Der Burgkeller

Natürlich fand das Gespräch zwischen Leonie und ihren Eltern nicht statt. Sie setzte mehrmals dazu an, aber ihr Vater blockte jeden ihrer Versuche, über das Archiv oder gar das Buch zu reden, sofort ab. Und als Leonie trotzdem nicht locker ließ, wurde er zuerst ärgerlich, dann autoritär. Es endete damit, dass Leonie den Rest des Nachmittags in ihrem Zimmer verbrachte und sich den Kopf über eine glaubwürdige Ausrede zerbrach, um nicht mit ihren Eltern essen gehen zu müssen. Sie verstand ohnehin immer weniger, warum ihr Vater ausgerechnet heute auf diese Idee gekommen war. Als ob es etwas zu feiern gäbe!

Ihr fielen tatsächlich gleich mehrere, durchaus glaubwürdige Ausreden ein, aber ihr Vater ließ keine davon gelten. Wenige Minuten nach sieben saßen sie im Wagen und fuhren in die Stadt.

Das Restaurant, von dem ihr Vater erzählt hatte, lag in einer Straße, die zu schmal war, um sie mit dem Wagen zu befahren, geschweige denn darin zu parken, sodass sie den letzten halben Kilometer zu Fuß gehen mussten. Leonie hatte nichts gegen einen kleinen Spaziergang, aber sie war zuerst nur erstaunt, dann mehr und mehr überrascht von dem, was sie sah. Das Restaurant befand sich in einem Stadtviertel, in dem sie noch nie gewesen war - was aber an sich nicht viel besagte. Leonie war zwar in dieser Stadt geboren und aufgewachsen, aber in einer Großstadt mit weit über einer Million Einwohner konnte man vermutlich sein ganzes Leben verbringen, ohne jede Straße zu kennen. Dennoch war sie erstaunt, bisher noch nicht einmal von diesem kleinen Karree aus vier oder fünf Straßen, das von den Resten einer mittelalterlichen Wehrmauer umschlossen wurde, gehört zu haben.

Es war ein wenig wie eine Reise in eine andere Welt, zumindest aber in eine andere Zeit. Sicher, es gab die schon fast obligaten Satellitenschüsseln und Antennen auf den Dächern, hinter den Fenstern brannte elektrisches Licht, und hier und da sahen sie das blaue Flackern eines Fernsehers hinter nur halb zugezogenen Gardinen, darüber hinaus jedoch hätten die schmalen Straßen auch direkt aus dem Mittelalter stammen können. Die Häuser waren niedrig, mit winzigen Fenstern und schmalen Türen, und zum größten Teil mit Ziegeln gedeckt, manchmal sogar mit Stroh. Das Kopfsteinpflaster der Straßen war so wellig, dass Leonie froh war, rein zufällig Turnschuhe angezogen zu haben; in jedem anderen Schuhwerk hätte sie sich vermutlich nach ein paar Schritten auf die Nase gelegt.

Auch der Burgkeller befand sich in einem uralten Ziegelsteingebäude, das aussah, als hätte es mindestens fünfhundert Jahre auf dem Buckel, wenn nicht mehr. Leonie hatte kein wirklich gutes Gefühl bei seinem Anblick. Genau wie ihr Vater mochte sie alte, historische Gebäude, vor allem wenn sie so gut erhalten waren wie dieses hier, aber an den unregelmäßigen Ziegelsteinmauern, den halbrunden Fenstern und der von zwei schweren, grob behauenen Steinsäulen flankierten Tür war irgendetwas, das sie beunruhigte.

»Na?«, fragte Vater, als sie das Gebäude betraten und in einen großen, überraschend hellen Gastraum kamen. »Habe ich zu viel versprochen?«

Nein, das hatte er nicht. Der Denkmalschutz, unter dem das Gebäude stehen musste, beschränkte sich anscheinend nur auf die Fassade. Die gegenüberliegende Wand bestand aus einem einzigen großen Fenster, das auf einen kleinen Innenhof blickte, wodurch es im Inneren des Schankraumes erstaunlich hell war. Die Einrichtung wiederum erinnerte ganz an ein mittelalterliches Gasthaus: schwere, grob gezimmerte Möbel, Kerzenständer aus Silber oder Zinn und dazu passende Leuchter unter der Decke, selbst das Personal war entsprechend gekleidet. Es roch nach Holzkohle, gebratenem Fleisch und Bier. Vater trat an die Theke, wechselte ein paar Worte mit einem Mann dahinter und kam dann zurück.

Leonie sah sich derweil nicht nur neugierig, sondern auch ein wenig hilflos um. Sämtliche Tische waren besetzt und keiner der Gäste machte den Eindruck, als würde er innerhalb der nächsten Minuten gehen wollen. Vater bedeutete ihnen jedoch mit aufgeregten Gesten, mit ihm zu kommen, und steuerte eine niedrige Tür in einer Ecke des Raumes an.

Dahinter lag eine schmale, steil nach unten führende Treppe, die von drei dunkelrot glimmenden Fackeln erhellt wurde. Die Fackeln waren künstlich, aber so perfekt gemacht, dass man schon zweimal hinsehen musste, um es zu bemerken, und die Wände bestanden aus roten, grob behauenen Steinquadern. Der Treppenschacht ähnelte so frappierend dem Gewölbe im Archiv der Scriptoren, dass Leonie unwillkürlich langsamer wurde und wahrscheinlich ganz stehen geblieben wäre, hätte sich ihre Mutter, die nur ein paar Schritte vor ihr ging, nicht umgedreht und sie fragend angesehen. Jede Stufe, die sie hinabschritt, kostete sie größere Überwindung. Wäre sie allein gewesen, sie hätte keinen Fuß auf diese unheimliche Treppe gesetzt.

Und es war noch nicht zu Ende. Die Treppe führte in einen niedrigen, unerwartet weitläufigen Gewölbekeller hinab, der von den gleichen künstlichen Fackeln und einer Unzahl - echter - Kerzen erhellt wurde, die überall auf den Tischen standen. Zwei der vier Wände wurden von schweren, grob gezimmerten Regalen eingenommen, die bis an die Decke mit uralten Büchern und Folianten voll gestopft waren, und am gegenüberliegenden Ende des Raumes stand eine große, kompliziert aussehende Maschine, deren bloßer Anblick Leonie frösteln ließ. Beim zweiten Hinsehen erkannte sie jedoch, dass es sich um eine uralte Druckerpresse handelte. Vermutlich der Nachbau eines Gerätes, das noch aus Gutenbergs Zeiten stammte. Dennoch war die Ähnlichkeit mit der großen Halle im Archiv so unheimlich, dass es Leonie immer schwerer fiel, noch an einen reinen Zufall zu glauben. Der einzig wirkliche Unterschied bestand im Grunde darin, dass es hier keine Stehpulte gab, an denen kleine, hakennasige Gestalten mit Federkielen in Bücher schrieben, sondern große Eichentische, an denen Menschen saßen und tafelten.

»Na, wie gefällt es euch?«, fragte ihr Vater. Seine Stimme klang so stolz, als hätte er das alles hier ganz allein geschaffen. Er drehte sich, über das ganze Gesicht strahlend, zu ihnen um, runzelte aber dann plötzlich die Stirn und sah Leonie fast bestürzt an. »Du siehst ja nicht gerade begeistert aus.«

»Nein, nein, es ist schon in Ordnung«, versicherte Leonie hastig. Sie versuchte sich zu einem Lächeln zu zwingen, aber sie spürte selbst, dass es kläglich misslang. »Ich war nur... überrascht.«

»Damit habt ihr nicht gerechnet?« Vaters Gesicht überzog sich wieder mit einem strahlenden Lächeln und trotz allem nahm Leonie dieses Lächeln voller Erleichterung zur Kenntnis. Es war lange her, dass sie ihren Vater so fröhlich gesehen hatte.

»Nein«, gestand Leonie. »Ich wusste gar nicht, dass es hier so etwas gibt.«

»Gab’s bis vor kurzem auch nicht.« Vater steuerte den einzigen freien Tisch an. »Sie haben erst vor einer knappen Woche aufgemacht.«

»Das meinte ich auch nicht«, sagte Leonie, während sie ihm folgte und Platz nahm. Auch der Stuhl, auf den sie sich setzte, hätte direkt aus dem frühen Mittelalter stammen können. Er war schwer, klobig und noch unbequemer, als er aussah. »Das ganze Viertel hier. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas in der Stadt gibt.«

»Es ist genauso neu wie der Burgkeller selbst.« Vater genoss sichtbar den verwirrten Blick, mit dem Leonie auf seine Worte reagierte, und er ließ sie noch einen Moment länger zappeln, indem er nach der Kellnerin winkte und ihr mit unmissverständlichen Gesten zu verstehen gab, dass sie die Speisekarte bringen sollte, bevor er weitersprach: »Ich meine, es ist natürlich nicht neu. Dieses ganze Viertel hier stammt tatsächlich aus dem zehnten oder elften Jahrhundert; so genau weiß das niemand mehr. Vor gar nicht langer Zeit war das hier allerdings eine Gegend, die man lieber verschwiegen hat. Die Häuser waren fast alle baufällig, Strom- und Wasserversorgung haben nicht richtig funktioniert...« Er machte eine vage Handbewegung, die bedeutete, dass er diese Aufzählung ohne Mühe noch eine gute halbe Stunde hätte fortführen können. »Das Übliche eben. Niemand wollte hier wohnen. Es gab sogar Pläne in der Stadtverwaltung, alles niederzureißen und hier ein neues Industriegebiet zu errichten.«

»Hier?«, wunderte sich Leonie. »Aber das ist doch bestimmt alles denkmalgeschützt.«

»Und wie«, bestätigte Vater, schüttelte aber zugleich auch den Kopf. »Aber so ist das nun mal: Wenn es um Geld geht, sind Dinge wie Denkmalschutz oder Geschichte plötzlich gar nicht mehr so wichtig. Die Städte sind pleite. Die Abrissgenehmigung war schon fast erteilt.«

Er unterbrach sich, als die Kellnerin kam und ihnen die Speisekarte brachte. Sie war ein junges Mädchen, wahrscheinlich nur zwei oder drei Jahre älter als Leonie selbst. Sie sah nett aus, aber irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Leonie konnte jedoch nicht sagen was.

»Guten Abend, Herr Kammer«, sagte sie freundlich. »Das Übliche?«

Ihr Vater nickte, und Leonie warf ihrer Mutter einen fragenden Blick zu, bekam aber nur ein hilfloses Achselzucken zur Antwort. Ganz offensichtlich war ihr Vater nicht zum ersten Mal hier.

»Und was ist passiert?«, fragte sie, nachdem ihre Mutter und sie ihre Getränkebestellung aufgegeben hatten und die Kellnerin wieder gegangen war.

»Rettung in letzter Sekunde, sozusagen«, antwortete ihr Vater. »Es hat sich ein Investor mit einer Idee gefunden.«

Leonie nahm die Speisekarte zur Hand und betrachtete sie neugierig. Das Angebot entsprach dem mittelalterlichen Ambiente - Wein, Braten und Gemüsesuppe, Brot und Käse, Kohl und Spanferkel, keine Kartoffeln oder Pommes frites, und schon gar kein neuzeitlicher Schnickschnack wie Pizza oder Hamburger.

Viel mehr als die angebotenen Speisen faszinierte Leonie jedoch die Speisekarte selbst. Im ersten Moment hielt sie sie für einen geschickt gemachten Computerausdruck, doch nachdem sie die Karte mit der ihrer Mutter verglichen hatte, stellte sie fest, dass sie tatsächlich handgeschrieben war. Die Preise waren übrigens in Talern ausgewiesen, nicht in Euro, und sie waren geradezu lächerlich niedrig.

»Und einer Menge Geld, nehme ich an«, vermutete Mutter.

»Du machst dir keine Vorstellung wie viel«, bestätigte Vater. »Aber er hat die Leute im Stadtrat überzeugt.«

»Dieses Lokal zu eröffnen?«

»Das ist erst der Anfang«, sagte Vater. »Dieses ganze Viertel wird nach und nach restauriert. Es werden historische Handwerksbetriebe angesiedelt und noch mehr Restaurants.« Er hob die Schultern. »Es wird eine Weile dauern und eine Menge Arbeit erfordern, aber wenn alles fertig ist, haben wir eine richtige historische Altstadt hier.«

»Und wozu?«, fragte Leonie.

»Tourismus«, antwortete ihr Vater. »Andere Städte bauen große Schwimmbäder oder quietschbunte Vergnügungsparks, unsere Stadt bekommt ein mittelalterliches Viertel.«

»Und das funktioniert?«, fragte Leonie zweifelnd.

»Und wie«, erwiderte ihr Vater. »Sieh dich doch hier nur um. Seit der Burgkeller eröffnet wurde, ist er jeden Tag ausgebucht. Man muss schon jetzt drei Wochen im Voraus einen Tisch bestellen, und die Interessenten, die die Handwerksbetriebe übernehmen wollen, stehen Schlange.«

»Du weißt eine Menge über das Projekt«, meinte Mutter.

»So ziemlich alles«, bestätigte ihr Mann mit einem geheimnisvollen Lächeln.

»Bei den Preisen hier müssten sie eigentlich längst pleite sein.« Leonie deutete auf die Speisekarte. »Das deckt ja nicht mal die Stromkosten.«

»Da täuschst du dich. Der Burgkeller ist in Wahrheit sogar recht teuer.« Vater griff in die Tasche und zog einen kleinen Lederbeutel hervor. Es klimperte hörbar, als er ihn an Leonie weiterreichte. »Die kann man oben beim Wirt kaufen. Und der Umrechnungskurs ist abenteuerlich, glaub mir.«

Leonie machte den Beutel auf und schüttete seinen Inhalt auf ihre Handfläche. Es handelte sich um mehrere goldene und eine Anzahl kleinerer kupferfarbener Münzen. Taler und Heller. Leonie nahm einen davon zur Hand und betrachtete ihn aufmerksam. Sie kannte sich mit alten Münzen nur oberflächlich aus, aber wenn dieser Taler eine Fälschung war, dann eine perfekte.

»Sie sind echt«, sagte ihr Vater, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Und entsprechend wertvoll.«

Leonie ließ die Münzen wieder in den Beutel prasseln und gab ihn fast ehrfürchtig an Vater zurück. »Du kennst dich ja wirklich gut mit dem Ganzen hier aus.«

»Das stimmt«, antwortete Vater lächelnd.

Die Kellnerin kam, um die bestellten Getränke zu bringen. Leonie war leicht verwirrt. Sie hatte eine Cola bestellt und ihre Mutter ein Mineralwasser, aber auf dem hölzernen Tablett standen drei klobige Silberbecher, in denen eine gelbliche Flüssigkeit perlte. Leonie schnupperte misstrauisch daran und sah ihren Vater dann überrascht an. »Champagner?«

»Es ist nicht ganz zeitgemäß, ich weiß«, sagte Vater, während er nach seinem Becher griff. »Aber heute machen wir einfach mal eine Ausnahme.«

»Haben wir denn einen Grund zum Feiern?«, erkundigte sich Mutter.

Vater lächelte geheimnisvoll, hob seinen Becher und prostete ihnen zu. Er wartete, bis auch Leonie und ihre Mutter an ihren Bechern genippt hatten, bevor er antwortete: »Ihr habt gerade gefragt, wieso ich mich so gut mit diesem Projekt auskenne. Ich weiß buchstäblich alles darüber. Es ist mein Projekt. Streng genommen unseres, aber ich habe es geplant und entwickelt.«

Leonie starrte ihren Vater aus großen Augen an. »Der Burgkeller gehört dir?«.

»Uns«, verbesserte sie ihr Vater. »Und nicht nur der Burgkeller. Das ganze Viertel.«

Mutter verschluckte sich an ihrem Champagner, begann zu husten und wurde kreidebleich. »Was?«, keuchte sie.

»Keine Sorge«, schmunzelte Vater. »Ich habe es praktisch geschenkt bekommen.«

»Aber... aber die ganze Arbeit«, murmelte Leonie. »Die Kosten für den Umbau und den Unterhalt und...«

»... sind astronomisch«, unterbrach sie ihr Vater, machte aber zugleich auch eine wegwerfende Handbewegung. »Aber das Projekt rechnet sich, keine Sorge. Und selbst wenn nicht, wird es uns nicht ruinieren. Aber keine Angst, es wird aufgehen.«

»Und trotzdem.« Mutter war noch immer blass. »Ein so großes Projekt. Ich meine: Du hättest mir wenigstens etwas sagen können.«

Vater Lächeln wurde um mehrere Grad kühler. »Seit wann interessierst du dich für geschäftliche Dinge?«

»Gar nicht«, gestand Mutter. »Aber bei einem so großen Vorhaben...« Sie schüttelte fast hilflos den Kopf. »Ich wusste nicht, dass wir so vermögend sind.«

»Siehst du?«, sagte Vater. »Das zeigt, wie wenig du dich in den letzten Jahren um das Geschäft gekümmert hast.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »He, Schluss jetzt. Wir wollen uns doch den schönen Abend nicht verderben lassen, oder? Ich dachte, ihr freut euch über diese Überraschung!«

»Na ja, sie ist dir auf jeden Fall gelungen«, antwortete Mutter. Sie versuchte sich zu einem Lächeln durchzuringen, aber man sah ihr an, dass sie am liebsten etwas ganz anderes gesagt hätte. Auch Leonie schwieg, wenn auch aus einem gänzlich anderen Grund: Sie interessierte sich noch viel weniger für Geschäfte als ihre Mutter, aber alles in ihr sträubte sich dagegen, zu glauben, was sie gerade gehört hatte. Ihr Vater war ein miserabler Geschäftsmann. Er hatte schon Mühe, seine Rechnungen an der Tankstelle zu bezahlen, ohne dabei übers Ohr gehauen zu werden.

Der Gedanke entglitt ihr und wieder blieb eine unangenehme Leere zurück, fast schon das Gefühl, um etwas Wichtiges betrogen worden zu sein.

»Also lasst uns feiern«, sagte Vater noch einmal. Die Worte klangen fast wie ein Befehl. »Sucht euch etwas zu essen aus. Die Speisen dauern hier eine Weile. Sie kochen noch auf die altmodische Art. So etwas wie einen Mikrowellenherd haben sie hier nicht.«

Leonie hatte den Wink verstanden und ihre Mutter offensichtlich auch, denn sie senkte genau wie Leonie fast hastig den Blick auf die Speisekarte.

Da ihr die Hälfte der Gerichte auf der Speisekarte sowieso nichts sagte und sie die Hälfte der verbliebenen Hälfte nicht einmal kurz vor dem Hungertod freiwillig gegessen hätte, fiel ihr die Auswahl nicht besonders schwer. Die Kellnerin kam, kaum dass Vater die Hand gehoben hatte, und Leonie nutzte die Gelegenheit, sich die junge Frau noch einmal und ein wenig aufmerksamer anzusehen.

An ihrem ersten Eindruck änderte sich nicht viel. Nur dass Leonie jetzt wusste, was sie schon vorher an dem eigentlich ziemlich hübschen Mädchen gestört hatte, ohne dass sie es da in Worte hätte kleiden können: Die Bedienung war allerhöchstens vier oder fünf Jahre älter als sie - und sie war ziemlich ungepflegt. Sie war nicht wirklich schmutzig, das wäre in einem Restaurant wie diesem einfach undenkbar gewesen und außerdem roch sie intensiv nach Seife, als sie dicht an Leonie vorbeiging, doch ihr Haar war strähnig und sie hatte eine sehr unsaubere Haut. Als sie etwas sagte, konnte Leonie sehen, dass sie trotz ihrer Jugend schon sehr schlechte Zähne hatte, und ihre Fingernägel waren pieksauber, sahen aber eher abgeknabbert als abgeschnitten aus. Zusammen mit dem aus grobem Baumwollstoff gewobenen Kleid und den schweren Holzsandalen hätte sie tatsächlich direkt aus dem frühen Mittelalter stammen können. Aber man konnte es mit der Authentizität auch übertreiben, fand Leonie.

Nachdem die Kellnerin gegangen war, wollte das Gespräch an ihrem Tisch nicht mehr so recht in Gang kommen. Ihr Vater stürzte seinen Champagner regelrecht hinunter und hob die Hand, woraufhin ihm die Kellnerin in Windeseile einen gewaltigen Krug Bier brachte - und auch das war ungewöhnlich, fand Leonie. Ihr Vater trank nur ganz selten Alkohol, und Bier schon gar nicht. Jedenfalls hatte sie das bis jetzt immer gedacht. Aber da er nichts zu ihr gesagt, sondern nur die Hand gehoben hatte, musste die Kellnerin wohl auch jetzt das Übliche gebracht haben. Die Situation wurde immer verwirrender und unbehaglicher.

Als das Schweigen zwischen ihnen einen Punkt erreicht hatte, der ihr das Gefühl gab, es einfach nicht mehr aushalten zu können, stand sie auf und ging zu einem der Bücherregale. Als sie vorhin heruntergekommen war, da hatte sie ganz automatisch angenommen, dass es sich um Nachbildungen alter Bücher handelte, vielleicht sogar nur um Attrappen, wie man sie manchmal in Möbelhäusern sah. Aber das Gegenteil war der Fall: Die Bücher waren echt. Sie sahen echt aus, sie fühlten sich echt an und sie hatten sogar den typischen und ganz und gar unverwechselbaren Geruch, den von allen Dingen auf der Welt nur alte Bücher hatten. Leonie nahm einen der schwarzen, schweren Bände aus dem Regal und schlug ihn fast ehrfürchtig auf. Das pergamenttrockene Papier raschelte, als sie die Seiten umschlug. Die Schrift darauf war so verblasst, dass sie sie bei der schwachen Beleuchtung kaum entziffern konnte, aber immerhin glaubte sie zu erkennen, dass es sich um eine Art Familienchronik handelte. Genau wie bei dem guten halben Dutzend anderer Bücher, das sie danach zur Hand nahm.

Das unangenehme Gefühl, angestarrt zu werden, ließ Leonie innehalten. Sie stellte den Band, in dem sie gerade gelesen hatte, ins Regal zurück und drehte sich um.

Sie wurde tatsächlich angestarrt. Mindestens fünf oder sechs Gäste an den umliegenden Tischen hatten ihre Mahlzeit unterbrochen und sahen sie an. Die meisten blickten hastig weg, als Leonie sich umdrehte, aber zwei oder drei hielten ihrem Blick stand, und in dem einen oder anderen Gesicht glaubte Leonie, eine unangemessene Neugier zu erkennen.

Doch vielleicht war das nur dem Umstand zuzuschreiben, dass sie so selbstverständlich in den Bücher herumkramte, die mit Sicherheit einen enormen Wert darstellten. Leonie verscheuchte den Gedanken, zuckte deutlich sichtbar mit den Schultern und ging zu ihrem Tisch zurück.

»Zufrieden?«, fragte ihr Vater, nachdem sie Platz genommen hatte.

Leonie hob abermals die Schultern. »Der Stoff reicht für mindestens ein Dutzend hundertteiliger Familiensagas im Fernsehen. Allerdings lässt die Auswahl ein wenig zu wünschen übrig.«

»Das war ein komplettes Archiv«, erwiderte Vater leichthin. »Ich konnte einfach nicht widerstehen. Und an einen Ort wie diesen passt es hervorragend, finde ich.« Er unterbrach sich und deutete mit einer Kopfbewegung zur Treppe. »Schluss jetzt, die Attraktion beginnt.«

»Attraktion?«, fragte Mutter.

»Selbstverständlich, oder glaubst du etwa, die gepfefferten Preise hier sind nur für das Essen? Ehrlich gesagt ist es nicht einmal besonders gut.«

Leonies Mutter wollte eine weitere Frage stellen, doch in diesem Moment begann auch schon das, was Vater gerade als die Attraktion bezeichnet hatte: Den Auftakt machte ein Leierspieler, der nicht nur ein originalgetreues mittelalterliches Kostüm trug und auf einem authentischen Instrument spielte, sondern auch genauso schief sang, wie Leonie es sich bei frühmittelalterlicher Unterhaltungsmusik vorgestellt hatte. Der Applaus, der aufkam, als sein Auftritt (Gott sei Dank) nach einer knappen Viertelstunde vorbei war, galt vermutlich seinem Kostüm und dem historischen Instrument, das er spielte, und nicht seinem Vortrag.

Es war jedoch noch nicht vorbei. Nachdem der Leierspieler gegangen war, kam ein ganzes Trüppchen bunt gekleideter Artisten und Gaukler herein, die in den ersten Minuten einfach wild durcheinander wirbelten und alle zugleich ihre Kunststücke aufführten: Eine nur spärlich bekleidete Tänzerin bot etwas dar, das die mittelalterliche Version eines orientalischen Bauchtanzes sein mochte, ein Junge, an dessen Kleidung zahllose winzige Glöckchen bimmelten machte Kopfstände und alle möglichen anderen Faxen, ein Jongleur warf brennende Fackeln bis zur Decke und fing sie geschickt wieder auf, und ein Messerwerfer ließ seine Klingen blitzen.

Leonie versuchte in den ersten Minuten vergeblich, so etwas wie eine Ordnung in dem Chaos zu entdecken, aber dann fiel ihr etwas auf, was sie deutlich mehr interessierte, als das bunte Treiben der Artisten und Faxenmacher.

Die Truppe hatte einen Gehilfen, der den Artisten zur Hand ging, fallen gelassene Fackeln und Messer aufhob oder ihnen andere Utensilien reichte - und einmal hastig die Rockschöße des Feuerspuckers löschte, als dieser ein wenig zu übereifrig war und sich selbst in Brand setzte. Leonie hielt ihn zunächst einfach für irgendeinen Jungen, denn er war noch ein gutes Stück kleiner als sie und sein Gesicht konnte sie nicht erkennen. Er trug so etwas wie eine schwarze Mönchskutte mit einer weit nach vorne gezogenen Kapuze. Aber je länger sie die Gestalt ansah, desto mehr beunruhigte sie irgendetwas an ihrer Erscheinung, und schon bald wurde ihr klar, was es war: Sie glich der Steinfigur vor der Kapelle, die ihr solche Angst gemacht hatte, auf frappierende Weise.

Nach einer Weile schien auch ihrem Vater aufzufallen, dass sie dem Jungen in der Mönchskutte deutlich mehr Aufmerksamkeit entgegenbrachte als der Darbietung der Artisten und Gaukler. »Ist irgendetwas?«, fragte er.

Leonie schüttelte den Kopf, aber es gelang ihr offenbar nicht, ihren Vater zu überzeugen, denn er sah den Kuttenträger in der Größe eines Kindes noch einen Moment lang aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen an, bevor er mit einem Ruck aufstand und zu ihm hineilte. Mit einer einzigen, wütenden Bewegung riss er die Kapuze nach hinten.

Was darunter zum Vorschein kam, war ein ganz normales, wenn auch schrecklich ausgemergeltes Kindergesicht. Der Junge war allerhöchstens zehn Jahre alt und sah aus, als stünde er kurz vor dem Verhungern. Er prallte mit einem Schrei zurück und riss schützend beide Hände vors Gesicht, und allein die Art, wie er es tat, deutete ohne jeden Zweifel darauf hin, dass er es gewohnt war, geschlagen zu werden.

Leonies Vater schlug ihn natürlich nicht. Er stand im Gegenteil plötzlich ziemlich verlegen da und sah regelrecht schuldbewusst aus, zumal nicht nur die Artisten erschrocken ihre Darbietung unterbrochen hatten, sondern auch die meisten Gäste stirnrunzelnd in seine Richtung blickten.

»Klaus, was soll denn das?«, fragte Leonies Mutter betroffen.

Vater ließ die Hand sinken, sah einen Moment lang noch schuldbewusster aus, fing sich dann aber sofort wieder. »Nichts. Es ist alles in Ordnung. Spielen Sie weiter.« Er machte eine auffordernde Geste zu den Gauklern hin, kam zurück und setzte sich wieder.

»Was sollte denn das?«, fragte Mutter noch einmal. »War dieser Auftritt wirklich nötig?«

»Das ist doch wohl ein Skandal, oder?« Vater redete gerade laut genug, um an den benachbarten Tischen verstanden zu werden, und deutete dabei auf den Jungen. Der hatte seine Kapuze wieder hochgeschlagen, blickte aber weiterhin ängstlich in ihre Richtung. »Ich habe fast so etwas vermutet, weißt du?«

»Was?«, fragte Mutter verständnislos.

»Der arme Junge ist halb verhungert«, antwortete Vater. »Und ich gehe jede Wette ein, dass er auch geschlagen wird. Ich werde dafür sorgen, dass das hier der letzte Auftritt dieser sauberen Truppe war.«

Leonie fragte sich, ob er diesen Unsinn wirklich ernst meinte. Er hatte nicht einmal Unrecht, was den Jungen betraf, aber das war ganz bestimmt nicht der Grund gewesen, warum er so jäh aufgesprungen war und dem Kleinen die Kapuze vom Kopf gerissen hatte. Sie hatte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht vergessen; er hatte etwas völlig anderes unter der Kapuze erwartet. Etwas wirklich vollkommen anderes.

Die Darbietung der Jongleure, Feuerschlucker und Tänzer ging weiter, aber sie hatte deutlich an Schwung verloren und schien das Publikum nicht mehr zu interessieren. Viele der Zuschauer starrten immer noch in ihre Richtung und sie sahen nicht einmal weg, als Vater ihre Blicke herausfordernd erwiderte.

Seltsam - ein paar von den Gesichtern kamen Leonie bekannt vor. Sie wusste nicht genau, wo sie sie einordnen sollte, aber sie hatte sie schon einmal gesehen, und das vor gar nicht allzu langer Zeit.

Die Kellnerin kam und brachte ihr Essen. Es roch deutlich besser, als Leonie nach den Worten ihres Vaters erwartet hatte, und es sah auch appetitlich aus. Die Speisen wurden auf großen Zinntellern serviert, die die Kellnerin geschickt vor ihnen auf dem Tisch platzierte. Als sie bei Leonie angekommen war, beugte sie sich leicht vor und fragte: »Ist alles in Ordnung, Meister Kammer?«

»Ja«, antwortete Vater, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Schick sie fort.« Er deutete auf die Gaukler. »Und nimm den Jungen mit in die Küche. Der Koch soll ihm so viel zu essen geben, wie er will.«

»Ganz, wie Ihr wünscht, Meister Kammer.«

»Meister Kammer?«, wiederholte Mutter, nachdem die junge Frau sich umgedreht hatte und mit schnellen Schritten in Richtung Tür verschwunden war.

»Das gehört zum Spiel«, erklärte Vater in leicht ärgerlichem Ton. »Hier ist eben alles so authentisch wie überhaupt nur möglich.«

Leonie beugte sich hastig über ihren Teller und begann zu essen. Die Mahlzeit schmeckte sonderbar, aber durchaus gut, doch sie war nicht in der Stimmung, sie entsprechend zu würdigen. Ihr Blick ging immer wieder zu dem Jungen in der Kutte hin. Er stand reglos da, ohne auf das Treiben um ihn herum zu achten, und starrte in ihre Richtung. Und Leonie konnte trotz der Kutte sehen, dass er am ganzen Leib zitterte.

»Tust du mir einen Gefallen?«, wandte sie sich an ihren Vater.

»Welchen?«

Leonie deutete auf die Schauspielertruppe. »Wirf sie nicht raus.«

»Wieso?« Vater ließ die plumpe dreizinkige Gabel sinken, die sie zum Essen bekommen hatten, und sah überrascht zu den Gauklern hin, ehe er sich wieder an Leonie wandte: »Und warum nicht? Du hast doch gesehen, wie sie den armen Jungen behandeln. Solche Leute haben es nicht besser verdient!«

»Wahrscheinlich würden sie ihre Wut nur an dem Jungen auslassen und alles würde noch schlimmer«, sagte Leonie.

Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Bist du sicher, dass dein Name Leonie ist und nicht Mutter Theresa?« Trotzdem hob er die Hand und winkte einen der Gaukler heran. Der Mann - es war der Feuerschlucker - unterbrach seine Darbietung und fuhr sich nervös mit dem Handrücken über den Mund, um die Reste der brennbaren Flüssigkeit wegzuwischen, die er für seine Vorführung brauchte.

»Meister Kammer?«, fragte er nervös. »Seid Ihr... ich meine: Gefällt Euch unsere Vorführung nicht?«

»Ihr könnt für heute aufhören«, erwiderte Vater, ohne damit die Frage des Feuerschluckers direkt zu beantworten. »Und ich werde euch in den nächsten Tagen genau im Auge behalten. Wenn der Junge nicht besser behandelt wird, dann werde ich euch entlassen. Hast du das verstanden?«

Der Mann wagte es nicht, laut zu antworten, sondern nickte nur abgehackt. Was Leonie in seinen Augen las, das war keine Angst mehr, sondern blanke Panik. Rückwärts gehend zog er sich zurück und wechselte einige hastige Worte mit den anderen, woraufhin die gesamte Truppe nahezu fluchtartig den Keller verließ.

»Bravo, mein Lieber, das nenne ich Menschenführung.« Hinter ihnen erscholl Händeklatschen. Leonie fuhr ebenso erschrocken wie ihr Vater herum und erblickte eine dunkelhaarige junge Frau, die neben ihrem Tisch aufgetaucht war. »Wo hast du das gelernt? In einem Managerseminar für Fortgeschrittene?«

»Theresa!«, entfuhr es Leonie überrascht. Die junge Frau blickte sie stirnrunzelnd an. »Kennen wir uns?«

Nein, sie kannten sich nicht. Dennoch wusste Leonie nicht nur ihren Namen. Was hatte Bruder Gutfried gesagt? Sie begann sich zu erinnern...

»Hören Sie auf, meine Tochter zu belästigen«, schnappte Vater. »Und ich verbitte mir diesen vertraulichen Ton.«

Theresa hob die Schultern. »Ganz, wie Sie wünschen, Herr Kammer.« Sie wandte sich mit einem traurigen Blick an Leonies Mutter. »Und du, Anna?«

»Was soll der Unsinn?«, herrschte Vater sie an. »Ich bin hier zu einem privaten Essen mit meiner Familie. Wieso belästigen Sie uns?«

»Du weißt, warum ich hier bin.« Theresa sah sich fast erschüttert um. »Großer Gott, was hast du nur getan?«

»Nichts, wofür ich mich rechtfertigen müsste«, antwortete Vater, »und schon gar nicht vor Ihnen.«

»Begreifst du eigentlich nicht, welchen Schaden du anrichtest?«, fragte Theresa. »Welchen Schaden du bereits angerichtet hast?«

»Ich habe niemanden geschädigt«, entgegnete Vater ruhig. »Und ich habe nichts getan, dessen ich mich schämen müsste. Bitte gehen Sie jetzt.« Er hob die Hand, um den Wirt herbeizuwinken, aber Theresa fuhr in einem fast verzweifelten Ton und an Leonies Mutter gewandt fort: »Anna! Ich weiß, du wolltest nie etwas mit uns zu tun haben. Aber sogar du solltest wissen, dass das hier falsch ist! Es war bestimmt nicht im Sinne deiner Mutter und es kann auch nicht in deinem sein! Großer Gott, sieh dich doch nur um! Das ist doch der schiere Wahnsinn!«

»Sie sollten jetzt wirklich besser gehen«, sagte Vater gepresst. »Es sei denn, Sie legen Wert darauf, in einem Polizeiwagen nach Hause gebracht zu werden.«

Theresa wollte sofort widersprechen, doch in diesem Moment tauchte der Wirt neben ihr auf und ergriff sie grob am Handgelenk. Theresa versuchte sich loszureißen, aber der Wirt, ein grobschlächtiger Hüne, packte nur noch fester zu und holte mit der anderen Hand aus, um sie zu schlagen.

»Halt!«, fuhr Vater scharf dazwischen. Der Arm des Wirtes erstarrte mitten in der Bewegung. Er wirkte beinahe enttäuscht.

»Lass sie los!«, befahl Vater.

Der Wirt ließ Theresa tatsächlich los und trat einen Schritt zurück, blieb dann aber wieder stehen und schien geradezu begierig auf einen Vorwand zu warten, erneut zuzupacken.

Leonies Vater warf ihm einen warnenden Blick zu, bevor er aufstand und sich wieder an Theresa wandte. »Wir wollen doch zivilisiert bleiben. Ich entschuldige mich für diesen groben Burschen, aber ich möchte Sie jetzt trotzdem bitten zu gehen. Wenn Sie mir noch irgendetwas zu sagen haben, wenden Sie sich bitte an meinen Rechtsanwalt. Die Adresse haben Sie ja.«

Theresa musterte abwechselnd ihn und den Wirt mit zornigen Blicken, während sie ihr Handgelenk massierte. Aber sie sagte nichts mehr, sondern wandte sich ruckartig ab und verließ im Sturmschritt den Keller.

»Was war denn das für ein Auftritt?«, fragte Leonie.

Vater sah Theresa nach, bis sie verschwunden war, und setzte sich dann wieder. Jetzt antwortete er, aber ohne Leonie dabei anzusehen. »Eine Verrückte.«

»Es klang aber so, als ob ihr euch kennt.«

»Das sind die Schlimmsten«, grollte Vater.

»Die schlimmsten was?«

»Fanatiker! Sie war früher einmal ganz vernünftig, aber dann hat sie sich diesen Irren angeschlossen. Irgendeiner Umweltschutzorganisation, die mit allen Mitteln dieses Projekt hier verhindern wollte. Sie meinen, wir zerstören die historische Realität, wenn wir das Viertel restaurieren um Touristen anzuziehen.«

»Was soll denn das sein: historische Realität?«, fragte Leonie.

»Das musst du schon diese durchgedrehte Walküre fragen«, antwortete Vater. »Und jetzt Schluss. Ich will nichts mehr davon hören! Lasst euer Essen nicht kalt werden und genießt wenigstens den Rest des Abends.«

Was natürlich völlig unmöglich war. Leonie stocherte ein paar Minuten lustlos in ihrem Essen herum, dann stand sie mit einer gemurmelten Entschuldigung auf und ging die Treppe hinauf nach oben. Sie fragte den Wirt nach dem Weg zur Toilette und bekam die Antwort, dass sie auf der anderen Seite des kleinen Innenhofes lag, den sie durch das große Fenster sehen konnte. Sie musste nicht wirklich dorthin, aber unten im Gewölbekeller hätte sie es einfach nicht mehr ausgehalten.

Selbst wenn sie in diesem Moment ein menschliches Bedürfnis verspürt hätte, hätte sie wahrscheinlich mit aller Macht versucht es zu unterdrücken, denn die umfangreichen Restaurierungsarbeiten, von denen ihr Vater gesprochen hatte, erstreckten sich ganz offensichtlich nicht auf die sanitären Anlagen. Es gab weder elektrisches Licht noch den Luxus eines Waschbeckens und die Toilette selbst bestand aus einem viereckigen Holzpodest, in das ein herzförmiges Loch geschnitten worden war. Wozu es diente, das verriet der Geruch, der daraus emporwehte, überdeutlich.

Leonie blieb einige Sekunden lang fassungslos stehen, betrachtete die groteske Konstruktion in dem schwachen Licht, das durch die offen stehende Tür von draußen hereinströmte und fragte sich, ob es sich bei diesem stillen Örtchen vielleicht um einen geschmacklosen Scherz handelte oder einen Gag, um dem Gebäude noch mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Vielleicht hatte sie auch einfach die falsche Tür genommen.

Sie trat wieder ins Freie und blickte sich unschlüssig auf dem kleinen, auf allen Seiten von Mauern umschlossenen Hof um. Viel gab es nicht zu sehen. Er war einfach ein gemauertes, vollkommen leeres Geviert, in dem es nur die Glasfront zum Restaurant und zwei grob gezimmerte Holztüren gab. Nach dem, was sie gerade hinter einer dieser Türen gefunden hatte, verspürte sie wenig Lust auf eine weitere Expedition in die Steinzeit.

Leonie wollte gerade weitergehen, als sie Stimmen hörte. Sie waren zu leise, um die Worte zu verstehen, aber sie klangen erregt, fast wie im Streit, und drangen hinter der zweiten Tür hervor. Leonie rang einen Moment mit sich, schließlich ging es sie absolut nichts an, was dort passierte - aber dann gewann ihre Neugier die Oberhand. Sie trat an die Tür, suchte nach einer Klinke und fand nur einen altmodischen Riegel, der allerdings nicht vorgelegt war. Leonies schlechtes Gewissen meldete sich noch einmal, als die Stimmen auf der anderen Seite lauter wurden und ihr Ton schärfer, denn es ging sie nun wirklich nichts an, was hinter dieser Tür geschah, dennoch zögerte sie nur noch eine halbe Sekunde, bevor sie eintrat.

Der Raum dahinter bot einen so unerwarteten Anblick, dass sie mitten im Schritt verharrte und ungläubig die Augen aufriss. Er war sehr groß, wirkte aber trotzdem beengt, weil die Decke so niedrig war, dass man kaum aufrecht darin stehen konnte. Die Wände bestanden aus unverputztem, grobem Mauerwerk, und es gab nur ein einziges, schmales Fenster, das aber kein Glas hatte, sondern im Grunde nur ein Loch in der Wand war. Im Augenblick war Leonie allerdings ganz froh darüber, denn ansonsten wäre sie möglicherweise erstickt. Licht und Wärme im Raum kamen von einer offenen Feuerstelle unmittelbar unter dem Fenster, durch das der Großteil des Rauchs abzog - aber eben nur der Großteil, nicht alles. Die Luft war zum Schneiden dick und stank so durchdringend nach Qualm und schwelendem, nassem Holz, dass sie nur mit Mühe ein Husten unterdrücken konnte.

Rings um dieses Feuer saß ein halbes Dutzend Gestalten. Leonies Augen füllten sich fast sofort mit Tränen, als ihr beißender Rauch ins Gesicht trieb, aber sie erkannte sie trotzdem als die Artistentruppe, die gerade unten im Burgkeller aufgetreten war. Als Leonie eingetreten war, hatten sie ihr Gespräch abrupt unterbrochen; jetzt stand einer von ihnen auf und kam ihr mit ausgreifenden Schritten entgegen.

»Was willst du hier?«, fuhr er sie an. »Du hast hier nichts...« Er stockte mitten im Satz und der brodelnde Zorn auf seinem Gesicht wandelte sich in Erschrecken. »Oh, Ihr seid es.« Er machte einen halben Schritt zurück und verbeugte sich leicht. »Verzeiht! Ich... ich habe Euch nicht gleich erkannt.«

»Erkannt?«, wiederholte Leonie verständnislos.

Der Mann - es war der, mit dem ihr Vater geredet hatte; Leonie nahm an, dass es sich wohl um den Anführer der Truppe handeln musste - hob unsicher den Kopf und maß sie mit einem langen, nicht sonderlich angenehmen Blick. Seine Augen wirkten verschlagen, fand Leonie, vielleicht hatte sie ihrem Vater ja Unrecht getan. Möglicherweise wusste er etwas über diese Leute, das ihr unbekannt war. »Ihr seid doch die Tochter von Meister Kammer, oder?«

Etwas warnte Leonie davor, anders als mit »Ja« zu antworten. Der Gedanke war zwar völlig absurd, aber sie hatte plötzlich das Gefühl, dass sie möglicherweise nicht mehr lebend hier herauskommen würde, wenn sie es tat. Überhaupt spürte sie erst in diesem Moment die Angst, die sich in ihr eingenistet hatte, seit sie hereingekommen war, und die mit jedem Atemzug stärker wurde. Sie nickte.

»Sagt Eurem Vater ruhig, dass alles in Ordnung ist«, fuhr der Feuerspucker fort. Er sprach so schnell, dass er sich beinahe verhaspelte, und seine Worte waren von einem hektischen Gestikulieren begleitet. »Wir besprechen gerade unsere neue Nummer. Wir werden besser, das versichere ich Euch!«

»Deswegen bin ich nicht hier«, sagte Leonie. Sie riss ihren Blick mühsam von der armseligen Gestalt los und betrachtete die anderen, die rings um das qualmende Feuer saßen. Vorhin, als sie sie im Burgkeller gesehen hatte, war sie durch ihre Darbietung und das bunte Treiben abgelenkt gewesen, aber nun entdeckte sie, dass sie sich äußerlich kaum von dem heruntergekommenen Feuerschlucker unterschieden.

Ihre Kleider waren schreiend bunt, bestanden im Grunde aber nur aus Fetzen, die an zahllosen Stellen geflickt waren und oft genug nicht einmal das. Sie alle hatten strähnige, ungepflegte Haare, schmutzige Fingernägel und schlechte Zähne, und anscheinend war der Junge in der Mönchskutte nicht der Einzige, der wusste, was das Wort Hunger bedeutete. Leonie verspürte ein eiskaltes Frösteln, als sie in die ausgezehrten Gesichter blickte, und dann noch einmal, als sie den Ausdruck in ihren Augen gewahrte. Was sie im ersten Moment für Zorn, ja vielleicht sogar für Hass gehalten hatte, das erkannte sie jetzt zweifelsfrei als Angst. Und zwar ebenso zweifelsfrei als Angst vor ihr.

»Maus bekommt das beste Essen, mein Wort darauf, edles Fräulein«, versicherte der Feuerspucker.

»Maus?«, wiederholte Leonie.

»Der Junge.« Der Feuerspucker deutete mit einer fahrigen Handbewegung auf den Jungen in der schwarzen Kutte.

»Sein Name ist... Maus!«, vergewisserte sich Leonie. Der leicht schrille Unterton in ihrer Stimme mochte für den Feuerschlucker wie Unglauben klingen, aber in Wahrheit war es etwas, das an Entsetzen grenzte.

»Er... war klein wie eine Maus, als er auf die Welt kam. So richtig gewachsen ist er seither auch nicht«, erklärte der Feuerspucker hastig. »Aber das wird sich ändern. Ganz bestimmt. Ihr könnt Euch überzeugen. Hier, seht selbst!« Er griff nach Leonies Arm und zog sie mit sich zum Feuer. Leonie versuchte instinktiv sich loszureißen, aber der kleinwüchsige Mann erwies sich als überraschend stark. Sein Griff war jedoch nicht nur fest, sondern auch sehr unangenehm. Er hatte schweißige Hände, die Leonie das Gefühl gaben, von etwas Unreinem berührt zu werden.

»Hier, überzeugt Euch selbst, edles Fräulein!« Der Feuerschlucker deutete mit der freien Hand auf einen schwarzen gusseisernen Topf, der an einem Dreibein über dem Feuer hing. Als Leonie sich darüber beugte, stieg ihr ein abstoßender Geruch in die Nase. Sie erkannte erst auf den zweiten Blick, dass es sich um eine dünne, unappetitliche Gemüsesuppe handelte, in der ein paar faserige Fleischstücke schwammen.

»Ihr seht selbst, edles Fräulein!«

Leonie blickte widerwillig auf den zerbeulten Blechteller, den der Junge auf dem Schoß hatte. Darin schwappte dieselbe dünne Suppe, die sich in den Tellern der anderen Gaukler befand, aber es waren deutlich mehr Fleischstücke darin, und auch das Stück Brot, das Maus in seiner schmutzigen linken Hand trug, war mindestens doppelt so groß wie das der anderen. Es dauerte einen Moment, bis Leonie begriff, was diese Beobachtung bedeutete.

»Ihr esst selbst weniger, damit mehr für ihn übrig bleibt?«, fragte sie ungläubig.

»Es war der Wunsch Eures Vaters, dass er das beste, reichhaltigste Essen bekommt, edles Fräulein. Und...«

»Schluss!«, sagte Leonie gereizt. Sie riss endlich ihre Hand los und drehte sich mit einem Ruck zu dem Feuerschlucker um. Der Zorn in ihren Augen loderte so heiß, dass der Mann instinktiv einen Schritt vor ihr zurückwich. »Hören Sie mit diesem blödsinnigen edles Fräulein auf!«, fuhr sie ihn an. »Wollen Sie mir sagen, dass dieser... dieser Dreck alles ist, was ihr zu essen bekommt?«

»Es ist gutes Essen«, antwortete der Feuerschlucker verwirrt.

»Aber ihr arbeitet doch für meinen Vater, nicht wahr? Wollen Sie behaupten, dass er Sie in diesem Loch wohnen lässt und Ihnen Abfälle zu essen gibt?«

Die Antwort bestand nur aus einem weiteren verwirrten Blick. Anscheinend verstand der Mann gar nicht, wovon sie sprach.

»Wieso gehen Sie nicht in die Küche und lassen sich dort etwas zu essen geben?«

»Die Küche?« Der Blick des Mannes wurde geradezu hilflos. »Aber wie wäre das denn möglich, edles Frau...« Er verbesserte sich hastig. »Wie sollte das denn gehen? Die Küche ist nur für Gäste und hohe Herrschaften da. Einfaches fahrendes Volk wie wir hat dort nichts zu suchen.«

Leonie kochte innerlich vor Zorn, aber sie war selbst nicht ganz sicher, wem dieser Zorn eigentlich galt. »Tun Sie mir einen Gefallen und hören Sie mit diesem pseudomittelalterlichen Gequatsche auf«, sagte sie wütend. »Die Show findet drüben im Burgkeller statt, nicht hier. Und jetzt nehmen Sie Ihre Familie und gehen Sie in die Küche, damit Sie etwas Vernünftiges zu essen bekommen. Ich rede mit dem Wirt, und wenn es sein muss, mit meinem Vater.«

Der Anflug von Angst in den Augen ihres Gegenübers wurde größer, nicht kleiner. Er begann sich zu winden. »Das... das ist äußerst großzügig von Euch«, sagte er. »Aber es wäre nicht gut. Bitte glaubt mir, wir sind sehr zufrieden mit unserer Unterkunft und auch das Essen ist für Leute wie uns durchaus angemessen. Wir werden uns gewiss nicht beschweren. Und Euer Vater wird keinen Grund mehr haben, unzufrieden mit uns zu sein!«

Leonie starrte ihn noch einen Atemzug lang an, hin- und hergerissen zwischen Fassungslosigkeit und heller Wut, aber dann drehte sie sich mit einem Ruck um und ging.

»Ihr habt doch allesamt einen Sprung in der Schüssel!«, fauchte sie, während sie die Tür hinter sich zuwarf.

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