle Frau und der kohlschwarze Mohr. Die Sonne und die Nacht ...«
Angélique lehnte das Anerbieten mit einem Lächeln ab. Es war nicht der geeignete Moment. Vielleicht später einmal .
Sie stellte sich das große Gemälde vor, das in einem der Salons des Palastes im Stadtviertel Saint-Paul aufgehängt werden sollte, wenn sie sich erst nach dem Sieg mit Joffrey dort niederlassen würde.
Auf dem Weg zu ihrem Appartement nahm die Grande Mademoiselle Angélique beim Arm und schnitt alsbald in ihrer gewohnten ungestümen Art das Thema an.
»Mein liebes Kind, ich hoffte, Euch nach einigen Nachforschungen bestätigen zu können, daß es sich bei der Angelegenheit Eures Gatten um ein Mißverständnis handelt, bewirkt durch einen gekränkten Höfling, der sich beim König wichtig tun wollte, oder durch Verleumdungen eines von Monsieur de Peyrac abgewiesenen Bittstellers, der sich zu rächen suchte. Aber ich fürchte jetzt, daß die Sache ziemlich langwierig und kompliziert ist.«
»Um Gottes willen, Hoheit, was habt Ihr in Erfahrung gebracht?«
»Wartet, bis wir bei mir sind und keine Lauscher zu befürchten haben.«
Als sie auf einem bequemen Ruhebett nebeneinander Platz genommen hatten, fuhr Mademoiselle fort:
»Offen gesagt, ich habe sehr wenig erfahren, und wenn man bedenkt, wieviel sonst bei jeder Gelegenheit am Hofe geklatscht wird, muß ich gestehen, daß eben dieses Schweigen mich beunruhigt. Die Leute wissen nichts oder tun so, als ob sie nichts wüßten.« Sie fügte zögernd und mit gedämpfter Stimme hinzu: »Euer Gatte ist der Hexerei angeklagt.«
Um die gute Prinzessin nicht zu verstimmen, unterdrückte Angélique die Bemerkung, daß sie es bereits wisse.
»Das ist nicht schlimm«, fuhr Mademoiselle de Montpensier fort, »und die Sache hätte sich mühelos erledigt, wäre Euer Gatte einem Kirchengericht übergeben worden, wie es der Gegenstand der Anklage eigentlich vorschreibt. Ich will Euch nicht verheimlichen, daß ich die Leute von der Kirche zuweilen einigermaßen empfindlich und rücksichtslos finde, aber man muß anerkennen, daß ihre Rechtsprechung, wenn sie sich mit Dingen befaßt, die innerhalb ihres Kompetenzbereichs liegen, meistens gerecht und klug ist. Aber das Entscheidende ist die Tatsache, daß man Euern Gatten trotz dieser speziellen Anschuldigung der weltlichen Gerichtsbarkeit unterstellt hat. Und da mache ich mir keine Illusionen. Wenn es zu einem Verfahren kommt, was keineswegs sicher ist, wird der Ausgang einzig von der Persönlichkeit der Geschworenen abhängen.«
»Wollt Ihr damit sagen, Hoheit, daß die weltlichen Richter voreingenommen sein könnten?«
»Das hängt davon ab, wen man dazu bestimmt.«
»Und wer bestimmt sie?«
»Der König.«
Angesichts der verängstigten Miene der jungen Frau erhob sich die Prinzessin, legte die Hand auf Angéliques Schulter und bemühte sich, sie aufzuheitern. Alles würde gut enden, dessen war sie gewiß. Aber man mußte auf den Grund der Sache vorstoßen. Ohne Anlaß sperrte man einen Mann von der Stellung und dem Range eines Monsieur de Peyrac nicht unter solchen Geheimhaltungsmaßregelnein. Sie war bei ihren Nachforschungen bis zum Erzbischof von Paris vorgedrungen, dem Kardinal de Gondi, einem ehemaligen Anhänger der Fronde, der mit Monseigneur de Fontenac auf gespanntem Fuß stand.
Durch diesen Kardinal, von dem kaum anzunehmen war, daß er die Handlungen seines mächtigen toulousanischen Rivalen billigte, hatte sie erfahren, daß zwar der Erzbischof von Toulouse tatsächlich die erste Anklage wegen Hexerei veranlaßt zu haben schien, dann aber auf undurchsichtige Weise gezwungen worden war, zugunsten der königlichen Gerichtsbarkeit auf seinen Angeklagten zu verzichten.
»Die Eminenz von Toulouse hatte in Wirklichkeit nicht die Absicht, die Dinge so weit zu treiben, und da sie zumindest im Fall Eures Gatten nicht an Hexerei glaubte, hätte sie sich damit begnügt, ihm entweder vor dem Kirchentribunal oder vor dem Parlament von Toulouse einen Verweis zu erteilen. Aber man hat ihr den Angeklagten durch einen speziellen und von langer Hand vorbereiteten Verhaftbefehl aus den Händen gerissen.«
Mademoiselle erklärte dann, sie sei, während sie ihre Nachforschungen auf ihre hohe Verwandtschaft ausgedehnt habe, immer mehr zur Überzeugung gekommen, daß man Joffrey de Peyrac der geplanten Aktion des Parlamentstribunals von Toulouse gewaltsam entzogen habe.
»Ich weiß es aus dem Munde von Monsieur Masse-neau selbst, einem ehrenwerten Parlamentarier des Languedoc, der soeben aus mysteriösen Gründen nach Paris beordert wurde und vermutet, daß es sich dabei um die Angelegenheit Eures Gatten handelt.«
»Masseneau?« sagte Angélique nachdenklich.
Plötzlich sah sie den bändergeschmückten kleinen Mann mit dem roten Gesicht vor sich, der auf der staubigen Landstraße von Salsigne dem unverschämten Grafen Peyrac mit dem Stock gedroht und ihm nachgerufen hatte: »Ich werde dem Statthalter des Languedoc schreiben ... dem Ministerrat des Königs ...!«
»O mein Gott«, murmelte sie, »das ist ein Feind meines Gatten.«
»Ich habe persönlich mit diesem Beamten gesprochen«, sagte die Herzogin von Montpensier, »und obwohl er bürgerlicher Herkunft ist, hat er einen recht ehrlichen und würdigen Eindruck auf mich gemacht. Tatsächlich fürchtet er sehr, in der Angelegenheit des Grafen Peyrac zum Geschworenen bestimmt zu werden, zumal bekannt ist, daß er eine Auseinandersetzung mit ihm hatte. Er sagte, daß Beleidigungen, die man in der Mittagshitze einander an den Kopf werfe, keinen Einfluß auf den Lauf der Gerechtigkeit hätten und daß es ihm sehr peinlich wäre, sich zu einem Scheinprozeß hergeben zu müssen.«
Angélique hatte sich nur ein einziges Wort eingeprägt: Prozeß!
»Man denkt also daran, einen Prozeß zu eröffnen? Ein Advokat, von dem ich mich beraten ließ, sagte mir, es sei schon viel gewonnen, wenn man das erreichte, vor allem, wenn er sich vor einem Tribunal des Parlaments von Paris abspielte. Die Anwesenheit dieses Masseneau, der selbst Parlamentsmitglied ist, beweist ja eigentlich, daß es dazu kommen wird.«
Mademoiselle de Montpensier verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse, die sie nicht eben verschönte.
»Ihr wißt ja, meine Liebe, daß ich mich in den Kniffen und Rechtsverdrehungen der Leute vom Gericht ganz gut auskenne. Nun, Ihr könnt mir glauben, daß ein aus Parlamentariern zusammengesetztes Tribunal Eurem Gatten nichts nutzen würde, weil fast alle Parlamentarier Fouquet, dem derzeitigen Oberintendanten der Finanzen, verpflichtet sind und sich nach seinen Anweisungen richten würden, um so mehr, als dieser ein ehemaliger Präsident des Parlaments von Paris ist.«
Angélique erschrak zutiefst. Fouquet! Da zeigte also das unheimliche Eichhörnchen wieder einmal seine scharfen Zähne.
»Weshalb sprecht Ihr mir von Monsieur Fouquet?« fragte Angélique mit unsicherer Stimme. »Ich schwöre Euch, daß mein Gatte nichts getan hat, was ihm dessen Zorn zugezogen haben könnte. Im übrigen hat er ihn nie gesehen!« Mademoiselle zuckte die Schultern. »Ich persönlich habe keine Spione in Fouquets Umgebung. Dergleichen ist nicht meine Sache, wenn ich es auch diesmal im Interesse Eures Gatten bedaure. Aber durch den Bruder des Königs, der, wie ich vermute, ebenfalls in Fouquets Sold steht, habe ich erfahren, daß Ihr beide, Ihr und Euer Gatte, ein Fouquet betreffendes Geheimnis bewahrt.«
Angélique blieb das Herz stehen. Sollte sie sich ihrer großen Beschützerin rückhaltlos anvertrauen? Sie war nahe daran, es zu tun, erinnerte sich aber noch rechtzeitig, wie unbedacht diese war und wie unfähig dazu, den Mund zu halten.
Die junge Frau seufzte und sagte mit abgewandtem Blick:
»Was kann ich über diesen mächtigen Herrn wissen, dem ich nie begegnet bin? Freilich erinnere ich mich, daß man, als ich noch klein war, von einer angeblichen Verschwörung der Edelleute sprach, in die Fouquet, der Fürst Condé und andere große Namen verwickelt waren. Bald darauf kam es zur Fronde.«
Es war recht gewagt, der Grande Mademoiselle gegenüber solche Äußerungen zu machen, aber diese nahm keinen Anstoß an ihnen und versicherte, ihr Vater habe sein Leben auch mit dem Anstiften von Verschwörungen verbracht.
»Das war sein Hauptlaster. Im übrigen war er zu gut und zu weich, um die Zügel des Königreichs in die Hand zu nehmen. Jedenfalls hat er nicht konspiriert, um sich zu bereichern.«
»Wohingegen mein Gatte reich geworden ist, ohne zu konspirieren«, sagte Angélique mit einem matten Lächeln. »Vielleicht ist es das, was ihn verdächtig macht.«
Mademoiselle stimmte zu und gab außerdem zu bedenken, daß die mangelnde Fähigkeit des Schmeichelns bei Hofe als ein schwerwiegender Fehler gewertet werde. Aber das allein rechtfertige noch nicht einen vom König unterschriebenen geheimen Verhaftbefehl.
»Da muß noch etwas anderes im Spiel sein«, versicherte die Grande Mademoiselle und wiederholte damit unbewußt den Ausspruch des Advokaten Desgray. »Jedenfalls kann einzig und allein der König einschreiten. Oh, er ist nicht leicht zu beeinflussen! Mazarin hat ihn auf die florentinische Diplomatie dressiert. Man kann ihn lächeln und sogar mit einer Träne im Auge sehen, denn er ist zartfühlend . während er gleichzeitig den Dolch zückt, um einen Freund ins Jenseits zu befördern.«
Da sie sah, daß Angélique erblaßte, legte sie den Arm um ihre Schulter und sagte in jovialem Ton:
»Ich rede dummes Zeug, wie immer. Man darf mich nicht ernst nehmen. Niemand nimmt mich mehr ernst in diesem Königreich. Deshalb komme ich zum Ende: Wollt Ihr den König sprechen?«
Und als Angélique sich unter der Einwirkung der unaufhörlichen kalten Duschen der Grande Mademoiselle zu Füßen warf, brachen beide in Tränen aus. Worauf Mademoiselle de Montpensier ihr mitteilte, die hochnotpeinliche Audienz sei bereits anberaumt und der König werde Madame de Peyrac in zwei Stunden empfangen.
Weit davon entfernt, außer Fassung zu geraten, fühlte sich Angélique von einer merkwürdigen Ruhe durchdrungen. Dieser Tag würde, das wußte sie nun, von entscheidender Bedeutung für sie sein.
Da ihr keine Zeit blieb, nach Saint-Landry zurückzukehren, bat sie Mademoiselle um die Erlaubnis, sich deren Puder und Schminke bedienen zu dürfen, um einigermaßen präsentabel zu sein. Mademoiselle lieh ihr bereitwillig eine ihrer Kammerfrauen dazu.
Vor dem Spiegel des Frisiertischs fragte sich Angélique, ob sie wohl noch hübsch genug sei, um den König günstig zu stimmen. Ihre Taille war stärker geworden, ihr einstmals kindlich-rundes Gesicht jedoch wesentlich schmaler. Zarte Ringe umgaben ihre Augen, und ihr Teint war blaß. Nach strenger Prüfung fand sie, daß das länglichere Gesicht und die durch die bläulichen Schatten größer wirkenden Augen ihr gar nicht übel standen. Es verlieh ihr einen pathetischen, rührenden Ausdruck, der nicht ohne Reiz war.
Sie legte ganz wenig Schminke auf, befestigte ein schwarzes Schönheitspflästerchen in der Schläfengegend und überließ sich den geschickten Händen der Friseuse.
Das Kleid sah noch sehr schön aus, nur sein Saum war durch den zähen Pariser Straßenschmutz verdorben. Doch sagte sie sich, daß der König ja schließlich wußte, daß man ihren gesamten Besitz versiegelt hatte, und sich nicht darüber wundern würde, daß sie in Bedrängnis war.
Sie bedauerte, keine Zeit zu haben, sich vorher mit Desgray zu besprechen. Sollte sie sich dem König gegenüber in plumpen, höfischen Schmeicheleien ergehen? Solche Worte würden in ihrem Munde unecht klingen! Sie beschloß, eine vertrauensvolle Haltung einzunehmen, ihrem festen Glauben an den Gerechtigkeitssinn des Monarchen Ausdruck zu geben. Sie würde ihm die Schuldlosigkeit ihres Gatten darlegen, ihm begreiflich machen, daß es einem König wie Ludwig XIV. übel anstünde, wenn er sich weigerte, Milde walten zu lassen.
Angélique betrachtete sich noch immer im Spiegel, und sie sah ihre grünen Augen funkeln wie die einer Katze in der Nacht.
»Das bin nicht mehr ich«, sagte sie zu sich. »Aber es ist gleichwohl eine verführerisch schöne Frau. Oh, der König kann unmöglich unbeeindruckt bleiben. Nur empfinde ich nicht genug Demut vor ihm. O mein Gott, mach, daß ich demütig bin!«
Angélique richtete sich klopfenden Herzens aus ihrem tiefen Knicks auf.
Der König stand vor ihr. Seine hohen, lackierten Holzabsätze verursachten kein Geräusch auf dem dicken Wollteppich.
Angélique bemerkte, daß die Tür des kleinen Kabinetts sich wieder geschlossen hatte und daß sie mit dem Monarchen allein war. Sie empfand ein Gefühl der Befangenheit, ja geradezu der Panik. Bisher hatte sie den König immer nur inmitten einer dichten Menschenmenge gesehen. So war er ihr nicht eigentlich echt und lebendig erschienen; er hatte wie ein Schauspieler auf der Bühne gewirkt.
Jetzt spürte sie die ein wenig massige Gegenwart des Menschen, sie roch das diskrete Parfüm des Irispuders, mit dem er sein üppiges braunes Haar bleichte. Und dieser Mensch war der König.
Sie zwang sich, den Blick zu ihm zu erheben. Ludwig XIV. war ernst und ungerührt. Man hätte meinen mögen, er suche sich des Namens dieser jungen Frau zu erinnern, obgleich die Grande Mademoiselle sie kurz zuvor angemeldet hatte. Angélique fühlte sich unter seinem kalten Blick wie gelähmt.
Sie wußte nicht, daß Ludwig XIV. zwar nicht die Schlichtheit seines Vaters, wohl aber dessen Schüchternheit geerbt hatte. Empfänglich für Prunk und Ehrerbietung wie er war, beherrschte er nach bestem Vermögen dieses Minderwertigkeitsgefühl, das mit der Erhabenheit seines Titels so wenig in Einklang stand. Aber obwohl verheiratet und bereits höchst galant, verlor er noch immer die Fassung, wenn er einer schönen Frau gegenübertrat.
Nun, Angélique war schön. Sie hatte vor allem, was sie nicht wußte, eine stolze Kopfhaltung und in ihrem Blick einen zugleich zurückhaltenden und kühnen Ausdruck, den man zuweilen als Herausforderung auslegen konnte, aber auch als die Unschuld eines unberührten, lauteren Wesens. Ihr Lächeln verwandelte sie und offenbarte ihre Aufgeschlossenheit dem Leben gegenüber.
Doch in diesem Augenblick lächelte Angélique nicht. Sie mußte warten, bis der König das Wort an sie richtete, und angesichts des langen Schweigens wuchs ihre Beklommenheit.
Endlich ließ sich der König vernehmen:
»Ich erkenne Euch kaum wieder, Madame. Habt Ihr das wundervolle Goldkleid nicht mehr, das Ihr in Saint-Jean-de-Luz trugt?«
»Ich schäme mich wirklich, Sire, in einem so schlichten und abgetragenen Kleid vor Euch erscheinen zu müssen. Aber es ist das einzige, das ich noch besitze. Euer Majestät ist gewiß bekannt, daß mein gesamter Besitz versiegelt ist.«
Das Gesicht des Königs nahm einen kühlen Ausdruck an, dann entschloß er sich plötzlich zu einem Lächeln.
»Ihr kommt sehr rasch auf Euer Thema zu spre-chen, Madame. Aber eigentlich habt Ihr ganz recht. Ihr erinnert mich daran, daß die Zeit eines Königs kostbar ist und daß er sie nicht mit albernen Umschweifen vertrödeln sollte. Ihr seid ein wenig streng, Madame.«
Zarte Röte stieg in die blassen Wangen der jungen Frau, und sie lächelte verlegen.
»Nichts liegt mir ferner, als Euch an die ernsten Pflichten zu erinnern, die auf Euch lasten, Sire. Ich habe nur in aller Bescheidenheit Eure Frage beantworten wollen und möchte nicht, daß Eure Majestät mich für nachlässig hält, weil ich in so abgetragener Kleidung und mit allzu schlichtem Schmuck vor Euch erscheine.«
»Ich habe keinen Befehl erlassen, Euren persönlichen Besitz zu beschlagnahmen. Und ich habe sogar ausdrücklich Anweisung gegeben, Madame de Peyrac volle Bewegungsfreiheit zu lassen und sie in keiner Weise zu belästigen.«
»Ich bin Eurer Majestät für die mir erwiesene Aufmerksamkeit unendlich dankbar«, sagte Angélique mit einer Verneigung. »Aber ich habe nichts, was mir persönlich gehört, und da ich so rasch wie möglich in Erfahrung bringen wollte, was mit meinem Gatten geschehen war, bin ich mit nichts anderem als meinem Reisebedarf und einigen Schmuckstücken nach Paris gefahren. Aber ich komme nicht zu Euch, um zu klagen, Sire. Meine einzige Sorge ist das Schicksal meines Gatten.«
Sie verstummte und unterdrückte die Flut von Fragen, die ihr auf der Zunge lagen: Weshalb habt Ihr ihn verhaftet? Was werft Ihr ihm vor? Wann gebt Ihr ihn mir zurück?
Ludwig XIV. betrachtete sie mit unverhohlener Neugier.
»Es ist mir unbegreiflich, Madame, wie eine so schöne Frau in einen so abstoßenden Gatten vernarrt sein kann!«
Der verächtliche Ton des Monarchen wirkte auf Angélique wie ein Dolchstoß. Sie verspürte quälenden Schmerz. Empörung funkelte in ihren Augen.
»Wie könnt Ihr so reden«, rief sie hitzig aus. »Ihr habt ihn doch gehört, Sire! Ihr habt die Goldene Stimme Frankreichs gehört!«
»Sie hatte allerdings einen Reiz, dem man sich schwerlich verschließen konnte.«
Er näherte sich ihr und fuhr mit einschmeichelnder Stimme fort:
»Es trifft doch wohl zu, daß Euer Gatte die Macht besaß, alle Frauen, selbst die kühlsten, zu behexen. Man hat mir berichtet, er sei auf diese Gabe so stolz gewesen, daß er daraus so etwas wie eine Lehre entwickelte und Feste gab, bei denen die schamloseste Zügellosigkeit Brauch war.«
»Weniger schamlos als das, was bei Euch im Louvre vorgeht«, verlangte es Angélique zu sagen. Sie beherrschte sich nach bestem Vermögen.
»Man hat Eurer Majestät gegenüber den Sinn dieser Zusammenkünfte falsch ausgelegt. Meinem Gatten machte es Freude, in seinem Palais die mittelalterlichen Traditionen der Troubadours aus dem Süden Wiederaufleben zu lassen, die die Galanterie gegenüber den Frauen zur Höhe eines Kults erhoben. Gewiß waren die Unterhaltungen ungezwungen, da man ja über die Liebe sprach, aber der Anstand blieb gewahrt.«
»Wart Ihr nicht eifersüchtig, Madame, als Ihr saht, wie dieser Gatte, den Ihr so angebetet habt, sich Ausschweifungen hingab?«
»Ich habe nie erlebt, daß er sich Ausschweifungen in dem Sinne hingab, in dem Ihr es meint, Sire. Jene Lehren schreiben die Treue zu einer einzigen Frau vor, der legitimen Gattin oder der Geliebten. Und ich war diejenige, die er erwählt hatte.«
»Immerhin habt Ihr lange gezögert, bis Ihr Euch dieser Wahl beugtet. Wie kam es, daß Eure anfängliche Abneigung sich plötzlich in verzehrende Liebe verwandelte?«
»Ich sehe, daß Eure Majestät sich für die intimsten Einzelheiten im Leben seiner Untertanen interessiert«, sagte Angélique, die sich diesmal der Ironie nicht enthalten konnte. Der Zorn kochte in ihr. Sie brannte danach, ihm die bissigen Erwiderungen ins Gesicht zu schleudern, die ihr auf der Zunge lagen. Doch beherrschte sie sich mühsam und senkte den Kopf in der Befürchtung, man könne ihr die Gefühle vom Gesicht ablesen.
»Ihr habt meine Frage nicht beantwortet, Madame«, sagte der König in eisigem Ton.
Angélique fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»Weshalb habe ich begonnen, diesen Mann zu lieben?« murmelte sie. »Wahrscheinlich, weil er alle Eigenschaften besitzt, die bewirken, daß eine Frau sich glücklich schätzt, Sklavin eines solchen Mannes zu sein.«
»Ihr gebt also zu, daß Euer Gatte Euch behext hat?«
»Ich habe fünf Jahre an seiner Seite gelebt, Sire. Ich bin bereit, auf das Evangelium zu schwören, daß er weder Hexenmeister noch Magier war.«
»Ihr wißt, daß man ihn der Hexerei anklagt?«
Sie nickte stumm.
»Es handelt sich nicht allein um den seltsamen Einfluß, den er auf die Frauen ausübt, sondern auch um die verdächtige Herkunft seines riesigen Vermögens. Es heißt, er habe das Geheimnis der Transmutation unedler Metalle in Gold durch den Umgang mit dem Satan empfangen.«
»Sire, man stelle meinen Gatten vor ein Tribunal. Er wird mühelos beweisen, daß er das Opfer falscher Vorstellungen in überwundenen Traditionen befangener Alchimisten geworden ist, Traditionen, die in unserer Zeit mehr Schaden als Nutzen stiften.«
Der König wurde ein wenig umgänglicher.
»Ihr werdet zugeben, Madame, daß wir, Ihr und ich, von der Alchimie nicht allzuviel verstehen. Dennoch muß ich gestehen, daß die Schilderungen, die man mir von den teuflischen Praktiken des Monsieur de Peyrac gemacht hat, reichlich unbestimmt sind und der Präzisierung bedürfen.«
Angélique unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung.
»Wie bin ich glücklich, Sire, daß Ihr ein so mildes und verständnisvolles Urteil fällt!«
Auf dem Gesicht des Königs erschien ein winziges Lächeln, in das sich leise Verärgerung mischte.
»Wir wollen nichts vorwegnehmen, Madame. Ich habe nur gesagt, daß ich nähere Einzelheiten über diese Transmutationsgeschichte verlange.«
»Sire, eine Transmutation hat es nie gegeben. Mein Gatte hat lediglich ein Verfahren ausgearbeitet, durch das man mit Hilfe geschmolzenen Bleis sehr feines Gold ausscheiden kann, das in einem bestimmten Gestein enthalten ist. Durch Anwendung dieses Verfahrens hat er sein Vermögen erworben.«
»Wäre es ein unantastbares und lauteres Verfahren gewesen, hätte er dessen Ausnützung normalerweise seinem König angeboten, während er in Wirklichkeit zu niemand darüber gesprochen hat.«
»Sire, ich bin Zeuge, daß er sein Verfahren vor einigen Edelleuten und dem Abgesandten des Erzbischofs von Toulouse demonstrierte, aber das Verfahren ist nur auf ein bestimmtes Gestein anwendbar, das man die unsichtbaren Goldadern der Pyrenäen nennt, und man braucht ausländische Spezialisten, um es durchzuführen. Es ist also keine kabalistische Formel, die er verraten könnte, sondern etwas, das ein Spezialwissen und ein beträchtliches Kapital erfordert.«
»Zweifellos zog er es vor, sich die Ausnutzung eines solchen Verfahrens vorzubehalten, das ihn nicht nur reich machte, sondern ihm auch den Vorwand lieferte, Ausländer bei sich zu empfangen, Spanier, Deutsche, Engländer und aus der Schweiz kommende Ketzer. So konnte er in aller Bequemlichkeit die autonomisti-sche Revolte des Languedoc vorbereiten.«
»Mein Gatte hat niemals Komplotte gegen Eure Majestät geschmiedet.«
»Immerhin hat er beachtliche Arroganz und Selbstbewußtheit an den Tag gelegt. Ihr müßt zugeben, Madame, daß es wider die Üblichkeit ist, wenn ein Edelmann vom König nichts verlangt. Wenn er sich aber auch noch rühmt, ihn nicht zu brauchen, überschreitet das jedes Maß.«
Angélique fühlte sich wie vom Fieber geschüttelt. Sie tat bescheiden, gab zu, daß Joffrey ein Sonderling sei, der, infolge seiner physischen Defekte von seinesgleichen isoliert, alles ans Werk gesetzt habe, um mittels seiner Philosophie und seines Wissens über sie zu triumphieren.
»Euer Gatte wollte einen Staat im Staate schaffen«, sagte der König hart. »Ob Schwarzkünstler oder nicht - er wollte mittels seines Reichtums herrschen. Seit seiner Verhaftung brodelt es in Toulouse, und das Languedoc befindet sich in Unruhe. Glaubt nicht, Madame, daß ich jenen Verhaftbefehl aus keinem stichhaltigeren Grunde als wegen des Verdachts der Hexerei unterschrieben habe, der zwar beunruhigend ist, aber gegen die schwerwiegenden Vergehen in seinem Gefolge wenig zu bedeuten hat. Ich habe schlagende Beweise für seinen Verrat bekommen.«
»Die Verräter wittern überall Verrat«, sagte Angélique ruhig, und ihre grünen Augen schossen Blitze. »Wenn Eure Majestät mir diejenigen nennen würden, die in solcher Weise den Grafen Peyrac verleumden, würde ich unter ihnen zweifellos Persönlichkeiten finden, die sich in nicht allzu ferner Vergangenheit tatsächlich gegen die Macht und sogar das Leben Eurer Majestät verschworen haben.«
Ludwig XIV. blieb gelassen, nur sein Gesicht färbte sich ein wenig dunkler.
»Ihr seid recht kühn, Madame, daß Ihr Euch zu bestimmen anmaßt, in wen ich mein Vertrauen setzen soll. Die gezähmten und angeketteten Raubtiere sind mir nützlicher als der stolze und freie Vasall, der gar leicht zum Rivalen werden kann. Möge der Fall Eures Gatten anderen Edelleuten als Beispiel dienen, die gerne das Haupt erheben möchten. Man wird ja sehen, ob er mit all seinem Geld seine Richter kaufen kann und ob der Satan ihm zu Hilfe kommt. Meine Pflicht ist es, das Volk vor den verderblichen Einflüssen jener großen Adligen zu schützen, die sich zu Beherrschern der Körper und der Seelen und des Königs selbst erheben möchten.«
»Ich müßte mich ihm weinend zu Füßen werfen«, dachte Angélique, aber sie war dessen nicht fähig. Die Gloriole des Königs verflüchtigte sich vor ihren Augen. Sie sah nur noch einen jungen Mann ihres Alters - zweiundzwanzigjährig -, den sie am liebsten an seinem Spitzenkragen gepackt und wie einen Pflaumenbaum geschüttelt hätte.
»Das also ist die Gerechtigkeit des Königs«, sagte sie in einem harten Ton, der ihr fremd vorkam. »Ihr seid von gepuderten Mördern umgeben, von federgeschmückten Banditen, von Bettlern, die sich in den elendesten Schmeicheleien ergehen. Einem Fouquet, einem Condé, den Conti, Longueville, Beaufort ... Der Mann, den ich liebe, hat nie Verrat begangen. Er hat die schlimmsten Schicksalsschläge überwunden, hat die königliche Schatzkammer um einen Teil seines Vermögens bereichert, das er sich durch seine Genialität, sein unermüdliches Arbeiten erworben hatte. Er hat von niemandem etwas gefordert, und das wird man ihm nie verzeihen .«
»Das wird man ihm nie verzeihen«, wiederholte der König.
Er trat auf Angélique zu und packte sie mit einer Heftigkeit am Arm, die den Zorn verriet, den das Gesicht zu verbergen suchte.
»Madame, Ihr werdet diesen Raum ungehindert verlassen, obwohl ich Euch verhaften lassen könnte. Erinnert Euch daran, falls Ihr in Zukunft einmal an der Hochherzigkeit des Königs zweifeln solltet. Aber seht Euch vor! Ich will nie mehr etwas von Euch hören, sonst wäre ich unbarmherzig. Euer Gatte ist mein Vasall. Laßt die Gerechtigkeit des Staates ihren Lauf nehmen. Adieu, Madame!«
»Alles ist verloren! Durch meine Schuld! Ich habe Joffrey verloren«, sagte sich Angélique immer wieder.
Verstört suchte sie in den Gängen des Louvre nach Kouassi-Ba! Sie wollte zur Grande Mademoiselle. Vergebens rief ihr angstbeklommenes Herz nach einer mitfühlenden Seele. Die Gestalten, denen sie in diesem düsteren Labyrinth begegnete, waren taub und blind, marklose Marionetten, die aus einer anderen Welt kamen.
Die Nacht brach herein und brachte ein Oktoberunwetter mit, das an die Fenster peitschte, die Kerzenflammen niederdrückte, durch die Türritzen pfiff, die Wandteppiche bewegte.
In der Hoffnung, Kouassi-Ba zu finden, stieg sie eine Treppe hinunter und erreichte einen der Höfe. Angesichts des Platzregens, der mit großem Getöse aus den Dachrinnen herabstürzte, mußte sie jedoch ins Innere zurücktreten.
Unter der Treppe hatte eine Gruppe italienischer Komödianten, die am Abend vor dem König tanzen sollte, an einem Kohlenbecken Zuflucht gesucht. Der rote Schein des Herds erhellte das bunte Farbengemisch der Harlekinkostüme, die schwarzen Masken, die weißen Vermummungen Pantalons und seiner Hanswurste.
Nachdem sie wieder ins obere Stockwerk hinaufgestiegen war, entdeckte sie endlich ein bekanntes Gesicht: Brienne. Er sagte ihr, er habe Monsieur de Préfontaines bei der jungen Prinzessin Henriette von England gesehen; vielleicht könne er ihr Auskunft geben, wo Mademoiselle de Montpensier sich befinde.
Bei der Prinzessin Henriette saß man in der traulichen Wärme der Wachskerzen, die den großen Salon freundlich erleuchteten, beim Kartenspiel. Angélique entdeckte Andijos, Péguillin, d’Humières und de Guiche. Sie schienen völlig vom Spiel absorbiert oder taten vielleicht nur so, als sähen sie sie nicht.
Monsieur de Préfontaines, der beim Kamin an einem Gläschen Likör nippte, berichtete ihr, Mademoiselle de Montpensier habe sich mit der jungen Königin zum Kartenspiel ins Appartement Anna von Österreichs begeben. Ihre Majestät die Königin Maria Theresia fühle sich unsicher, da sie die französische Sprache nicht beherrsche, und mische sich deshalb nicht gern unter die wenig duldsame Jugend des Hofs. Mademoiselle spiele allabendlich eine Partie mit ihr, doch da die kleine Königin früh zu Bett gehe, sei es leicht möglich, daß Mademoiselle noch auf einen Sprung bei ihrer Kusine Henriette erscheine. Auf jeden Fall werde sie Monsieur de Préfontaines rufen lassen, denn sie schlafe nie ein, bevor sie mit ihm abgerechnet habe.
Angélique beschloß, auf sie zu warten. Sie trat zu einem Tisch, auf dem die Diener ein kaltes Souper und Backwerk bereitgestellt hatten. Sie schämte sich stets des Heißhungers, den sie just in den heikelsten Lebenslagen zu verspüren pflegte. Von Monsieur de Préfontaines ermuntert, setzte sie sich und verzehrte ein Hühnerbein, zwei Sülzeier und verschiedenerlei Konfekt. Nachdem sie sodann von einem Pagen die silberne Kanne erbeten hatte, um sich die Finger zu spülen, gesellte sie sich einer Gruppe von Spielern zu und nahm Karten auf. Sie hatte ein wenig Geld bei sich. Bald wurde sie vom Glück begünstigt und begann zu gewinnen. Der Erfolg tröstete sie. Wenn sie wenigstens ihre Börse füllen konnte, würde dieser Tag nicht restlos verloren sein.
Sie vertiefte sich in das Spiel. Die Goldstücke häuften sich vor ihr. Einer der Verlierer an ihrem Tisch sagte mit süßsaurer Miene:
»Kein Wunder, das ist ja die kleine Hexe.«
Mit flinker Hand raffte sie seinen Einsatz zusammen und erfaßte die Anspielung erst ein paar Sekunden später. Joffreys Mißgeschick begann also bekanntzuwerden. Man flüsterte einander ins Ohr, daß er der Hexerei beschuldigt sei.
Dennoch blieb Angélique unbeirrt auf ihrem Platz.
»Ich werde das Spiel erst aufgeben, wenn ich anfange zu verlieren. Oh, wenn ich sie nur alle ruinieren könnte und genug Geld gewänne, um seine Richter zu bestechen .«
Während sie abermals drei Asse auslegte, glitt eine Hand um ihre Taille.
»Warum seid Ihr in den Louvre zurückgekommen?«
flüsterte der Marquis de Vardes an ihrem Ohr.
»Gewiß nicht, um Euch wiederzusehen«, erwiderte sie, ohne aufzublicken, und machte sich mit einer heftigen Bewegung los.
Auch er nahm Karten und ordnete sie mechanisch, während er im gleichen Ton fortfuhr.
»Ihr seid von Sinnen! Wollt Ihr Euch unbedingt ermorden lassen?«
»Was ich tun will, geht Euch nichts an.«
Er spielte, verlor und warf einen neuen Einsatz auf den Tisch.
»Hört zu, noch ist es Zeit. Folgt mir. Ich werde Euch von ein paar Schweizern nach Hause geleiten lassen.«
Diesmal warf sie ihm einen verächtlichen Blick zu.
»Ich habe keinerlei Vertrauen zu Euerm Beistand, Monsieur de Vardes, und Ihr wißt, weshalb.«
Er warf seine Karten in verhaltenem Zorn auf den Tisch.
»Es ist lächerlich von mir, mich um Euch zu sorgen.«
Einen Augenblick zögerte er, bevor er mit einer bösen Grimasse fortfuhr:
»Ihr zwingt mich in eine alberne Rolle, aber da es offenbar kein anderes Mittel gibt, Euch zur Vernunft zu bringen, sage ich Euch: Denkt an Euren Sohn. Verlaßt augenblicklich den Louvre und vermeidet vor allem, dem Bruder des Königs zu begegnen!«
»Ich werde mich nicht von diesem Tisch rühren, solange Ihr in der Nähe seid«, erwiderte Angélique ruhig.
Die Hände des Edelmannes verkrampften sich, aber er wandte sich brüsk vom Spieltisch ab.
»Gut, ich gehe. Tut möglichst bald desgleichen. Ihr spielt mit Eurem Leben.«
Sie sah, wie er sich, nach rechts und links grüßend, entfernte und hinausging.
Angélique blieb verwirrt zurück. Sie konnte sich eines wachsenden Angstgefühls nicht erwehren. Ob Vardes ihr abermals eine Falle stellte? Er war zu allem fähig. Gleichwohl hatte die Stimme des zynischen Edelmanns einen ungewohnten Klang besessen. Sein Hinweis auf Florimond bestürzte sie mit einem Male. Sie sah den herzigen kleinen Kerl plötzlich vor sich: im roten Häubchen, über sein langes, besticktes Kleidchen stolpernd, die silberne Rassel in der Hand. Was sollte aus ihm werden, wenn sie verschwand?
Die junge Frau legte ihre Karten nieder und ließ die Goldstücke in ihre Börse gleiten. Sie hatte fünfzehnhundert Livres gewonnen. Ihren Mantel von der Stuhllehne nehmend, grüßte sie die Prinzessin Henriette, die mit einem gleichgültigen Nicken erwiderte.
Ungern verließ Angélique den Salon, die helle und warme Zuflucht. Ein Luftzug ließ die Tür hinter ihr ins Schloß fallen. Der pfeifende Wind duckte die zuckenden Kerzenflammen, die von einer irren Panik ergriffen zu sein schienen. Schatten und Flammen regten sich wie in Todesangst. Dann trat wieder Stille ein, während der Wind sich keifend entfernte und in der stummen Weite der Gänge sich nichts mehr bewegte.
Nachdem Angélique den vor dem Appartement der Prinzessin postierten Schweizer nach dem Weg gefragt hatte, schritt sie rasch dahin, ihren Mantel eng um sich zusammenziehend. Sie gab sich Mühe, keine Angst zu haben, aber es war ihr, als verberge sich in jedem Winkel eine verdächtige Gestalt. Als sie an der Biegung eines Ganges anlangte, verlangsamte sie die Schritte. Ein unüberwindliches Grausen lähmte sie.
»Sie sind da«, sagte sie sich.
Sie sah niemand, aber ein Schatten glitt über den Boden. Diesmal gab es keinen Zweifel: Dort lauerte ein Mann.
Angélique blieb stehen. Etwas bewegte sich an der Mauerecke, eine in einen dunklen Mantel gehüllte Gestalt, den Hut tief in die Stirn gedrückt, tauchte langsam auf und versperrte ihr den Weg. Angélique biß sich in die Lippen, um einen Schrei zu unterdrük-ken, und kehrte um.
Sie warf einen Blick über die Schulter. Jetzt waren es drei, und sie folgten ihr. Die junge Frau beschleunigte ihre Schritte, doch die drei Gestalten kamen näher. Da begann sie mit der Leichtfüßigkeit eines Rehs zu laufen.
Auch ohne sich umzuwenden wußte sie, daß sie verfolgt wurde. Hinter sich hörte sie die gedämpften Schritte der Männer, die auf Zehenspitzen liefen, um möglichst wenig Lärm zu machen. Es war eine lautlose, unwirkliche Verfolgung, ein gespenstisches Rennen durch die Öde des riesigen Palastes. Plötzlich bemerkte Angélique zu ihrer Rechten eine halbgeöffnete Tür. Sie war eben um die Ecke eines Ganges gebogen. Die Verfolger waren außer Sicht.
Rasch schlüpfte sie in den Raum, schloß die Tür, schob den Riegel vor. An die Klinke gelehnt, mehr tot als lebendig, hörte sie gleich darauf die hastigen Schritte der Männer und ihren keuchenden Atem. Dann wurde es wieder still.
Vor Erregung zitternd, machte Angélique ein paar Schritte durch das Zimmer und lehnte sich ans Bett. Es war niemand anwesend, aber es mußte bald jemand kommen, denn die Laken waren für die Nacht gerichtet. Im Kamin brannte ein Feuer und erhellte samt einer auf dem Nachttisch stehenden kleinen Öllampe den Raum.
Angélique legte die Hand auf ihre Brust und schöpfte Atem.
»Ich muß unbedingt sehen, daß ich aus diesem Wespennest herauskomme«, sagte sie sich. Die Tatsache, daß es ihr nach dem ersten Attentat in den Gängen des Louvre gelungen war zu entkommen, gab ihr Hoffnung, daß es auch ein zweites Mal gelingen werde.
Sicher wußte die Grande Mademoiselle nichts von den Gefahren, denen sie ausgesetzt war; und auch der König ahnte wohl nicht, was da im Innern seines Palastes angezettelt wurde. Doch im Louvre war Fouquet insgeheim allgegenwärtig. In der Angst, Angéliques Geheimnis könne sein erstaunliches Vermögen ruinieren, hatte der Oberintendant den ihm ergebenen Philippe d’Orléans auf den Plan gerufen und all denen Furcht eingeimpft, die von ihm lebten. Die Verhaftung des Grafen Peyrac war eine Etappe. Die Beseitigung Angéliques vervollständigte das kluge Manöver. Nur die Toten redeten nicht.
Die junge Frau biß die Zähne zusammen. Ein zäher Lebenswille überkam sie. Sie würde dem Tod entrinnen.
Unverzüglich sah sie sich nach einem Ausgang um, durch den sie zu entkommen versuchen wollte, ohne Aufmerksamkeit zu wecken. Plötzlich erstarrte ihr Blick.
Vor ihr bewegte sich der Wandteppich. Sie vernahm das Geräusch eines sich drehenden Türknaufs. Eine Tapetentür ging langsam auf, und in der Öffnung erschienen die drei Männer, die sie verfolgt hatten.
Sofort erkannte sie in demjenigen, der zuerst eintrat, Monsieur, den Bruder des Königs.
Er schlug seinen Verschwörerumhang zurück und schob mit einer eitlen Kopfbewegung seinen Spitzenkragen zurecht. Er ließ sie nicht aus den Augen, während ein kaltes Lächeln die roten Lippen seines kleinen Mundes kräuselte.
»Großartig!« rief er mit seiner Fistelstimme. »Das Reh ist kopfüber in die Fanggrube gestürzt. War ein tüchtiges Wettrennen! Ihr könnt Euch rühmen, Madame, einen flinken Fuß zu haben.«
Angélique blieb kaltblütig, und obwohl ihre Knie zu zittern begannen, verneigte sie sich.
»Ihr seid es also, Monseigneur, der mich so sehr erschreckt hat. Ich glaubte schon, es mit Räubern oder Beutelschneidern vom Pont-Neuf zu tun zu haben, die sich auf der Suche nach einem Opfer in den Palast geschlichen hätten.«
»Oh, es wäre nicht das erstemal, daß ich nächtlicherweile auf dem Pont-Neuf den Wegelagerer spiele«, sagte der kleine Monsieur mit süffisanter Miene. »Und niemand versteht sich besser darauf als ich, Beutel zu schneiden oder den Wanst eines Spießbürgers zu durchbohren. Ist es nicht so, Liebster?«
Er wandte sich zu einem seiner Genossen um. Dieser lüftete den Hut, und Angélique erkannte die brutalen Gesichtszüge des Chevaliers de Lorraine. Ohne etwas zu erwidern, trat der Günstling herzu und zog seinen Degen. Angélique musterte den dritten, der ein wenig abseits stand.
»Clément Tonnel«, sagte sie schließlich, »was tut Ihr hier, mein Freund?«
Der Mann verneigte sich tief.
»Ich stehe im Dienste Monseigneurs«, erwiderte er.
Und dank der Macht der Gewohnheit setzte er hinzu: »Wenn Frau Gräfin vergeben wollen.«
»Ich vergebe Euch gern«, sagte Angélique, die plötzlich einen nervösen Lachreiz verspürte, »aber weshalb haltet Ihr eine Pistole in der Hand?«
Der Haushofmeister sah verlegen auf seine Waffe, trat jedoch zum Bett, an das Angélique sich noch immer lehnte.
Philippe d’Orléans hatte die Schublade des Nachttischchens herausgezogen und entnahm ihr ein zur Hälfte mit einer schwärzlichen Flüssigkeit gefülltes Glas.
»Madame«, sagte er feierlich, »Ihr werdet sterben.«
»Wirklich?« antwortete Angélique.
Sie betrachtete die drei, die da vor ihr standen. Es war ihr, als teile sich ihr Wesen. Tief drinnen in ihr rang eine zur Verzweiflung getriebene Frau die Hände und rief: »Erbarmen, ich will nicht sterben!« Eine andere, überlegenere dachte: »Wie lächerlich sie sind! All das ist ein übler Scherz.«
»Madame, Ihr habt uns zum Narren gehalten«, erklärte der kleine Monsieur, in dessen Gesicht es ungeduldig zuckte. »Ihr werdet sterben, aber wir sind großmütig: Ihr dürft zwischen Gift, Stahl und Feuer wählen.«
Ein Windstoß rüttelte heftig an der Tür und drückte aus dem Kamin beizenden Rauch ins Innere des Raums. Angélique hatte hoffnungsvoll den Kopf gehoben.
»O nein, es wird niemand kommen!« lachte der Bruder des Königs höhnisch. »Dieses Bett ist Euer Sterbebett, Madame. Man hat es für Euch gerichtet.«
»Aber was habe ich denn getan?« rief Angélique, der der Angstschweiß auszubrechen begann. »Ihr redet von meinem Tode wie von einer natürlichen, unumgänglichen Sache. Erlaubt mir, anderer Meinung zu sein. Der größte Verbrecher hat das Recht zu erfahren, wessen man ihn beschuldigt, um sich zu verteidigen.«
»Die geschickteste Verteidigung wird auf den Urteilsspruch keinen Einfluß haben, Madame.«
»Nun, wenn ich sterben muß, sagt mir wenigstens, weshalb«, erwiderte die junge Frau heftig. Es kam darauf an, Zeit zu gewinnen.
Der junge Prinz warf einen fragenden Blick auf seine Genossen.
»Da ohnehin Eure letzte Stunde geschlagen hat, sehe ich nicht ein, warum wir unnötig unmenschlich sein sollten«, sagte er in zuckersüßem Ton. »Madame, Ihr seid nicht so ahnungslos, wie Ihr tut. Ihr wißt doch, in wessen Auftrag wir hier sind?«
»Des Königs?« fragte Angélique, Respekt heuchelnd.
Philippe d’Orléans hob seine schwächlichen Schultern.
»Der König taugt gerade noch dazu, Leute ins Gefängnis zu schicken, auf die man ihn eifersüchtig macht. Nein, Madame, es handelt sich nicht um Seine Majestät.«
»Von wem sonst läßt sich der Bruder des Königs Aufträge erteilen?«
Der Prinz zuckte zusammen.
»Ich finde Eure Sprache reichlich kühn, Madame. Ihr macht mich ärgerlich.«
»Und ich finde, daß Ihr und Eure Familie reichlich empfindliche Leute seid«, gab Angélique zurück, deren Zorn die Angst besiegte. »Ob man Euch feiert oder hätschelt, Ihr ärgert Euch, weil der Edelmann, der Euch bei sich empfängt, reicher zu sein scheint als Ihr. Wenn man Euch Geschenke darbringt, so ist das eine Unverschämtheit; wenn man Euch nicht ehrerbietig genug grüßt, desgleichen. Wenn man nicht wie ein Bettler lebt und nicht so lange die Hand hinhält, bis der Staat ruiniert ist, wie das so üblich ist, dann ist das verletzende Arroganz. Wenn man seine Steuern auf Heller und Pfennig bezahlt, so ist das eine Herausforderung ... Eine Bande von Zänkern, das ist es, was Ihr seid, Ihr, Euer Bruder, Eure Mutter und Eure ganze heimtückische Vetternschaft: Condé, Montpensier, Soissons, Guise, Lorraine, Vendôme ...«
Sie hielt, völlig außer Atem gekommen, inne.
Philippe d’Orléans spreizte sich auf seinen hohen Holzhacken wie ein junger Hahn und warf einen empörten Blick auf seinen Günstling.
»Habt Ihr jemals auf so unverschämte Weise über die königliche Familie reden hören?«
Der Chevalier de Lorraine lächelte grausam.
»Beleidigungen töten nicht, Monseigneur. Machen wir Schluß, Madame.«
»Ich will wissen, warum ich sterbe«, sagte Angélique hartnäckig. Zu allem entschlossen, um ein paar Minuten zu gewinnen, setzte sie überstürzt hinzu:
»Ist es wegen Monsieur Fouquet?«
Der Bruder des Königs konnte ein befriedigtes Lächeln nicht unterdrücken. »Euer Gedächtnis läßt Euch also doch nicht ganz im Stich? Ihr wißt, weshalb Monsieur Fouquet soviel an Eurem Schweigen liegt?«
»Ich weiß nur eines, nämlich daß ich vor Jahren den Giftanschlag zum Scheitern brachte, der Euch aus dem Wege räumen sollte, Euch, Monsieur, sowie den König und den Kardinal, und daß ich heute zutiefst bedauere, daß der von Monsieur Fouquet und dem Fürsten Condé eingefädelte Anschlag nicht geglückt ist.«
»Ihr gesteht also?«
»Ich habe nichts zu gestehen. Der Verrat dieses Bedienten hat Euch weitgehend darüber informiert, was ich wußte und was ich meinem Gatten anvertraute. Ich habe Euch einmal das Leben gerettet, Monseigneur, und das ist nun der Dank!«
Einen Augenblick lang schien es, als sei der junge Mann von Angéliques Worten beeindruckt. Sein egozentrisches Wesen machte ihn für alles empfänglich, was ihn betraf.
»Was vergangen ist, ist vergangen«, sagte er zögernd. »Seitdem hat mich Monsieur Fouquet mit Wohltaten überhäuft. Es ist nur gerecht, wenn ich die Drohung beseitige, die auf ihm lastet. Wirklich, Madame, mir blutet das Herz, aber es ist zu spät. Warum seid Ihr nicht auf den vernünftigen Vorschlag eingegangen, den Monsieur Fouquet Euch durch Vermittlung von Madame de Beauvais gemacht hat?«
»Ich glaubte zu verstehen, daß ich dann meinen Gatten seinem traurigen Schicksal überlassen müßte.«
»Allerdings. Man kann einen Grafen Peyrac nur dadurch zum Schweigen bringen, daß man ihn zwischen Gefängnismauern einschließt. Aber eine Frau, die von Luxus und Ruhm umgeben ist, vergißt rasch die Erinnerungen, die sie vergessen soll. Doch es ist zu spät. Also, Madame .«
»Und wenn ich Euch sagte, wo jenes Kästchen sich befindet?« schlug Angélique vor, indem sie ihn an den Schultern packte. »Ihr, Monseigneur, Ihr ganz allein hieltet die Macht in Händen, Monsieur Fouquet in Schrecken zu setzen, zu beherrschen, und dazu den Beweis des Verrats so vieler großer Herren, die Euch über die Schulter ansehen und nicht ernst nehmen .«
Ein Funke des Ehrgeizes blitzte in den Augen des jungen Prinzen auf, und er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Doch nun packte ihn der Chevalier de Lorraine und zog ihn zu sich, als wolle er ihn Angéliques unheilvoller Unklammerung entreißen.
»Seht Euch vor, Monseigneur. Laßt Euch von dieser Frau nicht erweichen. Sie sucht sich uns durch lügnerische Versprechungen zu entwinden. Es ist besser, sie nimmt ihr Geheimnis mit ins Grab. Besäßet Ihr es, so würdet Ihr zweifellos sehr mächtig sein, aber Eure Tage wären gezählt.«
An die Brust seines Günstlings geschmiegt, beglückt über diesen männlichen Schutz, dachte Philippe d’Orléans nach.
»Ihr habt recht wie immer, Liebster«, seufzte er. »Nun, so laßt uns unsre Pflicht tun. Madame, wofür entscheidet Ihr Euch: das Gift, den Degen oder die
Pistole?«
»Entschließt Euch rasch«, fiel der Chevalier de Lorraine drohend ein. »Andernfalls werden wir für Euch wählen.«
Der Augenblick der Hoffnung war für Angélique vorüber. Ihre Lage war nicht weniger grausig und ausweglos als zuvor.
Die drei Männer standen vor ihr. Sie hätte sich nicht von der Stelle zu rühren vermocht, ohne vom Degen des Chevaliers oder von Cléments Pistole aufgehalten zu werden. Kein Klingelzug war in Reichweite. Kein Laut kam von draußen. Einzig das Knistern der Holzscheite im Kamin und das Prasseln der Regentropfen an den Fensterscheiben unterbrachen die erdrückende Stille. In ein paar Sekunden würden ihre Mörder sich auf sie stürzen. Angéliques Augen hefteten sich auf die Waffen. Durch die Pistole oder den Degen würde sie zuverlässig sterben. Aber vielleicht konnte das Gift ihr nichts anhaben? Seit über einem Jahr nahm sie täglich die winzige Dosis toxischer Produkte zu sich, die Joffrey ihr zubereitet hatte.
Sie streckte die Hand aus und bemühte sich, sie ruhig zu halten.
»Gebt!« flüsterte sie.
Als sie das Glas an die Lippen führte, bemerkte sie, daß sich auf dem Grund ein metallisch schimmernder Satz gebildet hatte. Sie bemühte sich, während des Trinkens die Flüssigkeit nicht aufzurühren. Sie schmeckte scharf und bitter.
»Und nun laßt mich allein«, sagte sie, nachdem sie das Glas auf das Tischchen zurückgestellt hatte.
Doch der Prinz hatte den Satz bemerkt, der auf dem Grund zurückgeblieben war. Er nahm eine silberne Zange, scharrte die Reste zu einer kleinen Kugel zusammen und hielt sie der Unglücklichen hin.
»Ihr werdet dies schlucken«, befahl er böse.
Der Chevalier packte Angélique an beiden Händen und hielt sie fest, während Monsieur versuchte, das konzentrierte Gift gewaltsam zwischen ihre Lippen zu schieben. Schließlich gab sie nach, warf sich in gespielter Verzweiflung aufs Bett, und es gelang ihr, die tödliche Pille zwischen die Falten des Lakens zu spucken. Sie verspürte keinerlei Schmerz. Zweifellos schützte die Nahrung, die sie bei der Prinzessin Henriette zu sich genommen hatte, vorläufig noch ihre Magenwände vor der ätzenden Wirkung des Giftstoffes. Auch jetzt verlor Angélique noch nicht alle Hoffnung, ihren Peinigern und einem grausigen Tod zu entrinnen.
Sie glitt vor dem Prinzen auf die Knie.
»Monseigneur, erbarmt Euch meiner Seele. Schickt mir einen Priester. Ich werde sterben. Ich habe schon nicht mehr die Kraft, mich fortzuschleppen. Ihr habt jetzt die Gewißheit, daß ich Euch nicht mehr entkommen kann. Laßt mich nicht ohne Beichte sterben. Gott würde Euch die Schändlichkeit nicht vergeben, mich des Trostes der Religion beraubt zu haben.«
Mit gellender Stimme schrie sie:
»Einen Priester! Einen Priester! Gott wird Euch nicht vergeben.«
Sie sah, daß Clément Tonnel sich erblassend bekreuzigte.
»Sie hat recht«, sagte der Prinz mit bewegter Stimme. »Wir gewinnen nichts, wenn wir sie der Tröstungen der Religion berauben. Madame, beruhigt Euch. Ich habe Eure Bitte vorhergesehen. Ich werde Euch einen Geistlichen schicken, der in einem Nachbarraum wartet.«
»Meine Herren, zieht Euch zurück«, bat Angélique beschwörend, indem sie die Schwäche ihrer Stimme übertrieb und die Hand auf den Magen hielt, als sei sie von Krämpfen befallen, »ich will nur noch mein Gewissen befrieden. Ich spüre deutlich, daß ich, wenn auch nur einer von Euch vor meinen Augen bleibt, nicht fähig sein werde, meinen Feinden zu vergeben. O diese Schmerzen! Mein Gott, hab Erbarmen!«
Mit einem fürchterlichen Schrei ließ sie sich zurückfallen. Philippe d’Orléans zog den Chevalier hinaus.
»Gehn wir rasch. Sie macht es nur noch ein paar Augenblicke.«
Der Haushofmeister hatte den Raum schon vor ihnen verlassen.
Doch kaum waren sie verschwunden, als Angélique auch schon aufsprang und zum Fenster lief. Es gelang ihr, es zu öffnen; der Regen schlug ihr ins Gesicht, und sie beugte sich über den dunklen Abgrund.
Sie sah absolut nichts und konnte nicht berechnen, wie weit es bis zum Boden war, aber ohne zu zögern kletterte sie auf das Fenstersims.
In diesem Augenblick betrat der Priester den Raum. Als er sah, daß die junge Frau im Begriff war hinauszuspringen, stürzte er hinzu und packte sie am Rockschoß, aber der Stoff zerriß. Angélique war bereits ins Leere gesprungen.
Der Fall kam ihr endlos vor. Sie landete unsanft in einer Art Kloake, in der sie einsank und der sie es zu danken hatte, daß sie sich nicht ernstlich verletzte. Sie verspürte zwar einen Schmerz am Knöchel und glaubte im ersten Augenblick, sich den Fuß gebrochen zu haben, aber es war lediglich eine Verstauchung.
Als sie aufstand, streifte sie ein schwerer Gegenstand, der splitternd und spritzend neben ihr zerbarst. Offenbar war es der auf die Rufe des Geistlichen hinzugeeilte Chevalier, der sie mit dem vollen Wasserkrug vom Waschtisch zu treffen versucht hatte.
Dicht an der Mauer entlangstreifend, tat Angélique ein paar Schritte, dann steckte sie den Finger in den Hals, und es gelang ihr, sich einige Male zu erbrechen.
Sie wußte nicht, wo sie sich befand, tastete sich an den Mauern entlang und stellte mit Entsetzen fest, daß sie in einen mit Unrat und Abfällen angefüllten kleinen Innenhof gesprungen war, aus dem es keinen Ausgang zu geben schien.
Glücklicherweise begegneten ihre Finger einer Tür, die sich öffnen ließ. Dahinter war es dunkel und feucht. Ein Geruch nach Wein und Nahrungsmitteln strömte ihr entgegen. Sie mußte sich in einem Nebengebäude des Louvre befinden, in der Nähe der Keller.
Sie beschloß, in die oberen Stockwerke hinaufzuflüchten und bei der ersten Wache Schutz zu suchen, der sie begegnen würde ... Aber der König würde sie verhaften und ins Gefängnis werfen lassen. Ach, wie sollte sie nur aus dieser Mausefalle entkommen?
Gleichwohl stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie in die bewohnten Galerien gelangte. Einige Schritte entfernt erkannte sie den vor der Tür der Prinzessin Henriette postierten Schweizer wieder, den sie vorhin nach dem Weg gefragt hatte. Im gleichen Augenblick verließen sie die Nerven, und sie stieß einen Schrei des Entsetzens aus, denn am andern Ende des Ganges sah sie den Chevalier de Lorraine und Philippe d’Orléans auftauchen. Sie kannten den einzigen Ausgang des Höfchens, in das ihr Opfer gesprungen war, und sie versuchten, ihr den Rückweg abzuschneiden.
Angélique stieß den Posten beiseite, stürmte in den Salon und warf sich der Prinzessin Henriette zu Füßen.
»Erbarmen, Madame, Erbarmen! Man will mich ermorden!«
Ein Kanonenschlag hätte die glänzende Versammlung nicht mehr verblüffen können. Die Spieler waren aufgesprungen und starrten entgeistert auf die zerzauste, durchnäßte junge Frau im beschmutzten und zerrissenen Kleid, die da mitten zwischen ihnen zu Boden gestürzt war.
Am Ende ihrer Kräfte warf Angélique gehetzte Blicke um sich und erkannte die verlegenen Gesichter von Andijos und Péguillin de Lauzun.
»Ihr Herren, steht mir bei!« rief sie beschwörend. »Man hat versucht, mich zu vergiften. Man verfolgt mich, um mich umzubringen.«
»Aber wo sind sie denn, Eure Mörder, mein armes Kind?« fragte die sanfte Stimme Henriettens von England.
»Dort!«
Unfähig, mehr zu sagen, deutete Angélique auf die Tür. Man wandte sich um. Der kleine Monsieur, der Bruder des Königs, und sein Günstling, der Chevalier de Lorraine, standen auf der Schwelle.
»Liebste Henriette«, sagte Philippe d’Orléans heuchlerisch, während er sich mit zierlichen Schritten seiner Kusine näherte, »ich bin untröstlich über diesen Zwischenfall. Diese Unglückliche ist närrisch.«
»Ich bin nicht närrisch. Ich sage Euch, sie wollen mich umbringen.«
»Aber meine Liebe, was redet Ihr für törichte Dinge«, versuchte die Prinzessin sie zu beruhigen. »Derjenige, den Ihr als Euren Mörder bezeichnet, ist kein anderer als Monseigneur d’Orléans. Schaut ihn doch richtig an!«
»Ich habe ihn nur zu genau angeschaut«, rief Angélique. »Nie in meinem Leben werde ich sein Gesicht vergessen. Ich sage Euch, er hat mich vergiften wollen. Monsieur de Préfontaines, Ihr, der Ihr ein ehrbarer Mann seid, bringt mir eine Medizin, Milch,
was weiß ich, damit ich die Wirkung dieses entsetzlichen Gifts bekämpfen kann. Ich beschwöre Euch ... Monsieur de Préfontaines!«
Stammelnd, völlig verdutzt, stürzte der gute Mann zu einem Schränkchen und brachte der jungen Frau eine Schachtel mit Orvietan, von dem sie rasch einige Stückchen aß.
Die allgemeine Bestürzung hatte den Höhepunkt erreicht. Mit ärgerlich verkniffenem Mund versuchte Monsieur abermals, sich Gehör zu verschaffen. »Ich versichere Euch, meine Freunde, daß diese Frau den Verstand verloren hat. Jeder von Euch weiß, daß ihr Gatte derzeitig eines entsetzlichen Verbrechens wegen in der Bastille ist. Die Unglückliche, von dem verrufenen Edelmann umgarnt, macht nun den hoffnungslosen Versuch, seine Unschuld darzutun. Vergeblich hat Seine Majestät sich heute im Verlaufe einer Unterhaltung in aller Güte bemüht, sie zu überzeugen .«
»Oh, die Güte des Königs! Die Güte des Königs .!« rief Angélique verzweifelt.
Sie spürte, daß sie im Begriff stand, törichte Dinge zu reden, in welchem Falle es um sie geschehen gewesen wäre! So verbarg sie ihr Gesicht in den Händen und bemühte sich, ihre Ruhe zurückzugewinnen.
Wie von fern hörte sie die treuherzige Jünglingsstimme des kleinen Monsieur:
»Plötzlich wurde sie von einer wahrhaft teuflischen Nervenkrise befallen. Sie ist vom Teufel besessen. Der König schickte sofort nach dem Abt des Augustinerklosters, um sie wegzubringen und durch Gebete beruhigen zu lassen. Aber es ist ihr gelungen, zu entkommen. Um den Skandal zu vermeiden, sie von der Wache in Gewahrsam nehmen zu lassen, hat Seine Majestät mich beauftragt, sie abzufangen und bis zum Eintreffen der Ordensgeistlichen festzuhalten. Ich bin wahrhaftig untröstlich, Henriette, daß sie Eure Abendgesellschaft gestört hat. Ich glaube, es ist am vernünftigsten, Ihr zieht Euch alle mit Euren Spielen in einen Nachbarraum zurück, während ich mich hier des Auftrags meines Bruders entledige.«
Wie in einem Nebel sah Angélique, wie sich rings um sie her die dichtgedrängten Reihen der Damen und Edelleute auflösten. Tief bewegt und ängstlich darauf bedacht, dem Bruder des Königs nicht zu mißfallen, zog sich die Gesellschaft zurück.
Angélique hob die Hände und berührte den Stoff eines Kleides, an dem ihre kraftlosen Finger sich nicht festklammern konnten.
»Madame«, sagte sie mit tonloser Stimme, »wollt Ihr mich denn sterben lassen?«
Die Prinzessin zögerte. Sie warf einen ängstlichen Blick auf ihren Vetter. »Wie, Henriette«, protestierte dieser schmerzlich, »Ihr zweifelt an meinen Worten, obwohl wir uns gegenseitig Vertrauen gelobten und heilige Bande uns in Kürze vereinigen werden?«
Henriette senkte ihren blonden Kopf.
»Habt Vertrauen zu Monseigneur, meine Freundin«, sagte sie zu Angélique. »Ich bin überzeugt, daß man es gut mit Euch meint.«
Sie entfernte sich eilig.
In einer Art Delirium, in dem ihr die Zunge versagte, wandte sich Angélique, noch immer auf dem Teppich kniend, der Tür zu, durch welche die Höflinge so rasch verschwunden waren. Sie entdeckte Bernard d’Andijos und Péguillin de Lauzun, die leichenblaß bei ihr verhielten und sich nicht entschließen konnten, den Raum zu verlassen.
»Nun, Ihr Herren«, sagte Monseigneur d’Orléans mit keifender Stimme, »meine Anweisungen erstrek-ken sich auch auf Euch. Muß ich dem König melden, daß Ihr dem Geschwätz einer Irren mehr Glauben schenkt als den Worten seines eigenen Bruders?«
Die beiden Männer senkten den Kopf und zogen sich ebenfalls zögernd zurück. Ihre beschämende Treulosigkeit weckte Angéliques Kampflust von neuem.
»Feiglinge! Feiglinge! O ihr Feiglinge!« rief sie, raffte sich unversehens auf und suchte hinter einem Sessel Schutz.
Mit knapper Not entging sie dem Degenhieb des Chevaliers de Lorraine. Ein zweiter Hieb verletzte ihre Schulter. Aus der Wunde quoll Blut.
»Andijos! Péguillin! Zu mir die Gaskogner!« schrie sie, völlig außer sich, auf. »Rettet mich vor den Männern des Nordens!«
Die Tür des zweiten Salons wurde aufgerissen. Lauzun und der Marquis d’Andijos stürzten mit gezogenen Degen herein. Sie hatten hinter dem angelehnten Türflügel die Szene beobachtet und konnten nun an den grausigen Absichten Monsieurs und seines Günstlings nicht mehr zweifeln.
Mit einem Degenhieb schlug Andijos Philippe d’Orléans die Waffe aus der Faust und verletzte ihn am Handgelenk. Lauzun kreuzte die Klinge mit dem Chevalier de Lorraine.
Andijos packte Angélique bei der Hand.
»Laßt uns fliehen! Rasch!«
Er zog sie in den Gang, stieß gegen Clément Tonnel, dem nicht genügend Zeit blieb, die Pistole zu zücken, die er unter seinem Mantel verborgen hielt. Andijos bohrte ihm den Degen in die Kehle, und blutüberströmt brach der Mann zusammen. Dann stürzten der Marquis und die junge Frau in wilder Flucht davon.
Hinter ihnen zeterte die Fistelstimme des kleinen Monsieurs den Schweizern zu:
»Wachen! Wachen! Haltet sie fest!«
Und schon folgten ihnen schwere, eilige Schritte und das Klirren der Hellebarden.
»Die Große Galerie ...«, keuchte Andijos, ». bis zu den Tuilerien ... Die Ställe, die Pferde. Dann das freie Feld ... Gerettet .«
Trotz seiner Beleibtheit lief der Gaskogner mit einer Ausdauer, die Angélique ihm nie zugetraut hätte.
Aber sie konnte nicht mehr. Ihr Knöchel verursachte ihr wilde Schmerzen, und ihre Schulter brannte.
»Es ist aus mit mir«, keuchte sie. »Ich kann nicht mehr!«
Vor ihnen öffnete sich eine der großen Treppen, die zu den Höfen führten.
»Hier hinunter«, flüsterte Andijos. »Und verbergt Euch, so gut Ihr könnt. Ich werde sie ablenken.«
Fast fliegend glitt Angélique die Steinstufen hinunter. Der rötliche Schein eines Kohlenbeckens ließ sie innehalten. Plötzlich brach sie zusammen.
Harlekin, Colombine, der Hanswurst fingen sie auf, zogen sie in ihren Schlupfwinkel und verbargen sie vor dem Blick der Übelwollenden. Die grünen und roten Rauten ihrer Kostüme flimmerten lange vor ihren Augen, bis sie in eine tiefe Ohnmacht versank.
Angélique hatte das Gefühl, in einem grünen und milden Licht zu schwimmen, als sie die Augen aufschlug. Sie war in Monteloup, unter dem schattigen Laub der Erlen am Bach, durch das nur grünlich verfärbte Sonnenstrahlen drangen.
Sie hörte, wie ihr Bruder zu ihr sagte:
»Nie werde ich das Grün der Pflanzen herausbekommen. Wenn man Galmei mit persischem Kobaltsalz behandelt, erhält man allenfalls den ungefähren Ton, aber es ist ein dunkles, undurchsichtiges Grün, das nichts von der leuchtenden Smaragdfarbe der Blätter über dem Fluß hat .«
Gontran hatte eine derbe, heisere Stimme, die neu war und dennoch irgendwie vertraut, einen verdrossenen Tonfall, den er nur annahm, wenn er über seine Farben und Bilder redete. Wie oft hatte er, wenn er Angéliques Augen mit einem gewissen Groll betrachtete, gemurmelt: »Nie werde ich das Grün der Pflanzen herausbekommen.«
Ein brennender Stich in der Magengrube ließ Angélique erschauern. Sie erinnerte sich, daß etwas Schreckliches geschehen war.
»Mein Gott«, dachte sie, »mein Kindchen ist tot!«
Sicher war es tot! So viele Schrecken hatte es nicht überleben können. Es war bei dem Sprung aus dem Fenster gestorben. Oder bei der atemlosen Flucht durch die Gänge des Louvre . Noch steckte ihr das Grauen dieses irren Laufs in den Gliedern, und ihr bis zum letzten beanspruchtes Herz schmerzte dumpf.
Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihr, eine Hand auf ihren Leib zu legen. Eine sanfte Regung beantwortete ihren Druck.
»Oh, es ist noch da, es lebt! Was für ein tapferer kleiner Kamerad!« dachte sie stolz und zärtlich.
Sie spürte die Rundung des Köpfchens unter ihren Fingern, und diese Wahrnehmung belebte Angéliques erstarrten und zerschlagenen Körper. Sie gewann ihre ganze Klarheit zurück und stellte fest, daß sie in Wirklichkeit in einem großen Bett mit gewundenen Säulen lag, dessen grünliche Seidenvorhänge jenes seltsame Licht durchschimmern ließen, das sie an die Ufer des Bachs von Monteloup erinnert hatte.
Sie war nicht in der Rue de l’Enfer bei Hortense. Wo war sie? Ihre Erinnerungen blieben undeutlich; sie hatte lediglich das Gefühl, etwas wie eine riesige und finstere Masse hinter sich her zu schleppen, irgendein wüstes Drama, das sich aus schwarzem Gift, blitzenden Säbeln, Angst, klebrigem Schmutz zusammensetzte.
Und wieder erklang Gontrans Stimme:
»Nie, nie wird man dieses Grün des Wassers unter den Blättern herausbekommen.«
Diesmal hätte Angélique beinahe einen Schrei ausgestoßen. War ihr Geist tatsächlich gestört? Oder war sie schwer krank .?
Sie richtete sich auf und schob die Bettvorhänge zur Seite. Das Schauspiel, das sich ihrem Blick darbot, brachte sie vollends zur Überzeugung, daß sie den Verstand verloren hatte.
Auf einer Art Estrade sah sie eine halbnackte, blonde und rosige Göttin ausgestreckt liegen, die einen Strohkorb mit üppigen, golden schimmernden Weintrauben hielt, deren Blattwerk sich über die Samtkissen des Lagers ausbreitete. Ein völlig nackter kleiner Liebesgott, der auf seinem blonden Haar eine Blumenkrone trug, naschte genießerisch an den Trauben. Plötzlich begann der kleine Gott mehrmals zu niesen. Die Göttin sah ihn beunruhigt an und sagte ein paar Worte in einer fremden Sprache, die zweifellos die Sprache des Olymps war.
Jemand bewegte sich im Raum, und ein rothaariger, bärtiger, jedoch ganz unauffällig wie ein Handwerker des Jahrhunderts gekleideter Riese trat auf Eros zu, nahm ihn auf den Arm und hüllte ihn in einen wollenen Mantel.
Im gleichen Augenblick erkannte Angélique die Staffelei des Malers van Ossel, neben der ein Geselle in der Lederschürze stand und zwei Paletten mit leuchtenden Farben in den Händen hielt.
Der Geselle neigte den Kopf leicht zur Seite und betrachtete das unvollendete Bild des Meisters. Ein fahles Licht fiel auf sein Gesicht. Er war ein lustiger Bursche von mittlerer Größe und gewöhnlichem Aussehen, mit seinem Hemd aus grobem Leinen, das den braunen Hals freiließ, und den kastanienbraunen Haaren, deren wirre Strähnen die dunklen Augen zur Hälfte verdeckten. Doch Angélique hätte unter Tausenden diese schmollende Unterlippe, diese gerümpfte Nase wiedererkannt, und auch das gutmütige, ein wenig schwere Kinn, das sie an ihren Vater, den Baron Armand erinnerte.
Sie rief: »Gontran!«
»Die Dame ist aufgewacht«, verkündete die Göttin.
Sogleich drängte sich die ganze Gruppe, der sich fünf oder sechs Kinder beigesellten, zum Bett.
Der Geselle schien verblüfft. Er starrte Angélique an, die ihm zulächelte. Plötzlich errötete er heftig und ergriff mit seinen farbenverschmierten Händen die ihrigen. Er murmelte:
»Meine Schwester!«
Die üppige Göttin, die niemand anders als die Frau des Malers van Ossel war, rief ihrer Tochter zu, die Hühnermilch zu bringen, die sie in der Küche bereitet hatte.
»Ich freue mich«, sagte der Niederländer, »ich freue mich, daß ich nicht nur einer in Not befindlichen Dame, sondern zugleich der Schwester meines Gesellen einen Dienst erweisen konnte.«
»Aber wie komme ich hierher?« fragte Angélique.
In seiner unbeholfenen Sprache erzählte der Maler, wie sie am Abend des vorigen Tages durch ein Klopfen an der Tür geweckt worden waren. Im Schein der Kerzen hatten ihnen italienische Komödianten in seidenem Flitterwerk eine ohnmächtige, blutende, halbtote Frau übergeben. Die temperamentvollen Italiener hatten inständig gebeten, man möge der Unglücklichen Hilfe leisten. Hinter ihren Masken hatten sie mit den Augen gerollt, den Finger geheimnisvoll auf die Lippen gelegt und mit angsterfüllten Gesten nach oben gedeutet. Die gemessenen Holländer hatten erwidert: »Sie sei uns willkommen!«
Man hatte die junge Dame auf das Bett des Saals gelegt, in dem der Maler arbeitete. Harlekin hatte, in seinen Tanzschuhen von Pfütze zu Pfütze hüpfend, irgendwoher einen stotternden, verängstigten Apotheker geholt, der bereit gewesen war, ein Kräuterpflaster auf die Wunde der Unbekannten zu legen. Dann hatte Mariedje gesagt: »Laßt sie schlafen. Ihr Körper ist so robust wie der eine Flamin. Morgen wird alles wieder in Ordnung sein.«
Sie verstand sich darauf, diese Mariedje, sie hatte schon sechs Kinder gehabt. Und diese Dame war also die Schwester des Gehilfen? Welch ein Zufall .! Der große Maler lachte, während er am langen Rohr seiner Pfeife zog.
Nachdem man seine Glückwünsche ausgesprochen hatte, kehrte van Ossel zu seiner Staffelei zurück; Mariedje, seine Frau, nahm ihre Pose auf den blauen Samtkissen wieder ein, und die älteste Tochter setzte den kleinen Eros in ein hohes Kinderstühlchen und gab ihm seinen Brei.
Mit einer Handbewegung hatte van Ossel Gontran bedeutet, am Bett zu bleiben.
»Unterhalte dich mit deiner Schwester, Junge ... der kleine Jan kann meine Palette halten.«
Gontran und Angélique musterten sich ein wenig verlegen. Waren doch acht Jahre vergangen, seitdem sie sich bei der Ankunft in Poitiers getrennt hatten! Angélique sah Raymond und Gontran vor sich, wie sie, die steilen Gassen hinaufreitend, verschwanden. Ob Gontran der alten Kutsche gedachte, in der drei staubbedeckte junge Mädchen enggedrängt nebeneinander gesessen hatten?
»Als ich dich das letzte Mal sah«, sagte er, »warst du mit Hortense und Madelon zusammen, und du gingst ins Kloster der Ursulinerinnen von Poitiers.«
»Ja. Madelon ist tot, weißt du das?«
»Ja, ich weiß.«
»Erinnerst du dich, Gontran? Du hast doch einmal den alten Wilhelm porträtiert.«
»Der alte Wilhelm ist tot.«
»Ja, ich weiß.«
»Ich habe immer noch sein Porträt. Ich hab’ sogar noch ein viel besseres gemacht ... aus der Erinnerung. Ich werd’s dir zeigen.«
»Wie bist du eigentlich zu diesem Handwerk gekommen?« fragte Angélique mit einem mitleidigen Unterton.
Er rümpfte seine sensible Sancé-Nase und runzelte die Stirn.
»Törin!« rief er aus. »Wenn ich dazu gekommen bin, wie du sagst, so deshalb, weil ich es gewollt habe. Oh, mein Latein läßt nichts zu wünschen übrig, und die Jesuiten haben sich alle Mühe gegeben, aus mir einen jungen Adligen zu machen, der fähig ist, die Tradition seiner Familie fortzuführen, da Josselin nach Amerika ausgerückt und Raymond in die berühmte Societas Jesu eingetreten ist. Aber auch ich habe schon zu lange meine eigenen Ideen im Kopf. Ich überwarf mich mit unserm Vater, der mich zum Eintritt ins Heer zwingen wollte. Er sagte mir, er werde mir keinen Sol geben. Ich habe mich wie ein Bettler zu Fuß aufgemacht und bin Malergehilfe in Paris geworden. Bald sind meine Lehrjahre zu Ende. Dann mache ich mich auf die Wanderschaft durch Frankreich. Von Stadt zu Stadt werde ich gehen und mir alles aneignen, was man auf dem Gebiet der Malerei und der Gravierkunst lernen kann. Um leben zu können, werde ich mich bei Malern verdingen, oder ich werde Porträts für Bürgersleute machen. Und später kaufe ich mir einen Meisterbrief. Ich werde einmal ein großer Maler sein, das weiß ich ganz genau, Angélique! Vielleicht bekomme ich sogar den Auftrag, die Decken des Louvre auszumalen .«
»Wirst du die Hölle, Flammen und grinsende Teufel draufmalen?«
»Nein, den blauen Himmel, sonnenbestrahlte Wolken, zwischen denen der König in seinem Glanz erscheinen wird.«
»Der König in seinem Glanz ...«, wiederholte Angélique mit müder Stimme.
Sie schloß die Augen. Sie fühlte sich mit einem Male viel älter als dieser Jüngling, der ihr doch in Wirklichkeit an Jahren voraus war, der sich aber den Schwung seiner kindlichen Leidenschaften bewahrt hatte. Gewiß, er hatte gefroren und gehungert, er war gedemütigt worden, aber er hatte nie sein Ziel aus den Augen verloren.
»Und mich fragst du nicht«, sagte sie, »wie ich in diese Situation gekommen bin?«
»Ich wage es nicht, dir Fragen zu stellen«, meinte er verlegen. »Ich weiß ja, daß du wider deinen Willen einen furchtbaren und gefährlichen Mann geheiratet hast. Mein Vater war glücklich über diese Heirat, aber wir, deine Geschwister, bedauern dich, meine arme Angélique. Du bist wohl sehr unglücklich gewesen?«
»Nein. Unglücklich bin ich erst jetzt.«
Es widerstrebte ihr, sich ihm mitzuteilen. Wozu diesen Jungen beunruhigen, der so völlig in seiner beglückenden Arbeit aufging? Wie oft hatte er wohl im Lauf dieser Jahre an seine kleine Schwester Angélique gedacht? Sicher sehr selten, höchstens dann, wenn es ihn bekümmerte, daß er das Grün der Blätter nicht traf. Er hatte nie die andern gebraucht, wenn er auch der Familie aufs engste verhaftet gewesen war.
»In Paris habe ich bei Hortense gewohnt«, sagte sie, aus dem Bedürfnis heraus, in seinem ferngerückten Herzen geschwisterliche Gefühle zu wecken.
»Hortense? Das ist eine Hochnäsige! Als ich hier ankam, wollte ich sie gern aufsuchen, aber was gab das für ein Theater! Sie schämte sich fast zu Tode, als ich mit meinen derben Schuhen bei ihr eintrat. Ich trüge ja nicht einmal mehr den Degen, zeterte sie, nichts unterschiede mich mehr von ordinären Handwerkern. Da hat sie schon recht. Aber soll ich vielleicht unter meiner Lederschürze den Degen tragen? Wenn mir als Adligem aber das Malen Freude macht - warum sollte ich mich durch alberne Vorurteile davon abhalten lassen? Ich stoße sie mit einem Fußtritt beiseite.«
»Ich glaube, das Aufbegehren liegt uns allen im Blut«, sagte Angélique mit einem Seufzer und nahm liebevoll die schwielige Hand ihres Bruders. »Du hast es wohl sehr schwer gehabt?«
»Nicht schwerer, als ich es bei der Armee mit einem Degen an der Seite, mit Schulden bis über die Ohren und mit Wucherern auf den Fersen gehabt hätte. Ich weiß, was ich verdienen kann. Ich habe zwar keine Rente von der guten Laune eines Großen zu erhoffen, aber mein Meister kann mich nicht betrügen, denn die Zunft schützt mich. Wenn ich mal gar nicht ein noch aus weiß, mache ich rasch einen Sprung nach dem Temple, zu unserm Bruder, dem Jesuiten, und bitte ihn um ein paar Silberstücke. Er hält mir eine kleine Predigt über die Würde des Adels, die man in jeder Lebenslage wahren solle. Ich erwidere ihm, daß ich weder ein Freigeist noch ein Trinker sei, und er gewährt mir bereitwillig ein Darlehen, das ich ihm später zurückzuzahlen verspreche.«
»Raymond ist in Paris?« rief Angélique aus.
»Ja. Er wohnt im Temple, aber er betreut ich weiß nicht wie viele Klöster, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn er es noch zum Beichtvater einiger hoher Persönlichkeiten vom Hofe brächte.«
Angélique überlegte. Raymonds Hilfe war es, die ihr not tat. Eine kirchliche Autorität, die vielleicht obendrein die Sache zu ihrer eigenen machen würde, da es sich ja um die Familie handelte.
Trotz der noch so frischen Erinnerung an die Gefahren, denen sie sich ausgesetzt hatte, und trotz der Worte des Königs dachte Angélique keinen Augenblick daran, die Partie aufzugeben. Sie war sich nur darüber klar, daß sie sehr vorsichtig zu Werke gehen mußte. Zunächst einmal konnte sie nicht im Louvre bleiben. Die friedliche und würdige Zuflucht der niederländischen Künstler würde sie nicht lange schützen. Sie mußte dem Louvre entrinnen. Dann zu Desgray, später zu Raymond gehen. Kouassi-Ba suchen. Wie konnte sie sich hier verhätscheln lassen, während Joffrey noch immer im Gefängnis saß!
»Gontran«, sagte sie in bestimmtem Ton, »du wirst mich zu den >Drei Mohren< geleiten.«
Van Ossel riet, die Nacht oder zumindest den Abend abzuwarten, der die Gesichtszüge verwischt. Was für Erfahrungen mochte er inmitten all der Dramen und Intrigen dieses Palastes gesammelt haben, deren Echo zugleich mit seinen adligen Modellen seine Staffelei umschwirrte?
Mariedje lieh Angélique eines ihrer Kleider mit einem Mieder aus gewöhnlichem Leinen und schlang ihr ein schwarzes Seidentuch um den Kopf, wie es die einfachen Frauen aus dem Volke trugen. Angélique machte der kurze Rock, der knapp bis zu den Knöcheln reichte, ordentlich Spaß. Wie bequem würde sie sich in ihm in den Straßen von Paris bewegen können.
Der seidene Mantel wurde zusammengefaltet in einen Korb gelegt. Angélique überließ Mariedje das Kleid aus grünem Satin, das die Holländerin trotz seines kläglichen Zustands begeisterte. Sie übergab ihr auch ihre beiden Diamantohrringe und bat, man möge sie den Komödianten aushändigen, die sie gerettet hatten.
Als sie in Begleitung Gontrans den Louvre durch die kleine Tür verließ, die man die Wäscherinnenpforte nannte, weil den ganzen Tag über die Wäscherinnen der fürstlichen Häuser durch sie auf dem Weg von der Seine zum Palast ein und aus gingen, glich sie eher einer am Arm ihres Ehemanns hängenden adretten kleinen Handwerkersfrau als einer großen Dame, die noch am Tag zuvor mit dem König gesprochen hatte. jenseits des Pont-Neuf schillerte die Seine im matten Glanz der letzten Sonnenstrahlen. Die Pferde, die zur Tränke geführt wurden, schritten bis zur Brust ins Wasser und schüttelten sich wiehernd. Mit duftendem Heu beladene Kähne reihten sich in langer Kette längs dem Ufer auf. Ein aus Rouen kommendes Marktschiff lud seine aus Soldaten, Mönchen und Ammen bestehenden Fahrgäste aus.
Die Glocken läuteten das Angelus. Die Oblaten-und Strudelverkäufer liefen mit ihren von weißen Tüchern bedeckten Körben durch die Straßen und ermunterten die Spieler in den Schenken zum Kauf.
»Heda! Kommt zum Oblatenmann, wenn euch beim Spiel das Geld zerrann! Oblaten! Oblaten! Kosten keinen Dukaten!«
Eine Kutsche rollte vorrüber, der Läufer und Hunde vorauszogen.
Der Louvre, massig und unheildrohend, vom nahenden Abend veilchenblau angehaucht, streckte unter dem roten Himmel seine endlose Galerie aus.
Ein wüstes Grölen drang aus der Schenke, deren über dem Eingang hängendes Schild drei Mohren zeigte.
Angélique und ihr Bruder Gontran stiegen die Stufen hinunter und betraten den von Tabaksrauch und Bratendunst erfüllten Raum. Im Hintergrund gewährte eine offenstehende Tür Einblick in die Küche, in der sich vor einem rotglühenden Feuer mit Geflügel bespickte Spieße langsam drehten.
Die beiden jungen Leute setzten sich an einen abseits stehenden Tisch unter einem Fenster, und Gontran bestellte Wein.
»Such dir eine gute Flasche aus«, sagte Angélique und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich bin’s, die bezahlt.«
Und sie zeigte ihre Börse, in der sie die beim Spiel gewonnenen fünfzehnhundert Livres sorgfältig hütete.
Gontran erklärte, er sei kein Feinschmecker. Im allgemeinen begnüge er sich mit einem einfachen Landwein. Sonntags gehe er in die Vororte hinaus und lasse sich etwas Besseres vorsetzen, denn dort seien die Bordeaux- und Bourgogneweine billiger, weil der städtische Zollaufschlag wegfiele. Dieser Ausflug bilde seine einzige Zerstreuung.
Angélique fragte ihn, ob er mit Freunden dorthin ginge. Er verneinte es. Er habe keine Freunde, aber es mache ihm Spaß, unter einer Laube zu sitzen und die Gesichter der Arbeiter und ihrer Familien zu betrachten. Er fand die Menschheit erfreulich und sympathisch.
»Du hast es gut«, murmelte Angélique, die plötzlich den bitteren Geschmack des Gifts auf der Zunge spürte. Sie fühlte sich nicht krank, aber müde und zugleich überreizt.
Eng in den von Mariedje entliehenen Mantel aus grober Wolle gehüllt, betrachtete sie mit großen Augen das ihr ungewohnte Bild einer hauptstädtischen Kneipe.
In den an der Place de Montorgueil, nahe dem Palais Royal gelegenen »Drei Mohren« sah man viele Komödianten, die mit noch geschminkten Gesichtern und falschen Nasen nach der Vorstellung hierherkamen, um sich »die Eingeweide anzufeuchten« und die von den Leidenschaftsausbrüchen heiser gewordenen Kehlen zu erfrischen. Italienische Possenspieler in grellbuntem Flitterzeug, Jahrmarktsgaukler und zuweilen sogar unheimliche Zigeuner mit dunkelglühenden Augen mischten sich unter die Stammgäste aus der Nachbarschaft.
An diesem Abend führte ein Greis, offenbar ein Italiener, dessen Gesicht sich hinter einer roten Samtmaske verbarg und dessen weißer Bart bis zum Gürtel reichte, den Anwesenden einen kleinen, höchst possierlichen Affen vor. Nachdem das Tier kurze Zeit einen der Gäste beobachtet hatte, begann es ihn auf drollige Weise nachzuahmen: wie er seine Pfeife rauchte, seinen Hut trug oder sein Glas zum Munde führte.
Die Wänste der Zuschauer schlitterten vor Lachen.
Gontran verfolgte die Szene mit leuchtenden Augen. »Schau doch, ist das nicht wunderbar: die rote Maske und der schimmernde Bart!«
Angélique wurde allmählich unruhiger. Sie fragte sich, wie lange ihre Geduld wohl noch auf die Probe gestellt werden würde.
Endlich, als wieder einmal die Tür aufging, erschien die riesige Dogge des Advokaten Desgray. Mit einem einzigen Satz sprang sie auf das Äffchen zu und hätte es zerfleischt, wäre sie nicht durch einen gebieterischen Ruf ihres Herrn, der ihr unmittelbar folgte, zurückgehalten worden. Ein bis unter die Nase in einen weiten mausgrauen Mantel gehüllter Mann begleitete den Advokaten. Verwundert erkannte Angélique den jungen Cerbaland, der sein blasses Gesicht unter einem tief in die Stirn gedrückten Hut verbarg.
Sie bat Gontran, den Neuankömmlingen entgegenzugehen und sie unauffällig an ihren Tisch zu führen.
»Mein Gott, Madame«, seufzte der Advokat, während er sich neben sie auf die Bank setzte, »seit heute früh habe ich Euch zehnmal erdrosselt, zwanzigmal ertränkt und hundertmal verscharrt gesehen.«
»Ein einziges Mal würde genügen, Maître«, sagte sie lachend. Aber es befriedigte sie doch ein wenig, ihn so besorgt zu sehen.
»Habt Ihr tatsächlich um eine Mandantin gebangt, die Euch so schlecht bezahlt und darüber hinaus noch in so gefährlicher Weise kompromittiert?« Er schnitt eine verdrießliche Grimasse.
»Die Gefühlsduselei ist ein Leiden, das man nicht so leicht los wird; wenn dann noch Abenteuerlust hinzukommt, ist einem das böse Ende gewiß. Kurz, je mehr sich Eure Angelegenheit kompliziert, desto mehr fesselt sie mich. Wie steht es mit Eurer Verletzung?«
»Ihr wißt schon davon?«
»Wie es sich für ein Mittelding zwischen einem Polizisten und einem Advokaten gehört. Aber dieser Herr hier hat mir wertvolle Dienste geleistet, das muß ich gestehen.«
Cerbaland, dessen malvenfarbene Augen übernächtigt aus seinem wachsbleichen Gesicht hervorstachen, berichtete das Ende der Tragödie im Louvre, in die er durch einen seltsamen Zufall verwickelt worden war.
Er war nämlich in jener Nacht in den Ställen der Tuilerien auf Wache gewesen, als ein keuchender Mann, der seine Perücke verloren hatte, aus den Gärten auf tauchte: Bernard d’Andijos. Der Marquis war zuvor gestreckten Laufs durch die Große Galerie gerannt, hatte mit seinen klappernden Holzabsätzen das Echo des Louvre und der Tuilerien geweckt und unterwegs die Posten beiseite gestoßen, die ihn aufzuhalten versuchten.
Während er in größter Hast ein Pferd sattelte, hatte er erklärt, Madame de Peyrac sei mit knapper Not der Ermordung entgangen, und er selbst, Andijos, habe sich soeben mit Monsieur d’Orléans geschlagen. Ein paar Augenblicke danach war er wie der Teufel in Richtung der Porte Saint-Honoré davongaloppiert, nachdem er ihm zugeschrien hatte, er werde das Languedoc gegen den König aufwiegeln.
»Oh, der gute Marquis d’Andijos!« sagte Angélique lachend. »Der und das Languedoc gegen den König aufwiegeln ...!«
»So? Glaubt Ihr, daß er das nicht fertigbringt?« fragte Cerbaland, dessen Stimme plötzlich einen aufbegehrenden Akzent bekam. Bedeutungsvoll hob er den Finger:
»Madame, Ihr scheint die Seele der Gaskogner nicht zu kennen: Lachen und Zorn folgen rasch aufeinander, aber man weiß nie, was von beiden siegt. Und wenn es der Zorn ist, dann gnade Gott!«
»Es ist wahr, daß ich den Gaskognern mein Leben verdanke. Wißt Ihr, was dem Herzog von Lauzun geschehen ist?«
»Er ist in der Bastille.«
»Mein Gott!« murmelte Angélique. »Wenn man ihn dort nur nicht vierzig Jahre lang vergißt!«
»Er wird sich nicht vergessen lassen, seid unbesorgt. Ich habe auch gesehen, wie die Leiche Eures ehemaligen Haushofmeisters von zwei Lakaien weggeschafft wurde.«
»Der Teufel möge seine Seele holen!«
»Als ich dann nicht mehr an Eurem Tod zweifeln konnte, begab ich mich zu Eurem Schwager, dem Staatsanwalt. Dort fand ich Monsieur Desgray vor, Euren Advokaten. Mit ihm gingen wir ins Châtelet und sahen uns alle Leichen von Ertrunkenen oder Ermordeten an, die man heute morgen in Paris gefunden hat. Ein böses Geschäft, von dem mir jetzt noch übel ist. Und hier bin ich nun, Madame - was werdet Ihr tun? Ihr müßt so rasch wie möglich fliehen.«
Angélique betrachtete ihre auf der braunen, rissigen Tischplatte neben dem Glase liegenden Hände. Der Wein im Glas, den sie noch nicht angerührt hatte, leuchtete wie ein dunkler Rubin.
Ihre Hände kamen ihr ungewöhnlich klein, weiß und zerbrechlich vor. Unwillkürlich verglich sie sie mit den männlichen Händen ihrer Gefährten. Sie fühlte sich einsam und sehr schwach.
Gontran sagte unvermittelt:
»Wenn ich recht verstanden habe, bist du in eine üble Geschichte verwickelt, bei der du dein Leben aufs Spiel setzt. Eigentlich überrascht es mich nicht, denn das sind wir seit jeher von dir gewohnt!«
»Monsieur de Peyrac ist in der Bastille und der Hexerei beschuldigt«, klärte Desgray ihn auf, der eine Dose aus Horn vor sich hingelegt hatte und sich eine Pfeife stopfte.
»Das verwundert mich nicht«, wiederholte Gontran. »Aber du kannst dich noch aus der Affäre ziehen. Wenn du kein Geld hast, werde ich dir welches leihen. Ich habe für meine Wanderschaft einiges zurückgelegt, und Raymond, unser Jesuitenbruder, wird dir bestimmt auch helfen. Pack deine Sachen zusammen und nimm die Postkutsche nach Poitiers.
Von dort aus fährst du nach Monteloup. Bei uns hast du nichts zu befürchten!«
Einen Augenblick lang tauchten vor Angélique die Silhouette des Schlosses Monteloup, die stillen Moore und Wälder auf. Florimond würde mit den Truthähnen an der Zugbrücke spielen ...
»Und Joffrey?« fragte sie. »Wer wird dafür sorgen, daß ihm Gerechtigkeit widerfährt?«
Ein lastendes Schweigen trat ein, in das sich das Grölen einer Gruppe Betrunkener und die ungeduldigen Rufe der wartenden Speisegäste senkten, die mit den Messern auf ihre Teller klopften. Als Meister Corbasson, der Garkoch, erschien und in hocherhobenen Händen eine braungebratene, noch brutzelnde Gans hereintrug, verstummten die Rufe. Der Lärm ebbte ab, und auf dem Untergrund befriedigter Brummlaute hörte man den Würfelbecher eines Spielerquartetts klappern.
Desgray rauchte derweilen gleichmütig seine lange holländische Pfeife.
»Hängst du denn so an deinem Mann?« fragte Gontran.
Angélique preßte die Zähne zusammen.
»Eine Unze seines Hirns ist mehr wert als Eure drei Hirne zusammen«, erklärte sie unverblümt. »Ich weiß wohl, daß es lächerlich klingt, aber ich liebe ihn, obwohl er mein Gatte ist, obwohl er lahm und entstellt ist.«
Ein trockener Schluchzer schüttelte sie.
»Und gerade ich bin es, die seinen Untergang verursacht hat. Durch diese üble Giftgeschichte. Und gestern, als ich mit dem König sprach, habe ich sein Todesurteil unterschrieben, ich habe ...«
Plötzlich erstarrte Angéliques Blick. Eine grausige Vision war hinter der Fensterscheibe aufgetaucht, ein gespenstisches Gesicht, über das lange, fettige Haarsträhnen fielen. Die leichenblasse Wange war von einer violetten Geschwulst gezeichnet. Eine schwarze Binde verdeckte das eine Auge; das andere funkelte wie das eines Wolfs, und die grauenhafte Erscheinung starrte Angélique grinsend an.
»Was ist denn?« fragte Gontran, der mit dem Rücken zum Fenster saß.
Desgray folgte dem verstörten Blick der jungen Frau, sprang jäh auf, pfiff seinem Hund und lief zur Tür.
Das Gesicht am Fenster verschwand. Ein paar Augenblicke später kehrte der Advokat unverrichteterdinge zurück.
»Er ist wie eine Ratte in ihrem Loch verschwunden.«
»Ihr kennt diese traurige Gestalt?« erkundigte sich Cerbaland.
»Ich kenne sie alle. Dieser da ist Calembredaine, ein berüchtigter Liederjan, König der Taschendiebe vom Pont-Neuf und einer der größten Bandenführer der Hauptstadt.«
»Er scheint eine hübsche Portion Dreistigkeit zu besitzen, wenn er sich einfach dorthin stellt und anständigen Leuten beim Nachtessen zuschaut.«
»Vielleicht hatte er einen Komplicen im Lokal, dem er ein Zeichen geben wollte .«
»Mich hat er angestarrt«, sagte Angélique, deren Hände zitterten.
Desgray warf ihr einen flüchtigen Blick zu.
»Pah! Ihr braucht Euch nicht zu ängstigen. Hier sind wir ganz in der Nähe der Rue de la Truanderie und der Vorstadt Saint-Denis. Das ist das Hauptquartier der Bettler und ihres Fürsten, des großen Coesre, Königs der Rotwelschen.«
Während des Redens hatte er seine Hand um die Taille der jungen Frau geschoben und drückte sie fest an sich. Angélique spürte die Wärme und die Kraft dieser männlichen Hand. Ihre überreizten Nerven entspannten sich. Ohne Scham zu empfinden, schmiegte sie sich an ihn. Was brauchte es sie zu kümmern, daß er ein bürgerlicher und noch dazu armer Advokat war? War sie nicht auf bestem Wege, eine Ausgestoßene, eine Geächtete zu werden, ohne Dach und Schutz, ohne Namen vielleicht?
»Potztausend!« rief Desgray fröhlich aus. »Man setzt sich doch nicht in eine Schenke, um Trübsal zu blasen. Wir wollen uns erst einmal stärken; hinterher werden wir Pläne schmieden. Heda, Corbasson, Bratkoch des Teufels! Wollt Ihr uns hier Hungers sterben lassen?«
Der Wirt eilte herbei.
»Was hast du drei hohen Herren zu bieten, die in den letzten vierundzwanzig Stunden nichts anderes als Aufregungen genossen haben, und einer zarten
jungen Dame, deren Appetit der Anregung bedarf?«
Corbasson griff sich ans Kinn und setzte eine bedeutende Miene auf:
»Nun, für Euch, meine Herren, würde ich ein großes, rosiges Rinderfilet vorschlagen, mit Pfeffergurken gewürzt, sowie drei kleine Brathühner und ein Schälchen Creme. Was Madame betrifft, wäre ein etwas leichteres Menü zu empfehlen: Kalbfleisch mit Salat, Kartoffelpüree, eine kandierte Birne und ein Blätterteighörnchen? Zum Abschluß einen Löffel Fenchelzucker, und ich bin überzeugt, es wird sich alsbald wieder ein rosiger Hauch über ihren Lilienteint legen.«
»Corbasson, du bist der unentbehrlichste und liebenswürdigste Mensch, den Gott erschaffen hat. Außerdem bist du ein ganz großer Künstler, nicht nur was deine Soßen, sondern auch was die Anmut deiner Rede betrifft.«
»Ich danke Euch, Monsieur«, erwiderte der Wirt, indem er seine Mütze abnahm und sich verbeugte. »Ihr werdet raschestens bedient sein.«
Und er stürzte zur Küche.
Wohl zum erstenmal in ihrem Leben verspürte Angélique keinen Hunger. Sie nippte nur an den kulinarischen Kunstwerken Meister Corbassons.
Ihr Körper kämpfte mit den Resten des Gifts, das sie im Verlauf des düsteren Abenteuers der vergangenen Nacht zu sich genommen hatte. Jahrhunderte schienen seitdem vergangen. Erschlafft von der Übelkeit und vielleicht auch von dem ungewohnten Kneipendunst, überkam sie Müdigkeit. Die Augen fielen ihr zu, und sie sagte sich, daß es keine Angélique de Peyrac mehr gab.
Als sie erwachte, herrschte morgendliches Dämmerlicht in der verräucherten Schenke.
Sie bewegte sich und bemerkte, daß ihre Wange auf einem harten Kopfkissen ruhte und daß dieses Kissen nichts anderes war als ein Knie des Advokaten Desgray. Sie lag ausgestreckt auf der Bank. Über sich sah sie das Gesicht Desgrays, der mit halbgeschlossenen Augen und in versonnener Haltung noch immer rauchte.
Hastig richtete sie sich auf, wobei sie vor Schmerzen das Gesicht verzog.
»Oh, verzeiht mir!« stammelte sie. »Ich ... es muß furchtbar unbequem für Euch gewesen sein.«
»Habt Ihr gut geschlafen?« erkundigte er sich mit schleppender Stimme, in der sich Müdigkeit und ein wenig Trunkenheit mischten. Der Krug vor ihm war nahezu leer.
Cerbaland und Gontran schnarchten, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Die junge Frau warf einen Blick zum Fenster. Sie erinnerte sich vage an etwas Schreckliches. Aber sie sah nur den Widerschein eines fahlen und regnerischen Morgens, der die Scheiben näßte.
Aus dem rückwärtigen Raum waren die Stimme Meister Corbassons und das dumpfe Geräusch über Fliesen rollender Fässer zu hören. Ein Mann stieß mit einem Fußtritt die Tür auf und kam, den Hut im Nacken, herein. Er hielt eine Glocke in der Hand und trug über seinem Gewand eine Art Kittel aus verschossenem blauem Leinen, auf dem ein Gewinde von Lilien und das Emblem des heiligen Christophorus zu erkennen waren.
»Hier ist Picard, der Weinausrufer. Brauchst du mich, Wirt?«
»Du kommst wie gerufen, Freund. Man hat mir gerade von der Place de Grève sechs Fässer Loirewein gebracht. Ich will für heute anstechen.«
Cerbaland war ruckartig aufgefahren und zog unversehens seinen Degen. »Beim Henker, ihr Herrn, hört mich alle an: Ich erkläre dem König den Krieg!«
»Schweigt, Cerbaland!« beschwor ihn Angélique erschrocken.
Wie ein Trunkenbold torkelnd, der seinen Weinrausch noch nicht ausgeschlafen hat, warf er einen argwöhnischen Blick auf sie.
»Glaubt Ihr, ich werde es nicht tun? Ihr kennt die Gaskogner schlecht, Madame. Krieg dem König! Ich fordere Euch alle dazu auf! Krieg dem König! Ein Hoch den Rebellen des Languedoc!«
Mit gezücktem Degen stolperte er die Stufen hinauf und verschwand.
Ohne sich um sein Geschrei zu kümmern, schnarchten die andern Schläfer weiter, und auch Wirt und Weinausrufer ließen sich in ihrem Consilium vor den Fässern nicht stören, wo sie schmatzend den neuen Wein probierten, bevor sie seinen Preis festsetzten. Ein frischer und berauschender Duft verjagte den muffigen Geruch nach kalten Pfeifen, Branntwein und ranzigen Soßen.
Gontran rieb sich die Augen.
»Bei Gott«, sagte er gähnend, »ich habe schon lange nicht mehr so gut gegessen, genau besehen seit dem Bankett der Bruderschaft von Saint-Luc, das leider nur einmal im Jahr stattfindet. Ist das nicht das Angelus, was ich da läuten höre?«
»Schon möglich«, meinte Desgray.
Gontran stand auf und reckte sich.
»Ich muß aufbrechen, Angélique, sonst zieht mein Meister ein schiefes Gesicht. Hör zu, geh mit Maître Desgray zu Raymond in den Temple. Ich werde heute abend Hortense aufsuchen, auf die Gefahr hin, daß unsere charmante Schwester mich weidlich beschimpft. Ich sag’ dir’s noch einmal: verlaß Paris. Aber ich weiß wohl, daß du die störrischste aller Mauleselinnen bist, die unser Vater je großgezogen hat .«
»Und du bist der störrischste seiner Maulesel«, gab Angélique zurück.
Zusammen traten sie hinaus, von der Dogge begleitet, die auf den Namen Sorbonne hörte. Der Bach, der in der Mitte der Straße floß, führte schlammiges Wasser. Es hatte geregnet. Die Luft war mit Feuchtigkeit getränkt, und ein warmer Wind ließ die eisernen Schilder über den Kaufläden an ihren Haken knarren.
Gontran hielt einen Branntweinverkäufer an und goß sich einen kleinen Becher Schnaps hinter die Binde. Dann wischte er sich mit dem Handrücken die Lippen ab, bezahlte, nahm Abschied von Desgray und Angélique und verlor sich in der Menge, ohne sich von den Handwerkern abzuheben, die zu dieser Stunde an ihre Arbeitsplätze eilten.
»Das also ist aus uns beiden geworden«, dachte Angélique, während sie ihm nachschaute. »Schöne Erben des stolzen Namens de Sancé! Ich bin zwangsläufig in diese Situation geraten, aber er, warum ist er freiwillig so tief hinabgestiegen?«
Ihres Bruders wegen ein wenig verlegen, warf sie Desgray einen Seitenblick zu.
»Er ist immer ein Sonderling gewesen«, sagte sie. »Er hätte Offizier werden können wie alle jungen Adligen, aber er hat sich immer nur für seine Farben interessiert. Meine Mutter sagte, während sie ihn erwartete, habe sie eine Woche damit verbracht, alle Kleidungsstücke der Familie wegen der Trauer um meine Großeltern schwarz zu färben. Vielleicht kommt es daher?«
Desgray lächelte. »Ich bin begierig auf den Jesuitenbruder«, sagte er, »das vierte Exemplar dieser seltsamen Familie.«
»Oh, Raymond ist ein feiner und guter Mensch!«
»Ich hoffe es für Euch, Madame.«
»Ihr sollt mich nicht mehr Madame nennen«, sagte Angélique. »Seht mich an, Maître Desgray.«
Sie hob ihr rührendes, kleines, wachsbleiches Gesicht zu ihm auf. Die Müdigkeit verklärte ihre grünen Augen und gab ihnen eine kaum definierbare Tönung: die der ersten Frühlingsblätter.
»Der König hat gesagt: >Ich möchte nichts mehr von Euch hören.< Begreift Ihr, was ein solcher Befehl bedeutet? Daß es keine Madame de Peyrac mehr gibt. Ich soll nicht mehr existieren. Ich existiere nicht mehr. Begreift Ihr?«
»Ich begreife vor allem, daß ihr krank seid«, sagte Desgray. »Bleibt Ihr bei Eurer Feststellung von neulich?«
»Bei welcher Feststellung?«
»Daß Ihr kein Vertrauen zu mir habt?«
»In diesem Augenblick gibt es nur Euch, zu dem ich Vertrauen haben kann.«
»So kommt. Ich führe Euch an einen Ort, wo man Euch pflegen wird. Ihr könnt nicht vor einen gestrengen Jesuiten treten, ohne im Vollbesitz aller Eurer Kräfte zu sein.«
Er nahm sie beim Arm und zog sie durch das Gewühl der morgendlichen Stadt. Der Lärm ringsum war ohrenbetäubend. Alle Händler straßauf und straßab priesen zu gleicher Zeit unter gewaltigem Stimmaufwand ihre Waren an. - Angélique hatte große Mühe, ihre verletzte Schulter vor Püffen zu schützen, und sie biß mehr als einmal die Zähne zusammen, um vor Schmerz nicht aufzuschreien.
In der Rue Saint-Nicolas machte Desgray vor einem riesigen Schilde halt, auf dem auf königsblauem Grund ein kupfernes Schälchen zu sehen war. Dampf wölken entquollen den Fenstern des ersten Stockwerks. Angélique begriff, daß sie sich bei einem Badstübner befand, und es wurde ihr im voraus wohlig zumute bei dem Gedanken, in eine Wanne mit heißem Wasser zu steigen.
Meister Georges, der Inhaber, forderte sie auf, vorläufig erst einmal Platz zu nehmen. Er werde ihnen in wenigen Minuten zur Verfügung stehen. Er rasierte gerade einen Musketier und erging sich dabei in langen Reden über das Elend des Friedens, des größten Mißgeschicks, das einem tapferen Krieger zustoßen könne.
Endlich überließ er den »tapferen Krieger« seinem Lehrling mit dem Auftrag, ihm den Kopf zu waschen, was kein leichtes Geschäft war, und trat, während er die Klinge des Rasiermessers an seiner Schürze abtrocknete, dienstfertig lächelnd zu Angélique.
»Aha, ich sehe schon, was los ist! Wieder ein Opfer der galanten Krankheiten. Ich soll sie dir wohl instand setzen, bevor du sie gebrauchst, unverbesserlicher Schürzenjäger? Eine Vorsichtsmaßnahme, die ich durchaus billige. Vertrau dich mir ruhig an, mein hübsches Kind. Zuerst ein gutes Bad, das kann keinem schaden, was auch die Herren Ärzte sagen mögen. Dann drei Schröpfköpfe, um das schlechte Blut herauszuziehen, und schließlich ein Pflaster aus verschiedenen Kräutern, das wir auf die bewußte Stelle legen werden, auf jenen lieblichen Altar der Venus, auf dem Maître Desgray hernach unbesorgt sein Opfer darbringen kann.«
»Darum geht es nicht«, sagte der Advokat ganz ruhig. »Diese junge Frau hat sich eine Verletzung zugezogen, und ich möchte, daß Ihr ein wenig Linderung verschafft. Dann soll sie ein Bad bekommen.«
Angélique, die bei den Reden des Barbiers trotz ihrer Blässe errötet war, geriet bei dem Gedanken, sich vor den beiden Männern entkleiden zu müssen, in tiefste Verlegenheit. Sie hatte sich immer nur von Frauen behandeln lassen, und da sie nie krank gewesen war, kannte sie die Untersuchungsmethoden der Ärzte nicht, geschweige denn die der Bader.
Aber noch bevor sie sich dagegen zur Wehr setzen konnte, hatte Desgray auf die selbstverständlichste Weise der Welt und mit der Geschicklichkeit eines Mannes, für den weibliche Kleidungsstücke nichts Geheimnisvolles haben, ihr Mieder aufgehakt und das Band ihres Hemdes gelöst, das ihr daraufhin über die Arme bis zur Taille hinabglitt.
Meister Georges beugte sich über sie und nahm vorsichtig das Salbenpflaster ab, das Mariedje auf die lange, vom Degen des Chevaliers de Lorraine verursachte Hiebwunde gelegt hatte.
»Hm, hm«, brummte der Barbier, »ich sehe schon, um was es sich handelt. Ein galanter Edelmann, dem die Geschichte zu kostspielig war und der deshalb mit >eiserner Münze< zahlte, wie wir zu sagen pflegen. Weißt du nicht, mein Herzchen, wie man dafür sorgt, daß ihr Degen hübsch unter dem Bett bleibt, bis sie zur Börse greifen?«
»Und was haltet Ihr von der Wunde?« fragte Desgray, ohne auf das Geschwätz zu achten, während Angélique vor Scham verging.
»Tja, sie schaut weder gut noch schlecht aus. Ein unwissender Apotheker hat sie mit seiner ranzigen Salbe verschmiert. Wir werden das beseitigen und durch eine heilende und erfrischende Mixtur ersetzen.«
Er entfernte sich, um von einem Gestell eine Dose zu holen.
Angélique fand es unerträglich, halbnackt in diesem jedermann zugänglichen Raum sitzen zu müssen, in dem sich der verdächtige Geruch der Drogen mit dem scharfen Duft der Seifen mischte.
Ein Kunde kam herein, um sich rasieren zu lassen. Bei ihrem Anblick rief er:
»O welch hübsche Nestchen! Schade, daß ich sie nicht zur Hand habe, wenn der Mond aufgeht!«
Auf ein unmerkliches Zeichen Desgrays sprang der Hund Sorbonne den Schwätzer an und verbiß sich in dessen Kniehose.
»Au weh, verdammt noch mal!« rief der Mann aus. »Der Mann mit dem Hund! Du also, Desgray, du Tausendsasa, bist der Besitzer dieser beiden göttlichen Liebesäpfel?«
»Wenn Ihr nichts dagegen habt, Messire«, sagte Desgray ungerührt.
»Dann will ich nichts gesagt und nichts gesehen haben. O Messire, vergebt und bedeutet Eurem Untier, meine armen, fadenscheinigen Hosen loszulassen.«
Mit einem leisen Pfiff rief Desgray den Hund zurück.
»Ich möchte fort von hier«, flüsterte Angélique mit bebenden Lippen und versuchte, sich wieder anzuziehen. Der junge Mann zwang sie, sich hinzusetzen.
Mit barscher, wenn auch gedämpfter Stimme sagte er:
»Spielt nicht die Prüde, kleine Törin! Muß ich Euch an die Redensart der Soldaten erinnern: Krieg ist Krieg? Ihr habt Euch auf einen Kampf eingelassen, bei dem nicht nur das Leben Eures Gatten, sondern auch Euer eigenes auf dem Spiel steht. Ihr müßt alles tun, um ihn zu bestehen, und Zierereien könnt Ihr Euch dabei nicht leisten. Schaut einmal mich an«, setzte er gebieterisch hinzu.
Sie zwang sich, die Augen zu diesem Männergesicht zu erheben: einem jener Gesichter, denen man in belebten Straßen auf Schritt und Tritt begegnet. Weder schön noch häßlich, Lippen, die sich in spöttischem Lächeln über unregelmäßigen Zähnen kräuselten, buschige Augenbrauen, die den Glanz der wachsamen Augen verbargen, ein stoppelbedecktes Kinn. Ein Mann, der wie die andern zu sein schien und der dennoch dank irgendeiner geheimnisvollen Gabe mehrere Leben zu leben vermochte.
»Ich bin ein armseliger Kanzlist«, fuhr er leise fort, »und alle, die uns umgeben, sind arme Leute aus dem Volk. Sie sind plump, aber weniger lasterhaft als so mancher Edelmann, der seinen Blick auf Eurer Brust ruhen ließ, ohne dadurch Euer Mißfallen zu erregen. Ihr habt mir vorhin gesagt: >Es gibt keine Madame de Peyrac mehr.< Nun, dann müßt Ihr lernen, eine andere Frau zu werden, sonst ...«
Er machte eine fegende Armbewegung.
»Ich glaube, ich werde einen Einschnitt ins Fleisch machen müssen«, verkündete Meister Georges, der mit einem funkelnden Messer in der Hand herzutrat. »Ich bemerke unter der Haut eine weißliche Flüssigkeit, die heraus muß. Du brauchst dich nicht zu fürchten, Herzchen«, setzte er hinzu, als rede er mit einem Kind, »niemand hat eine leichtere Hand als Meister Georges.«
Trotz ihrer Angst mußte Angélique feststellen, daß er recht hatte, denn er ging sehr geschickt zu Werke. Nachdem er eine Flüssigkeit auf die Wunde gegossen hatte, die sie zusammenzucken ließ und die nichts anderes als Branntwein war, schickte er sie in die Badestuben hinauf. Er werde sie hinterher verbinden.
Die Badestuben Meister Georges’ stellten eines der letzten Etablissements dar, wie sie noch zahlreich im Mittelalter bestanden hatten, als die Kreuzfahrer zurückgekehrt waren, die im Orient nicht nur an den türkischen Bädern Geschmack gefunden hatten, sondern auch daran, sich zu waschen. In ihnen schwitzte und reinigte man sich nicht nur, sondern ließ sich auch »enthaaren«, womit das Ausrupfen der Haare am ganzen Körper gemeint war. Oft konnte man sich dort auch schröpfen lassen. Sie waren rasch in üblen Ruf geraten, denn zu ihren mannigfaltigen Spezialitäten gehörten auch solche, für die sich hauptsächlich die verrufenen Häuser der Rue du Val d’amour interessierten. Besorgte Priester, strenge Hugenotten, Ärzte, die in diesen Bädern eine Brutstätte der Hautkrankheiten erblickten, hatten sich verbündet, um ihre Auflösung durchzusetzen. Und von da an gab es in Paris, abgesehen von den schmutzigen Lokalen einiger Barbiere, kaum mehr eine Möglichkeit, sich gründlich zu reinigen.
Selbst Meister Georges sprach zuweilen davon, seine Badestuben zu schließen, die den Argwohn der Frömmler des Stadtviertels auf ihn lenkten. Sie brächten ihm mehr Ärger als Geld ein, behauptete er.
Trotz seiner Klagen bestand kein Zweifel, daß es ihm nicht an Kunden fehlte, und als Angélique im Vorbeigehen durch eine Türspalte ein auf einem Ruhebett liegendes Pärchen erblickte, wurde ihr klar, daß der Argwohn vermutlich nicht ganz unbegründet war.
Die Badestuben bestanden aus zwei großen, mit Fliesen ausgelegten Räumen, die durch Holzwände in kleine Kabinen unterteilt waren. Im Hintergrunde jedes der beiden Säle erhitzte ein Junge Steinkugeln in einem Ofen.
Angélique wurde von einer der Wärterinnen, die im Frauensaal Dienst taten, völlig entkleidet. Man schloß sie in eine der Kabinen ein, in der sich eine Bank und eine kleine Wanne befanden, in die man gerade glühende Steinkugeln geworfen hatte. Das Wasser zischte und entwickelte kochend heißen Dampf.
Sie war schweißüberströmt und glaubte, ersticken zu müssen, als man sie endlich herausholte und ihr gebot, in einen Kübel mit kaltem Wasser zu tauchen. Dann hüllte die Wärterin sie in ein Laken und brachte sie in einen anstoßenden Raum, in dem sich bereits andere halbnackte Frauen befanden. Wärterinnen, die zumeist alt und von ziemlich abstoßendem Äußeren waren, rasierten sie oder kämmten ihnen die langen Haare, wobei sie wie eine Schar Hühner gackerten. Dem Tonfall und den Themen der Unterhaltungen entnahm Angélique, daß die Mehrzahl der Badegäste einfache Frauen waren, Mägde oder Marktweiber, die nach der Messe in die Bäder gingen, um hier die neuesten Klatschgeschichten zu erfahren, bevor sie zu ihrer Arbeit eilten.
Man hieß sie, sich auf eine Bank zu legen. Nach einer Weile erschien Meister Georges, ohne daß die Versammlung im geringsten daran Anstoß zu nehmen schien. Ein spitzes Messer funkelte in seiner Hand, und ein kleines Mädchen, das einen Korb mit Schröpfköpfen trug, folgte ihm.
Angélique protestierte erbittert:
»Ihr werdet mir kein Blut abzapfen! Ich habe schon genug verloren. Seht Ihr denn nicht, daß ich schwanger bin? Ihr tötet mir mein Kind!«
Ungerührt machte ihr der Bader ein Zeichen, sich umzudrehen.
»Halt still, sonst lass’ ich deinen Freund holen, damit er dir was auf dein Hinterteil gibt.«
Erschreckt durch die Vorstellung, daß der Advokat sie in dieser Lage sehen könne, blieb sie steif liegen.
Der Barbier ritzte ihren Rücken an drei Stellen mit seinem Messer und setzte die Schröpfköpfe an.
»Schaut Euch das schwarze Blut an, das da herausläuft«, sagte er begeistert. »Solch schwarzes Blut in einem so weißen Mädchen, wie ist das nur möglich?«
»Laßt mir um Gottes willen ein paar Tropfen«, beschwor ihn Angélique. »Ich hab’ die größte Lust, dich völlig aussaugen zu lassen«, sagte der Barbier mit wild rollenden Augen. »Hinterher verrat’ ich dir das Rezept, nach dem du dir deine Adern wieder mit frischem und edlem Blut füllen kannst. Hier ist es: ein gutes Glas Rotwein und eine Liebesnacht.«
Er gab sie endlich frei, nachdem er ihr einen festen Verband angelegt hatte. Zwei Mädchen halfen ihr, sich zu frisieren und wieder anzuziehen. Sie gab ihnen ein Trinkgeld, das sie verblüfft in Empfang nahmen.
»He, Marquise«, rief die Jüngere aus, »ist es etwa gar dein Prinz vom Federkiel im fadenscheinigen Wams, der dir so schöne Geschenke macht?«
Eine der alten Frauen stieß sie an, und nachdem sie Angélique nachgeschaut hatte, die mit zitternden Knien die Holztreppe hinunterstieg, flüsterte sie:
»Hast du nicht gemerkt, daß sie eine große Dame ist, die in der Hoffnung hierherkommt, sich nach den faden kleinen Edelleuten mal mit etwas Leckerem zu verlustieren?«
»Für gewöhnlich verkleiden sie sich nicht«, meinte die andere. »Sie setzen eine Maske auf, und Meister Georges läßt sie durch eine Hintertür ein.«
Im Laden fand Angélique Desgray frisch rasiert und mit geröteter Haut vor.
»Sie ist soweit«, sagte der Barbier mit verständnisinnigem Augenblinzeln zu Desgray, »aber seid nicht so brutal wie gewöhnlich, solange die Wunde an ihrer Schulter nicht vernarbt ist.«
Diesmal mußte die junge Frau lachen. Sie fühlte sich zu jeglicher Gegenwehr unfähig.
»Wie fühlt Ihr Euch?« fragte Desgray, als sie wieder auf der Straße waren.
»Ich fühle mich schwach wie ein kleines Kätzchen«, erwiderte Angélique, »aber eigentlich ist das gar nicht unangenehm. Ich habe den Eindruck, als stände ich über den Dingen. Ich weiß nicht, ob die Pferdekur, der ich mich eben unterzogen habe, der Gesundheit zuträglich ist, aber jedenfalls beruhigt sie die Nerven. Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen - einerlei, was für eine Haltung mein Bruder Raymond mir gegenüber einnimmt, er wird eine demütige und fügsame Schwester vor sich haben.«
»Gut so. Ich habe immer ein wenig Angst vor Eurem rebellischen Geist. Werdet Ihr wieder ins Bad gehen, bevor Ihr das nächste Mal dem König gegenübertretet?«
»Ach, hätte ich es doch getan!« seufzte Angélique. »Es wird kein nächstes Mal geben. Nie mehr werde ich dem König gegenübertreten.«
»Man soll nicht sagen: nie mehr. Das Leben ist veränderlich, das Rad dreht sich unentwegt.«
Ein Windstoß löste das Tuch, das die junge Frau um ihr Haar geschlungen hatte. Desgray blieb stehen und knüpfte es wieder fest. Bewegt nahm Angélique die beiden braunen und warmen Hände mit den langen, edelgeformten Fingern zwischen die ihren.
»Ihr seid sehr gut, Desgray«, flüsterte sie und hob ihre müden Augen zu ihm.
»Ihr täuscht Euch sehr, Madame. Seht Euch diesen Hund an.«
Er deutete auf Sorbonne, der mutwillig um sie herumsprang. Er hielt ihn auf, packte ihn beim Kopf und entblößte das kräftige Gebiß der Dogge.
»Was haltet Ihr von diesen Fangzähnen?«
»Sie sind fürchterlich!«
»Wißt Ihr, worauf ich diesen Hund dressiert habe? Wenn der Abend sich über Paris herabsenkt, gehen wir beide auf die Jagd. Ich lasse ihn an einem alten Tuchfetzen schnüffeln, an einem Gegenstand, der dem Strolch gehört, hinter dem ich her bin. Und wir ziehen los; wir gehen zu den Uferböschungen der Seine, wir streichen unter den Brücken und Pfahlmauern umher, wir irren durch die Vorstädte und die alten Befestigungsanlagen, wir schauen in die Höfe, wir steigen in die Kloaken hinunter, wo es von Bettlern und Banditen wimmelt. Und plötzlich stürmt
Sorbonne davon. Wenn ich ihn eingeholt habe, hält er meinen Mann an der Gurgel fest - oh, ganz zart, nur eben so, daß der andere sich nicht rühren kann. Ich sage zu meinem Hund auf deutsch: >Warte!<, denn ich habe ihn von einem deutschen Söldner gekauft. Ich trete auf den Mann zu, verhöre ihn und fälle das Urteil. Manchmal lasse ich Gnade walten, manchmal hole ich Polizisten, die ihn ins Châtelet bringen, und manchmal sage ich mir: >Wozu die Gefängnisse und die Herren von der Justiz bemühen?< Und ich sage zu Sorbonne: >Faß an!< Und es gibt einen Strolch weniger in Paris.«
»Und ... Ihr macht das oft?« fragte Angélique, der ein Schauer über den Rücken lief.
»Ziemlich oft, ja. Ihr seht also, daß ich keineswegs gut bin.«
Nach kurzem Schweigen murmelte sie: »In einem Menschen sind so viele verschiedene Dinge vereinigt. Man kann sehr böse und zugleich sehr gut sein. Weshalb betreibt Ihr dieses schreckliche Handwerk?«
»Ich habe es Euch bereits gesagt: ich bin zu arm. Mein Vater hat mir nur seine Advokatenzulassung und seine Schulden vererbt. Er hat sich Tag und Nacht in den Spielhäusern herumgetrieben. Ich selbst habe immer nur die Armut gekannt. Ich habe in einem jener Kollegien des Universitätsviertels Latein gelernt, in denen sich einem im Winter vor Kälte die Haut abschält. Dort ist meine Vorliebe für die Schenken gewachsen, denn glaubt mir, es gibt für einen armen Studenten nichts Herrlicheres, als sich die Hände aufzuwärmen, indem man einen safttriefenden Braten am Spieße dreht. Meine Liebschaften sind die ein wenig reiferen Freudenmädchen gewesen, die meine Füße zwischen ihre dicken Schenkel nahmen, um sie aufzuwärmen, und die keinen Sol von mir verlangten, weil ich jung und stürmisch war.
Meine Domäne sind die Gassen von Paris und ihr Leben bei Nacht. Möglich, daß ich ein gewitzter Advokat werde, falls ich einen großen Prozeß gewinne. Aber wie die Dinge liegen, sieht’s viel eher so aus, als würde ich als verruchter Bösewicht, als >Schleicher< von der schlimmsten Sorte enden.«
»Was ist denn das?«
»Der Name, den die Untertanen Seiner Majestät des Großen Coesre, Fürsten der Bettler, den Leuten von der Polizei geben.«
»Kennen sie Euch schon?«
»Sie kennen vor allem meinen Hund.«
Die Rue du Temple öffnete sich vor ihnen, von Schlammlöchern unterbrochen, über die man Bretter gelegt hatte. Noch vor wenigen Jahren hatte dieses Viertel lediglich aus Gemüsegärten bestanden, und jetzt noch sah man zwischen den neuen Häusern Kohlfelder und kleine Ziegenherden.
Die vom finsteren Wartturm der einstigen Tempelherrn überragte Umfassungsmauer tauchte auf.
Desgray bat Angélique, einen Augenblick zu warten, und betrat den Laden eines Krämers. Gleich darauf kam er wieder zum Vorschein, mit einem sauberen, aber spitzenlosen Kragen und einem violetten Leibstrick versehen. Weiße Manschetten zierten seine Handgelenke. Die Tasche seines Rocks wölbte sich auf seltsame Weise. Er entnahm ihr ein Taschentuch und hätte dabei fast einen dicken Rosenkranz fallen lassen. Ohne daß er die Kleidung gewechselt hatte, wirkten sein Rock und seine abgetragene Kniehose jetzt beinahe vornehm. Der Gesichtsausdruck tat offenbar das Seinige hinzu, denn Angélique widerstrebte es mit einem Male, den gewohnten vertraulichen Ton beizubehalten.
»Ihr seht aus wie ein frommer Beamter«, sagte sie einigermaßen verblüfft.
»Muß ein Advokat nicht so aussehen, der eine junge Dame zu ihrem Jesuitenbruder begleitet?« erkundigte sich Desgray, indem er respektvoll den Hut lüftete.
Als Angélique sich der mit Zinnen versehenen Mauer des Temple näherte, ahnte sie nicht, daß dies derjenige Stadtteil von Paris war, in dem man am freiesten lebte.
Dieser befestigte Bezirk hatte ursprünglich den kriegerischen Mönchen gehört, die sich Tempelritter und später Malteserritter nannten. Noch jetzt besaß der Orden uralte Privilegien, die selbst der König anerkannte: hier bezahlte man keine Steuern, hier hatten weder die verwaltungsmäßigen noch die polizeilichen Vorschriften Geltung, hier waren die zahlungsunfähigen Schuldner vor der Verfolgung sicher. Seit mehreren Generationen war der Temple das Leibgedinge der großen Bastarde von Frankreich. Der gegenwärtige Großprior, der Herzog von Vendôme, stammte in direkter Linie von Heinrich IV. und seiner Mätresse, der berühmten Gabrielle d’Estrées, ab.
Angélique, der die besonderen rechtlichen Verhältnisse dieser inmitten der Hauptstadt ihre Selbständigkeit bewahrenden kleinen Gemeinde unbekannt waren, empfand eine gewisse Beklemmung, während sie die Zugbrücke überschritt. Doch auf der anderen Seite des Torgewölbes umfing sie eine ebenso überraschende wie beruhigende Stille.
Der Temple hatte sich seit langem seiner militärischen Tradition begeben. Er war nur noch so etwas wie ein friedlicher Zufluchtsort, der seinen glücklichen Bewohnern alle Annehmlichkeiten eines zugleich zurückgezogenen und mondänen Lebens bot.
Im Schutz des massiven Cäsarturms besaßen die Jesuiten ein behagliches Haus, in dem insbesondere diejenigen Mitglieder ihres Ordens lebten, die bei hohen Persönlichkeiten des Hofs das Amt des Hausgeistlichen versahen.
Desgray bat den Seminaristen, der sie einließ, den R. P de Sancé zu benachrichtigen, daß ein Rechtskonsulent ihn in der Angelegenheit des Grafen Peyrac zu sprechen wünsche.
Sie wurden in ein kleines Besuchszimmer geführt und brauchten nur wenige Minuten zu warten, bis Pater de Sancé lebhaften Schrittes über die Schwelle trat. Er erkannte Angélique auf den ersten Blick.
»Meine liebe Schwester!« sagte er und küßte sie brüderlich.
»O Raymond!« flüsterte sie, gestärkt durch diese Begrüßung.
Er bedeutete ihnen, Platz zu nehmen.
»Wie steht die unerfreuliche Angelegenheit?«
Desgray ergriff das Wort und gab eine knappe Darstellung der Situation. Graf Peyrac befinde sich unter der geheimen Anklage der Hexerei in der Bastille. Als erschwerend komme hinzu, daß er das Mißfallen des Königs und den Argwohn einflußreicher Persönlichkeiten erregt habe.
»Ich weiß, ich weiß!« murmelte der Jesuit.
Er sagte nicht, von wem er so genau informiert worden war, aber nachdem er einen prüfenden Blick auf Desgray gerichtet hatte, stellte er ihm die direkte Frage:
»Welchen Weg müssen wir nach Eurer Meinung einschlagen, um meinen unglückseligen Schwager zu retten?«
»Ich meine, daß auch in diesem Fall das Bessere des Guten Feind ist. Graf Peyrac ist zweifellos das Opfer einer Hofintrige, von der der König keine Ahnung hat, die jedoch eine mächtige Persönlichkeit lenkt. Ich möchte keinen Namen nennen.«
»Ihr tut gut daran«, fiel Pater de Sancé rasch ein, während Angélique das verschlagene Gesicht des unheimlichen Eichhörnchens vor Augen sah.
»Es wäre ungeschickt, zu versuchen, den Machenschaften von Personen entgegenzuwirken, die Geld und Einfluß auf ihrer Seite haben. Dreimal war Madame de Peyrac nahe daran, ihr Opfer zu werden. Diese Erfahrungen genügen. Beschränken wir uns und gehen wir von dem aus, was wir ans Tageslicht zu ziehen vermögen. Monsieur de Peyrac ist der Hexerei beschuldigt. Nun, so stelle man ihn vor ein Kirchengericht! Und dabei könnte Eure Mithilfe, Pater, von großem Nutzen sein, denn ich gestehe, daß ich als unbekannter Advokat in diesem Falle keinen Einfluß habe.«
»Ihr scheint mir gleichwohl auf dem Gebiet des kanonischen Rechts beschlagen zu sein.«
»Oh, ich bin mit Diplomen so gespickt wie das Marzipan Meister Ragueneaus, des Konditors, mit Mandeln«, sagte Desgray, der sich zum erstenmal während der Unterhaltung seines steifen Gehabens begab.
Raymond lächelte, und Angélique war verwundert über das spontane Einverständnis, das zwischen den beiden Männern herrschte.
»Indessen zweifle ich nicht«, fuhr der Advokat fort, »daß eine Intervention meinerseits im gegenwärtigen Augenblick nicht nur nutzlos, sondern sogar schädlich wäre. Damit ich als Advokat des Grafen Peyrac meine Einwendungen anbringen kann, müßte erst einmal das Verfahren beschlossen und ein Verteidiger zugelassen werden. Ursprünglich dachte wohl kein Mensch daran. Doch die verschiedenen Interventionen, die Madame de Peyrac bei Hof ver-anlaßte, haben das Gewissen des Monarchen beunruhigt. Ich zweifle jetzt nicht mehr daran, daß es zu einem Prozeß kommen wird. Bei Euch, Pater, liegt es, zu erreichen, daß er in der einzig möglichen Form stattfindet, nämlich so, daß jede Möglichkeit der Verfälschung und des Betrugs von seiten der Herren der zivilen Justiz ausgeschaltet ist.«
»Ich sehe, Maître, daß Ihr Euch hinsichtlich Eurer Gilde keine Illusionen macht.«
»Ich mache mir über niemand Illusionen, Pater.«
»Daran tut Ihr gut«, meinte Raymond de Sancé. Worauf er versprach, einige Persönlichkeiten aufzusuchen, deren Namen er nicht erwähnte, und den Advokaten und seine Schwester über seine Schritte auf dem laufenden zu halten.
»Du bist bei Hortense abgestiegen, glaube ich?«
»Ja«, seufzte Angélique.
»Mir kommt da übrigens ein Gedanke«, unterbrach Desgray. »Könntet Ihr nicht kraft Eurer Beziehungen für Eure Frau Schwester im Bezirk eine bescheidene Unterkunft ausfindig machen? Ihr wißt ja, daß ihr Leben bedroht ist, aber im Temple würde es niemand wagen, ein Verbrechen zu begehen. Man ist sich sehr wohl bewußt, daß der Herzog von Vendôme, der Großprior von Frankreich, keine Strolche innerhalb der Grenzmauer duldet. Er prüft jeden auf Herz und Nieren, der ihn um Asyl bittet. Ein in seinem Gewaltbereich begangenes Verbrechen würde unerwünschtes Aufsehen erregen. Schließlich könnte sich Madame de Sancé unter einem falschen Namen registrieren lassen, was ihre Spur verwischen würde. Das verschaffte ihr zu gleicher Zeit ein wenig Ruhe, deren ihre mitgenommene Gesundheit nur zu sehr bedarf.«
»Euer Plan scheint mir durchaus vernünftig«, stimmte Raymond zu. Er überlegte einen Augenblick, ging dann hinaus und kehrte mit einem kleinen Zettel zurück, auf den er eine Adresse geschrieben hatte: >Madame Cordeau, Witwe, wohnhaft am Carreau du Temple.<
»Das Quartier ist bescheiden«, sagte er, »beinahe schon ärmlich. Aber du wirst ein großes Zimmer haben und kannst deine Mahlzeiten bei dieser Madame Cordeau einnehmen, die den Auftrag hat, das Häuschen zu betreuen und drei oder vier Räume zu vermieten. Du bist natürlich an mehr Bequemlichkeit gewöhnt, aber ich glaube, du kannst dort so untertauchen, wie Maître Desgray es für zweckmäßig hält.«
»Gut, Raymond«, willigte Angélique fügsam ein. Und in wärmerem Ton fügte sie hinzu: »Ich danke dir, daß du an die Schuldlosigkeit meines Gatten glaubst und mit uns gegen die Ungerechtigkeit ankämpfen willst, deren Opfer er ist.«
»Angélique, ich wollte dich nicht noch mehr bekümmern, denn dein vergrämtes Gesicht und dein Äußeres haben mir Mitleid eingeflößt. Aber glaube nicht, daß ich auch nur das leiseste Verständnis für das skandalöse Leben deines Gatten habe, in das er dich mit hineingerissen hat und das du heute bitter büßen mußt. Gleichwohl ist es natürlich, daß ich einem Mitglied meiner Familie zu Hilfe komme.«
Die junge Frau öffnete den Mund zu einer heftigen Entgegnung, unterdrückte sie aber. Zuviel war auf sie eingestürmt.
Dennoch konnte sie sich nicht bis zum Schluß beherrschen. Während Raymond die beiden ins Vestibül zurückgeleitete, teilte er Angélique mit, ihre jüngste Schwester Marie-Agnès habe dank seiner Fürsprache die vielbegehrte Stelle einer Hofdame der Königin bekommen.
»Was für ein Glück!« rief die junge Frau ironisch aus. »Marie-Agnès im Louvre! Ich zweifle keinen Augenblick, daß sie sich rasch und gründlich anpassen wird.«
»Madame de Navailles nimmt sich ganz besonders der jungen Hofdamen an. Sie ist eine liebenswürdige Person, und überdies klug und vernünftig. Ich habe mich auch mit dem Beichtvater der Königin unterhalten, der mir versicherte, daß Ihre Majestät großen Wert auf den einwandfreien Lebenswandel ihrer Hofdamen legt.«
»Wie naiv du bist!«
»Das ist eine Eigenheit, die unsere Vorgesetzten nicht dulden.«
»Dann heuchle nicht!« schloß Angélique.
Das freundliche Lächeln wich nicht von Raymonds Gesicht.
»Ich stelle zu meiner Befriedigung fest, daß du dich nicht verändert hast, liebe Schwester. Ich wünsche dir, daß du in der Unterkunft, die ich dir nannte, zur Ruhe kommst. Geh nun, ich werde für dich beten.«
»Diese Jesuiten sind wirklich beachtliche Leute«, erklärte Desgray ein wenig später. »Warum bin ich eigentlich kein Jesuit geworden?«
Diese Frage beschäftigte ihn bis zur Rue Saint-Landry, wo Hortense die beiden mit höhnisch verkniffener Miene empfing.
»Großartig! Großartig!« sagte sie und tat, als beherrsche sie sich nur mühsam. »Ich stelle fest, daß du von jeder deiner fragwürdigen Unternehmungen in kläglicherem Zustand zurückkehrst. Und natürlich in Begleitung - wie immer.«
»Hortense, das ist Maître Desgray!«
Hortense wandte dem Advokaten den Rücken zu, da sie ihn seiner abgetragenen Kleidung und seines üblen Rufs wegen nicht ausstehen konnte.
»Gaston«, rief sie, »schaut Euch nur Eure Schwä-gerin an. Ich hoffe, Ihr seid dann fürs ganze Leben geheilt!«
Maître Fallot de Sancé erschien, reichlich verdrossen über die Aufforderung seiner Frau, aber Angéliques Anblick verschlug ihm dann doch fast die Sprache.
»Mein armes Kind, in was für einem Zustand ...«
In diesem Augenblick ging die Glocke, und Barbe führte Gontran herein, worüber Hortense vollends in Harnisch geriet und in Verwünschungen ausbrach.
»Was habe ich nur meinem Herrgott zuleide getan, daß er mich mit einem solchen Bruder und einer solchen Schwester straft? Wer glaubt mir jetzt noch, daß meine Familie von altem Adel ist? Eine Schwester, die wie ein Bettelweib nach Haus kommt! Ein Bruder, der immer tiefer gesunken und schließlich ein Handlanger geworden ist, den Adlige wie Bürger duzen und mit dem Stock prügeln können! Man hätte euch beide zusammen mit jenem gräßlichen, hinkenden Hexenmeister in die Bastille sperren müssen .!«
Angélique kümmerte sich nicht um ihr Gezeter; sie rief nach ihrer kleinen béarnischen Magd, die ihr beim Packen helfen sollte.
Hortense hielt inne und schöpfte Atem.
»Du kannst lange nach ihr rufen! Sie ist fort.«
»Wieso fort?«
»Mein Gott, wie die Herrin, so die Magd! Gestern ist sie mit einem langen Kerl auf und davon gegangen, der sie abholen kam und einen grauenhaften Dialekt redete.«
Angélique war völlig entgeistert, denn sie fühlte sich für das junge Mädchen verantwortlich, das sie aus ihrer Heimat herausgerissen hatte. Sie wandte sich zu Barbe. »Barbe, man hätte sie nicht weglassen dürfen.«
»Was sollte ich denn tun, Madame?« schluchzte das Mädchen. »Die Kleine hatte ja den Teufel im Leib. Sie schwor mir hoch und heilig, der Mann, der sie abholen wolle, sei ihr Bruder.«
»Pah! Ihr Bruder auf gaskognische Weise. Dort drunten gibt es einen Ausdruck: >Bruder meines Landes<, den die Leute aus derselben Provinz untereinander anwenden. In Gottes Namen, schließlich brauche ich auf diese Weise nicht für ihren Lebensunterhalt zu sorgen .«
Am selben Abend bezogen Angélique und ihr Söhn-chen das bescheidene Logis der Witwe Cordeau am Carreau du Temple.
So hieß der Marktplatz, zu dem die Händler strömten, die Geflügel, Fische, frisches Fleisch, Knoblauch, Honig und Kresse feilboten, denn jeder hatte das Recht, sich gegen ein geringes Standgeld dort niederzulassen und zu beliebigen Preisen zu verkaufen, ohne Steuern und ohne Kontrolle. Die Gegend war darum sehr belebt.
Die Witwe Cordeau war eine alte Frau von eher bäurischem als städtischem Wesen, die vor ihrem kümmerlichen Feuer Unmengen Wolle spann und in ihrem Äußeren etwas von einer Hexe hatte.
Doch Angélique fand ein sauberes, nach Seife duftendes Zimmer vor, ein bequemes Bett, und auf dem Fußboden eine tüchtige Lage Stroh, die man ausgebreitet hatte, um an diesen ersten Wintertagen die von den Fliesen aufsteigende Kälte abzuhalten.
Madame Cordeau hatte ein Kinderbettchen für Florimond heraufbringen lassen, einen Stapel Holz und eine Schüssel mit Brei.
Nachdem Desgray und Gontran gegangen waren, fütterte die junge Frau den Kleinen und legte ihn schlafen. Florimond quengelte und verlangte nach Barbe und seinen kleinen Vettern. Um ihn auf andere Gedanken zu bringen, summte sie ein Lied: das von der grünen Mühle, das er besonders gern mochte. Die Wunde schmerzte sie kaum mehr, und die Versorgung des Kindes bedeutete eine willkommene Ablenkung. Wenn sie sich auch daran gewöhnt hatte, zahllose Dienstboten zur Verfügung zu haben, war doch andererseits ihre Kindheit so hart gewesen, daß das Verschwinden der letzten Dienerin ihr nicht allzuviel ausmachte.
Im übrigen - hatten die Nonnen sie damals in Poitiers nicht an grobe Arbeiten gewöhnt, >im Hinblick auf die Prüfungen, die der Himmel uns senden kann
Als daher das Kind eingeschlafen war und sie selbst sich zwischen den groben, aber sauberen Laken ausstreckte und als der Nachtwächter unter ihrem Fenster vorbeiging mit dem Ruf: »Die Uhr hat zehn geschlagen. Das Tor ist verschlossen. Ihr Leut’ in Temple, schlaft in Frieden .« - da überkam sie schließlich ein Gefühl des Wohlbehagens und der Entspannung, und während draußen der Regen fiel, schlief sie friedlich ein.
Auf der Ballei hatte sie sich unter dem unverfänglichen Namen Madame Martin eintragen lassen. Niemand stellte ihr Fragen. Die folgenden Tage verbrachte sie in dem ungewohnten, aber angenehmen Gefühl, eine junge Mutter aus dem einfachen Volke zu sein, die sich unter ihre Nachbarn mischt und keine anderen Pflichten kennt, als ihr Kind zu versorgen. Sie aß gemeinsam mit Madame Cordeau, deren fünfzehnjährigem Sohn, der Lehrling in der Stadt war, und einem ruinierten Kaufmann, der sich im Temple vor seinen Gläubigern verbarg.
Der Knabe Florimond heimste viele Komplimente ein, und Angélique war sehr stolz darauf. Sie nützte den kleinsten Sonnenstrahl aus, um zwischen den Ständen des Platzes mit ihm spazierenzugehen, wo alle Marktfrauen ihn entzückt mit dem Jesuskind in der Krippe verglichen.
Einer der Schmuckwarenhändler, der seinen Stand dicht bei dem Hause hatte, in dem Angélique wohnte, bot ihr ein kleines Kreuz mit imitierten Rubinen für ihn an. In Erinnerung an bessere Zeiten konnte sie nicht widerstehen und befestigte es am Halse des Kleinen.
Die Hersteller von unechten Edelsteinen gehörten zu den Handwerkern jeglicher Art, die sich im Temple-Bezirk niederließen, um sich den tyrannischen Vorschriften der Zünfte zu entziehen, und da die Goldschmiede von Paris die Fabrikation von Imitationen untersagten, bot nur der Temple die Möglichkeit, all jenen Tand zu kaufen, an dem die Mädchen aus dem Volke so viel Freude hatten. Aus allen Ecken der Hauptstadt kamen sie hierher, munter und hübsch anzusehen in ihren billigen Kleidern, die zumeist aus düsteren, grauen Stoffen geschneidert waren und ihnen den Spitznamen Grisetten einbrachten.
Angélique, die die buntschillernden Farben des Hofs kennengelernt hatte, verwunderte und betrübte sich über das gleichförmige Aussehen der einfachen Leute. Nicht wenige waren noch nach der Mode des vergangenen Jahrhunderts gekleidet. Sie selbst hatte ihre letzten Taft- und Seidenröcke mit einem Kleid aus derber brauner Wolle vertauscht. Für Florimond hatte sie einen Kittel von der gleichen Farbe und einen Kapuzenmantel gekauft.
Auf ihren Spaziergängen mied sie die Straßen des Temple-Bezirks, in denen sich teils aus Neigung, teils aus Sparsamkeit reiche und vornehme Leute niedergelassen hatten. Sie befürchtete, von den Besuchern erkannt zu werden, deren Kutschen mit großem Gepolter über die Brücke fuhren, und vor allem wollte sie sich sehnsüchtige Gedanken ersparen. Ein vollständiger Bruch mit der Vergangenheit schien in jeder Hinsicht ratsam, und im übrigen - war sie nicht die Frau eines armen, von allen verlassenen Gefangenen .?
Als sie indessen eines Tages mit Florimond auf dem Arm die Treppe hinunterstieg, begegnete sie ihrer Zimmernachbarin, deren Gesicht ihr irgendwie vertraut vorkam. Madame Cordeau hatte ihr gesagt, sie beherberge auch eine sehr arme, aber ziemlich zurückhaltende junge Witwe, die es vorzöge, sich gegen einen kleinen Zuschlag die Mahlzeiten auf ihr Zimmer bringen zu lassen. Im Vorbeigehen blickte Angélique flüchtig in ein reizvolles, brünettes Gesicht mit sehnsuchtsvollen, rasch gesenkten Augen, das sie nicht mit einem Namen verbinden konnte, obwohl sie sicher war, ihm schon einmal begegnet zu sein.
Bei der Rückkehr vom Spaziergang schien die junge Witwe auf sie zu warten.
»Seid Ihr nicht Madame de Peyrac?« fragte sie.
Ärgerlich und ein wenig beunruhigt bedeutete ihr Angélique, in ihr Zimmer zu treten.
»Ihr saßet an jenem Tag, als der König in Paris einzog, zusammen mit mir in der Kutsche meiner Freundin Athénaïs de Rochechouart. Ich bin Madame Scarron.«
Jetzt erkannte Angélique die ebenso schöne wie unscheinbare junge Frau wieder, die damals in ihrem dürftigen Kleid mit von der Partie gewesen war und deren sie sich alle ein wenig geschämt hatten.
Sie hatte sich inzwischen kaum verändert, außer daß ihr Kleid noch abgenutzter und geflickter war.
Aber sie trug einen schneeweißen Kragen und wahrte eine Dezenz, die etwas Rührendes hatte.
Trotz allem beglückt, sich mit einem Menschen aus dem Poitou unterhalten zu können, bot Angélique ihr vor dem Kamin Platz an, und sie verzehrten mit Florimond zusammen ein wenig Gebäck.
Françoise d’Aubigné gestand ihr, sie habe sich im Temple eingemietet, weil man hier drei Monate lang wohnen könne, ohne Miete zu bezahlen. Nun ja, sie sei mit ihren Mitteln völlig am Ende und stehe vor der Aussicht, von ihren Gläubigern auf die Straße gesetzt zu werden. Doch hoffe sie, im Verlaufe dieser drei Monate beim König oder bei der Königin-Mutter durchsetzen zu können, daß man die Rente von zweitausend Livres, die Seine Majestät ihrem Gatten zu dessen Lebzeiten gewährt hatte, auf sie übertrage.
»Ich gehe fast jede Woche in den Louvre und stelle mich an den Weg zur Kapelle. Ihr wißt doch, daß Seine Majestät, wenn sie ihre Gemächer verläßt, um die Messe zu hören, eine Galerie durchquert, in der die Bittsteller sie anreden dürfen. Es gibt dort immer eine Unmenge von Mönchen, Kriegswaisen und ausgedienten Soldaten ohne Pension. Wir müssen manchmal sehr lange warten. Endlich erscheint der König. Ich muß gestehen, jedesmal, wenn ich meine Bittschrift in die königliche Hand lege, klopft mein Herz so heftig, daß ich fürchte, der König könnte es hören.«
»Bisher hat er nicht einmal Eure Bitte gehört!«
»Allerdings, aber ich gebe die Hoffnung noch nicht auf, daß er eines Tages einen Blick darauf wirft.«
Die junge Witwe war über alles orientiert, was bei Hofe vorging. Sie erzählte von Mademoiselle de Montpensier, die wieder einmal in Ungnade gefallen und vom König aus unerfindlichen Gründen auf ihre Besitzung Saint-Fargeau verbannt worden sei, von der in aller Stille gefeierten Hochzeit Monsieurs mit Henriette von England, bei der die beiden Ehegatten nach übereinstimmender Ansicht recht sauere Gesichter gezogen hätten. Philippe d’Orléans habe heimlich bei dem Gedanken an die Pflichten geseufzt, denen er seiner reizenden jungen Gattin gegenüber würde nachkommen müssen. Henriette von England habe dagegen ihren königlichen Schwager mit Blicken verfolgt, die unzweideutig erkennen ließen, auf wen sich ihre Enttäuschung bezogen habe und daß ihr lange gehegter Wunsch, Schwiegertochter Anna von Österreichs zu werden, auf nicht eben beglückende Weise in Erfüllung gegangen sei. Indessen habe am anderen Morgen der ganze Louvre zugegeben, daß der zuvor von seinem Bruder gehörig ins Gebet genommene kleine Monsieur sein Bestes getan zu haben scheine und daß die junge Gattin offenbar nicht ausgesprochen enttäuscht gewesen sei. Zur Belohnung habe Ludwig XIV. die Rückkehr des anläßlich des Ereignisses entfernten Chevaliers de Lorraine erlaubt.
Angélique amüsierte sich höchlichst. Françoise d’Aubigné plauderte mit sehr viel Witz und Geist, und wenn sie sich ihrer Zurückhaltung begab, strahlte sie ungewöhnlichen Charme aus. Es schien sie nicht zu überraschen, die prunkgewohnte Madame de Peyrac in einem solch kümmerlichen Milieu wiederzusehen, und sie schwatzte, als befände sie sich in einem Salon.
Um jeglicher Indiskretion vorzubeugen, klärte Angélique sie mit einigen Worten über ihre Situation auf: Sie warte unter einem angenommenen Namen auf den Prozeß und die Rehabilitierung ihres Gatten, um erst dann wieder unter die Menschen zu treten. Sie vermied es, ihr zu sagen, wessen der Graf Peyrac beschuldigt wurde, denn trotz der ein wenig schlüpfrigen Geschichten, die sie erzählte, schien Françoise Scarron sehr fromm zu sein. Sie war eine konvertierte Protestantin, die in ihren Prüfungen Trost bei der Religion suchte.
Angélique schloß:
»Ihr seht, daß meine Situation noch schwieriger ist als die Eurige, Madame. Deshalb habe ich leider keine Möglichkeit, Euch bei Euren Bemühungen behilflich zu sein. Denn so mancher Mensch, der noch vor wenigen Monaten tief unter mir stand, hat jetzt das Recht, auf mich herabzublicken.«
»Man könnte die Leute in zwei Kategorien einteilen«, erwiderte die Witwe des geistreichen Krüppels: »Solche, die sich einem nützlich erweisen können, und solche, die einem nutzlos sind. Mit den ersteren verkehrt man, um sich Protektion zu verschaffen, mit den letzteren zu vergnüglichem Zeitvertreib.«
Beide brachen in fröhliches Gelächter aus.
»Weshalb sieht man Euch so selten?« fragte Angélique. »Ihr könnt doch mit uns zusammen essen?«
»Oh, ich bringe es einfach nicht über mich!« sagte die Witwe erschauernd. »Ich muß gestehen, daß mir beim Anblick dieser Mutter Cordeau und ihres Sohnes himmelangst wird ...!«
Angélique wollte sich eben über diesen Ausspruch verwundern, als sie durch ein merkwürdiges Geräusch, etwas wie ein animalisches Grunzen, das von der Treppe kam, abgelenkt wurde.
Madame Scarron öffnete die Tür und prallte entgeistert zurück.
»Mein Gott, da drunten ist ein Teufel!«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Jedenfalls ist es ein ganz schwarzer Mann.«
Angélique stieß einen Schrei aus und stürzte zum Treppengeländer.
»Kouassi-Ba!« rief sie.
»Médême«, antwortete Kouassi-Ba von unten.
Wie ein düsteres Gespenst erschien er auf der dunklen, engen Treppe. Er war in jämmerliche, durch Schnüre zusammengehaltene Lumpen gekleidet. Seine Haut war grau und schlaff. Doch als er Flori-mond erblickte, stieß er wilde Freudenrufe aus und stürzte zu ihm.
Françoise Scarron verließ mit allen Zeichen des Entsetzens das Zimmer und flüchtete in das ihrige. Angélique hatte ihr Gesicht in den Händen vergraben, um nachzudenken. Wann eigentlich ... ja, wann eigentlich war Kouassi-Ba verschwunden? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Alles verwirrte sich. Endlich fiel ihr ein, daß er sie am Morgen jenes schrecklichen Tages, an dem sie vom König empfangen worden und beinahe durch die Hand des Herzogs von Orléans ums Leben gekommen war, in den Louvre begleitet hatte. Von diesem Augenblick an hatte sie, wie sie sich eingestehen mußte, Kouassi-Ba völlig vergessen!
Sie warf ein Reisigbündel ins Feuer, damit er seine regendurchnäßten Lumpen trocknen konnte, und tischte ihm auf, was sie nur aufzutreiben vermochte. Während er alles heißhungrig in sich hineinschlang, berichtete er ihr seine Odyssee.
In jenem großen Schloß, in dem der König von Frankreich wohnt, hatte Kouassi-Ba lange, lange auf Médême gewartet. Schrecklich lange! Die vorbeikommenden Mägde hatten sich über ihn lustig gemacht.
Dann war es Nacht geworden. Dann hatte er viele, viele Stockhiebe bekommen. Er war im Wasser aufgewacht, jawohl im Wasser, das an dem großen Schloß vorbeifließt.
»Man hat ihn niedergeschlagen und in die Seine geworfen«, sagte sich Angélique.
Kouassi-Ba war geschwommen; dann hatte er das Ufer erreicht. Beim Aufwachen hatte er geglaubt, in seine Heimat zurückgekehrt zu sein. Drei Mohren hatten sich über ihn gebeugt. Männer wie er, keine von den kleinen Negerknaben, die den vornehmen Damen als Pagen dienten.
»Bist du sicher, nicht geträumt zu haben?« fragte Angélique verwundert. »Mohren in Paris! Ich habe hier noch nie ausgewachsene gesehen.«
Durch vieles Fragen brachte sie schließlich heraus, daß er von Schwarzen aufgelesen worden war, die auf dem Jahrmarkt von Saint-Germain als Wunder gezeigt wurden und mit dressierten Bären umherzogen. Kouassi-Ba war nicht zu überreden gewesen, bei ihnen zu bleiben. Er hatte Angst vor den Bären gehabt.
Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, zog er aus seinen Lumpen ein Körbchen hervor, kniete vor Florimond nieder und bot ihm zwei Milchbrötchen an, deren Kruste mit Eigelb vergoldet und mit Getreidekörnern bestreut war. Sie verbreiteten einen köstlichen Duft.
»Wie hast du das kaufen können?«
»Oh, ich habe nicht gekauft. Ich bin in einen Bäk-kerladen gegangen und habe so gemacht« - er schnitt eine grausige Grimasse -, »die Frau und das Fräulein haben sich unter dem Ladentisch versteckt, und ich habe die Kuchen genommen, um sie meinem kleinen Herrn zu bringen.«
»Mein Gott!« seufzte Angélique entsetzt.
»Wenn ich meinen langen, krummen Säbel hätte .«
»Ich habe ihn beim Trödler verkauft«, sagte die junge Frau hastig.
Sie hielt es nicht für ausgeschlossen, daß die Häscher Kouassi-Ba auf der Spur waren. Draußen war schon Stimmengewirr zu hören, und als sie ans Fenster trat, bemerkte sie einen Menschenauflauf vor dem Haus. Ein dunkel gekleideter Herr von respektablem Aussehen sprach streng auf Mutter Cordeau ein. Angélique öffnete das Fenster, um zu erfahren, worum es gehe. Mutter Cordeau rief ihr zu:
»Bei euch soll angeblich ein ganz schwarzer Mann sein?«
Angélique ging eilends hinunter.
»Das ist richtig, Madame Cordeau. Es handelt sich um einen Mohren, um . um einen ehemaligen Diener. Er ist ein sehr ordentlicher Bursche.«
Der respektable Herr stellte sich daraufhin als Amtmann des Temple vor, dessen Aufgabe es war, im Namen des Großpriors innerhalb des Bezirks die Befolgung der Verordnungen zu überwachen. Er erklärte, es ginge nicht an, daß ein Mohr sich hier aufhalte, zumal dieser, wie man ihm berichtet habe, wie ein Bettler gekleidet sei.
Nachdem man eine gute Weile hin und her geredet hatte, verbürgte sich Angélique dafür, daß Kouassi-Ba vor Einbruch der Dunkelheit den Bezirk verlassen werde. Bekümmert stieg sie wieder hinauf.
»Was soll ich nur mit dir anfangen, mein guter Kou-assi-Ba? Deine Anwesenheit verursacht einen richtigen Aufruhr. Und ich habe nicht mehr genügend Geld, um dich zu ernähren und zu erhalten. Und du bist an ein üppiges, sorgloses Leben gewöhnt .«
»Verkauf mich, Médême!«
Und als sie ihn verblüfft anschaute, setzte er hinzu:
»Der Graf hat mich sehr teuer gekauft, und dabei war ich damals noch klein. Jetzt bin ich mindestens tausend Livres wert. Dann hast du eine Menge Geld, um meinen Herrn aus dem Gefängnis zu befreien.«
Angélique sagte sich, daß der Schwarze recht hatte. Genau besehen, war Kouassi-Ba alles, was ihr von ihrem einstigen Besitz blieb. Die Sache widerstrebte ihr, aber war es nicht wirklich der beste Weg, um eine Zuflucht für den armen Burschen zu finden, der Gefahr lief, den Lastern der zivilisierten Welt anheimzufallen?
»Komm morgen wieder«, sagte sie zu ihm. »Bis dahin werde ich eine Lösung gefunden haben. Und sieh dich vor, daß du dich nicht von den Häschern erwischen läßt.«
»Oh, ich weiß schon, wie ich mich verberge. Ich habe viele Freunde in dieser Stadt. Ich mache so, und dann sagen die Freunde: >Du bist einer der Unsrigen<, und sie nehmen mich in ihre Häuser mit.«
Er zeigte ihr, wie man auf eine bestimmte Art die Finger kreuzen mußte, um sich den besagten Freunden gegenüber auszuweisen.
Sie gab ihm eine Decke und schaute lange der dunklen, einsamen Gestalt nach, die sich im rieselnden Regen entfernte. Nach einigem Überlegen beschloß sie, zu ihrem Bruder zu gehen und ihm um Rat zu fragen. Doch der R. P de Sancé war abwesend.
Gedankenverloren machte sie sich auf den Rückweg, als ein junger Mann mit einem Geigenkasten unterm Arm sie, von Pfütze zu Pfütze springend, überholte.
»Giovanni!«
Das war wirklich ein Tag des Wiedersehens! Sie zog den kleinen Musikanten unter die Vorhalle der alten Kirche und fragte ihn, was er treibe.
»Ich bin noch nicht im Orchester Monsieur Lullys«, sagte er, »aber Mademoiselle de Montpensier hat mich, als sie nach Saint-Fargeau zog, an Madame de Soissons abgetreten, die zur Verwalterin des Hauses der Königin ernannt worden ist. Ich habe also glänzende Beziehungen«, schloß er mit gewichtiger Miene, »dank denen ich meine Nebeneinkünfte vermehren kann, indem ich jungen Damen aus guter Familie Musik- und Tanzunterricht gebe. Ich komme gerade von Mademoiselle de Sévigné, die im Palais Boufflers wohnt.«
Nach einem scheuen Blick auf die bescheidene Kleidung seiner einstigen Herrin setzte er verlegen hinzu:
»Und Ihr, Madame? Darf ich fragen, wie Eure Angelegenheiten stehen? Wann werden wir den Herrn Grafen wiedersehen?«
»Bald. Es ist nur eine Frage von Tagen«, erwiderte Angélique, die an etwas anderes dachte. »Giovanni«, fuhr sie fort, indem sie den Jungen bei den Schultern faßte, »ich habe mich entschlossen, Kouassi-Ba zu verkaufen. Ich erinnere mich, daß die Herzogin von Soissons ihn zu erwerben wünschte, aber ich kann den Temple-Bezirk nicht verlassen, geschweige denn, mich in die Tuilerien begeben. Willst du die Sache vermitteln?«
»Ich stehe immer zu Euren Diensten, Madame«, sagte der kleine Musikant artig.
Er schien sich beeilt zu haben, denn kaum zwei Stunden danach, als Angélique eben Florimonds Mahlzeit richtete, klopfte jemand an ihre Tür. Sie machte auf und stand einer großen, rothaarigen Frau mit arroganter Miene und einem Lakaien gegenüber, der die kirschrote Livree des herzoglichen Hauses Soissons trug.
»Wir kommen auf Veranlassung Giovannis«, sagte die Frau, unter deren Umhang ein höchst kokettes Kammermädchenkleid hervorschaute. Sie hatte den zugleich gerissenen und kecken Gesichtsausdruck der bevorzugten Zofe einer großen Dame.
»Meine Herrin ist bereit, der Sache näherzutreten«, fuhr sie fort, nachdem sie Angélique und das Zimmer abschätzend gemustert hatte, »aber erst wollen wir wissen, was für uns dabei abfällt.«
»Vielleicht bemühst du dich um einen anständigen Ton, mein Kind«, versetzte Angélique mit einer Kühle, die sofort die geziemende Distanz herstellte.
Sie setzte sich und ließ die beiden vor ihr stehen.
»Wie heißt du?« fragte sie den Lakaien.
»La Jacinthe, Frau Gräfin.«
»Schön. Immerhin hast du scharfe Augen und ein waches Gedächtnis. Warum soll ich zwei Leute bezahlen?«
»Nun ja, bei Vermittlungsgeschäften arbeiten wir immer zusammen.«
»Ein beachtliches Gespann. Ein Glück, daß nicht das ganze Haus des Herrn Herzogs sich daran beteiligt! Folgendes sollt ihr tun: der Frau Herzogin sagen, daß ich ihr meinen Mohren Kouassi-Ba verkaufen möchte. Aber ich kann mich nicht in die Tuilerien begeben. Eure Herrin muß mir also irgendein Haus im Temple nennen, wo wir uns zu einer Besprechung treffen können. Aber ich bestehe darauf, daß die Sache mit größter Diskretion behandelt und daß auch mein Name nicht genannt wird.«
»Das wird sich schon deichseln lassen«, sagte die Zofe nach einem Blick auf ihren Spießgesellen.
»Ihr bekommt zwei Livres auf zehn Livres. Das bedeutet also, daß ihr um so besser fahrt, je höher der Preis ist. Und Madame de Soissons muß dermaßen darauf erpicht sein, diesen Mohren zu bekommen, daß sie vor keiner Zahl zurückschreckt.«
»Wird gemacht«, versprach die Zofe. »Übrigens hat die Frau Herzogin erst neulich bedauert, als ich sie frisierte, diesen scheußlichen Teufel nicht in ihrem Gefolge zu haben! Wohl bekomm er ihr! Viel Vergnügen!« schloß sie, indem sie die Augen zum Himmel aufschlug.
Angélique und Kouassi-Ba warteten in einem kleinen Kabinett des Palais Boufflers.
Gelächter und lebhaftes Stimmengewirr drangen aus den Salons herein, in denen Madame de Sévigné heute empfing. Wenn Angélique es sich auch nicht eingestehen wollte, schmerzte es sie doch, sich ausgeschlossen zu wissen, während wenige Schritte entfernt die Frauen ihrer Welt sorglos ihr unbeschwertes Leben weiterführten.
Neben ihr rollte Kouassi-Ba seine großen, angsterfüllten Augen. Sie hatte für ihn bei einem der Trödler des Temple eine alte Livree mit verblichenem Goldbesatz ausgeliehen, in der er eine reichlich unglückliche Figur machte.
Endlich wurde die Tür von der Zofe Madame de Soissons’ geöffnet, und die letztere rauschte lebhaft herein.
»Aha, das ist die Frau, von der du mir gesprochen hast, Bertille ...«
Sie hielt inne, um Angélique ‘aufmerksam zu betrachten.
»Großer Gott!« rief sie aus. »Ihr seid das, meine Liebe?«
»Ich bin’s«, sagte Angélique lachend, »aber, bitte, verwundert Euch nicht. Ihr wißt, daß mein Gatte in der Bastille ist. Da fällt es mir schwer, in besseren Verhältnissen zu leben als er.«
»Ja, natürlich«, stimmte Olympe de Soissons zu, bemüht, die Situation zu meistern. »Ist uns nicht allen irgendwann einmal ein Mißgeschick widerfahren? Damals, als mein Onkel, der Kardinal Mazarin, aus Frankreich fliehen mußte, trugen wir, meine Schwestern und ich, geflickte Röcke, und das Volk auf der Straße warf mit Steinen nach unserer Kutsche und nannte uns die >Mancini-Dirnen<. Nun, jetzt, da der arme Kardinal im Sterben liegt, sind die Leute von der Straße bestimmt gerührter als ich. Ihr seht, wie das Rad sich dreht! Aber ist dies hier Euer Mohr, meine Liebe? Ich hatte ihn viel schöner in Erinnerung! Ja, dicker und schwärzer.«
»Das kommt daher, weil er friert und hungert«, warf Angélique rasch ein. »Aber Ihr werdet sehen - sobald er gegessen hat, ist er wieder kohlrabenschwarz.«
Die schöne Frau machte ein enttäuschtes Gesicht. Mit einer raubtierartigen Bewegung richtete sich Kouassi-Ba auf.
»Ich bin noch stark. Schau!«
Er riß die alte Livree auf, und seine breite, mit seltsamen Tätowierungen bedeckte Brust wurde sichtbar. Er stemmte die Schultern zurück, ließ die Muskeln spielen und hob die Arme wie die Ringkämpfer auf dem Jahrmarkt. Lichtreflexe glitten über seine bronzene Haut.
Dann senkten sich die langen Lider über seine elfenbeinfarbenen Augäpfel. Nur ein ganz schmaler Spalt blieb, aus dem er die Herzogin fixierte. Ein leichtes, zugleich arrogantes und zärtliches Lächeln begann um die dicken Lippen des Mohren zu spielen.
Noch nie hatte Angélique Kouassi-Ba so schön gesehen und noch nie, noch niemals so ... angsterregend.
Das Männliche in seiner ganzen primitiven Kraft fixierte seine Beute. Der Schwarze hatte instinktiv erfaßt, was diese weiße, nach neuen Wonnen lüsterne Frau wollte.
Mit halbgeöffneten Lippen stand Olympe de Sois-sons wie bezwungen da. In ihren dunklen Augen lohte eine seltsame Flamme. Das leise Wogen ihres schönen Busens, die Lüsternheit ihres Mundes verrieten die Begierde in solcher Schamlosigkeit, daß sogar die Zofe trotz all ihrer Dreistigkeit die Augen niederschlug und Angélique am liebsten davongelaufen wäre.
Endlich schien die Herzogin sich zu fassen. Sie öffnete ihren Fächer und bewegte ihn mechanisch.
»Wieviel ... wieviel wollt Ihr haben?«
»Zweitausendfünfhundert Livres.«
Die Augen der Zofe leuchteten auf.
Olympe de Soissons, plötzlich ernüchtert, zuckte zusammen.
»Ihr seid wahnsinnig!«
»Zweitausendfünfhundert Livres, oder ich behalte ihn«, erklärte Angélique kühl.
»Meine Liebe .«
»O Madame!« rief Bertille aus, die zaghaft einen Finger auf Kouassi-Bas Arm gelegt hatte. »Wie zart seine Haut ist! Man sollte nicht glauben, daß ein Mann eine so zarte Haut haben kann. Wie ein Blütenblatt.«
Die Herzogin strich ihrerseits mit dem Finger über den glatten, geschmeidigen Arm. Ein wollüstiger Schauer überlief sie. Beherzt berührte sie die Tätowierungen der Brust und brach in Lachen aus.
»Gut, ich kaufe ihn. Es ist eine Torheit, aber ich merke schon, daß ich nicht ohne ihn sein kann. Bertille, sagt La Jacinthe, er soll mir meine Kassette bringen.«
Wie auf Verabredung trat der Lakai mit einem ledernen Kästchen ein.
Während der Mann, der bei der Herzogin die Rolle des Haushofmeisters für ihre heimlichen Vergnügungen zu spielen schien, die Summe vorzählte, gab die Zofe auf Weisung ihrer Herrin Kouassi-Ba ein Zeichen, ihr zu folgen.
»AufWiedersehen, Médême, aufWiedersehen«, sagte der Mohr, indem er sich Angélique näherte. »Und meinem kleinen Herrn Florimond sollst du sagen .«
»Es ist gut, geh!« versetzte sie hart.
Der Blick, den er ihr zuwarf, bevor er den Raum verließ, der Blick eines geprügelten Hundes, traf sie wie ein Dolchstoß ins Herz ...
Nervös zählte sie die Geldstücke und ließ sie in ihre Börse gleiten. Sie hatte jetzt nur einen Wunsch: so rasch wie möglich von hier wegzukommen.
»O meine Liebe, all das ist sehr hart, ich ahne es«, seufzte die Herzogin von Soissons, »aber verliert nicht den Mut, das Rad dreht sich unaufhörlich. Gewiß, man kommt leicht in die Bastille, aber man kommt auch wieder heraus. Wißt Ihr, daß Péguillin de Lauzun wieder vom König in Gnaden aufgenommen worden ist?«
»Péguillin!« rief Angélique aus, die dieser Name und diese Nachricht plötzlich aufheiterten. »Oh, wie freue ich mich! Wie ist das zugegangen?«
»Kommt, setzt Euch, ich werde Euch ein wenig unterhalten«, sagte die andere huldvoll. »Die Geschichte ist unbezahlbar, und da Ihr Péguillin kennt, wird sie Euch im übrigen nicht verwundern. - Ihr wißt, daß dieser dreiste Edelmann, der nie ein Blatt vor den Mund nimmt, dem König so viele Frechheiten gesagt haben soll, daß dieser ihn in die Bastille schickte. Andere behaupten, es sei geschehen, weil Lauzun sich mit Philippe d’Orléans geschlagen habe. Wie dem auch sein mag, Lauzun fehlte Seiner Majestät, die nur nach einem Vorwand suchte, um ihn zurückzurufen. In der vergangenen Woche nun erzählte beim Petit Lever einer der Höflinge Seiner Majestät von dem Kapuzinerbart, den sich der Gefangene habe wachsen lassen. >Oh, das muß ich sehen!< sagte der König, >man soll ihn schleunigst zu mir führen.<
Vier Stunden später stand unser bärtiger Péguillin vor dem König. Dieser lachte so schallend, daß die griesgrämigsten Höflinge und sogar Monsieur de Préfontaines sich verpflichtet fühlten, desgleichen zu tun.
>Sire<, sagte Péguillin todernst, >man muß schon mein Herr sein, um ungestraft über meinen Bart lachen zu dürfen.<
>Oh, aber dieser Bart ist köstlich!< bemerkte der König.
>Eure Majestät sehen, daß nicht viel dazu gehört, um aus einem Manne von guter Familie einen Ziegenbock zu machen, zumal an einem galanten Hofe.< >Herzog, Ihr treibt es immer zu weit mit Euren Scherzen. Wann werdet Ihr Euch endlich bessern?< >Meiner Treu, Sire, so wie ich bin - vom Bart abgesehen -, habe ich mir die Ehre verdient, Eurer Güte teilhaftig zu werden. Wenn ich mich ändern soll, bitte ich Euch, es mich wissen zu lassen. Eure Majestät und ich, wir werden uns dann gemeinsam bessern.<
>Gut denn, Unbesonnener, ich begnadige Euch. Ihr seid frei.<
>Habt Dank, mein erlauchter Gebieter, aber wollet geruhen, Euch zu erklären: Wird die Gnade dem Nichtsnutz gewährt, der ich war, oder dem vernünftigen Menschen, der ich sein soll?<
>Auf jeden Fall ist es der komische Kerl, der Ihr seid, der daraus Nutzen ziehen wird.<
Worauf der Teufelsbursche von Lauzun die Knie des Königs umschlang, denn niemand versteht besser als er, die Kühnheit eines verwöhnten Günstlings mit der Unterwürfigkeit eines Höflings zu vereinen. Der König hat für ihn die Stelle des Obersten der Dragoner von Frankreich geschaffen, und Péguillin hat sich den Bart abschneiden lassen.«
»Ich freue mich sehr für Lauzun«, seufzte Angélique.
Die Herzogin von Soissons betrachtete sie neugierig.
»Es ist sogar behauptet worden, Lauzun habe sich Euretwegen mit Monsieur geschlagen .«
Angélique durchschauerte es in der Erinnerung an die furchtbare Szene. Noch einmal beschwor sie Madame de Soissons, strengstes Stillschweigen zu bewahren und ihren Zufluchtsort nicht zu verraten. Die Herzogin, die lange Erfahrung gelehrt hatte, daß in Ungnade Gefallene zu schonen waren, solange der Gebieter sie nicht endgültig verworfen hatte, sagte alles zu und verabschiedete sie mit einer Umarmung.
Dem Verkauf Kouassi-Bas und die Vorbereitungen dazu hatten Angélique von der unmittelbaren Sorge um ihren Gatten abgelenkt. Jetzt, da dessen Schicksal nicht mehr von ihren kümmerlichen Bemühungen abhing, fühlte sie sich von einem gewissen Fatalismus überkommen, zu dem ihr Zustand das Seinige beitrug. Gleichwohl verlief ihre Schwangerschaft normal, allen Befürchtungen zum Trotz. Das Kind, das sie trug, schien sogar recht lebhaft, und es gedieh zweifellos, obwohl die junge Frau eine noch immer schlanke Figur hatte. Madame Cordeau versicherte, es würde ein Mädchen werden, und zwar ein etwas scheinheiliges, weil es doch so tat, als ob es gar nicht da sei.
Gontran machte ihr einen Abschiedsbesuch. Er war im Begriff, aufWanderschaft zu gehen. Er hatte einen Maulesel gekauft. »Keinen so schönen wie die bei uns daheim«, sagte er. In den Städten würden die geheimen Bruderschaften der Gesellen ihn aufnehmen. Ob er wohl unter dem Bruch mit seiner Welt litt? Es schien nicht so. Mit melancholischen Gefühlen sah sie ihm nach, bis er verschwand.
Eines Vormittags kam Angélique mit Florimond von einem kleinen Spaziergang in der Gegend des mächtigen Festungsturms zurück, als sie ein Geschrei vernahm.
Gleich darauf sah sie den Sohn ihrer Wirtin hastig über den Markt laufen. Er versuchte dabei, seinen Kopf vor dem Steinhagel zu schützen, mit dem ihn eine Rotte Straßenjungen verfolgte.
»Cordeau! Corde-au-cou![6] Streck die Zunge heraus, Galgenstrick!«
Der Junge schlüpfte wortlos ins Haus.
Wenig später, als es Mittagessenszeit geworden war, fand Angélique ihn in der Küche vor, wo er friedlich seine Portion Erbsensuppe löffelte.
Für den Sohn Mutter Cordeaus hatte Angélique kein sonderliches Interesse. Er war ein kräftiger Bursche von fünfzehn Jahren, stämmig und wortkarg, dessen niedere Stirn mangelhafte Intelligenz verriet, aber er benahm sich seiner Mutter und den Mietern gegenüber zuvorkommend. Seine offensichtlich einzige Unterhaltung bestand darin, am Sonntag mit Florimond zu spielen, dem er in allem zu Willen war.
»Was ist denn da vorhin passiert, mein armer kleiner Cordeau?« fragte die junge Frau, während sie sich vor die derbe Terrine setzte, aus der die Wirtin eben Erbsen und Walfischspeck schöpfte. »Warum hast du dich mit deinen dicken Fäusten nicht gegen die groben Jungen zur Wehr gesetzt, die dich mit Steinen bewarfen?«
Der Knabe zuckte die Schultern, ohne sich beim Essen stören zu lassen, und seine Mutter sagte:
»Wißt Ihr, er ist von klein auf daran gewöhnt. Ich selbst ruf’ ihn manchmal Corde-au-cou, ohne mir dabei was zu denken. Und das mit den Steinen ist auch nichts Neues für ihn. Wichtig ist nur, daß es ihm gelingt, Meister zu werden. Hinterher wird man ihn schon respektieren, da hab’ ich keine Bange!«
Die Alte ließ ein höhnisches Kichern vernehmen, was das Hexenartige ihrer Erscheinung noch unterstrich. Angélique erinnerte sich des Widerwillens, den Madame Scarron gegen den Sohn und die Mutter empfand, und sie betrachtete die beiden verwundert.
»Ach, es stimmt also doch? Ihr wißt nicht Bescheid?« sagte Madame Cordeau und stellte die Schüssel wieder auf den Herd zurück. »Nun ja, ich hab’ nicht nötig, es zu verheimlichen - mein Junge arbeitet bei Meister Aubin.« Und da Angélique noch immer nicht begriff, erklärte sie: »Bei Meister Aubin, dem Scharfrichter!«
Die junge Frau spürte, wie ihr ein Schauer vom Nacken über den Rücken lief. Wortlos begann sie das derbe Gericht zu essen. Es war die Fastenzeit vor Weihnachten, und jeden Tag erschien das unvermeidliche Stückchen Walfischfleisch mit Erbsen, das Fastengericht der Armen, auf dem Tisch.
»Ja, er ist Scharfrichter-Lehrling«, fuhr die Alte fort und setzte sich Angélique gegenüber. »Was wollt Ihr, schließlich gehört das auch zum Leben. Meister Aubin ist der leibliche Bruder meines verstorbenen Mannes, und er hat nur Töchter. Als mein Mann starb, schrieb mir Meister Aubin in den kleinen Ort, wo wir wohnten, und ließ mich wissen, er werde sich meines Sohnes annehmen, ihm das Handwerk beibringen und später vielleicht sein Amt übertragen. Und wißt Ihr, Scharfrichter von Paris zu sein, das will schon was bedeuten! Ich möcht’ es gern noch erleben, daß mein Sohn die roten Hosen und das rote Trikot trägt .«
Sie warf einen geradezu zärtlichen Blick auf den dicken, runden Kopf ihres abstoßenden Sprößlings, der seelenruhig seine Erbsen auslöffelte.
»Wenn man sich vorstellt, daß er womöglich heute morgen einem Verurteilten den Strang um den Hals gelegt hat!« dachte Angélique voller Grausen. »Die Straßenjungen haben gar nicht so unrecht: Man darf nicht so heißen, wenn man ein solches Handwerk ausübt!«
Die Witwe, die ihr Schweigen als aufmerksame Teilnahme an ihren Geschichten auslegte, sprach weiter:
»Mein Mann war auch Scharfrichter, aber auf dem Land ist das nicht ganz dasselbe, denn die Kapitalverbrecher werden in der Provinzhauptstadt hingerichtet. In der Hauptsache war er Schinder und Abdecker .«
Sie fuhr pausenlos fort, beglückt, endlich einmal jemanden vor sich zu haben, der sie nicht durch entsetzte Proteste unterbrach.
Man solle sichjanichteinbilden, das S charfrichteramt sei einfach. Die Vielfältigkeit der angewandten Mittel, um den Delinquenten Geständnisse zu entreißen, habe ein kompliziertes Handwerk aus ihm gemacht. Dem Knaben Cordaucou fehle es, weiß Gott, nicht an Arbeit! Er müsse lernen, einen Kopf mit einem Schwert- oder Beilhieb abzuschlagen, mit dem glühenden Eisen umzugehen, Zungen zu durchstechen, zu hängen, zu ertränken, zu rädern und schließlich die verschiedenen Arten der Folterung anzuwenden.
An diesem Tage rührte Angélique ihren Teller kaum an und beeilte sich, wieder in ihr Zimmer zu kommen.
Ob Raymond über den Beruf des Sohnes der Mutter Cordeau orientiert gewesen war, als er sie an diese verwiesen hatte? Sicherlich nicht, denn die Situation war allzu peinlich. Dennoch kam Angélique keinen Augenblick auf den Gedanken, ihr Gatte könne, wenn er auch zur Zeit ein Gefangener war, eines Tages in die Hände des Scharfrichters geraten. Joffrey de Peyrac war Edelmann! Zweifellos gab es ein Gesetz, das die Folterung Adliger untersagte. Sie mußte doch bei nächster Gelegenheit Desgray danach fragen ... Der Henker war für die armen Leute da, für diejenigen, die man an den Pranger der Place des Halles stellte, die man an den Straßenecken nackt auspeitschte oder auf der Place de Grève hängte. Aber nicht für Joffrey de Peyrac, den letzten Nachfahren der Grafen von Toulouse.