Die Schule der Buchhändler

Sie musste wohl eingeschlafen sein, denn ihr nächster bewusster Eindruck war der wenig sanfte Ruck, mit dem der Zug zum Stehen kam, und ein leises, aber so schrilles metallisches Quietschen, dass es in den Ohren schmerzte. Noch absurder war die Assoziation, die dieses Geräusch in ihr wachrief: Das Erste, woran sie dachte, war die Klinge eines Schwertes, die an einer eisernen Rüstung abprallte und dabei Funken schlug, und das dumpfe an- und abschwellende Murmeln und Raunen, das von draußen hereindrang, wurde in ihren Ohren zum Getöse einer apokalyptischen Schlacht, die irgendwo nicht weit entfernt von ihr tobte. Und so bizarr und völlig verrückt diese Gedanken auch waren, machten sie ihr für einen Moment doch solche Angst, dass ihr Herz wie wild zu klopfen begann.

Dann öffnete sie die Augen und die Wirklichkeit hatte sie wieder. Das Quietschen war nichts weiter als das Geräusch der eisernen Laufräder des Zuges, die auf den Schienen zum Stehen kamen, und das Murmeln und Raunen wurde wieder zu der normalen Geräuschkulisse eines großen Bahnhofes, in den der ICE eingefahren war. Leonie blinzelte ein paarmal, um sich vollends aus ihrem verrückten Albtraum zu lösen, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und zwang sich dann ganz bewusst, ein paar Sekunden lang konzentriert aus dem Fenster des Abteils zu sehen. Draußen bewegte sich tatsächlich eine große Menschenmenge scheinbar ziellos hin und her, aber das Chaos, das sie beobachtete, gehörte nicht zu einer apokalyptischen Schlacht, sondern zum normalen mittäglichen Verkehr auf einem Bahnhof. Eine Lautsprecherstimme verriet ihr, dass es sich um den Hauptbahnhof in Frankfurt handelte, und Leonie schrak heftig zusammen, eine gute Sekunde, bevor auch ihr Erinnerungsvermögen weit genug erwacht war, um ihr den Grund für dieses Erschrecken zu nennen: Auf der Fahrkarte, die Hendrik ihr in die Hand gedrückt hatte, stand Frankfurt. Sie war am Ziel.

Hastig sprang sie auf und streckte die Hand nach oben, um im gleichen Moment noch einmal und weit heftiger zu erschrecken. Ihr Gepäck war nicht mehr da. Das schmale Fach über den gegenüberliegenden Sitzen war leer.

Gute zwei oder drei Sekunden lang stand Leonie einfach da und starrte das leere Gepäckfach verständnislos an, während die Erkenntnis dessen, was dieser Anblick bedeutete, nur langsam in ihr Bewusstsein sickerte. Jemand hatte ihr Gepäck gestohlen! Das war die einzige Erklärung. Sie war eingeschlafen (was erstaunlich genug war, normalerweise schlief sie nie während einer Reise) und irgendjemand war hereingekommen und hatte die Gelegenheit genutzt, um ihren Koffer mitgehen zu lassen.

Die Abteiltür ging auf und Leonie fuhr auf dem Absatz herum und sagte noch in der Bewegung: »Mein Gepäck ist...«

»... schon draußen auf dem Bahnsteig«, führte der Schaffner den Satz für sie zu Ende. Sein rundliches Gesicht verzog sich zu einem gutmütig-verständnisvollen Lächeln. »Ich war vor zehn Minuten schon einmal hier um dir Bescheid zu sagen. Aber du hast so friedlich geschlafen, dass ich dich nicht wecken wollte. Ich habe dein Gepäck schon nach draußen bringen lassen.« Er machte eine Handbewegung auf den Bahnsteig hinter dem Fenster. »Jetzt solltest du dich aber allmählich beeilen. Wir haben nur fünf Minuten Aufenthalt. Und der nächste Stopp ist erst kurz vor Köln.«

»Geschlafen?«, wiederholte Leonie verstört. Natürlich hatte sie geschlafen. Das, woran sie sich zu erinnern glaubte, konnte nur ein Albtraum sein, aber es fiel ihr immer noch schwer, zu akzeptieren, dass ihre Fantasie in der Lage sein sollte, ihr einen derart üblen Streich zu spielen.

»Ja, ich...«

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich der Schaffner. Er lächelte weiter, aber sowohl in seiner Stimme als auch in seinem Blick war plötzlich ein deutlicher Anteil von Sorge.

»Sicher«, sagte Leonie hastig. »Es ist alles in Ordnung. Ich... hatte einen blöden Traum, das ist alles.«

»Verstehe.« Der Schaffner nickte. »Ich habe oft Albträume. Mein Arzt meint, es liegt an meinem unregelmäßigen Lebenswandel: die ständig wechselnden Schichten, zu wenig Schlaf und falsche Ernährung...« Er hob die Schultern, sah Leonie eine halbe Sekunde lang verwirrt an und rettete sich dann in ein verlegenes Lächeln. »Aber was rede ich. Das interessiert dich bestimmt nicht. Deine Sachen sind jedenfalls schon draußen und wir haben jetzt nur noch drei Minuten Aufenthalt. Außerdem glaube ich, dass dich jemand erwartet.«

»Mich?«, fragte Leonie verwirrt. Wer sollte auf sie warten?

Diesmal antwortete der Schaffner nur mit einem Achselzucken, um dann demonstrativ zurückzutreten und eine auffordernde Geste zu machen. Leonie warf noch einen letzten verwirrten Blick auf das leere Gepäckfach über sich, dann trat sie an dem Schaffner vorbei und wandte sich nach links, dem Ausgang zu, hielt dann aber noch einmal an und drehte sich mit einer fast erschrockenen Bewegung herum. Ihre Hände glitten über ihre Hosen- und Jackentaschen, während sie mit einem raschen Schritt bereits wieder ins Abteil zurücktrat.

»Was suchst du?«, fragte der Schaffner. »Hast du etwas verloren?«

»Mein Handy«, antwortete Leonie. Sie war vollkommen sicher, das Telefon, das Vater ihr gegeben hatte, in die rechte Jackentasche geschoben zu haben. Aber sie war leer. Ebenso wie die linke und ihre Hosentaschen.

»Dein Handy?«, wiederholte der Schaffner. »Hast du damit telefoniert?«

»Nein. Ich habe ein Spiel gespielt - glaube ich. Aber dann...« Leonie schüttelte hilflos den Kopf. Sie wusste nicht mehr, wo sie das Gerät hingelegt hatte. Noch vor fünf Sekunden hätte sie geschworen, es wieder eingesteckt zu haben, aber nun war es fort. Rasch ließ sie sich auf die Knie sinken und blickte unter die Sitze, stand dann wieder auf und fuhr mit den Fingern über die Polster und in die Ritze zwischen Rückenlehne und Sitz. Der Schaffner tat auf der anderen Seite des Abteils dasselbe, aber unglückseligerweise auch mit dem gleichen Ergebnis wie sie: Das Handy war nicht mehr da.

»Als ich vorhin hier war, habe ich kein Handy gesehen«, sagte er. Er klang beunruhigt, fast alarmiert, was Leonie im ersten Moment nicht verstehen konnte. »Bist du ganz sicher, dass...«

»Nein«, antwortete Leonie. Das war nicht die Wahrheit. Sie war ganz sicher, dass sie das Telefon noch gehabt hatte, bevor sie eingeschlafen war, aber sie verstand plötzlich den fast panischen Ausdruck in seiner Stimme. Auch wenn sie nicht ganz nachvollziehen konnte warum, fühlte er sich doch offensichtlich für sie verantwortlich, und der Umstand, dass man sie möglicherweise bestohlen hatte, während sie nichts ahnend in ihrem Abteil saß und schlief, machte ihm zu schaffen. Leonie auch, denn mit jedem Atemzug verstärkte sich in ihr das Gefühl, dass es mit dem Verschwinden dieses Telefons etwas ganz Besonderes auf sich hatte, aber sie war auch ebenso sicher, dass der Schaffner davon nichts wusste. Er war einfach nur ein netter Mann, der sich um sie sorgte. »Vielleicht habe ich es doch in den Koffer getan«, meinte sie, wobei sie versuchte möglichst überzeugend ein entschuldigendes Lächeln zu schauspielern. Dem Gesichtsausdruck ihres Gegenübers nach zu schließen gelang ihr das nicht besonders gut.

»Bist du sicher, dass...?«

»Es ist nur ein Handy«, unterbrach ihn Leonie. »Es wird schon wieder auftauchen. Und wenn nicht, geht die Welt auch nicht unter.« Sie hob demonstrativ den linken Arm und sah auf die Uhr. »Jetzt sollte ich mich aber beeilen. Köln soll ja eine schöne Stadt sein, doch leider habe ich hier eine Verabredung.«

Der Schaffner sah sie noch eine Sekunde lang unschlüssig an, aber dann machte sich so etwas wie vorsichtige Erleichterung auf seinem Gesicht breit und er wiederholte seine einladende Geste auf den Gang hinaus. Diesmal folgte ihr Leonie sofort und nur wenige Sekunden später verließ sie den Zug und trat auf einen der zahlreichen Bahnsteige des Frankfurter Hauptbahnhofs hinaus.

Ihr Gepäck war tatsächlich schon rausgebracht worden, und neben ihren vier Koffern und den beiden schier aus allen Nähten platzenden Reisetaschen (seltsam, sie konnte sich gar nicht erinnern, so viel mitgenommen zu haben) stand ein dunkelhaariger Mann in einem grauen Anzug, der ein postkartengroßes Foto in der Hand hielt, auf das er ab und zu hinabsah, um seinen Blick dann wieder suchend über die Reisenden schweifen zu lassen, die aus dem Zug stiegen. Als er Leonie bemerkte, hob er die andere Hand und winkte ihr zu. Leonie ging schneller. Sie hatte den Mann noch nie gesehen, aber irgendetwas sagte ihr, dass er vermutlich für Hendrik arbeitete, den Bodyguard, den Vater für sie engagiert hatte. Seine ersten Worte bestätigten ihre Vermutung.

»Du bist Leonie?«, fragte er und streckte ihr die Hand entgegen. Leonie griff danach und nickte gleichzeitig und der Fremde fuhr mit einem knappen, aber sehr ehrlich wirkenden Lächeln fort: »Mein Name ist Frank. Du kennst mich noch nicht, aber dein Vater hat mich geschickt um dich abzuholen.«

»Sie arbeiten für Hendrik?«, erkundigte sich Leonie. Sie blickte weiter leicht irritiert auf den Berg von Gepäck, der neben Frank auf dem Bahnsteig aufgestapelt war und ihm fast bis zur Hüfte reichte. Sie hätte schwören können, allerhöchstens einen Koffer und eine Tasche mitgenommen zu haben.

Frank nickte, dann folgte er ihrem Blick und schien ihre Gedanken wohl zu erraten, denn er ließ die Fotografie in der Jackentasche verschwinden und machte dann eine wedelnde Geste mit der frei gewordenen Hand. »Die meisten Koffer waren hinten im Gepäckabteil. Ich habe sie schon heute Morgen zum Bahnhof gebracht, während du noch geschlafen hast - ich darf doch du sagen, oder?«

Leonie nickte, sah Frank aber weiterhin fragend und jetzt fast noch verwirrter an. Ihr Vater hatte nichts davon gesagt, dass sie jemand am Bahnhof abholen würde, sondern ihr ganz im Gegenteil noch den Zettel mit der Adresse und der Telefonnummer mitgegeben, bei der sie sich melden sollte, sobald sie in Frankfurt angekommen war. Sie stellte diese Frage laut.

»Ja, das stimmt«, antwortete Frank. »Dein Vater hat seine Pläne wohl kurzfristig geändert.« Ein leicht schiefes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. »Nicht dass ich mich beschweren will, aber ich bin wie der Teufel gefahren, um rechtzeitig am Bahnhof zu sein. Es wäre deutlich einfacher gewesen, dich gleich mit dem Wagen herzubringen.«

»Und warum?«

Frank hob die Schultern und wandte sich in der gleichen Bewegung ab, um einen Gepäckwagen zu holen, der in ein paar Schritten Entfernung stand. »Ich habe nicht selbst mit ihm gesprochen«, antwortete er. »Hendrik hat mich angerufen. Ich soll dich in die Schule bringen und mich dann telefonisch melden, sobald du gut angekommen bist.«

»Schule?«

Frank kehrte mit dem Gepäckwagen zurück und hob die schweren Koffer sichtlich ohne die geringste Anstrengung hinauf. »Wie gesagt: Ich bin nur der Chauffeur. Aber wir können deinen Vater anrufen, wenn du möchtest.« Er zog ein flaches Handy aus der Jackentasche, das er ihr hinhielt. Leonie rührte jedoch keinen Finger um danach zu greifen, sondern starrte es nur verdutzt - und auch ein bisschen beunruhigt - an. Das Gerät ähnelte so sehr dem, das ihr Vater ihr vor der Abreise gegeben und das sie verloren hatte, dass sie sich für einen Moment allen Ernstes fragte, ob es dasselbe sei. Was natürlich vollkommen unmöglich war, denn das hätte ja nicht nur bedeutet, dass Frank mit im Zug gewesen war, sondern auch, dass er in ihr Abteil geschlichen und es ihr gestohlen hatte, während sie schlief. Sie zögerte noch einen kurzen Moment, aber dann schüttelte sie den Kopf und trat demonstrativ einen halben Schritt zurück.

»Vielleicht später«, sagte sie.

Frank steckte den Apparat mit einem Achselzucken wieder ein und lud das restliche Gepäck auf das Wägelchen, dann machte er eine auffordernde Kopfbewegung zum Ende des Bahnsteigs hin. »Wenn wir uns jetzt vielleicht beeilen könnten? Ich stehe direkt unter dem Halteverbotsschild, weißt du?«

Das entsprach der Wahrheit, aber was er nicht gesagt hatte, war, dass sich dieses Halteverbotsschild ganz am anderen Ende des Parkplatzes befand, nahezu fünf Minuten vom Haupteingang entfernt. Und all seine Hast war auch vergebens: Als sie ankamen, klemmte bereits eine kleine Plastiktüte mit einem Protokoll und dem schon vorbereiteten Zahlschein unter dem Scheibenwischer. Frank murmelte irgendetwas Unfreundliches, steckte die Tüte ein und öffnete die Beifahrertür, bevor er den Gepäckwagen nach hinten zum Kofferraum schob. Leonie zögerte jedoch einzusteigen. Der Wagen, zu dem Frank sie geführt hatte, war ein schwarzer Jaguar, ein flaches Geschoss auf vier Rädern, dessen Motor immer noch leise knackte und knisterte, was seine Behauptung zu unterstreichen schien, er wäre wie der Teufel gerast um pünktlich anzukommen.

Sie fuhren auf die Autobahn und verließen Frankfurt in nördlicher Richtung, und nachdem sie durch mehrere kleinere Ortschaften gefahren waren, hatten sie ihr Ziel erreicht. Der Gebäudekomplex lag an einer schmalen, steil bergauf führenden Straße und war hinter einer knapp zwei Meter hohen, weiß getünchten Mauer verborgen, in der ein großes schmiedeeisernes Tor prangte. Gleich dahinter gab es einen kleinen Parkplatz, der mehr als zur Hälfte leer war. Frank ignorierte ihn und fuhr weiter. Vor ihnen lag ein gutes halbes Dutzend ebenfalls weißer Gebäude, deren Architektur verriet, dass sie irgendwann aus den Sechziger- oder frühen Siebzigerjahren stammen mussten: Zur Linken erhob sich ein lang gestreckter, anderthalbgeschossiger Bau mit zahlreichen Türen, dafür nur sehr wenigen Fenstern, die übrigen Häuser waren typische Schulgebäude, mit Ausnahme eines einzeln stehenden viereckigen Blocks, durch dessen großzügige Glaswand hindurch man erkennen konnte, dass es sich um eine Bibliothek handelte. Frank fuhr auch daran vorbei und hielt vor dem letzten Gebäude in der langen Doppelreihe. Dahinter konnte Leonie einen kleinen Park erkennen, in dem es einen Sportplatz zu geben schien.

»Endstation«, sagte Frank fröhlich. Er stieg aus, rannte nahezu um den Wagen herum und riss die Beifahrertür auf, noch bevor Leonie auch nur Gelegenheit hatte, die Hand nach dem Türgriff auszustrecken. Sie fragte sich, ob es übertriebene Höflichkeit war oder er vielleicht einen gänzlich anderen Grund für diese Hast hatte. Aber was sollte dieser Grund sein?

Sie erwartete, dass ihr Chauffeur nun das Gepäck aus dem Kofferraum und von der Rückbank holen würde, aber er schüttelte auf ihren fragenden Blick hin nur den Kopf und deutete auf den Eingang des zweigeschossigen Gebäudes, vor dem sie angehalten hatten. »Ich hole deine Sachen später«, sagte er. »Jetzt gehen wir erst einmal zu Frau Bender.«

»Wer ist das?«, erkundigte sich Leonie.

Frank wirkte ein bisschen irritiert. »Ich dachte, dein Vater hätte dir alles erklärt«, antwortete er. Dann deutete er ein Achselzucken an, als wäre er für sich zu der Erkenntnis gelangt, dass ihn das nichts anginge. »Soviel ich weiß, ist das die Schulleiterin - jedenfalls ist sie diejenige, die sich um dich kümmern wird.«

Um dich kümmern... allein diese Formulierung ließ Leonies Laune schon wieder ein gutes Stück sinken. Natürlich war ihr klar, dass Frank nichts dafür konnte - er führte nur seine Befehle aus -, aber was bildete sich ihr Vater eigentlich ein? Die Zeiten, in denen sie ein kleines Mädchen gewesen war, das man an die Hand nehmen und vorsichtig durchs Leben führen musste, waren weiß Gott schon lange vorbei!

Sie betraten das Gebäude, dessen Innenarchitektur Leonie endgültig davon überzeugte, in einer Schule aus den Siebzigern zu sein, und ihr fiel erneut auf, wie still es hier war. Sie war als Erste eingetreten, aber nun blieb sie stehen und wartete, bis Frank an ihr vorbeiging und die nach oben führende Treppe ansteuerte. Er kannte sich offensichtlich hier aus, denn er ging ohne zu zögern ins zweite Stockwerk hinauf und bog dann nach links in einen langen, weiß gestrichenen Korridor, der keine Fenster hatte, sodass selbst zu dieser Tageszeit die Neonbeleuchtung unter der Decke brannte. Rechts und links zweigten zahlreiche dunkelgrau gestrichene Türen ab, und Leonie überkam ein seltsames Gefühl von Déjà-vu, während sie zwei Schritte hinter ihrem Bodyguard herging. Sie war noch niemals hier gewesen, nicht einmal in einem Gebäude, das diesem auch nur ähnelte, und trotzdem hatte sie das unheimliche Gefühl, dass diese Umgebung sie an irgendetwas erinnerte. Es war kein gutes Gefühl und es war auch keine gute Erinnerung. Aber sosehr sie ihr Gedächtnis anstrengte, sie kam nicht darauf.

Frank blieb am Ende des Korridors stehen, wartete, bis sie wieder zu ihm aufgeholt hatte, und klopfte dann an eine Tür. Ohne auf eine Antwort zu warten drückte er die Klinke herunter und trat ein.

Der Raum dahinter war eine Überraschung. Leonie hatte genau das erwartet, was das Äußere des Gebäudes und der lange Korridor zu suggerieren schienen: ein kahles Büro mit einfachen Kunststoffmöbeln und Schränken voller Aktenordner. Aber der Raum, in den sie nun traten, war behaglich eingerichtet und viel größer, als sie gedacht hätte. Hinter einem Schreibtisch vor einem großen Fenster an der Südseite saß eine junge Frau mit schwarzem, schulterlangem glattem Haar, die ein einfaches, aber sehr geschmackvolles Kostüm in fröhlichen Farben trug und bei ihrem Eintreten schon halb aufgestanden war. Plötzlich aber hielt sie mitten in der Bewegung inne. Sie hatte zuerst in Franks Richtung geblickt und leicht die Stirn gerunzelt, vielleicht weil er einfach hereingekommen war, ohne nach seinem Anklopfen auf die Bitte zum Eintreten zu warten, doch als sie Leonie sah, erschien ein Ausdruck in ihren Augen, der auch Leonie erstarren ließ.

»Theresa...?«

Die junge Frau blinzelte verwirrt, dann überwand sie ihre Überraschung, führte ihre Bewegung zu Ende und kam mit schnellen Schritten um ihren Schreibtisch herum. »Das ist richtig«, sagte sie. »Mein Name ist Theresa Bender. Und du musst... Leonie sein?« Sie fuhr ganz leicht zusammen und sah Frank ein wenig schuldbewusst an. »Verzeihung. Sie sind...?«

»Nennen Sie mich Frank«, antwortete er lächelnd. »Ich habe Leonie vom Bahnhof hierher gebracht. Herr Kammer hat Sie angerufen?«

»Ja, das hat er. Ich habe nur...« Die junge Frau schüttelte erneut den Kopf und sah für einen Augenblick so verwirrt und hilflos aus, dass sie Leonie regelrecht Leid tat. Dann sah sie auf die Armbanduhr und schrak noch einmal und heftiger zusammen. »Um Gottes willen - es ist ja schon so spät. Wo war ich nur mit meinen Gedanken?«

»Das macht überhaupt nichts«, sagte Frank. »Jetzt sind wir ja da.« Er deutete auf Leonie. »Warum machen Sie sich nicht näher miteinander bekannt und ich bringe indessen Leonies Gepäck in ihr Zimmer? Es ist doch alles dabei geblieben?«

Theresa Bender nickte. »Ja. Gleich das erste Zimmer unten neben dem Eingang.«

Frank entfernte sich, und Leonie sah ihm stirnrunzelnd nach, ehe sie sich mit einer betont langsamen Bewegung wieder zur Schulleiterin umwandte. »Woher weiß er, wo mein Zimmer ist?«, fragte sie.

»Er war letzte Woche schon einmal hier und hat sich alles zeigen lassen«, antwortete die Schulleiterin, während sie mit der kleinen silberfarbenen Nadel spielte, die an einer dünnen Kette um ihren Hals hing. »Ich habe nicht selbst mit ihm gesprochen, aber meine Assistentin hat ihm die Schule und dein Zimmer gezeigt.«

»Letzte Woche?«, vergewisserte sich Leonie. Aber wie konnte das sein? Ihr Vater hatte ihr doch erst an diesem Morgen gesagt, dass sie die Stadt verlassen sollte - aus Sicherheitsgründen und nur zur Vorsicht, wie er behauptete. Irgendetwas stimmte hier nicht.

»Du bist also Leonie«, begann Theresa. »Dein Vater hat mir eine Menge über dich erzählt.«

»Wie schön«, erwiderte Leonie spröde. »Mir dafür umso weniger über Sie - und diese ganze Schule.«

Sie sah, wie ihr Gegenüber ganz leicht zusammenfuhr, und begriff, dass ihr Ton unangemessen scharf gewesen war, was ihr mehr Leid tat, als sie sich im ersten Moment selbst erklären konnte. Und der Anblick der jungen Frau verwirrte sie auch mit jedem Augenblick mehr. Sie war niemals hier gewesen und hatte auch die dunkelhaarige Frau noch nie zuvor gesehen, dennoch kam sie ihr auf fast unheimliche Weise bekannt vor. Nein, bekannt war das falsche Wort. Vertraut.

»Er hat dir gar nichts erzählt?«, vergewisserte sich die Schulleiterin.

»Ich bin... ein bisschen überhastet aufgebrochen«, antwortete Leonie. Sie hatte etwas ganz anderes sagen wollen. Noch vor ein paar Sekunden hatte sie sich vorgenommen, ganz bewusst verletzend und aufsässig zu sein. Ihr Vater hatte sie nicht nur gegen ihren Willen hierher abgeschoben, er hatte sie - viel schlimmer noch - belogen, denn ihr Aufenthalt in dieser Was-auch-immer hatte ganz offensichtlich nichts mit dem Überfall vom vergangenen Abend zu tun, sondern war von langer Hand vorbereitet worden.

Möglicherweise - nein: wahrscheinlich - war diese Theresa daran ebenso schuldlos wie sie und auch nur jemand, den ihr Vater für seine Zwecke benutzte, aber das war ihr zumindest im Moment vollkommen egal. Und doch gelang es ihr nicht, wirklichen Zorn auf Theresa zu empfinden. Da war irgendetwas, was diese Fremde beinahe zu einer Freundin zu machen schien, das Gefühl, etwas Gemeinsames erlebt (vor allem überlebt) zu haben, und so absurd dieses Gefühl auch sein mochte, es war einfach zu stark um es zu ignorieren. Und umgekehrt schien es Theresa Bender ähnlich zu gehen. Sie gab sich alle Mühe, möglichst gefasst auszusehen, aber das wollte ihr nicht wirklich gelingen.

»Irgendetwas ist seltsam«, sagte Leonie plötzlich. »Ich habe das Gefühl, wir kennen uns.«

Theresa nickte. »Ja. Mir geht es genauso«, antwortete sie in nachdenklichem, fast erschrockenem Ton. Dann hob sie die Schultern und rettete sich in ein verlegenes Lächeln. »Vielleicht habe ich dich tatsächlich schon einmal gesehen.«

»Ich wüsste nicht wo.«

»Jetzt unterschätzt du dich aber, Leonie«, antwortete Theresa. »Genauer gesagt deinen Vater. Immerhin ist er ein sehr berühmter Mann.« Sie hob erneut die Schultern. »Wahrscheinlich habe ich dein Bild in der Zeitung gesehen oder auch im Fernsehen. Ich vermute, bei euch gehen die Journalisten nur so ein und aus.«

Leonie sah sie völlig verdattert an. Journalisten? Ihr Vater ein berühmter Mann? Ihr Vater war... der vermutlich erfolgreichste Schriftsteller der letzten dreißig Jahre, zumindest in diesem Land. Seine letzten acht Bücher hatten ausnahmslos wochenlang an der Spitze der Bestsellerlisten gestanden, und es verging kein Jahr, in dem Hollywood nicht mindestens einen seiner Romane mit gewaltigem Aufwand verfilmte. Es war nicht so, dass Journalisten und Fotografen sich bei ihnen die Klinke in die Hand gaben, denn ihr Vater legte Wert darauf, sein Privatleben möglichst zu schützen, aber selbstverständlich gab es immer wieder einmal Gelegenheiten, bei denen sie einem Reporter begegnete oder sich plötzlich vor einer laufenden Fernsehkamera wiederfand. Wie hatte sie das vergessen können?

»Na ja, die Reise war wohl ziemlich anstrengend«, sagte Theresa. Sie schien Leonie anzusehen, mit welcher Verwirrung sie ihre Worte erfüllt hatten. »Ich finde es zwar schade, dass dein Vater dir nichts über uns erzählt hat, aber das können wir ja jetzt nachholen.«

»Gute Idee«, murmelte Leonie. Zugleich hatte sie Mühe, sich überhaupt auf Theresas Worte zu konzentrieren. Ihre Gedanken drehten sich wild im Kreis. Es war doch nicht möglich, dass sie etwas so Wichtiges einfach vergaß. Und wenn sie das schon vergessen hatte, woher wollte sie dann wissen, dass ihr Vater nicht schon vor längerer Zeit mit ihr über diese Schule gesprochen hatte?

»Dann ist das hier so etwas wie ein... Internat?«, fragte sie, eigentlich nur um überhaupt etwas zu sagen.

Frau Bender schüttelte den Kopf. »Nicht direkt. Viele unserer Schüler und Schülerinnen wohnen tatsächlich hier, aber es ist nicht Bedingung. Und die meisten bleiben auch nur ein halbes Jahr. Dein Vater hat mir erzählt, dass du nach dem Abitur erst einmal eine Buchhändlerlehre machen möchtest, um das Geschäft von der Pike auf zu lernen, sozusagen.«

Leonie konnte sich nicht erinnern, so etwas Verrücktes auch nur gedacht zu haben, geschweige denn gesagt. Aber sie schwieg und die Schulleiterin fuhr fort: »Was wir anbieten, ist so etwas wie ein Crashkurs - wenn du das neumodische Wort entschuldigst. Nach sechs Monaten hier bist du durchaus in der Lage, eigenständig eine Buchhandlung zu leiten. Deine Eltern hatten früher eine Buchhandlung, habe ich Recht?«

»Bis zum... Tod meiner Großmutter, ja«, antwortete Leonie stockend. Ein dünner, aber sehr tiefer Schmerz bohrte sich in ihre Brust, und obwohl es nun schon so viele Jahre her war, musste sie für eine Sekunde dennoch mit aller Kraft gegen die Tränen ankämpfen. Sie war noch ein Kind gewesen, als ihre Großmutter und kurz danach zuerst ihr kleiner Bruder und dann ihre Mutter gestorben waren, und dennoch erinnerte sie sich an jene schreckliche Zeit so deutlich, als läge sie erst wenige Tage zurück und nicht Jahre. Auch Frau Benders Stirn umwölkte sich für einen Moment, auch wenn sie nun wirklich nicht wissen konnte, woran Leonie in diesem Moment dachte, und es war regelrecht zu spüren, wie sich die Stimmung änderte.

»Du hast sie sehr gemocht, wie?«, fragte sie plötzlich.

Es war seltsam: Wenn schon nicht die Frage an sich, so stand der Schulleiterin doch der vertrauliche Ton, in dem sie sie stellte, ganz und gar nicht zu. Und dennoch empfand Leonie in diesem Moment nichts als ein Gefühl tiefer, bedingungsloser Freundschaft. Sie musste an sich halten, um nicht auf die junge Frau zuzutreten und sie in die Arme zu schließen. »Ja«, sagte sie leise. »Sie hat mir sehr viel bedeutet.« Wieder spürte sie, wie ihr heiße Tränen in die Augen schießen wollten. Mit aller Macht kämpfte sie sie zurück und zwang sich mit beinahe noch größerer Anstrengung, das Thema zu wechseln. »Aber Sie irren sich. Wir haben die Buchhandlung noch.«

»Das wundert mich«, sagte die Schulleiterin. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mann wie dein Vater noch Zeit dafür hat.«

»Hat er auch nicht«, antwortete Leonie mit einem etwas verkrampften Lächeln. »Wir haben zwei Angestellte, die sich darum kümmern. Es lohnt sich nicht wirklich. Mein Vater gibt es nicht zu, aber ich glaube, dass es ein reines Zuschussgeschäft ist.«

»Und er führt sie trotzdem weiter?«

»Sie hat meiner Mutter sehr viel bedeutet«, erklärte Leonie. Aber das war vielleicht das Verrückteste von allem: Von ihrer Großmutter zu sprechen hatte sie fast an den Rand ihrer Beherrschung gebracht. Wenn sie an ihre Mutter dachte, empfand sie allenfalls ein Gefühl sachter Trauer und eine Art stillen Zorn, der nicht ihrer Mutter, sondern dem Schicksal galt, das aus unerfindlichen Gründen beschlossen hatte, sie ihr so früh wegzunehmen. »Ich kann mich nicht selbst daran erinnern, aber Vater hat ein paarmal erzählt, wie sehr sie daran gehangen hat. Sie hat sie auch dann noch weitergeführt, als mein Vater längst erfolgreich war und sie das Geld nicht mehr brauchten.«

»Und jetzt möchte er, dass du sie übernimmst, wenn es so weit ist«, vermutete Frau Bender.

Leonie hob nur die Schultern. Also gut, irgendetwas war mit ihrem Gedächtnis nicht in Ordnung, und es war keineswegs so, dass diese Vorstellung sie nicht beunruhigte. Aber trotz der verrückten Gefühle, die sie hatte, war diese Frau letzten Endes eine Wildfremde für sie und würde es auch bleiben, denn Leonie hatte nicht vor, lange hier zu verweilen, und es gab Dinge, die waren zu persönlich, um sie mit einer Fremden zu teilen.

»Es kann auf jeden Fall nicht schaden«, fuhr die Schulleiterin fort. »Selbst wenn du nur ein paar Wochen bleibst, lernst du bestimmt eine Menge interessanter Dinge, und wer weiß, vielleicht findest du ja hier die eine oder andere Freundin.« Sie blinzelte ihr zu. »Komm, ich zeige dir dein Zimmer. Und danach führe ich dich ein bisschen herum. Heute ist Sonntag, deswegen ist fast niemand hier, aber ab morgen früh wird es richtig hektisch. Wenn es also irgendetwas gibt, was du wissen möchtest, dann fragst du mich besser heute danach.«

Es gab eine Menge Dinge, die Leonie wissen wollte, aber sie stand der falschen Person gegenüber, um diese Fragen zu stellen. Dazu kam, dass Frau Bender sie mehr und mehr verwirrte. Das unheimliche Gefühl, ihr nicht nur schon mal begegnet zu sein, sondern sie durch und durch zu kennen, wurde mit jedem Augenblick stärker statt schwächer. Und auch wenn sie es nicht wagte, eine entsprechende Frage zu stellen, so spürte sie doch, dass es der jungen Frau umgekehrt ganz ähnlich erging. Sie hatte das Selbstbewusstsein und die professionelle Höflichkeit aller Menschen, die eine Position wie die ihre innehatten, aber unter dieser scheinbaren Gelassenheit spürte Leonie doch, wie nervös und unsicher sie war.

Sie verließen das Büro und gingen den Weg zurück, den Leonie vorhin mit Frank gekommen war. Der Jaguar stand nicht mehr vor der Tür, sondern parkte mit offen stehender Kofferraumklappe vor einem der anderen Gebäude, und gerade als Leonie und ihre Begleiterin sich ihm näherten, trat Frank heraus, um den letzten Koffer zu holen. Obwohl schwer beladen, ließ er es sich nicht nehmen, ihnen die Tür aufzuhalten.

Frau Bender ging vor - Leonie zwang sich mit einiger Anstrengung, sie auch in Gedanken nicht Theresa zu nennen. Davon abgesehen dass es ihr möglicherweise wieder laut herausrutschen könnte, was peinlich gewesen wäre, hätte sie sich irgendwann die Frage stellen müssen, woher sie den Vornamen der jungen Frau gekannt hatte, bevor Frau Bender sich vorgestellt hatte. Und irgendetwas sagte ihr, dass ihr die Antwort auf diese Frage gar nicht gefallen würde.

Die Schulleiterin führte sie in ein kleines, aber behaglich eingerichtetes Zimmer, das nun endgültig wie ein Schülerzimmer in einem etwas altmodischen Internat aussah. Es gab ein doppelstöckiges Bett, einen Schreibtisch und einen überraschend großen Kleiderschrank, und das einzige Zugeständnis an das Jahrhundert, in dem sie lebten, hing an der Wand neben der Tür: einer jener übergroßen Flachbildschirme, wie sie in den letzten Jahren überall Einzug gehalten hatten.

Der Schreibtisch war leer bis auf einen großen Monitor und eine drahtlose Tastatur, und auf dem großen Bücherregal, das den Rest der vorhandenen Wandfläche einnahm, stand nur eine einsame CD-Box.

»Ich dachte, das hier ist eine Buchhändlerschule«, rutschte es Leonie heraus.

Frau Bender hob die Schultern und lächelte flüchtig; es wirkte ein bisschen schuldbewusst. »Wir haben auch das eine oder andere richtige Buch hier«, sagte sie spöttisch. »Das Zimmer steht seit einer Weile leer. Normalerweise bringen die Schüler ihre eigenen Bücher mit, aber du kannst dir auch in der Bibliothek ausleihen, was immer du willst. Das hier«, sie machte eine Kopfbewegung auf den Computer, »ist Lehrmaterial. Du bist online mit unserem Hauptrechner verbunden. Du kannst dir jedes Buch auf den Bildschirm holen oder auch im Internet surfen.« Sie lächelte. »Ich werde in der Öffentlichkeit leugnen, so etwas jemals gesagt zu haben, aber manchmal ist das wirklich praktischer als stundenlang in verstaubten Bibliotheken nach etwas zu suchen, was man dann doch nicht findet.«

Leonie erwiderte nichts darauf - was hätte sie auch sagen sollen? Selbst ihr Vater, der schließlich vom Schreiben altmodischer Bücher lebte, recherchierte zumeist im Internet und ging nie ohne mindestens einen Laptop aus dem Haus, meistens sogar mit mehreren.

»Wohne ich allein hier?«, fragte Leonie mit einer Geste auf das Etagenbett.

»Im Moment ja«, antwortete die Schulleiterin. »Wir sind nicht voll belegt. Außerdem hat dein Vater darum gebeten, dir ein eigenes Zimmer zu geben.«

»Und der Tochter eines so berühmten Mannes wird auch schon mal eine Extrawurst gebraten, wie?«, fragte Leonie spitz.

Frau Bender hob nur die Schultern. »Sagen wir: Die großzügige Spende, die dein Vater uns hat zukommen lassen, hat nicht unbedingt geschadet.« Sie lachte. »Aber keine Angst, du wirst bestimmt nicht über Langeweile klagen. Lass dich nicht von dem täuschen, was du jetzt hier siehst. Es gibt Tage, da wünsche ich mir regelrecht nur halb so viele Schüler und Schülerinnen zu haben.«

»Und außerdem bist du auch nicht ganz allein«, fügte Frank hinzu, der in diesem Moment mit dem großen Koffer beladen hereinkam, den er mit einem dumpfen Knall neben dem Schrank abstellte. »Mein Zimmer ist gleich nebenan. Wenn irgendwas ist, brauchst du nur gegen die Wand zu klopfen oder zu rufen. Ich bin in einer Sekunde hier.«

Leonie wusste nicht, wer verwirrter dreinblickte: sie oder die Schulleiterin. Theresa starrte den Bodyguard einen Moment lang verständnislos an, dann drehte sie sich um und warf Leonie einen fragenden Blick zu, aber Leonie konnte nur hilflos mit den Achseln zucken. Sie war davon ausgegangen, dass Frank sie bloß hierher bringen und dann wieder zurück nach Hause fahren würde.

»Was soll das heißen?«, fragte die Schulleiterin schließlich. Sie klang nicht sehr begeistert.

»Das heißt, dass ich hier bleibe um auf Leonie aufzupassen«, antwortete Frank. »Hat man Ihnen das nicht gesagt?«

Frau Bender schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Und ich wäre auch niemals damit einverstanden gewesen. Das hier ist ein Internat, kein Hotel. Sie können nicht einfach...«

»Ich kann und ich werde«, unterbrach sie Frank, freundlich, aber auch in sehr bestimmtem Ton. Er hob die Hand, als die Schulleiterin widersprechen wollte. »Herr Kammer hat mir genaue Anweisungen gegeben. Es ist alles mit Ihrem Vorgesetzten abgesprochen. Ich werde hier bleiben und ein Auge auf Leonie werfen. Aber keine Sorge: Ich kann sehr diskret sein, wenn es sein muss. Ich werde Ihren Schulbetrieb bestimmt nicht durcheinander bringen.«

»Darum geht es doch gar nicht«, antwortete Frau Bender scharf. »Was soll das bedeuten? Wir brauchen hier keine Anstandsdame!«

»Das ist er auch nicht«, sagte Leonie. »Frank ist mein Leibwächter. Oder Bodyguard, wie man das heute nennt.«

»Leibwächter?« Theresas Augen wurden groß und ihr Gesicht verlor ein bisschen an Farbe. »Das bedeutet doch nicht etwa, dass...«

»Es gibt keinen Grund, besorgt zu sein«, unterbrach sie Frank. Er warf Leonie einen raschen, fast beschwörenden Blick zu, den Theresa bemerken musste, wenn sie nicht blind war, und er brachte zugleich auch das Kunststück fertig, ein beruhigendes Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, das durch und durch überzeugend wirkte. »Es ist eine reine Routinemaßnahme. Einer von uns begleitet Leonie ständig, müssen Sie wissen.«

»Wieso?«, fragte Frau Bender misstrauisch.

»Muss ich Ihnen wirklich erklären, was Leonie alles passieren kann?«, erwiderte Frank. »Leonie ist ein hübsches Mädchen und ihr Vater ist nicht nur berühmt, sondern auch ziemlich wohlhabend. Da könnte der eine oder andere schon mal auf eine dumme Idee kommen.«

»Ist denn schon mal jemand auf eine dumme Idee gekommen?«, wollte Theresa wissen.

»Nein«, versicherte Frank. »Wie gesagt: Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Und es ist alles mit Ihrem Vorgesetzten abgestimmt. Sie können gerne anrufen und sich überzeugen, wenn Sie das möchten.«

»Worauf Sie sich verlassen können.« Theresa fuhr auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Zimmer.

»Das hätten Sie mir, verdammt noch mal, sagen müssen!«, fuhr Leonie Frank an, kaum dass sie allein waren. Sie wechselte ganz bewusst zum förmlichen Sie, und Frank schien die Absicht dahinter auch zu begreifen, denn er fuhr leicht zusammen und in seiner Stimme war ein schuldbewusster Klang, als er antwortete.

»Ich dachte, dein Vater hätte das schon getan. Aber es besteht wirklich kein Grund zur Sorge.«

»Nein«, schnappte Leonie. »Deswegen sind Sie ja auch hier, nicht wahr?« Sie schnitt Frank mit einer wütenden Handbewegung das Wort ab, als er antworten wollte. »Was ist wirklich passiert? Wovor hat mein Vater solche Angst, dass er mich hierher ans Ende der Welt schickt?«

»Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme«, beharrte Frank. Er hob die Schultern. »Ich weiß selbst nichts Genaues. Ein Mitglied der Bande, die euch gestern Abend überfallen hat, ist anscheinend entkommen.«

»Meister Bernhard?«, meinte Leonie erschrocken.

Frank schüttelte den Kopf. »Nein. Ein Junge, soviel ich weiß.«

Ungläubig starrte Leonie ihn an. Maus? Laut und in übertrieben ungläubigem Ton fragte sie: »Der Junge? Soll das ein Witz sein? Der Knirps war doch höchstens zehn! Was soll der mir denn antun?«

»Darum geht es nicht«, erwiderte Frank. Er begann sich zu winden und Leonie sah ihm deutlich an, wie unangenehm ihm das Gespräch mittlerweile geworden war. »Solange die Behörden die Geschichte nicht vollends aufgeklärt haben, ist Vorsicht geboten. Immerhin könnte es sein, dass die Bande noch mehr Mitglieder hat. Die Polizei arbeitet auf Hochtouren. Ich bin sicher, sie werden den Fall in ein paar Tagen restlos aufgeklärt haben. Und falls es dir dann hier wirklich nicht gefällt, hat dein Vater bestimmt nichts dagegen, wenn du nach Hause kommst.«

Etwas sagte Leonie, dass dem nicht so war und dass ihr Vater sie nicht wegen des Überfalls gestern Abend weggeschickt hatte. Das hätte er sowieso getan und die Heimsuchung durch Bernhard und seine Bande war nur ein willkommener Vorwand gewesen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Es hatte nicht nur mit Frank und diesem Internat zu tun, nicht nur mit dem Überfall und der Schulleiterin, die ihr auf so unheimliche Weise vertraut schien, sondern mit ihr und ihrem ganzen Leben.

Aber sie konnte einfach nicht sagen was.

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