Zug in die Hölle

Auf dem Weg zum Bahnhof hatte Leonie kurz mit dem Gedanken gespielt, Hendrik gewissermaßen den Rest zu geben, indem sie ihn zwang, mit ihr in den ICE zu steigen. Er war fast vor Angst gestorben, als sie mit dem Taxi durch den Berufsverkehr zum Bahnhof gefahren waren - und sie hatten niemals mehr als fünfunddreißig oder höchstens vierzig Stundenkilometer erreicht.

Natürlich tat sie es am Ende doch nicht. Schon immer war es Leonie verhasst gewesen, ihre Launen an Unschuldigen oder Unbeteiligten auszulassen, und außerdem begann ihr Hendrik bereits wieder Leid zu tun, während sie sich dem ICE auch nur näherten. Er beherrschte sich meisterhaft, aber das Flackern in seinen Augen verriet Leonie dennoch, dass ihn allein der Anblick des weiß-rot gestreiften Monstrums mit etwas erfüllte, das verdächtig an Todesangst erinnerte. Als er ihr in den Zug folgte, um die Koffer in ihr Abteil zu bringen, wurde er sichtbar langsamer und ging erst weiter, als er sich des aufmerksamen Blicks von Leonie bewusst wurde.

Das Erste-Klasse-Abteil war noch leer, aber über jedem der sechs Sitze leuchtete das Display mit der roten Anzeige Reserviert. Hendrik verstaute ihre Koffer auf der Gepäckablage (sie nahmen fast den gesamten Platz ein; die Leute, die nach ihr kamen, würden sich freuen, dachte Leonie), während sie selbst auf ihrem Fahrschein nachsah, welcher Platz für sie reserviert war, und sich setzte.

»Wäre das alles?«, fragte Hendrik nervös.

Leonie nickte. Der Zug würde erst in gut zehn Minuten abfahren, aber sie sah ihm an, dass er in jeder Sekunde innerlich tausend Tode starb. Sie schämte sich des Gefühls der Schadenfreude mittlerweile beinahe, das sie gerade empfunden hatte.

»Sie können ruhig gehen«, sagte sie. »Mir wird schon nichts passieren. Und ich bin sicher, dass Sie noch eine Menge zu tun haben.«

Es gelang Hendrik nicht ganz, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Ich wünsche dir eine gute Reise. Und denk dran: Wenn du in Gefahr gerätst oder dir auch nur irgendetwas komisch vorkommt, dann drück die Eins auf deinem...« Er suchte nach Worten.

»Apparat«, half Leonie aus und Hendrik nickte dankbar. Dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort ab und verschwand. Leonie drehte sich im Sitz um und versuchte, ihn irgendwo draußen auf dem Bahnsteig zu entdecken, aber er schien eine andere Richtung genommen zu haben; vielleicht hatte ihn auch die Menschenmenge verschluckt, bevor ihr Blick ihn erfassen konnte.

Bis zur Abfahrt des Zuges verbrachte Leonie die Zeit damit, das Treiben auf dem Bahnsteig zu beobachten, und kaum hatte sich der ICE in Bewegung gesetzt, da ging auch schon die Abteiltür auf und der Schaffner trat ein, um ihren Fahrschein zu kontrollieren. Nachdem er ihn mit einer in der futuristischen Atmosphäre des Zuges geradezu antiquiert anmutenden Zange entwertet hatte, hob er noch einmal den Kopf und ließ seinen Blick demonstrativ über die anderen Sitzen und das Display mit der Anzeige Reserviert schweifen.

»Ich sitze auf dem richtigen Platz«, sagte Leonie. »Ich habe reserviert - hier.« Sie wedelte mit ihrer Fahrkarte, aber der Schaffner beachtete sie nicht einmal.

»Ja, so könnte man es sagen«, antwortete er. »Aber genau genommen sind alle Plätze reserviert.«

»Ich verstehe kein Wort«, erwiderte Leonie. »Mein Vater hat die Fahrkarte für mich gekauft.«

»Hat er nicht«, antwortete der Schaffner, korrigierte sich aber dann sofort wieder: »Oder doch, genau genommen hat er alle Fahrkarten für dieses Abteil gekauft.«

»Wie bitte?«, ächzte Leonie.

»Er wollte wohl, dass du unterwegs deine Ruhe hast«, vermutete der Schaffner. »Na ja, das geht mich nichts an. Ich kontrolliere jetzt die anderen Abteile. Soll ich dir auf dem Rückweg aus dem Speisewagen etwas mitbringen? Ein Getränk vielleicht?«

Leonie lehnte dankend ab und der Schaffner hob enttäuscht die Schultern und ging. Leonie blieb völlig verwirrt zurück. Ihr Vater hatte gleich das ganze Abteil für sie reservieren lassen, nur damit sie ihre Ruhe hatte? Was sollte denn dieser Unsinn nun wieder? Ihr Vater war zwar niemand, der sich seines Wohlstandes schämte, aber so damit herumzuprotzen hatte auch noch nie zu seinen Eigenarten gehört. Leonie fand auf diese Frage ebenso wenig eine Antwort wie auf so viele andere, die sie sich in den letzten Tagen gestellt hatte. Schließlich schüttelte sie den Gedanken ab, zuckte demonstrativ mit den Schultern, obwohl sie allein im Abteil war, und wandte sich wieder dem Fenster zu. Obwohl der ICE erst vor wenigen Minuten losgefahren war, hatte er die Stadt bereits hinter sich gelassen und eine beachtliche Geschwindigkeit erreicht - und er wurde immer noch schneller.

Leonie verbrachte die nächsten fünfzehn oder zwanzig Minuten damit, die Landschaft zu betrachten, die mit mehr als zweihundert Stundenkilometern am Fenster vorbeiflog, aber schließlich wurde sie des Anblicks überdrüssig und ließ sich in ihren Sitz zurücksinken.

Ihr wurde schmerzhaft bewusst, dass sie vergessen hatte, sich etwas zu lesen mitzunehmen; wenn man bedachte, dass es in ihrem Haus - ohne die angeschlossene Buchhandlung - gut und gerne fünftausend Bücher geben musste, ein geradezu absurdes Versäumnis. Und ein ärgerliches noch dazu: Immerhin lag eine mehrstündige Bahnfahrt vor ihr. Sie würde sich zu Tode langweilen.

Ihr fiel etwas ein. Sie hatte ja das Handy, das ihr Vater ihr mitgegeben hatte, und garantiert gab es darauf auch ein paar Spiele. Leonie hatte sich nie sonderlich für Computerspiele begeistern können, aber immer noch besser als darauf zu warten, dass ihr vor lauter Langeweile die Decke des Abteils auf den Kopf fiel. Sie zog das Gerät aus der Tasche, schaltete es ein und wählte das erstbeste Spiel, das das winzige Display ihr anbot.

Obwohl Leonie das alberne Spiel, bei dem es darum ging, eine Schlange durch ein kleines Labyrinth zu steuern, die nicht nur mit jedem Stück des Weges länger, sondern auch immer schneller wurde, nicht besonders interessierte, hatte sie das Gefühl, dass sie ganz gut darin war. Als der Miniatur-Bildschirm einfach keinen Platz mehr bot, ihre Schlange darauf zu bewegen, wählte Leonie das nächste Spiel. Sie meisterte es mit noch größerer Bravour als das erste und wählte ein drittes Spiel an. Irgendwann ging die Tür auf, und Leonie sagte, ohne von ihrem Telefon aufzublicken: »Entschuldigung, aber die Plätze hier sind alle reserviert.«

»Ich weiß«, sagte eine Frauenstimme. »Aber ich will auch nicht lange bleiben.«

Leonie sah so erschrocken hoch, dass sie um ein Haar das Telefon fallen gelassen hätte. »Theresa?«

»Ich will nur mit dir sprechen«, sagte die junge Frau. »Glaub mir, ich will dir nichts tun. Aber ich muss dringend mit dir reden!« Sie trat ein ohne abzuwarten, ob Leonie sie hereinbitten würde, zog die Tür hinter sich zu und nahm ebenso unaufgefordert ihr gegenüber Platz.

»Na, wenn Sie so höflich bitten, kann ich ja wohl kaum noch nein sagen, wie?«, meinte Leonie. Das Handy stieß ein helles Piepen aus und auf dem Display erschien der Schriftzug Game over. Leonie setzte dazu an, das Gerät auszuschalten, überlegte es sich dann aber noch einmal und ließ den Daumen wie zufällig über den Zifferntasten schweben. Was hatte Hendrik gesagt? Du musst nur die Eins wählen und ich bin da? Leonie hoffte, dass sie dieses Versprechen nicht auf die Probe stellen musste, aber sie war durchaus bereit dazu, es zu tun.

»Sie?« Theresa lächelte unglücklich. »Bei einer anderen Gelegenheit waren wir schon beim du angelangt.«

»Das muss gewesen sein, bevor Sie mich belogen haben«, sagte Leonie kühl. Im allerersten Moment war sie überrascht, dass sich Theresa daran erinnerte, aber dann fiel ihr wieder ein, dass ja auch sie über die Gabe verfugte. Zumindest in diesem Punkt also schien Theresa die Wahrheit gesagt zu haben.

»Es tut mir Leid«, antwortete Theresa traurig. »Ich wollte dir nie etwas Böses, glaub mir. Und auch deinen Eltern nicht.«

»Dann nehme ich an, Sie haben sich mit Meister Bernhard nur über das Wetter unterhalten?«, fragte Leonie. Der jähe Schrecken in Theresas Augen machte ihr klar, dass ihr nicht bewusst gewesen war, von Leonie bei diesen Gespräch beobachtet worden zu sein. Leonie genoss den Moment, so lange sie konnte, dann fuhr sie in sprödem Ton fort: »War das bevor oder nachdem Sie ihm den Auftrag gegeben haben, uns alle umzubringen?«

Theresas Blick wurde schuldbewusst. »Es tut mir unendlich Leid, Leonie«, sagte sie. »Es war ein unverzeihlicher Fehler, ich weiß. Ich habe mich in diesem Mann schrecklich getäuscht. Er hatte den Auftrag, das Buch zurückzubringen, das war alles. Deinen Eltern und vor allem dir selbst sollte kein Haar gekrümmt werden, das schwöre ich.«

Seltsam - aber Leonie brachte es einfach nicht fertig, ihr nicht zu glauben, ganz egal wie sehr sie es auch versuchte. Trotzdem fuhr sie in noch schärferem Ton fort: »Ich glaube Ihnen kein Wort. Wozu sollte das gut sein? Sie haben es selbst gesagt: Niemand kann etwas mit dem Buch anfangen. Sie nicht, Ihre... Freunde nicht, ich nicht. Solange meine Eltern am Leben sind, heißt das. Wenn ihnen allerdings etwas zustoßen sollte...« Sie hob die Schultern. »Ein kleiner Unfall, bei dem auch ich ums Leben komme, und dann taucht ein uraltes Testament meiner Großmutter auf, das Sie als ihre Erbin einsetzt.«

»Das kannst du doch nicht wirklich glauben«, entgegnete Theresa entsetzt.

Das tat Leonie auch gar nicht. Sie kam sich ziemlich mies vor, Theresa überhaupt mit diesem ungeheuerlichen Vorwurf konfrontiert zu haben, aber sie schluckte die Entschuldigung, die ihr auf der Zunge lag, hinunter und sah Theresa nur weiter herausfordernd an.

»Alles, was wir wollten, war, deinem Vater das Buch wegzunehmen«, erklärte Theresa schließlich. »Er hat schon so entsetzlich viel Schaden angerichtet und er wird noch unendlich mehr Schaden anrichten, wenn ihn niemand aufhält.«

»Komisch«, sagte Leonie böse. »Das hat Bruder Gutfried auch gesagt. Gehört er ebenfalls zu euch? Ich dachte, nur Frauen hätten die Gabe.«

»Wer?«, fragte Theresa.

»Bruder Gutfried«, wiederholte Leonie. »Doktor Fröhlich, Professor Wohlgemut - wie immer Sie ihn nennen wollen.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, entgegnete Theresa, »und wir haben auch keine Zeit, darüber zu reden, Leonie. Ich bin hier, um dich zu warnen.«

»Wie originell«, meinte Leonie spöttisch. »Hatten wir das nicht auch schon das eine oder andere Mal?«

»Ich meine es ernst, Leonie«, antwortete Theresa. Sie sah nervös aus dem Fenster. Nervös - nein. Das war etwas anderes. Etwas, das...

Nein, Leonie wusste es nicht.

»Du bist in Gefahr. Deine Eltern ebenfalls, aber im Moment hauptsächlich du. Sie wollen das Buch zurück.«

»Wer?«

»Sie«, erklärte Theresa. »Die Scriptoren und Schriftführer, alle. Sie sind in großer Aufregung und sie sind sehr zornig. Sie werden das Buch zurückholen, koste es, was es wolle.«

»Unsinn«, erwiderte Leonie, aber sie sagte es ohne echte Überzeugung. Theresas Worte jagten ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. Für einen Moment glaubte sie sich noch einmal in das unheimliche System aus gemauerten Gängen und von düsterem Licht erfüllten Höhlen versetzt. Nur mit Mühe gelang es ihr, die Furcht zurückzudrängen, die mit dieser Erinnerung einherging.

»Es ist die Wahrheit.« Theresa sah immer wieder aus dem Fenster und diesmal folgte Leonie ihrem Blick. Der Zug war noch schneller geworden und begann sich in eine lang gezogene Kurve zu legen, an deren Ende ein riesiger, verzerrter Schatten lag. Vielleicht nur eine Regenwolke.

»Angenommen, ich glaube Ihnen«, nahm Leonie das Gespräch wieder auf. »Wieso ich? Schließlich habe ich Großmutters Buch nicht gestohlen!«

»Aber du bist es, deren Anwesenheit sie gespürt haben«, sagte Theresa. »Du hast die Gabe. Ein winziger Teil von dir gehört zur Welt des Archivs.«

Erneut konnte Leonie nur mit Mühe ein Schaudern unterdrücken. Es war, als reiche schon die Erwähnung des Archivs, um die Angst in ihr stärker werden zu lassen.

»Ich glaube dir nicht«, beharrte sie, auch wenn sich die Worte in ihren eigenen Ohren mehr nach Trotz als nach Überzeugung anhörten. »Selbst wenn du die Wahrheit sagst - sie müssen Millionen Bücher in diesem Archiv haben - Milliarden. Ich war in einem davon, weißt du?«

»Du warst...« Theresa riss die Augen auf.

»All diese Türen«, fragte Leonie, »es sind Leben, nicht wahr? Leben, die abgeschlossen sind und ins Archiv wandern.«

Theresa nickte stumm. Sie wirkte schockiert.

»Aber hinter vielen dieser Türen ist nichts mehr«, fuhr Leonie fort. »Sie werden nicht für die Ewigkeit dort aufbewahrt. Sie verblassen genauso, wie die Erinnerungen an einen Menschen und an das, was er getan hat, nach und nach verblassen. Ich habe gesehen, was sie mit den alten Büchern machen. Sie wandern in das, was sie den Leimtopf nennen, um neue Bücher daraus herzustellen. Sie recyceln sie sozusagen.«

Sie sah wieder aus dem Fenster, was Theresa nur einen Sekundenbruchteil zuvor ebenfalls getan hatte. Der Schatten war näher gekommen, und Leonie konnte jetzt erkennen, dass es sich nicht um eine Regenwolke oder tatsächlich um einen großen Schatten handelte, sondern um eine Bergflanke. Leonie war überrascht, dass sie schon so nahe am Gebirge waren. Sie hatte gewusst, dass diese neuen ICE schnell waren - aber so schnell? »Habe ich Recht?«, fragte sie, als sie auch nach einigen weiteren Sekunden keine Antwort bekam.

Theresa nickte. »Ja.«

»Welchen Unterschied macht es dann, wenn ein Buch aus dem Archiv entfernt wird?«, fragte Leonie. »Die Scriptoren sind ganz bestimmt nicht begeistert davon, aber das?« Leonie schüttelte den Kopf. »Sorry, doch da musst du dir schon eine bessere Geschichte ausdenken, um mich zu überzeugen.«

»Es ist keine Geschichte«, sagte Theresa unruhig. »Keine von uns weiß, warum sie so aufgebracht sind. Angeblich hat der Archivar selbst den Befehl erteilt, das Buch um jeden Preis zurückzuholen - oder den zu bestrafen, der es gestohlen hat.«

»Der Archivar?«

Theresa hob die Schultern. »Der große Boss, keine Ahnung. Der Chef eben. Niemand hat ihn je gesehen, aber jeder im Archiv erstarrt schon vor Angst, wenn nur sein Name genannt wird.«

»Und dieser Oberboss ist jetzt hinter mir her?«

Theresa schüttelte fast erschrocken den Kopf. »Du solltest es ernst nehmen, Leonie. Ich weiß nicht, wie lange es noch dauert, bis sie einen Weg finden, das Buch zu holen, aber früher oder später werden sie es.« Sie sah wieder aus dem Fenster und Leonie folgte erneut ihrem Blick. Die Flanke des Gebirges schien mit erschreckender Geschwindigkeit auf sie zuzurasen, aber noch bevor der Anblick Leonie wirklich beunruhigen konnte, sah sie einen winzigen schwarzen Punkt am Ende des Schienenstranges: ein Tunnel.

»Und was soll ich jetzt tun, deiner Meinung nach?«, fragte Leonie.

»Ich weiß es nicht«, gestand Theresa. Sie hob die Schultern. »Steig am nächsten Bahnhof aus. Fahr zurück zu deinem Vater. Überrede ihn irgendwie, das Buch zurückzubringen. Stiehl es ihm, wenn es gar nicht anders geht.«

»Ich weiß nicht einmal, wo es ist«, erwiderte Leonie. »Es war bis gestern Abend im Tresor, aber er hat es weggebracht, nachdem Meister Bernhard uns überfallen hat.«

Es wurde schlagartig dunkel, als der Zug in den Tunnel einfuhr. Ein heftiger Knall erklang und der ganze Zug schien wie unter einem Schlag zu erzittern. Das Licht schaltete sich nach weniger als dreißig Sekunden automatisch ein, aber Leonies Herz begann trotzdem, wie verrückt zu hämmern, als sie aus dem Fenster blickte und sah, mit welchem Tempo der ICE durch den Tunnel raste. Gab es nicht Vorschriften, die besagten, dass Züge nur mit gemäßigtem Tempo in Tunnel einfahren durften?

Theresa schien es nicht anders zu ergehen als ihr. Sie saß stocksteif hoch aufgerichtet da und starrte mit weit aufgerissenen Augen aus dem Fenster. »Da stimmt etwas nicht«, flüsterte sie.

Das war maßlos untertrieben, fand Leonie. Sie schätzte, dass der Zug mit mehr als zweihundertfünfzig Stundenkilometern durch den Tunnel raste - und er wurde immer schneller.

»Was bedeutet das?«, fragte Leonie.

Theresa antwortete nicht, aber Leonie hätte ihre Antwort vermutlich auch gar nicht verstanden, denn in diesem Moment hallte ein ungeheures Dröhnen durch den Zug, unmittelbar gefolgt von einem so harten Ruck, dass Leonie regelrecht aus dem Sitz katapultiert wurde, gegen Theresa prallte und unsanft mit ihr zu Boden fiel. Das Handy entglitt ihren Fingern und schlitterte davon. Die nächsten Sekunden waren sie voll und ganz damit beschäftigt, ihre Glieder zu entwirren, dann richtete Leonie sich benommen auf und sah aus dem Fenster. Nach dem Knall und der harten Erschütterung war sie nahezu überzeugt davon, dass der ICE entgleist sein musste, aber die Tunnelwände rasten noch immer draußen vorbei.

Nur dass es nicht mehr die Wände eines normalen Eisenbahntunnels waren.

Trotz der noch immer anwachsenden Geschwindigkeit konnte Leonie deutlich die groben Backsteinwände erkennen, die draußen entlangrasten. In regelmäßigen Abständen glaubte sie, verschwommene, dunkelrote Flecken zu sehen - Fackeln, die zu schnell vorbei waren, um sie eindeutig identifizieren zu können - und manchmal auch etwas wie eine Nische oder eine Tür. Auch Theresa hatte sich aufgerappelt und sah mit aufgerissenen Augen aus dem Fenster.

»Großer Gott!«, hauchte Theresa. »Das ist das Archiv!«

Leonie hätte ihr gern widersprochen, aber sie konnte es nicht. Sie hatte die düsteren Gewölbetunnel im gleichen Moment wiedererkannt wie Theresa.

Der Zug wurde schneller, Mauern, Türen und Fackeln verschmolzen zu einem einzigen Konglomerat aus Formen, Farben und Bewegung. Der Boden unter ihren Füßen begann zu zittern; sacht, aber in schneller werdendem, stampfendem Rhythmus.

»Was... bedeutet das?«, stammelte Theresa.

Rings um sie herum herrschte ein wahrer Höllenlärm und dennoch war es zu still - es hätten auch noch andere Laute zu hören sein müssen: Schreie und Gebrüll der nach der scheinbaren Beinaheentgleisung panischen Reisenden. Aber da war nichts, abgesehen vom Geräusch der stählernen Laufräder, die über die Schienen jagten, und dem Brausen der Luft, die draußen an den Fenstern vorüberpfiff.

»Was bedeutet das?« Nun war sie es, die diese Frage stellte, und Theresa antwortete auf dieselbe Weise wie Leonie ein paar Sekunden zuvor: mit einem wortlosen Achselzucken. Plötzlich bemerkte Theresa, dass Leonie nicht mehr aus dem Fenster sah, sondern die Abteiltür anstarrte. Verwirrt drehte sie sich um und blickte in dieselbe Richtung. Leonie konnte auf Theresas Gesicht ablesen, dass ihr die unheimliche Stille ebenso auffiel wie ihr selbst und dass sie ihr mindestens genauso große Angst machte.

Leonie sah noch einmal zum Fenster, was sie aber augenblicklich bedauerte. Der Zug war wieder schneller geworden, obwohl sie das noch vor ein paar Sekunden gar nicht für möglich gehalten hätte. Auf der anderen Seite der Glasscheibe war jetzt nur noch ein Chaos aus tosender Bewegung zu erkennen. Dann sah sie erneut zur Abteiltür. Ihre Hand zitterte leicht, als sie sie aufschob und zögernd auf den Gang hinaustrat.

Er war leer. Der Zug zitterte mittlerweile wie eine altmodische Dampflok, die sich schnaubend einen Berg hinaufquälte, und sie hörte das Scheppern von Kunststoff und das Klirren von Glas, aber nicht eine einzige menschliche Stimme. Und sie sah auch niemanden.

So dicht gefolgt von Theresa, dass sie ihren Atem wie eine warme Berührung im Nacken spüren konnte, wandte sie sich nach rechts und warf einen Blick in das benachbarte Abteil.

Es war leer.

Ebenso wie das daneben, das nächste und das darauffolgende.

Leonie und Theresa arbeiteten sich langsam bis ans vordere Ende des Wagens durch, aber es war überall dasselbe: Die Abteile waren leer. Sie sahen Koffer, Taschen und andere Gepäckstücke, aufgeschlagene Zeitungen und Bücher und in einem Aschenbecher sogar eine qualmende Zigarette, aber keinen einzigen Menschen.

In einer bangen Vorahnung öffnete Leonie die Zwischentür zum nächsten Waggon und trat hindurch. Vor ihnen lag der Speisewagen und sein Anblick war noch unheimlicher: Dampfende Kaffeetassen und angefangene Mahlzeiten standen auf den Tischen, ein halbes Glas Bier, angebissene Brötchen. Der Speisewagen sah aus, als wäre er noch vor einem Augenblick voll besetzt gewesen, bis sich die Gäste und das Personal alle auf einmal entschlossen hätten, einfach aufzustehen und wegzugehen.

Sie durchquerten auch den Speisewagen, aber danach ging es nicht mehr weiter. Vor ihnen war nur noch die Lok, und die Verbindungstür zwischen ihr und dem Rest des Zuges war verriegelt.

»Wo... wo sind all die Leute?«, stammelte Theresa. »Was ist hier passiert?«

Bevor Leonie antworten konnte, ging ein so harter Ruck durch den Zug, dass sie beide von den Füßen gerissen wurden. Theresa fiel, während Leonie hart gegen die Wand prallte und im letzten Moment irgendwo Halt fand. Ein Kreischen erklang, als scheuere Stahl auf Stahl und draußen vor den Fenstern stob ein Funkenregen in die Höhe.

»Was ist das?!«, kreischte Theresa in schierer Panik. Sie versuchte aufzustehen, aber ein noch härterer Stoß schleuderte sie erneut zu Boden. Diesmal stürzte auch Leonie. Das Kreischen von überbeanspruchtem Metall wurde schriller und erreichte zugleich eine Lautstärke, die in den Ohren schmerzte. Theresa schrie irgendetwas, aber Leonie sah nur, wie sich ihre Lippen bewegten, denn das Kreischen verschluckte jeden anderen Laut.

Sie halfen sich gegenseitig in die Höhe, und Leonie tastete sich mit zusammengebissenen Zähnen und Schritt für Schritt an der Wand entlang, um nicht sofort wieder von den Füßen gerissen zu werden.

Als sie den Durchgang zum Speisewagen erreichten, sah Leonie noch einmal über die Schulter zurück, und ihr Herz machte einen jähen Satz bis in den Hals hinauf, wo es zu einem stacheligen Klumpen aus Eis zu erstarren schien, der ihr den Atem abschnürte.

Der Gang zur Lok hinter der Glastür war noch da, aber zugleich auch wieder nicht. Die Wirklichkeit schien Wellen zu schlagen, wie ein Spiegelbild aus bewegtem Wasser, das zu Stein geworden war. Unter diesem Bild kam ein anderes zum Vorschein, als entstünde dort eine neue Realität, die diese Wirklichkeit zu verdrängen versuchte. Leonie erblickte einen endlosen gemauerten Tunnel, der in rasendem Tempo auf sie zuzuschießen schien.

Aus der Lokomotive brandete eine wahre Flutwelle bizarrer Monster und Ungeheuer heran. Leonie erkannte Aufseher und Scriptoren, Arbeiter und eine ganze Armee hüpfender und springender Schusterjungen, aber auch eine Anzahl noch bizarrerer Kreaturen, wie sie sie nie zuvor gesehen hatte und deren bloßer Anblick schon ausreichte, ihr schier das Blut in den Adern gerinnen zu lassen.

»Großer Gott!«, ächzte Theresa. »Weg! Lauf!«

Als ob diese Aufforderung noch nötig gewesen wäre! Leonie stürmte los, sprengte die Verbindungstür zum Speisewagen mit der Schulter auf, rannte weiter und schaffte immerhin drei Schritte, bevor ein weiterer gewaltiger Schlag den Zug traf und sie mit solcher Wucht gegen einen Tisch prallen ließ, dass ihr vor Schmerz schwarz vor Augen wurde. Sie konnte buchstäblich spüren, wie sich der Zug aus den Schienen hob und mit so ungeheuerlicher Wucht wieder hinunterstürzte, dass sie Metall bersten hörte und sich glühende Trümmerstücke mit dem Funkenregen vor den Fenstern mischten. Für eine einzelne, aber von schierer Todesangst erfüllte Sekunde war sie felsenfest davon überzeugt, dass der ICE jetzt entgleisen, sich in ein zweihundert Tonnen schweres Geschoss verwandeln und durch die Tunnelwände in den Berg graben würde.

Aber das Wunder geschah: Der Zug entgleiste nicht, sondern raste weiter und schien dabei immer noch schneller zu werden. Leonie biss die Zähne zusammen, kämpfte den pochenden Schmerz in ihrer Hüfte nieder und sah zu Theresa zurück, während sie vorwärts humpelte. Theresa war wie durch ein Wunder ebenfalls auf den Beinen geblieben, aber der Durchgang zum Triebwagen hatte sich weiter verändert. Die Lok war immer noch zu sehen, doch sie schien ganz allmählich zu verblassen, und zwischen den zuckenden Wirklichkeiten nahm die düstere Realität des Archivs weiter Gestalt an. Die Front der geifernden, hüpfenden und Waffen schwingenden Monster war näher gekommen. Es konnte nur noch Augenblicke dauern, bis die ersten die Grenze zwischen den Wirklichkeiten erreichten und herüberkamen. Ein besonders hässliches, muskelbepacktes Etwas hatte sich ein Stück von der Hauptmeute abgesetzt und stürmte vorweg. Obwohl es plump, ja fast missgestaltet aussah, rannte es deutlich schneller als selbst die flinken Schusterjungen, und es war nicht nur schnell, sondern hatte auch etwas Unaufhaltsames an sich; wie ein außer Kontrolle geratener Bulldozer, der den Abhang hinunterschlitterte und dabei immer schneller und schneller wurde.

Und dennoch war das nicht einmal das Schlimmste.

Der Tunnel zog sich hinter der heranstürmenden Horde scheinbar endlos weiter, aber irgendwo auf halbem Wege zwischen ihr und der Unendlichkeit war etwas erschienen, das Leonie nicht anders beschreiben konnte als einen Bereich aus wirbelnder Finsternis; ein Brodeln aus unterschiedlichen Schattierungen von Schwarz, in dessen Zentrum sich die Dunkelheit zu etwas noch Schwärzerem zusammenballte, das die Umrisse eines Menschen hatte. Die Gestalt war nicht wirklich zu erkennen. Ihre Konturen schienen immer wieder zu zerfließen, aber Leonie war nicht sicher, ob sie sich aufzulösen begann oder ob die Schwärze nicht etwa umgekehrt die Welt ringsum aufsog; als hätte sich ein Riss im Universum aufgetan, der die Wirklichkeit verschlang. Eine Aura so eisiger Kälte und abgrundtiefer Bosheit wehte zu Leonie herüber, dass sie für die Dauer von zwei, drei schweren Herzschlägen wie gelähmt dastand, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen oder auch nur ihren Blick von der unheimlichen Gestalt zu lösen.

Es war der nächste brutale Ruck, der den Zug erschütterte, der Leonie in die Wirklichkeit zurückriss. Sie torkelte, streckte instinktiv die Hände aus und klammerte sich irgendwo fest. Theresa hatte weniger Glück. Sie wurde gegen die gläserne Trennwand geschleudert, die den Speisewagen in zwei unterschiedliche Bereiche teilte. Das Glas verwandelte sich in ein Spinnennetz aus Rissen und ineinander laufenden Sprüngen, ohne ganz zu zerbrechen, und Theresa taumelte mit einem Schmerzensschrei zurück. Ihr Gesicht war blutüberströmt.

Leonie versuchte zu ihr zu gelangen, aber der Zug zitterte und bebte mittlerweile so heftig, dass sie es nicht wagte, ihren Halt loszulassen. Theresa torkelte weiter rückwärts, prallte gegen die Fensterwand und schlug die Hände vors Gesicht, während sie in die Knie sank. Hinter ihr schlug die Wirklichkeit immer heftigere Wellen. Die groteske Kreatur an der Spitze hatte ihren Abstand zum Rest der Meute weiter vergrößert, und Leonie verspürte einen Schauer puren Entsetzens, als sie sie nun deutlicher sah: Das Wesen hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit etwas, das vielleicht irgendwann einmal ein Mensch gewesen war und nun versuchte, zu etwas... anderem zu werden. Seine Größe war schwer zu schätzen, denn es ging zwar aufrecht auf zwei Beinen, aber dabei so weit nach vorne gebeugt, dass seine Hände fast über den Boden schleiften. Es war nackt bis auf einen schmalen Lendenschurz, sodass man die gewaltigen Muskelstränge unter der kupferfarbenen Haut erkennen konnte, und sein Gesicht erinnerte an das einer Bulldogge: ein gewaltiger kantiger Kiefer, aus dem die Spitzen schrecklicher Hauer herausragten, schwabbelige Hängebacken und winzige, tückische Augen unter knochigen Augenwülsten und einer fliehenden Stirn. Die Kreatur war unbewaffnet, aber Leonie glaubte auch nicht, dass sie irgendeine Waffe brauchte. Ihre Pranken sahen aus, als könne sie damit ohne Mühe einen Menschen in zwei Teile zerbrechen, oder auch einen Ochsen.

Endlich hörte der Zug für einen Moment auf, sich wie ein bockendes Pferd hin und her zu werfen, und Leonie nutzte die kurze Atempause, um zu Theresa hinzueilen und ihr auf die Füße zu helfen. Theresa bedankte sich mit einem Kopfnicken, richtete sich aber nur halb auf und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Sie verschmierte das Blut dabei noch weiter, aber Leonie sah auch, dass es nur aus einer harmlosen Platzwunde kam.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie.

Theresa nickte wieder hastig, sah über die Schulter zurück und wurde noch bleicher, als sie sowieso schon war. Leonie konnte das nachvollziehen. Das seltsam verkrüppelt wirkende Wesen hatte die Tür fast erreicht. Leonie wusste nicht, ob es imstande sein würde, die Grenze zwischen den Wirklichkeiten zu überschreiten, aber sie hatte auch nicht vor, hier zu bleiben, um es herauszufinden. Sie zog Theresa unsanft in die Höhe und riss sie einfach mit sich, als sie losstürmte.

Schon nach ein paar Schritten wurden Lärm und Erschütterungen wieder stärker, als hätte das Chaos nur kurz innegehalten, um dann mit noch größerer Gewalt weiterzutoben. Der Wagen bockte und schüttelte sich. Die Scheiben begannen so heftig zu klirren und zu vibrieren, als versuchten sie aus den Rahmen zu springen, und sie hörten ein immer lauter werdendes schrilles Kreischen und Reißen wie von zerberstendem Metall. Gläser und Geschirr stürzten von den Tischen und zerbrachen, und Leonie und Theresa wurden unentwegt gegen Wände und Mobiliar geschleudert, sodass sie kaum noch wirklich gingen, sondern sich eher bewegten wie lebende Flipperkugeln in einem Automaten, der direkt aus der Hölle kam. Es schien Leonie wie ein Wunder, dass sie es überhaupt noch bis zum Ende des Wagens schafften. Und wahrscheinlich würde es sowieso nicht reichen. Leonie gerann schier das Blut in den Adern, als sie mit fliegenden Fingern die Tür aufstemmte und dabei einen Blick über die Schulter zurückwarf.

Das Ungeheuer hatte den Durchgang zum Speisewagen erreicht. Es war zu breitschultrig und massig um hindurchzupassen, und für eine halbe Sekunde klammerte sich Leonie wider besseres Wissen an die Hoffnung, dass es einfach stecken bleiben könnte wie ein Korken in einem zu engen Flaschenhals.

In gewissem Sinn geschah das auch, aber nur für einen wirklich kurzen Moment. Dann schlossen sich die gewaltigen Pranken des... Dings um das Metall des Türrahmens und zerfetzten es wie dünne Stanniolfolie. Leonie schrie vor Entsetzen auf, riss die Tür zur Seite und stürmte los. Rings um sie herum schrie der Wagen wie ein großes lebendes Wesen, das Todesqualen litt, das Licht flackerte, Türen flogen auf und knallten wieder zu, unsichtbare Fäuste schienen an den Fensterscheiben zu rütteln und irgendetwas krachte mit der Wucht von Hammerschlägen immer wieder gegen den Boden unter ihren Füßen. Hinter ihnen kreischte noch einmal Metall und zerriss, dann wurde der Lärm vom Bersten zersplitternder Möbel abgelöst. Leonie sah nicht zurück, aber sie wusste, was dieser Lärm zu bedeuten hatte. Sie rannte noch schneller, erreichte das Abteil, in dem Theresa und sie gesessen hatten, und riss die Tür auf.

»Leonie!«, schrie Theresa entsetzt. »Was tust du da?!«

Leonie beachtete sie gar nicht, sondern stürmte in das Abteil und warf sich auf Hände und Knie hinab. Ihre Finger tasteten verzweifelt über den Boden, glitten unter die Sitze und fuhren immer hektischer hin und her. Das Handy! Sie musste das Handy finden! Aber es war nicht da.

»Leonie?!«, schrie Theresa wieder. »Es kommt!«

Wie um ihre Worte zu unterstreichen, erscholl hinter ihnen das Geräusch splitternden Glases und zerreißenden Metalls. Leonie sah aus den Augenwinkeln, dass Theresa herumfuhr und die Hand vor den Mund schlug, und in diesem Moment schlossen sich ihre Finger endlich um glattes Plastik. Das Telefon!

Sie rollte herum, sprang so hastig auf die Füße, dass sie beinahe sofort wieder das Gleichgewicht verloren hätte, und war mit einem Satz an der Tür. Theresas Augen weiteten sich ungläubig, als sie sah, was Leonie in der Hand hielt.

»Bist du wahnsinnig?«, keuchte sie. »Lass doch dieses verdammte...«

Leonie stieß sie einfach zur Seite und drehte den Kopf nach rechts. Obwohl sie gewusst hatte, was sie sehen würde, ließ sie der Anblick für eine halbe Sekunde vor Entsetzen erstarren.

Das Monstrum hatte eine Spur der Verwüstung durch den Speisewagen gezogen und bereits die nächste Tür erreicht und ebenso brutal aufgerissen wie die erste. Jetzt steckte es nicht wirklich fest, aber es bewegte sich deutlich langsamer, denn der Gang war einfach nicht breit genug für seine gewaltigen Schultern - aber es kam unerbittlich näher.

Leonie riss sich mühsam von dem Furcht einflößenden Anblick los, hob das Telefon und drückte die Taste Eins.

Nichts geschah.

Leonies Herz schien auszusetzen. Sie drückte noch einmal auf die Taste und ein drittes Mal und diesmal so fest, dass das dünne Plastik hörbar knirschte, und in dem kleinen Farbdisplay leuchteten die Worte Kein Netz auf.

Leonie starrte den winzigen Bildschirm eine Sekunde lang fassungslos an, dann fuhr sie herum, schleuderte dem Monster noch in derselben Bewegung das Handy ins Gesicht und rannte los. Das Ungeheuer riss sein Bulldoggenmaul auf. Ein Splittern und Knirschen wurde laut, als es das Telefon ohne das geringste Zögern verschlang.

Seite an Seite hetzten sie los, verfolgt von dem Ungeheuer, das eine Mischung aus Knurren und dem wütenden Heulen einer übergroßen, hässlichen Hyäne hören ließ. Auf den ersten Metern wuchs ihr Vorsprung wieder, denn obwohl ihr Verfolger jetzt so rücksichtslos vorwärts stürmte, dass er sich die Schultern blutig schrammte, war der Gang einfach nicht breit genug für ihn, aber dann erreichten sie den nächsten Wagen - und Leonie erkannte entsetzt, dass es sich um einen modernen Großraumwaggon handelte, in dem es keine Abteilwände und Türen gab, die ihren Verfolger aufhalten konnten!

Sie stürzten weiter. Als sie den Wagen fast durchquert hatten, wurde die Tür an seinem anderen Ende aufgerissen und Hendrik trat heraus.

Er hatte sich verändert. Statt des modern geschnittenen Sommeranzuges trug er jetzt einfache schwarze Hosen, bis über die Knie reichende Stiefel und ein sonderbar geschnittenes, ebenfalls schwarzes Hemd aus weichem Leder und dazu eine breite, gleichfarbige Schärpe, die sich schräg über seine Brust spannte. An seinem Gürtel baumelte einen Art Degen mit einem übergroßen kunstvoll gestalteten Korbgriff.

»Die Verspätung tut mir Leid«, begann er, »aber...«

Hinter ihnen erscholl wieder das Splittern von Glas und das Kreischen von zerreißendem Metall, und Hendrik brach mitten im Satz ab. Seine Augen weiteten sich ungläubig, und als Leonie herumfuhr, begriff sie auch den Grund dafür.

Ihr Verfolger war da. Er hatte die Tür einfach zerfetzt und hielt einen Moment inne, um den neu aufgetauchten Gegner aus seinen kleinen, tückischen Augen misstrauisch zu mustern.

Leonie wusste nicht wie, aber Hendrik stand plötzlich zwischen ihnen und dem Monstrum, und auch die Waffe war plötzlich wie durch Zauberei nicht mehr in seinem Gürtel, sondern in seiner Hand.

»Bleibt hinter mir!«, befahl er knapp.

Leonie hatte nicht vor, irgendetwas anderes zu tun. Sie wich im Gegenteil sogar noch einen Schritt zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Abteilwand stieß, und auch Theresa gesellte sich zitternd zu ihr.

Das Ungeheuer hatte seine Überraschung mittlerweile überwunden und kam wieder näher, aber nicht mehr so schnell wie zuvor, sondern mit langsamen wiegenden Schritten. Leonie konnte nicht beurteilen, ob es über so etwas wie Intelligenz verfügte, aber es schien zumindest instinktiv zu spüren, dass dieser neue Gegner gefährlicher war als die beiden jungen Frauen. Während es auf sie zuhielt, hob es langsam die Arme, und Leonie lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als sie sah, dass seine Finger in furchtbaren Krallen endeten, von denen jede einzelne so scharf und gekrümmt wie ein kleiner Dolch war - und zweifellos ebenso gefährlich.

Hendrik bedeutete ihnen mit der linken Hand, zurückzubleiben, und näherte sich mit ebenfalls wiegenden Schritten dem Ungetüm. Er hatte die Beine leicht gespreizt, um einen sicheren Stand zu haben, und die Arme halb ausgebreitet. Leonie suchte vergebens nach irgendwelchen Anzeichen von Angst oder Unsicherheit in seiner Haltung.

Offensichtlich hatte er das auch nicht nötig. Das Monstrum war jetzt unmittelbar vor Hendrik und stieß sein sonderbares, keckerndes Hyänenlachen aus - und schlug so blitzartig nach seinem Gegner, dass Leonie den Hieb kaum sah.

Dennoch wich Hendrik der Attacke ohne die geringste Mühe aus. Er duckte sich, machte einen tänzelnden Schritt zur Seite und versetzte dem Koloss einen tiefen Stich in den Oberarm, der sofort heftig zu bluten begann.

Das Ungeheuer kreischte, wenn auch zweifellos mehr aus Wut als vor Schmerz, und schlug erneut nach Hendrik. Er duckte sich auch diesmal erfolgreich unter dem Hieb weg, sodass die mörderische Klaue nur die Kopfstütze eines Sitzes in Fetzen riss, doch in diesem Moment erbebte der Zug unter einem neuerlichen, noch härteren Schlag, der nicht nur Leonie und Theresa gegen die Wand schleuderte, sondern auch Hendrik von den Füßen fegte. Sofort warf sich das Ungeheuer mit einem triumphierenden Brüllen auf ihn. Hendrik riss gedankenschnell die Knie an den Körper und rammte ihm beide Füße in den Leib, aber er hätte genauso gut versuchen können, den Triebwagen der Lok mit purer Körperkraft wegzustoßen. Er wurde regelrecht zusammengefaltet, keuchte vor Schmerz und stieß blind mit seinem Rapier nach oben. Die Spitze grub eine blutige Furche in Hals und Kinn des Ungeheuers, durchstieß seine Wange und kam auf der anderen Seite des hässlichen Bulldoggengesichts wieder heraus. Das Ungeheuer grunzte und schloss mit einem Ruck die Kiefer, und die dünne Klinge des Rapiers zerbrach in drei Teile, von denen zwei klirrend zu Boden fielen.

Aber der Stich schien dem Monstrum trotzdem wehgetan zu haben, denn es prallte heulend zurück, und Hendrik nutzte die Chance, um unter ihm hervorzurollen und mit einem federnden Satz auf die Füße zu kommen. Noch im Aufspringen riss er den Arm zurück und rammte der Bestie den Griff seiner Waffe ins Gesicht, was sie abermals aufheulen und zwei weitere Schritte rückwärts torkeln ließ. Ihre wütend peitschenden Arme zerfetzten zwei weitere Sitze, und es gelang ihr nur mit äußerster Mühe, auf den Beinen zu bleiben.

Hendrik war mit einem Satz wieder bei Leonie und Theresa, riss die Tür auf und stieß sie kurzerhand hindurch. Leonie machte einen hastigen Schritt, aber Theresa verlor das Gleichgewicht und wäre gestürzt, hätte Hendrik sie nicht mit einer blitzschnellen Bewegung aufgefangen und zugleich weitergeschoben.

Der nächste Wagen bestand ebenfalls aus einem einzigen großen Abteil, aber sie konnten es fast zur Gänze durchqueren, bevor ihr monströser Verfolger unter schauerlichem Heulen wieder hinter ihnen auftauchte.

Hendrik sah über die Schulter zurück, fluchte lauthals und trieb Leonie und Theresa mit derben Stößen zu noch größerer Schnelligkeit an. Sie stürmten in den nächsten Wagen - abermals ein Großraumwaggon! Hatte sich denn jetzt alles gegen sie verschworen? - und durchquerten auch ihn, so schnell sie konnten.

Und das war nicht besonders schnell. Der Zug rüttelte und stampfte immer heftiger, sodass sie inzwischen fast ihre ganze Energie darauf verwenden mussten, überhaupt auf den Beinen zu bleiben, und der Lärm hatte einen Pegel erreicht, der in den Ohren schmerzte. Die Scheiben klirrten nicht mehr in ihren Rahmen, sie schrien, und in der einen oder anderen zeigten sich auch schon die ersten Sprünge.

Dennoch wuchs ihr Vorsprung. Sie hatten den Wagen komplett durchquert, als sich der Koloss hinter ihnen splitternd seinen Weg bahnte. Entweder hatte Hendriks Angriff ihn doch schwerer verwundet, als Leonie bisher angenommen hatte, oder das immer schlimmer werdende Bocken und Rütteln des Zuges behinderte auch ihren Gegner.

Was folgte, war endlich wieder ein Abteilwagen. Der schmale Gang würde das Ungeheuer weiter aufhalten und ihr Vorsprung noch mehr anwachsen - aber Leonie war sich auch darüber im Klaren, dass diesem Gedanken eine trügerische Hoffnung zugrunde lag, die am Ende nicht halten würde. Ganz egal wie lang dieser Zug auch war - irgendwann würden sie den letzten Wagen erreichen, und dann gab es einfach nichts mehr, wohin sie noch laufen konnten.

Hendrik scheuchte sie erbarmungslos auch durch den nächsten Wagen, ehe er endlich anhielt und sich schwer atmend in die Richtung wandte, aus der sie gekommen waren. »Ich glaube, dein Vater hat nicht übertrieben, als er sagte, dass ich mich um dich kümmern soll«, knurrte er.

Leonie verzichtete vorsichtshalber auf eine Antwort.

Hendrik sah ein paar Sekunden konzentriert nach hinten. Das Monstrum war nicht zu sehen, aber sie hörten den Lärm von splitterndem Glas und zerreißendem Metall, der sein unaufhaltsames Näherkommen begleitete. Hendrik runzelte die Stirn, hob den abgebrochenen Griff seines Rapiers vors Gesicht und seufzte hörbar. »Wie es aussieht, benötigen wir wohl etwas gröberes Werkzeug«, sagte er mit einem schiefen Lächeln. »Was für eine Teufelskreatur ist das? Und wer ist das da? Eine Freundin von...« Er machte eine Kopfbewegung auf Theresa und sparte sich das letzte Wort, als er sie offensichtlich erkannte. Dann verdüsterte sich seine Miene. »Ist das alles Ihr Werk?«, fragte er.

»Nein«, erwiderte Leonie hastig, bevor Theresa etwas sagen konnte. »Sie kann nichts dafür. Das Ungeheuer ist genau so hinter ihr her wie hinter mir.«

Hendrik sah nicht überzeugt aus, beließ es aber bei einem weiteren Stirnrunzeln (und einem kurzen, fast feindseligen Blick in Theresas Richtung), zuckte mit den Schultern und schob den kümmerlichen Rest seiner Waffe in die Schlaufe an seinem Gürtel zurück.

»Wir klären das später«, sagte er in einem Ton, der klar machte, dass es sich dabei nicht um eine leere Drohung handelte.

»Jetzt müssen wir erst einmal einen Ausweg suchen.« Er deutete zum Ende des Wagens. »Wohin führt diese Tür?«

»In den nächsten Waggon«, antwortete Leonie. »Und danach in den nächsten. Aber nicht mehr sehr weit. Vielleicht noch drei oder vier Wagen, schätze ich. Dann ist Schluss.«

Hendrik dachte einen Moment lang mit versteinerter Miene nach, dann nickte er. »Also müssen wir kämpfen. Gibt es in diesem Fahrzeug Waffen?«

»Außer dem Essen im Bordrestaurant?« Leonie schüttelte den Kopf. »Nein.«

Wieder dachte Hendrik einen Moment lang über ihre Antwort nach. »Gut«, sagte er schließlich. »Gehen wir weiter. Das hier ist ein schlechter Platz für einen Kampf.«

Er machte eine entsprechende Kopfbewegung, und ein gewaltiges Splittern und Krachen aus dem angrenzenden Wagen hielt Leonie nachhaltig davon ab, zu widersprechen. Sie stürmten auch durch den nächsten Wagen - ein Großraumabteil - und den angrenzenden...

... und dann war es vorbei. Hinter der nächsten Glasscheibe befand sich eine massive Metallplatte. Sie hatten das Ende des Zuges erreicht.

»Tja, jetzt gilt es«, bemerkte Hendrik. Er klang ernst, aber nicht wirklich besorgt. »Könnt ihr abspringen, sollte ich versagen?«

Leonie sah zum Fenster - draußen raste immer noch ein Chaos aus ineinander fließenden Farben vorbei - und antwortete nicht einmal, und auch Hendrik ging nicht weiter auf das Thema ein, nachdem er ihrem Blick gefolgt war. Wahrscheinlich hatte er die Frage sowieso nur gestellt, um überhaupt etwas zu sagen. Zwei, drei Sekunden lang sah er sie nachdenklich und mit konzentriert gerunzelter Stirn an, dann trat er wortlos zu einem der großen gepolsterten Sessel, zog seinen Rapierrest aus dem Gürtel und schlitzte mit raschen Bewegungen das Polster auf.

Theresa warf ihr einen fragenden Blick zu, aber sie konnte nur mit einem Schulterzucken darauf antworten. Hendrik grub mittlerweile unbeirrt weiter in den Innereien des Sessels, riss Füllmaterial und Stofffetzen heraus und schloss schließlich die Hände um einen massiven Widerstand. Leonie konnte sehen, wie sich die Muskeln unter seinem schwarzen Lederwams spannten, dann erklang ein helles Knirschen, und der Widerstand ließ so abrupt nach, dass Hendrik nach hinten stolperte und beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Als er sich mit einer ungeschickt aussehenden Bewegung wieder aufrichtete, hielt er ein verbogenes Aluminiumrohr in der Hand, dessen Ende zackig ausgefranst war.

Keinen Augenblick zu früh. Die Tür am Ende des Wagens wurde in Stücke zerfetzt, und ein äußerst schlecht gelauntes muskelbepacktes Etwas mit blutüberströmtem Bulldoggengesicht erschien in der gewaltsam geschaffenen Öffnung.

»Also gut«, rief Hendrik. »Es gilt!«

Als hätte es die Herausforderung verstanden, senkte das Ungeheuer den Kopf und stürmte los. Alles, was in seinen Weg geriet, wurde einfach in Stücke gerissen oder zur Seite gefegt; es war ein Wirbelwind aus explodierenden Trümmerstücken, der auf Hendrik zuraste - und ihn einfach aus dem Weg schleuderte!

Leonies Herz zog sich zu einem Klumpen aus purem Eis zusammen, als sie sah, wie Hendrik von den Füßen gefegt wurde und stürzte, während das Ungetüm mit ungebremster Schnelligkeit weiterraste, eine lebende Lawine aus Muskeln und rasiermesserscharfen Klauen, die auch Theresa und sie einfach zermalmen musste.

Im buchstäblich allerletzten Moment versetzte sie Theresa einen Stoß und warf sich gleichzeitig mit einer verzweifelten Anstrengung in die entgegengesetzte Richtung. Die Kreatur rammte die Tür zwischen ihnen genau dort, wo Theresa und sie vor einer halben Sekunde noch gestanden hatten, zertrümmerte sie und dellte auch noch die dahinter liegende Metallplatte ein, bevor sie mit einem Schnauben zu Boden sank. Sie streifte Theresa und Leonie nur - kaum mehr als ein flüchtiger Hauch - und doch reichte schon diese Beinaheberührung, Leonie gegen die Wand zu schleudern und benommen in die Knie sinken zu lassen. Theresa erging es auf der anderen Seite keinen Deut besser, sie rappelte sich aber ebenso schnell wie Leonie wieder hoch.

Ihre Hast war nicht nötig. Das Monstrum rührte sich nicht mehr. Seine Krallen hatten sich tief in das Metall der Zugwand gegraben und es dabei wie Papier zerfetzt, und aus seinem Rücken ragte der abgebrochene Stumpf des Aluminiumträgers, den Hendrik aus dem Sitz gerissen hatte. Das Monstrum hatte sich selbst daran aufgespießt, als es Hendrik überrannte, und sich zusätzlich den Schädel an der Zugwand eingeschlagen. Vielleicht war es auch gar nicht tot, sondern nur bewusstlos, aber das spielte im Moment keine Rolle. Leonie raffte all ihren Mut zusammen, um über den missgestalteten Körper der reglos daliegenden Kreatur hinwegzusteigen, war mit zwei schnellen Schritten bei Hendrik und ließ sich neben ihm in die Hocke sinken. Er sah ein wenig ramponiert aus, aber er schlug die Augen auf, gerade als Leonie die Hand nach ihm ausstrecken wollte, stemmte sich auf die Ellbogen hoch und schüttelte ein paarmal heftig den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden.

»Ist es... erledigt?«, fragte er zögernd.

»Das ist die gute Nachricht«, bestätigte Leonie. Sie wartete darauf, dass Hendrik nun wissen wollte, was die schlechte Nachricht war, aber offensichtlich kannte er diese Redewendung nicht. Er sah sie nur verständnislos an. Nach einigen Momenten arbeitete er sich mühsam in die Höhe, und Leonie fragte sich, ob das Ungeheuer ihn vielleicht doch schlimmer verletzt hatte, als es zunächst den Anschein gehabt hatte.

»Er war nicht allein.« Leonie machte eine Kopfbewegung in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Das war nur der Erste.« Natürlich war es bei dem Höllenlärm, der in dem immer noch schneller werdenden Zug herrschte, vollkommen unmöglich, aber Leonie bildete sich für einen Moment trotzdem ein, das Kreischen und Heulen der näher kommenden Meute bereits zu hören. Wie lange würde es noch dauern, bis sie hier waren? Bestimmt nicht mehr als ein paar Minuten.

»Dann haben wir ein Problem.« Hendrik fuhr sich mit dem Handrücken übers Gesicht und betrachtete einen Augenblick stirnrunzelnd seine blutige Hand. Dann, noch kürzer, sah er in die Richtung, in die Leonie gewiesen hatte. »Wir brauchen Waffen. Oder einen Fluchtweg.«

»Was für ein genialer Plan«, murmelte Theresa. »Dass wir nicht von selbst darauf gekommen sind.« Sie schüttelte den Kopf und sprach vorsichtshalber nicht weiter, als sie ein eisiger Blick aus Hendriks Augen traf. Instinktiv machte sie einen Schritt zurück.

Hendrik beließ es dabei. Ohne ein weiteres Wort trat er an das nächstgelegene Fenster, kämpfte einen Moment lang vergeblich mit dem ihm unbekannten Verschlussmechanismus und schlug die Scheibe dann kurzerhand mit einem kräftigen Stoß des Ellbogens ein. Das Heulen der vorüberrauschenden Luft steigerte sich zu einem Getöse, das jeden anderen Laut verschluckte, und die Splitter der zertrümmerten Scheibe wurden ebenso nach außen gesogen wie um ein Haar Hendrik selbst, bevor er sich im letzten Moment am Fensterrahmen festhalten konnte. Dennoch beugte er sich gleich darauf sogar noch weiter vor und versuchte aus zusammengekniffenen Augen in die Fahrtrichtung zu blicken. Er hielt es allerdings nur eine oder zwei Sekunden lang aus. Sein Gesicht geriet sofort in den grellen Funkenschauer, und der rasende Fahrtwind trieb ihm Tränen in die Augen, sodass er vermutlich sowieso nichts sah. Er stieß sich mit einem kraftvollen Ruck wieder zurück und schrie über den tobenden Lärm hinweg: »Unmöglich, abzuspringen!«

»Ach, tatsächlich?«, schrie Theresa zurück »Jetzt bin ich aber enttäuscht!«

»Der Tunnel ist zu eng!«, brüllte Hendrik ungerührt zurück. »Wir würden an den Wänden zerschmettert.« Er wedelte mit den Armen. »Versuchen wir es hinten!«

Leonie und Theresa tauschten einen fassungslosen Blick, aber Hendrik hatte sich bereits umgedreht und war mit wenigen Schritten wieder beim Heck des Wagens. Mit sichtlicher Anstrengung zerrte er den Leichnam des muskelbepackten Ungetüms zur Seite, stemmte die zerschmetterte Tür vollends auf und trat drei-, viermal hintereinander und mit aller Gewalt vor die geschlossene Metallplatte dahinter. Leonie konnte nicht sagen, ob es an seiner Kraft lag oder ob der Anprall des Ungeheuers die Tür schon nachhaltig geschwächt hatte, aber nach weniger als einem halben Dutzend wuchtiger Fußtritte löste sich die dünne Metallplatte und kippte nach draußen. Sofort wurde sie vom Fahrtwind gepackt und davongerissen. Sie verschwand außer Sicht, noch bevor sie auf den Schienen aufschlagen konnte.

Auch Leonie näherte sich widerstrebend der Tür. Hendrik klammerte sich mit beiden Händen am Rahmen fest, um nicht von dem immer stärker werdenden Luftzug hinausgerissen zu werden, und ohne sein Gesicht zu sehen, wusste Leonie, dass er sich spätestens jetzt von dem Gedanken verabschiedet hatte, den Zug auf diesem Weg zu verlassen. Ihr selbst wurde beinahe sofort übel beim Anblick des Schienenstranges, der schon wenige Meter hinter dem Zug zu einem silberweißen Schemen verschwamm. Wenn sie dort hinaussprangen, dann waren sie wahrscheinlich tot, bevor sie den Aufschlag auch nur spürten.

»Und jetzt?«, schrie Theresa.

Statt zu antworten - was auch? -, sah Leonie mit klopfendem Herzen in Fahrtrichtung. Erstaunlicherweise war von ihren Verfolgern immer noch nichts zu sehen, aber sie würden kommen, daran bestand kein Zweifel.

»Du hast Recht, Leonie.« Hendrik schrie ihr praktisch ins Ohr um sicherzugehen, dass sie ihn auch verstand. »Wir sollten wieder nach vorn gehen!«

»Wie?!«, keuchte Leonie. Anscheinend hatte Hendrik ihren Blick gründlich missverstanden. Er gab ihr allerdings keine Gelegenheit, zu protestieren, sondern eilte bereits los, wobei er Leonie einfach mit sich zerrte. Theresa folgte ihnen lauthals protestierend, aber ihre Angst, allein zurückzubleiben, war offensichtlich doch größer als die Angst vor dem, was weiter vorn im Zug auf sie wartete.

Leonie folgte Hendrik widerspruchslos, bis sie den nächsten Wagen erreicht hatten und der Lärm wenigstens weit genug hinter ihnen zurückgeblieben war, um sich wieder verständigen zu können, ohne sich dabei gegenseitig anschreien zu müssen. Dann jedoch riss sie sich los und bedeutete Hendrik mit Gesten, ebenfalls stehen zu bleiben.

»Theresa hat Recht«, sagte sie atemlos. »Wir können nicht wieder nach vorn. Sie kommen von dort!«

»Ich kämpfe nicht gern mit dem Rücken zur Wand«, erwiderte Hendrik. »Wie viele sind es?«

»Zu viele«, antwortete Leonie. »Wir müssen hier raus! Irgendwie!« Ihre Gedanken überschlugen sich fast. »Wie sind Sie hierher gekommen?«, fragte sie schließlich.

Hendrik schüttelte bedauernd den Kopf. »Dieser Weg steht uns nicht zur Verfügung.«

»Dann ist es vorbei«, keuchte Theresa. »Sie werden uns erwischen.«

Hendrik starrte sie misstrauisch an, aber Leonie spürte, dass die Verzweiflung in Theresas Stimme echt war. Doch Theresas Angst weckte nur ihren Trotz. Sie würde nicht einfach aufgeben - nicht so.

»Wir sollten weiter nach vorn gehen«, beharrte Hendrik. »Ich muss wissen, mit wie vielen Gegnern ich es zu tun habe. Ihr könnt hier bleiben, wenn ihr wollt.«

Natürlich war Leonie nicht besonders scharf darauf, wieder in den vorderen Zugteil zu gehen, aber allein hier zurückzubleiben und darauf zu warten, ob Hendrik wiederkam oder an seiner Stelle eine Horde Keulen schwingender Ungeheuer auftauchte, erschien ihr noch schrecklicher. Sie nickte widerstrebend. Theresa nickte nicht, sondern starrte sie nur entsetzt an, aber als Hendrik losging und Leonie ihm in geringem Abstand folgte, schloss sie sich ihnen ebenfalls an.

Zu Leonies wachsender Verwirrung kamen ihnen keine weiteren Ungeheuer entgegen, weder im nächsten Wagen noch im übernächsten noch in dem danach. Als sie sich jedoch dem Speisewagen näherten, wurde Hendrik immer langsamer und blieb schließlich stehen.

Die Tür war zerborsten und der Raum dahinter sah aus, als wäre er von einem Bulldozer verwüstet worden, dessen Fahrer an einer besonders üblen Form von Veitstanz litt. Die Tür an seinem anderen Ende war verschwunden. Stattdessen blickten sie in einen endlos langen, von Fackeln erhellten Tunnel - von dem allerdings nicht sehr viel zu sehen war, denn er platzte schier aus allen Nähten vor Aufsehern, Scriptoren und allen möglichen (und unmöglichen) anderen Kreaturen, die sich darin drängten. Nicht eines dieser bizarren Geschöpfe machte auch nur den Versuch, den Speisewagen zu betreten.

»Worauf warten sie?«, fragte Theresa.

Leonie hob nur die Schultern, aber Hendrik antwortete in fast nachdenklichem Ton: »Vielleicht können sie es nicht. Oder sie warten auf etwas.«

»Oder jemanden«, fügte Leonie hinzu. Sie trat neben Hendrik, um besser sehen zu können. Hinter der versammelten Meute, weit, unendlich weit am Ende des Tunnels, glaubte sie, eine dunkle Gestalt zu erkennen, die nicht ganz Mensch, aber auch nicht ganz etwas anderes war.

»Was... ist das?«, flüsterte sie.

Ihre Stimme war nur ein Hauch, der im anhaltenden Klirren und Scheppern ringsum eigentlich hätte untergehen müssen, aber Hendrik warf ihr dennoch einen raschen nervösen Blick zu, und Theresa, die zwei Schritte hinter ihr stand, antwortete: »Vielleicht... der Archivar.«

Leonie wünschte sich, sie hätte es nicht gesagt. Tief in sich hatte sie gewusst, wer diese unheimliche schwarze Gestalt war. Ebenso wie sie gewusst hatte, dass es manchmal besser war, einem namenlosen Schrecken eben keinen Namen zu geben. Es war eine Frage von der Art gewesen, auf die man gar keine Antwort haben will.

Hendrik spreizte den linken Arm ein wenig vom Körper ab und schob sie zurück, während er gleichzeitig fast behutsam Schritt für Schritt vor der zerborstenen Tür zurückwich. Erst als der unheimliche Tunnel samt seinen monströsen Bewohnern nicht mehr zu sehen war, drehte er sich um, legte Leonie beide Hände auf die Schultern und schob sie noch ein gutes Dutzend Schritte weiter den Gang entlang, bis er endlich stehen blieb. »Das sind zu viele«, sagte er.

Leonie sah aus den Augenwinkeln, wie Theresa zu einer spöttischen Antwort ansetzte, und brachte sie mit einem fast entsetzten Blick zum Schweigen. Ihr war nicht ganz klar, was sich denn Theresa davon versprach, Hendrik zu reizen, aber es war mit Sicherheit keine gute Idee.

Hendrik ließ endlich ihre Schultern los, drehte sich wieder um und starrte eine gute halbe Minute lang mit konzentriertem Gesichtsausdruck nach vorne. Schließlich fragte er: »Wie wird dieses Fahrzeug angetrieben?«

»Durch eine Elektrolok«, antwortete Theresa, und noch bevor Hendrik die Verständnislosigkeit, die Leonie in seinem Blick las, in eine entsprechende Frage kleiden konnte, sagte sie rasch: »Der Wagen am vorderen Ende zieht die Waggons.«

»Und es sind einzelne Wagen?«

Leonie nickte.

»Dann müssen wir versuchen den letzten Wagen abzuhängen«, erklärte Hendrik.

Theresa starrte ihn aus ungläubig aufgerissenen Augen an, doch Leonie schüttelte nur bedauernd den Kopf. Auf diese Idee war sie auch schon gekommen - aber so etwas funktionierte allerhöchstens in Hollywood-Filmen oder in einer Eisenbahn, die nicht viel jünger war als Hendrik. »Das geht nicht«, widersprach sie.

»Warum nicht?«

Statt einer Antwort ging Leonie wortlos bis zum Ende des Wagens, öffnete die Schiebetür und deutete auf die beiden halbrunden, geriffelten Metallplatten, die den Fußboden bildeten und sich im wackelnden Takt des dahinbrausenden Zuges gegeneinander verschoben. Hendrik sah sie nur verständnislos an. »Die Kupplung ist da drunter«, erklärte sie. »Wenn du nicht zufällig einen Schweißbrenner in der Tasche hast...«

Hendrik wirkte mit einem Mal sehr ernst, aber keineswegs entmutigt, wie Leonie fand. Er schob sie mit einer Handbewegung zur Seite, ließ sich in die Hocke sinken und versuchte, die Finger zwischen die beiden Platten zu schieben, zog die Hand aber dann rasch wieder zurück, bevor er Gefahr lief, seine Finger einzubüßen. »Die Kupplung ist... da unten?«, vergewisserte er sich, sah jedoch nicht einmal auf, sodass er Leonies zustimmendes Nicken gar nicht sehen konnte. »Und diese beiden Platten ermöglichen es den Fahrgästen, ungefährdet von einem Wagen in den anderen zu wechseln.«

Er klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Boden. Es klang nach massivem Metall. Nach äußerst massivem Metall, dachte Leonie unbehaglich. Hendrik ließ sich von dieser Erkenntnis jedoch nicht abschrecken, sondern stand im Gegenteil auf, wandte sich um und verschwand mit schnellen Schritten wieder im angrenzenden Speisewagen. Leonie wagte es nicht, ihm zu folgen, doch Hendrik kam auch schon nach wenigen Augenblicken zurück. Diesmal hatte er keinen Sitz auseinander genommen, sondern schwenkte fast triumphierend ein Metallrohr mit einem Durchmesser von gut fünf Zentimetern, das Leonie erst nach einigen Augenblicken als das Bein eines Bistrotisches erkannte, das er offensichtlich abgebrochen hatte.

Ohne viel Federlesen scheuchte er Theresa und sie beiseite, stellte sich breitbeinig auf und versuchte, das scharfe Ende des Metallrohres zwischen die beiden Platten zu schieben. Es gelang ihm erst beim dritten oder vierten Anlauf und auch dann war der Erfolg äußerst mäßig: Ein hässliches, in den Ohren schmerzendes Kreischen und Schrillen erklang, und Hendrik brauchte sichtlich all seine Kraft, damit ihm das Rohr nicht aus den Händen gerissen wurde, aber die beiden Aluminiumplatten rührten sich nicht. Dennoch verstärkte Hendrik den Druck nur noch und versuchte mit aller Gewalt, das Metall in den kaum mehr als fünf Millimeter messenden Spalt zu pressen. Das Quietschen und Schrillen wurde lauter, und Hendriks Muskeln spannten sich so sehr, dass Leonie nicht wirklich überrascht gewesen wäre, wäre sein Hemd zerrissen.

Und dann ging auf einmal alle ganz schnell: Der Wagen legte sich in eine sanfte Linkskurve, die beiden Metallplatten bewegten sich kreischend gegeneinander, und das Rohr wurde Hendrik mit solcher Wucht aus den Händen gerissen, dass er zurücktaumelte und dann mit einem Schmerzensschrei zu Boden ging, als das peitschende Ende seinen Oberschenkel traf. Mit dem hässlichen Geräusch zerreißenden Metalls brach das Rohrstück einfach ab. Eine der beiden Aluminiumplatten hatte sich verbogen. Nicht sehr weit, aber doch deutlich.

Hendrik arbeitete sich mit zusammengebissenen Zähnen in die Höhe, begutachtete sein Werk und ging dann noch einmal in die Hocke, um mit einem zufriedenen Nicken den Rest des in zwei Teile zerbrochenen eisernen Rohres aufzuheben. »So müsste es gehen«, murmelte er. Dennoch richtete er sich weiter auf und trat mit einem großen Schritt über die beschädigten Aluminiumplatten hinweg.

»Und warum machen Sie dann nicht weiter?«, erkundigte sich Theresa.

Hendrik machte eine Bewegung, die irgendwo zwischen einem Kopfschütteln und einer Geste in Richtung des Zugendes lag. »Nicht hier«, sagte er. »Im letzten Wagen. Das verschafft uns Zeit.«

Theresa wollte abermals widersprechen, aber Hendrik eilte bereits los und Leonie schloss sich ihm rasch an. Sie hoffte, dass es nicht so weit kam - aber wenn es ihren Verfolgern erst einmal gelungen war, die unsichtbare Barriere zwischen ihrer Welt und dem Speisewagen zu überwinden, dann mochten die wenigen Augenblicke Vorsprung, die sie auf diese Weise gewannen, vielleicht über Leben und Tod entscheiden.

Sie brauchten diesmal nur wenige Minuten, um das Zugende zu erreichen. Leonie schrak instinktiv davor zurück, den letzten Wagen - Schauplatz ihres Kampfes mit dem Ungeheuer - wieder zu betreten, in dem jetzt ein wahrer Sturm tobte, aber Hendrik drängte Theresa und sie kurzerhand durch die Tür und gab ihnen mit einer knappen Geste zu verstehen, dass sie einige Schritte zurückbleiben sollten, während er sich mit dem Rücken gegen die offen stehende Zwischentür lehnte, beide Füße in den Boden stemmte und versuchte, das mittlerweile noch ungleich mehr zerfetzte und verbogene Ende seines Metallrohres zwischen die beiden Aluminiumplatten unter sich zu schieben. Er brauchte dazu länger als vorhin, und auch diesmal ließ der Erfolg eine geraume Weile auf sich warten; der Zug schien jetzt eine vollkommen gerade Strecke entlangzurasen, und Leonie wurde sich mit jähem Schrecken bewusst, dass sich das vielleicht nicht mehr ändern würde. Schließlich fuhren sie durch einen Tunnel und in Tunneln gab es in den seltensten Fällen scharfe Kurven.

Hendrik rammte das Metallrohr jedoch verbissen immer weiter zwischen die beiden halbrunden Metallplatten, bis es ihm zumindest gelungen war, es so zu verkanten, dass es sich nicht mehr bewegen ließ. Nervös sah er über die Schulter in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Das Heulen des Windes, der draußen vorbeirauschte, und das Tosen des Zuges, das sich mittlerweile anhörte, als würde der gesamte ICE im nächsten Moment auseinander brechen, verschluckten auch weiterhin jedes andere Geräusch, aber Leonie schien nicht die Einzige zu sein, die sich einbildete, das Geifern und Kreischen der näher kommenden Meute bereits zu hören.

Dann änderte sich etwas. Leonie konnte im ersten Moment selbst nicht sagen was, doch nach ein paar Sekunden fiel ihr der Unterschied auf: Nur noch auf der rechten Seite stoben Funken vor dem Fenster hoch. Durch das Fenster auf der anderen Seite war jetzt nur noch vorüberrasende Schwärze zu erkennen. Sie tauschte einen beunruhigten Blick mit Theresa, wandte sich um und ging rasch zu dem Fenster, das Hendrik vorhin eingeschlagen hatte. Ihr Herz begann noch heftiger zu pochen. Schon die bloße Vorstellung, sich dort hinauszubeugen, war beinahe mehr, als sie ertragen konnte - aber sie musste wissen, was dort draußen geschah! Sich mit beiden Händen am Fensterrahmen festklammernd, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und beugte sich aus dem Fenster.

Sofort schlug ihr der Fahrtwind wie mit einer unsichtbaren Eisenkralle in die Augen. Der Sturm war so gewaltig, dass er ihr sogar den Atem von den Lippen riss und sie im allerersten Moment kaum Luft bekam, geschweige denn etwas sah. Wohl oder übel ließ sie mit der linken Hand los, hielt sie sich vors Gesicht und versuchte zwischen gespreizten Fingern hindurch etwas zu erkennen. Im ersten Moment gelang es ihr nicht - aber das lag wohl eher daran, dass es gar nicht viel zu erkennen gab: Der Zug raste nicht mehr durch einen Tunnel, sondern durch eine gewaltige, vollkommen leere Höhle, die sie nur deshalb nicht als absolute Schwärze wahrnahm, weil irgendwo Hunderte und Aberhunderte von Metern über ihr schemenhaft eine felsige Decke zu erkennen war. Sie fuhren auch nicht mehr scharf geradeaus, denn sie konnte jetzt weit vor sich die Lok und die ersten zwei oder drei Wagen erkennen; der Intercity begann sich in eine sanfte Linkskurve zu legen.

Leonie stieß sich mit einer hastigen Bewegung zurück und wirbelte herum. »Hendrik!«, schrie sie. »Pass auf!«

Ihre Warnung kam auch keinen Moment zu früh. Hendrik stemmte die Beine noch fester in den Boden, spannte die Muskeln und schon im nächsten Moment ging ein so furchtbarer Ruck durch den Zug, dass ihm die Eisenstange wie schon einmal zuvor einfach aus den Händen gerissen wurde und er danach mit einem keuchenden Schmerzensschrei davonflog. Die Eisenstange machte quietschend und Funken sprühend eine Vierteldrehung, zertrümmerte die Tür und verkantete sich dann zwischen den beiden Wagen. Selbst über das ungeheure Getöse hinweg, das im Abteil herrschte, war das hässliche Geräusch zu hören, mit dem sich die beiden Aluminiumplatten auseinander falteten wie der Deckel einer Fischdose. Irgendwo darunter schien noch etwas kaputt zu gehen: Leonie sah Funken aus dem Loch emporwirbeln und möglicherweise sogar kleine rot glühende Metalltrümmer, wagte es aber nicht, näher heranzugehen. Sie hätte es auch gar nicht gekonnt. Der Wagen schüttelte sich und bockte jetzt so stark, dass sie sich mit aller Kraft am Fensterrahmen festhalten musste, um überhaupt noch auf den Beinen zu bleiben.

Nach ein paar Sekunden wurde es besser; zumindest der Funkenregen hörte auf und auch das Zittern des Fußbodens nahm wieder ein wenig ab. Im angrenzenden Abteil richtete sich Hendrik benommen auf, lehnte sich mit grauem Gesicht gegen die Wand und tat sekundenlang nichts anderes als dazustehen und tief ein- und auszuatmen, bevor er sich mit einer irgendwie müde wirkenden Bewegung abstieß und, breitbeinig und mit ausgestreckten Armen an der Wand Halt suchend, wieder zurückkam.

Gut einen Meter vor der gewaltsam geschaffenen Öffnung im Boden ließ er sich auf Hände und Knie sinken und legte den Rest der Strecke kriechend zurück. Er blickte in die Tiefe, sah einen Moment lang nur verwirrt aus und winkte Leonie schließlich heran.

Obwohl sie es ihm gleichtat, indem sie die letzten zwei Meter ebenfalls auf Händen und Knien zurücklegte, verspürte sie einen raschen, heftigen Schwindel, als sie sich über das Loch im Boden beugte - dessen rasiermesserscharfe, gefährlich nach oben gebogene Ränder sich noch dazu unablässig hin und her bewegten - und nach unten sah. Das Gleis raste so schnell unter ihnen entlang, dass sie weder Schienen noch Schwellen erkennen konnte, sondern nur ein braunsilbernes Huschen.

»Ist das die Kupplung?«, brüllte Hendrik über den Lärm hinweg.

Leonie nickte zwar, aber sie war nicht ganz sicher. Das einzige Mal, dass sie die Kupplung eines Eisenbahnwaggons gesehen hatte, war bei einer Spielzeugeisenbahn gewesen - und diese Konstruktion hatte kaum Ähnlichkeit mit dem, was sie jetzt unter sich erblickte. Da waren Hydraulikschläuche, Ventile, Hebel und Metallteile, die aussahen, als wögen sie eine Tonne, und ganz und gar nicht, als könnte man sie ohne große Mühe bewegen.

»Wie trennt man das?«, murmelte Hendrik.

Leonie sah ihn nur hilflos an, aber Hendrik wirkte nicht besonders enttäuscht; nicht einmal wirklich überrascht. Er griff ächzend hinter sich, um das abgebrochene Ende des Metallrohres wieder zur Hand zu nehmen, stemmte sich auf die Knie hoch und begann mit dem Eisenstück in dem Durcheinander aus Schläuchen, Kabeln und Verbindungen unter ihnen herumzustochern. Schon der Gedanke, selbst so etwas tun zu müssen, bereitete Leonie tiefes Unbehagen - aber sie hatte das Gefühl, dass Hendrik nicht wirklich wusste, was er da tat. Schließlich kroch sie wieder ein Stück weit von der Öffnung im Boden zurück, stand auf und ging zu Theresa hinüber. Die dunkelhaarige Frau hatte bisher kein Wort gesagt, sondern verfolgte Hendriks Tun mit wachsender Bestürzung. Leonie wich ihrem fragenden Blick aus und tastete sich mit zusammengebissenen Zähnen wieder zum Fenster vor.

Der Anblick hatte sich abermals verändert. Sie konnte jetzt einen Großteil des Zuges erkennen, das hieß, dass die lang gestreckte Kurve, durch die der ICE donnerte, noch immer nicht zu Ende war, und auch die Höhlendecke war ein deutliches Stück näher gekommen. Leonie hob die Hand ein wenig höher, um ihre Augen besser vor dem schneidenden Fahrtwind zu schützen, der noch immer wie mit Messern auf sie einstach, und wurde mit einem Anblick belohnt, auf den sie liebend gern verzichtet hätte: Sie konnte jetzt die Lok erkennen, aber nicht nur sie. Denn etwas Großes, Monströses kroch über das stromlinienförmige Ungetüm aus Stahl, nicht sehr schnell, alles andere als elegant, jedoch mit Bewegungen, die Leonie mit einem intensiven Gefühl von Unaufhaltsamkeit erfüllten. Und da war noch etwas. Weit vor ihnen (wie weit, konnte sie nicht einmal ungefähr abschätzen, da ihr jeglicher Bezugspunkt fehlte) schien die Dunkelheit, durch die der ICE jagte, eine andere Qualität anzunehmen und auf eine erschreckende Weise leerer zu sein.

Und dann begriff sie es: Der ICE raste auf einen Abgrund zu!

»Um Gottes willen, Hendrik!«, kreischte sie. »Beeil dich!«

Trotz des Höllenlärms schien Hendrik sie gehört und sogar verstanden zu haben, denn er sah erschrocken hoch und verdoppelte dann seine Anstrengungen, mit seinem stochernden Eisenstab in der Tiefe unter sich irgendetwas zu zertrümmern. Leonie sah ihm zwei, drei Sekunden lang mit rasendem Herzen zu, dann beugte sie sich wieder aus dem Fenster. Ihre Nerven hatten ihr keinen Streich gespielt. Die Schwärze war da, allumfassend und endlos, und der ICE raste schneller und schneller werdend darauf zu. Leonie glaubte nicht, dass die Lok noch länger als eine Minute brauchen würde, um sie zu erreichen.

Ein so harter Ruck ging durch den Boden, dass sie den Halt verlor und mit einem Schrei in den Wagen zurückstürzte. Sie schlug schwer auf. Sie verletzte sich nicht, blieb aber etliche Sekunden lang benommen liegen und richtete sich gerade rechtzeitig genug wieder auf um zu sehen, wie auch Hendrik wieder auf die Füße kam, die Eisenstange fest mit beiden Händen ergriff und ein letztes Mal und mit aller Gewalt nach unten rammte.

Diesmal war der Ruck nicht annähernd so heftig wie der erste, aber sie konnte hören, wie unter ihnen etwas zerbrach. Ein Funkenschauer stob in die Höhe, versengte Hendriks Hände, Arme und sein Gesicht, und plötzlich wurde er nach hinten gerissen, kämpfte mit wedelnden Armen eine oder zwei Sekunden lang vergeblich um sein Gleichgewicht und fiel dann hilflos auf den Rücken. Dort, wo er gerade noch gestanden hatte, war plötzlich ein haarfeiner Spalt im Boden, der sich rasend schnell auf die Größe einer Hand verbreiterte, dann auf zwei, drei, einen halben Meter, einen... Leonies Herz machte einen entsetzten Satz.

»Hendrik!«, schrie sie. »Spring!«

Aber natürlich war es zu spät. Hendrik kämpfte sich mühsam in die Höhe, aber die Lücke zwischen den beiden Wagen war mittlerweile gut anderthalb Meter breit und wuchs immer weiter. Sie konnte sehen, wie er sich spannte und Anlauf nahm, sich dann aber im letzten Moment eines Besseren besann. Der ICE raste mit unverminderter Geschwindigkeit dahin, während der Wagen, in dem Theresa und Leonie sich befanden, bereits langsamer wurde. Hendrik hatte es geschafft. Aber um welchen Preis?

Leonie blieb reglos sitzen, während der Wagen mit Hendrik sich immer rascher und rascher entfernte. Erst als sie sein Gesicht nicht mehr erkennen konnte, stemmte sie sich vollends in die Höhe und ging noch einmal zum Fenster, um sich hinauszubeugen.

Sie wurde mit einem Anblick belohnt, der an Schrecken alles Bisherige noch einmal übertraf.

Jetzt war es keine Vermutung mehr. Die unheimliche Schwärze, auf die der Zug zuraste, war ein Abgrund - und die Lok hatte ihn genau in dem Moment erreicht, in dem Leonie sich vorbeugte! Die ungeheure Geschwindigkeit des ICE ließ sie noch ein gutes Stück fast waagerecht weiterrasen, obwohl unter ihren eisernen Rädern plötzlich keine Schienen mehr waren, aber dann kippte sie langsam wie ein riesiges, vielrädriges Geschoss nach vorn und begann in einer lang gestreckten Parabel in die Tiefe zu stürzen, wobei sie erbarmungslos die angehängten Wagen mit sich riss.

Als die Hälfte des Zuges den Halt auf den Schienen verloren hatte, begann er sich zu drehen wie ein Zollstock, der mit brutaler Gewalt in verschiedene Richtungen auseinander gebogen wurde. Zwei oder drei Waggons rissen ab, bevor sie in der Tiefe verschwanden, und aus einem weiteren züngelten Flammen. Die beiden letzten Wagen schließlich (großer Gott, auch der, in dem sich Hendrik befand!) sprangen aus den Schienen und stellten sich quer, aber ihr Schwung war immer noch groß genug, um sie weiterzureißen - auf den bodenlosen Abgrund zu. Leonie schloss entsetzt die Augen.

Als sie sie wieder öffnete, war vor ihnen nichts mehr. Der gewaltige ICE mit all seinen angehängten Waggons war so spurlos verschwunden, als hätte es ihn niemals gegeben.

Aber der Waggon, in dem Theresa und sie sich befanden, sauste immer noch weiter!

»Mein Gott!«, keuchte Theresas Stimme neben ihr. »Wir schaffen es nicht!«

Sie hatte Recht, dachte Leonie dumpf, als sie den Abgrund unaufhaltsam näher kommen sah. Doch sie erschrak nicht einmal wirklich. Hendriks Opfer war umsonst gewesen. Er hatte den Wagen abgekoppelt, gegen jede Wahrscheinlichkeit, aber zu spät. Sie waren immer noch viel zu schnell.

»Wir müssen springen!«, schrie Theresa. »Leonie!«

Sie griff nach oben, um sich am Fensterrahmen in die Höhe zu ziehen und ihre Worte unverzüglich in die Tat umzusetzen, doch Leonie hielt sie mit einem müden Kopfschütteln zurück. Sie konnte Theresas Angst nachvollziehen, aber ein Sprung bei dieser Geschwindigkeit musste ebenso tödlich sein wie ein Sturz in die Tiefe. Der Zug raste noch immer mit mindestens hundertfünfzig Stundenkilometern über die Schienen, wenn nicht schneller. Und sie hatten keine Möglichkeit...

Leonie fuhr so hastig herum, dass sie mit voller Wucht gegen Theresa prallte und diese mit einem spitzen Schrei stürzte, aber sie nahm es nicht einmal zur Kenntnis. Mit einem einzigen Satz war sie auf der anderen Seite des Waggons und zerrte mit beiden Händen an der Notbremse.

Das Kreischen von Metall war diesmal so laut, dass sie glaubte, ihr Trommelfell würde zerreißen. Auf beiden Seiten schossen weiße und gelbe Funkenschauer vor den Fenstern hoch, und obwohl Leonie auf den Ruck vorbereitet gewesen war, riss es sie einfach von den Füßen und schleuderte sie hart durch den Waggon, ehe sie auf dem Boden aufschlug und den Rest des Weges schlitternd zurücklegte. Es war pures Glück, dass sie nicht aus dem Wagen stürzte, sondern hart mit der Schulter gegen die Wand unmittelbar neben der Tür prallte. Der Wagen schüttelte sich und bockte kräftiger denn je zuvor, aber auf eine andere, beunruhigendere Art. Durch den Nebel aus Schmerz, Furcht und Bewusstlosigkeit, der immer heftiger versuchte, sie in seine dunkle Umarmung hinabzuziehen, spürte sie, wie sich der Wagen tatsächlich ein Stück aus den Schienen hob und dann zurückkrachte. Sie rechnete so fest mit einer Katastrophe, dass sie im allerersten Moment ein völlig absurdes Gefühl von Enttäuschung empfand, als nichts weiter geschah.

Mühsam - und vorsichtshalber ohne zu Theresa zurückzublicken - stemmte sie sich auf die Ellbogen hoch und robbte ein Stück zur Seite, um durch die aufgebrochene Tür nach vorn zu sehen.

Der Abgrund kam immer noch näher. Auch unter dem vorderen Ende des Wagens stoben Funken hoch, und sie konnte jetzt bereits die Stelle erkennen, an der die Schienen einfach im Nichts endeten. Sie rasten längst nicht mehr so schnell wie am Anfang dahin und verloren auch immer noch rapide an Geschwindigkeit, und dennoch hatte Leonie das entsetzliche Gefühl, dass der Abgrund einfach auf sie zuzuspringen schien wie ein schwarzes Ungeheuer, das es nicht mehr abwarten konnte, die Fänge in seine Beute zu schlagen. Sie waren noch hundert Meter entfernt, dann fünfzig, dreißig... Die Funken stoben nicht mehr so heiß und hell wie noch vor einigen Augenblicken und ihr Tempo nahm weiter ab, aber der Abgrund näherte sich trotzdem unerbittlich. Der Wagen bewegte sich jetzt kaum noch schneller als ein rennender Mensch, doch zwischen Leonie und dem Nichts lagen mittlerweile auch nur noch zehn Meter, dann vielleicht fünf, drei...

Und dann nichts mehr.

Sie schrie vor Entsetzen und Panik auf, als sie spürte, wie die blockierenden Eisenräder plötzlich auf keinen Widerstand mehr trafen und der Wagen immer noch weiterschlitterte. Dann schleuderte sie ein gewaltiger Ruck auf den Boden, als das zweite Räderpaar plötzlich den Halt verlor und der Wagen mit fürchterlicher Gewalt nach vorne kippte...

... und zur Ruhe kam!

Leonie blieb mit geschlossenen Augen liegen, lauschte dem rasenden Hämmern ihres Herzens und wartete darauf, den unheimlichen Laut zu hören, mit dem sich der Eisenbahnwaggon ganz langsam weiter nach vorne neigte, um schließlich doch noch in die Tiefe zu stürzen. Aber sie hörte nichts. Nach dem Höllenlärm, der bisher hier drinnen geherrscht hatte, tat die Stille beinahe weh in den Ohren. Doch sie blieb und auch der Boden bewegte sich nicht mehr. Sie hatten es geschafft. Zögernd, fast ängstlich, als fürchte ein Teil von ihr, schon diese winzige Bewegung könnte ausreichen, um den Waggon endgültig die Balance verlieren zu lassen, öffnete sie die Augen und stand mühsam auf. Die Abteiltür lag unmittelbar vor ihr. Darunter war nichts mehr.

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