In die Enge getrieben

Jemand schlug ihr sanft (wenn auch nicht annähernd so sanft, wie für Leonies Geschmack angemessen gewesen wäre) und abwechselnd rechts und links ins Gesicht um sie aufzuwecken. Noch bevor sie den zweiten oder dritten Schlag richtig registrierte, wurde ihr irgendwie klar, dass sie nur wenige Augenblicke bewusstlos gewesen sein konnte, und noch bevor sie mühsam blinzelnd die Augen öffnete, wurde ihr die ganze Geschichte unvorstellbar peinlich. War sie wirklich wie eine hysterische Jungfer in Ohnmacht gefallen, nur weil sie einen...

... Scriptor gesehen hatte?

Leonie setzte sich so abrupt auf, dass ihr prompt schwindelig wurde und sie wahrscheinlich sofort wieder auf die Nase gefallen wäre, hätte Maus, der vor ihr auf den Knien hockte, sie nicht gedankenschnell aufgefangen.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte er hastig. »Keine Angst!«

»Alles in Ordnung?«, keuchte Leonie. »Aber das... das da... das da ist... das da ist ein...« Sie atmete keuchend ein. »Das da ist ein Scriptor!«, stieß sie schließlich hervor.

»Scharf beobachtet, dumme Kuh«, giftete der Scriptor. Er stand mit vor der Brust verschränkten Armen vor der Tür, die er gerade zugeworfen hatte, und funkelte sie zornig an. »Soll ich mich jetzt geehrt fühlen, dass du mich wiedererkannt hast?«

Es dauerte einen Moment, bis Leonie diesen Worten überhaupt einen Sinn abgewinnen konnte. Aber dann nahm sie das hässliche Greisengesicht des Scriptors noch einmal und genauer in Augenschein, und tatsächlich: Etwas daran kam ihr vage bekannt vor.

»Du?«, murmelte sie zweifelnd.

Der Scriptor zog eine Grimasse. »Das ist zwar nicht unbedingt mein Name, aber ich glaube, ich weiß, was du meinst. Ja, ja, ich bin es.« Er zog wieder eine Grimasse. »Weiber!«

Leonie machte sich umständlich aus Maus’ Armen los und setzte sich weiter auf. Irritiert blickte sie abwechselnd von Maus zu dem Scriptor und wieder zurück. »Was geht denn hier vor?«, fragte sie hilflos.

»Nichts, was dir Angst machen müsste«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Es ist alles in Ordnung.«

Leonie drehte sich überrascht um und hätte um ein Haar entsetzt aufgeschrien, und Wohlgemut fuhr mit einem angedeuteten Lächeln, aber ansonsten vollkommen ungerührt fort: »Aber ich schlage vor, dass wir das an einem anderen Ort besprechen. Diese Tür sieht zwar recht stabil aus, aber ich weiß trotzdem nicht, wie lange sie standhalten wird.«

Leonie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. »Was... geht hier vor?«, ächzte sie.

»Der Professor hat Recht«, sagte Maus. »Wir müssen hier weg!«

Leonie starrte abwechselnd ihn, Maus, den Scriptor und Professor Wohlgemut verständnislos an, und dann drehte sie sich weiter um und zweifelte nun vollends an ihrem Verstand, denn am anderen Ende des großen Raumes gewahrte sie niemand anderen als ihre Großmutter, die auf dem Boden saß und mit zwei alten Männern mit Brille und schütterem, trotzdem aber zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebundenen Haar sprach. Doktor Fröhlich und Vater Gutfried.

Also gut, dachte sie. Dann war es eben so. Sie war tot und in der Hölle oder - schlimmer noch - endgültig übergeschnappt und in der Klapsmühle.

»Was... bedeutet das?«, murmelte sie.

»Das sind deine Verbündeten«, sagte Maus mit einer erklärenden Geste. Leonie ächzte und Maus fügte im gleichen Tonfall hinzu: »Die einzigen, die du noch hast, fürchte ich.«

Nein, dachte Leonie, sie war weder tot noch meschugge, sondern im allerübelsten aller nur vorstellbaren üblen Träume gefangen.

»Aha«, sagte sie.

Irgendetwas schlug mit einem so dumpfen Krachen gegen die Tür, dass der Scriptor einen erschrockenen Satz machte und um ein Haar auf die Nase gefallen wäre. Großmutter und Fröhlich unterbrachen alarmiert ihr Gespräch, und Vater Gutfried stand hastig auf und sagte: »Ich glaube, ich hole besser den Wagen.«

Er ging. Großmutter stand mit Fröhlichs Hilfe auf und kam mit mühsamen kleinen Schritten näher. »Komm, Leonie. Der Professor hat Recht. Die Tür wird nicht ewig halten. Und wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

»Aha«, sagte Leonie abermals. Es war nach wie vor das Geistreichste, was ihr einfiel. Sie verstand nichts mehr.

Maus half ihr auf die Beine zu kommen, während der Scriptor in zwei oder drei Schritten Entfernung dastand und sie feindselig anstarrte. »Was soll denn das heißen, meine einzigen Verbündeten?«, fragte Leonie.

Maus wollte antworten, aber Großmutter kam ihm zuvor. »Dein kleiner Freund hat mit Wohlgemut und den anderen gesprochen«, erklärte sie. »Komm.«

»Gesprochen? Worüber?«

»Über dich. Und Meister Bernhard.« Großmutter wollte fortfahren, doch in diesem Moment erzitterte die Tür unter einem Schlag, der das Holz knirschen ließ. Staub rieselte zwischen den massiven Balken hervor, und selbst die metallenen Beschläge ächzten hörbar. Großmutter warf einen erschrockenen Blick auf die Tür und drehte sich dann hastig um, und auch Leonie und die anderen beeilten sich ihr zu folgen.

Die Tür erzitterte unter einem weiteren, noch härteren Schlag, als sie den Ausgang fast erreicht hatten. Leonie dachte vorsichtshalber nicht darüber nach, was da von der anderen Seite gegen sie hämmerte - aber ein Scriptor war es auf keinen Fall. Und erst Recht kein Schusterjunge.

Erst als sie durch die Tür traten, erkannte Leonie ihre Umgebung wieder: Sie fanden sich unvermittelt in einem weitläufigen, düsteren Gewölbekeller wieder, der zum Großteil von schweren Eichentischen und den dazugehörigen Stühlen ausgefüllt wurde. Auf der linken Seite stand eine kompliziert aussehende, grobschlächtige Konstruktion, die Leonie erst auf den zweiten Blick als altertümliche Druckerpresse erkannte. Die Wand dahinter wurde von einem deckenhohen Regal voller schwerer ledergebundener Bücher eingenommen. Sie befanden sich im Speisesaal des Burgkellers, des Lokales, in dem sie damals das Ritteressen eingenommen hatten.

Und in dem sie Maus, Meister Bernhard und die anderen zum ersten Mal gesehen hatte.

Jemand versetzte ihr einen unsanften Stoß in den Rücken, der sie nicht nur zwei Schritte nach vorne stolpern ließ, sondern auch ziemlich unsanft wieder in die Wirklichkeit zurückriss. Verärgert fuhr sie herum und schluckte die scharfe Bemerkung hinunter, die ihr auf der Zunge lag, als sie in die wässrig funkelnden Augen des Scriptors blickte, der nur darauf zu warten schien, dass sie irgendetwas sagte, was er zum Anlass nehmen konnte, sie zu beschimpfen oder gleich einen Streit vom Zaun zu brechen.

Stattdessen nutzte sie die Gelegenheit, das dürre Geschöpf noch einmal und etwas genauer in Augenschein zu nehmen.

Auch wenn sich der für Logik zuständige Teil ihres Verstandes noch immer weigerte, die bloße Möglichkeit anzuerkennen, sagte ihr doch ihr Gefühl, dass es sich genau um den Scriptor handelte, der ihren Eltern und ihr damals zur Flucht verholfen hatte. Aber wie war das nur möglich?

Sichtlich enttäuscht, dass sie ihm keine Gelegenheit gab, sie mit wüsten Beschimpfungen zu überschütten, drehte sich der Scriptor um und knallte die Tür hinter sich zu. Nur den Bruchteil einer Sekunde darauf erscholl aus dem Raum dahinter ein zweiter, viel lauterer Schlag wie ein bizarres Echo. Leonie war jetzt fast sicher, das Splittern von Holz zu vernehmen.

Sie war nicht die Einzige, die das Geräusch gehört hatte. Auch ihre Großmutter warf einen nervösen Blick über die Schulter zurück, und Maus sagte leise: »Wir sollten uns lieber beeilen.«

Nicht, dass diese Aufforderung noch nötig gewesen wäre. Sowohl der Professor als auch Fröhlich beschleunigten ihre Schritte so sehr, wie sie konnten, und zweifellos wären sie sogar gerannt, hätten sie nicht Rücksicht auf Großmutter nehmen müssen, der es sichtlich immer schwerer fiel, überhaupt noch einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Die Treppe nach oben hätte sie um ein Haar nicht geschafft. Mehr von Wohlgemut und Fröhlich getragen als aus eigener Kraft, erreichte sie den oberen Schankraum, der ebenso leer und auf fast unheimliche Weise verlassen war wie der große Rittersaal im Keller.

Erneut fiel Leonie auf, wie ähnlich sich die beiden alten Männer trotz aller äußerlichen Unterschiede waren - und das bezog sich nicht nur auf die alberne Frisur und ihr sichtbar fortgeschrittenes Alter. Vielmehr hätten sie - und das schloss auch Vater Gutfried mit ein, den Dritten im Bunde - ohne weiteres Brüder sein können. Die Macht des Archivars mochte durchaus groß genug sein um Leben zu erschaffen, aber seine Fantasie war eher bescheiden, wenn es um die Erschaffung seines Hilfspersonals ging. Denn immerhin waren die drei hochbetagten Männer ja nichts weiter als seine Kreaturen, und dass sie sich wie Meister Bernhard nun gegen ihn wandten, zeugte zwar von einer Schwäche des Archivars - der die menschliche Seele wohl doch nicht so gut verstand, wie er geglaubt hatte -, aber ihre Existenz zeigte auch, wie langfristig und voller Boshaftigkeit er seinen Plan verfolgt hatte.

Leonie, die vorsichtshalber den Abschluss bildete, um sich von ihren so genannten Verbündeten nicht schon wieder einen derben Stoß einzufangen, warf noch einmal einen Blick zurück nach unten - gerade rechtzeitig genug um zu sehen, wie die Tür wie von einem Hammerschlag getroffen auseinander flog und ein riesiger, stachelumrahmter Schatten unter der gewaltsam geschaffenen Öffnung erschien. »Schnell«, schrie sie. »Sie kommen!«

Fröhlich und der Professor stürmten los, wobei sie Großmutter nun endgültig unter den Armen ergriffen und kurzerhand zwischen sich trugen. Zu dem Splittern von Holz unten im Keller gesellte sich nun das Geräusch stampfender Schritte und dann ein so wütendes Brüllen, dass etwas in Leonie schier zu Eis zu erstarren schien.

Obwohl sie wusste, wie sinnlos es war, warf sie die schwere Tür hinter sich ins Schloss, ehe sie ihrem eigenen Rat folgte und so schnell losrannte, wie es nur ging. Das Brüllen und Splittern unten im Keller hielt nicht nur weiter an, sondern wurde auch immer lauter, als versammele sich unter ihnen eine ganze Armee, und die stampfenden Schritte kamen entsetzlich schnell näher.

Die Tür barst, von einem einzigen wuchtigen Schlag zerschmettert, noch bevor sie die Gaststube auch nur zur Hälfte durchquert hatte, und ein riesiger Aufseher stürmte herein. Leonie schrie auf und beschleunigte ihre Schritte noch mehr. Wäre sie allein gewesen, hätte sie möglicherweise sogar eine gute Chance gehabt, ihrem dämonischen Verfolger zu entkommen, denn auch wenn diese Kreatur die Kraft eines wütenden Elefantenbullen haben mochte, so war er doch zugleich auch kaum geschickter als ein solcher und vermutlich auch nicht sehr viel schlauer. Aber sie war eben nicht allein. Praktisch gleichzeitig mit ihrer Großmutter und den beiden auf so unheimliche Weise ähnlichen alten Männern erreichte sie die Tür.

Hinter ihnen setzte der Aufseher weit weniger elegant, dafür jedoch um so spektakulärer zur Verfolgung an: Er schwang seine gewaltige Stachelkeule und hackte und schlug sich kurzerhand seinen Weg durch den Raum. Zertrümmerte Tische und Stühle flogen in alle Richtungen davon, Glas zersplitterte, und selbst die rechtwinklige Theke ging unter den wuchtigen Keulenhieben des Ungeheuers zu Bruch, das anscheinend nicht bereit war von dem alten Irrglauben abzulassen, dass der kürzeste Weg auch automatisch der schnellste war.

Fröhlich riss die Tür des Burgkellers auf, bugsierte Großmutter und den Professor unsanft, aber zügig hindurch und winkte Leonie heran. Das Splittern und Krachen zerberstenden Holzes hinter ihr motivierte Leonie noch zusätzlich schneller zu laufen, und vielleicht sogar schneller als gut war: Sie machte noch einen einzelnen Schritt, verhakte sich mit dem Fuß an einem Hindernis, das sie in der Dunkelheit übersehen hatte, und fiel der Länge nach hin.

Instinktiv zog sie nicht nur den Kopf ein und rollte sich über die Schulter ab, sodass sie sich nicht verletzte, sondern nutzte den Schwung ihrer eigenen Bewegung ganz im Gegenteil aus, um sofort wieder auf die Füße zu kommen, aber damit endete die Ähnlichkeit zwischen dieser Situation und ihren Trainingsstunden im Dojo dann auch schon. Statt mit einer eleganten Bewegung in die Höhe zu federn, stolperte sie ungeschickt zur Seite, und dann sah sie einen riesigen, stachelbewehrten Schatten aus den Augenwinkeln auf sich zurasen, schrie in blanker Todesangst auf und fiel endgültig wieder auf die Knie, als Fröhlich ihren Arm ergriff und sie fast brutal herumzerrte.

Mit ziemlicher Sicherheit rettete er Leonie damit das Leben, denn der stachelige Schatten, den sie wahrgenommen hatte, entpuppte sich als die riesige Eisenkeule des Aufsehers, die genau dort durch die Luft pfiff, wo sie gewesen wäre, hätte Fröhlich sie nicht weggezerrt. Sie prallte mit so ungeheurer Wucht gegen einen der schweren Stützbalken, die die Decke trugen, dass dieser wie ein morsches Streichholz zersplitterte. Brüllend vor Enttäuschung, nichtsdestoweniger aber vom Schwung seiner eigenen Bewegung weitergerissen, stolperte der Koloss an Leonie vorbei, kämpfte einen Moment mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht und verwandelte die Tür in Kleinholz, als er dagegen stürzte.

»Danke«, keuchte Leonie. »Das war verdammt knapp.«

»Und ich furchte, es ist noch nicht ganz vorbei«, fügte Fröhlich in bedauerndem Ton hinzu. Mit erstaunlicher Kraft zog er Leonie auf die Füße, zugleich aber auch zurück und hinter die Deckung dessen, was der Aufseher von der Theke übrig gelassen hatte. Hastig legte er den Zeigefinger über die Lippen, als Leonie etwas sagen wollte, und machte mit der anderen Hand eine Geste in Richtung des gestürzten Aufsehers.

Leonies Blick folgte der Bewegung und ihr Herz machte einen erschrockenen Sprung. Der Aufseher lag auf dem Boden wie eine auf den Rücken gestürzte Schildkröte, und er stellte sich bei dem Versuch, wieder auf die Beine zu kommen, auch ungefähr so geschickt an, aber das änderte nichts daran, dass er zugleich auch vor dem einzigen Ausgang lag, den der Raum hatte, und ihn nachhaltig blockierte. Er hatte die Tür zertrümmert, als er zusammengebrochen war, und Leonie konnte Wohlgemut und die anderen draußen auf der Straße erkennen, nicht einmal ganze zehn Meter von ihnen entfernt - aber ebenso gut hätten sie sich auch auf dem Mond befinden können. Es gab für sie und Fröhlich keine Möglichkeit, an dem Aufseher vorbeizukommen.

Leonie duckte sich hastig tiefer unter den Rand der zertrümmerten Theke, als der gepanzerte Koloss in die Höhe kam und der Blick seiner winzigen, tückischen Augen misstrauisch durch den Raum tastete. Sie hatte keine Ahnung, wie gut diese Kreaturen sehen konnten, aber wenn ihre Sehkraft mit der eines Menschen vergleichbar war, dann hatte sie eine gute Chance. Es war nahezu stockfinster hier drin. Das einzige Licht fiel durch die zertrümmerte Eingangstür herein und die große Fensterwand, die auf den Innenhof hinausging.

Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, es einfach in diese Richtung zu versuchen, verwarf die Idee aber fast sofort wieder. Der Innenhof war an allen Seiten von Mauern umschlossen. Weder hatte sie eine Ahnung, wohin die Türen führten, die es darin gab, noch die Zeit, es herauszufinden. Sobald sie und Fröhlich ihre Deckung verließen, würde sich der Aufseher auf sie stürzen.

Und vielleicht auch schon eher, denn der Koloss war mittlerweile auf die Beine gekommen und begann unverzüglich nach Fröhlich und ihr zu suchen - auf seine ganz eigene Art, indem er seine Stachelkeule hin- und herschwenkte wie ein Bauer seine Sense und das ohnehin schon zertrümmerte Mobiliar noch weiter zerkrümelte. Und das war noch nicht alles. Leonie hatte den Lärm aus dem Keller keine Sekunde lang vergessen. Dass bisher noch keine weiteren Verfolger hier oben aufgetaucht waren, glich bereits einem kleinen Wunder, aber das würde ganz bestimmt nicht mehr lange so bleiben.

»Wir müssen hier raus«, flüsterte sie.

Fröhlich nickte. »Ja«, sagte er gepresst. »Dieser Gedanke ist mir auch gerade gekommen.« Er legte den Kopf in den Nacken und ließ seinen Blick an dem zerborstenen Balken hinaufgleiten, den der Aufseher zertrümmert hatte. Ein Teil der Decke darüber war eingebrochen. Das Gebäude schien nicht nur uralt zu sein, sondern auch baufällig.

»Ich könnte ihn ablenken«, schlug Leonie vor. »Er ist bestimmt nicht sehr schnell. Mit ein bisschen Glück schaffen Sie es bis zur Tür, ehe er Sie überhaupt bemerkt.«

Sie war nicht sicher, ob Fröhlich ihre Worte überhaupt gehört hatte. Sein Blick tastete immer noch über die holzverkleidete Decke, und auf seinem Gesicht war ein sehr nachdenklicher Ausdruck erschienen. Leonie hätte eine Menge darum gegeben, zu wissen, worüber er in diesem Moment nachdachte, aber sie hatte zugleich auch das sichere Gefühl, dass es ihr nicht gefallen würde.

Der Aufseher schwang seine Keule und Fröhlich zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern, als ein wahrer Sprühregen aus Holzsplittern und Sägemehl auf sie herabregnete. »Ablenken, ja«, murmelte er. »Das ist... eine ausgezeichnete Idee.«

Leonie wollte sich aus der Hocke erheben, aber Fröhlich legte ihr rasch die Hand auf den Unterarm und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich werde ihn ablenken und du wirst zu deiner Großmutter gehen.«

Keine zwei Meter hinter ihnen zersplitterte der Rest der Einrichtung unter einem gewaltigen Keulenhieb, und sie musste sich nicht umdrehen um zu wissen, dass ihr unheimlicher Verfolger wie eine lebendige Lawine aus Muskeln und stacheligem schwarzem Eisen heranwalzte. Dennoch zögerte sie. »Und Sie?«, fragte sie.

»Ich halte ihn auf«, antwortete Fröhlich.

»Sie«, keuchte Leonie. »Dieses Ungeheuer? Aber... aber wie denn?«

Fröhlich lächelte nervös, nahm seine altmodische Brille ab und klappte sie umständlich zusammen. Fast noch umständlicher verstaute er sie in der Brusttasche seines zweireihigen Anzuges, ehe er antwortete: »Du vergisst anscheinend, dass ich Rechtsanwalt bin, junge Dame. Und wenn ein Mann meines Schlages etwas wirklich gelernt hat, dann jemanden hinzuhalten.« Er atmete hörbar ein. Es war schwer, bei der herrschenden Dunkelheit hier drinnen irgendeine Regung auf seinem Gesicht zu erkennen, aber Leonie glaubte einen neuen Ausdruck in seiner Stimme zu vernehmen. Da war eindeutig Angst, aber auch noch etwas anderes, was ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ.

»Und nun geh«, sagte er. »Hilf deiner Großmutter. Noch ist es nicht zu spät.« Abermals atmete er tief ein, dann räusperte er sich, straffte die Schultern und stand auf. Umständlich trat er hinter der zerstörten Theke hervor und auf den Aufseher zu.

Das Ungeheuer war mittlerweile bis auf zwei Schritte herangekommen und hob gerade sein gewaltiges eisernes Schlagwerkzeug, um das letzte Hindernis aus dem Weg zu fegen.

»Entschuldigung«, sagte Fröhlich.

Der Aufseher erstarrte mitten in der Bewegung. Die buschigen Augenbrauen unter dem schwarzen Eisenhelm zogen sich fragend zusammen, während ihr Besitzer mit sichtlicher Verwirrung auf das winzige Menschlein herabstarrte, das nicht nur die Unverschämtheit besaß, ihm den Weg zu vertreten, sondern noch nicht einmal Angst zeigte.

»Es geht mich zwar nichts an«, fuhr Fröhlich nach einem neuerlichen gekünstelten Räuspern fort, »aber ich möchte Sie dennoch daraufhinweisen, dass das, was Sie da gerade tun, ganz eindeutig eine vorsätzliche Sachbeschädigung darstellt.«

Der Ausdruck von Verwirrung in den winzigen Äuglein des Aufsehers wuchs ins Grenzenlose. Fröhlich machte einen unauffälligen halben Schritt zur Seite und winkte Leonie zugleich mit der linken Hand verstohlen zu. Leonie begann auch gehorsam loszukriechen, aber sie bewegte sich nur sehr langsam. Noch stand der titanische Aufseher viel zu nahe bei der Tür, als dass sie es wagen konnte, einfach loszustürmen. Das Monstrum war möglicherweise nicht sehr schnell, aber groß. Selbst von dort aus, wo er stand, brauchte er nur den Arm auszustrecken, um mit seiner Keule mühelos die Tür zu erreichen.

Fröhlich bewegte sich zwei weitere Schritte nach links. Der Aufseher stand mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen und wiegenden Armen da. Die Stachelkeule in seiner rechten Hand bewegte sich hin und her wie das Pendel einer bizarren höllischen Standuhr, wobei die fast fingerlangen eisernen Stacheln tiefe Furchen in den Fußboden rissen. »Ihnen ist doch hoffentlich klar, dass Sie für den angerichteten Schaden in vollem Umgang haftbar sind«, fuhr Fröhlich fort.

Der Aufseher machte einen halben Schritt, unter dem das gesamte Haus zu erzittern schien, um Fröhlich den Weg zu versperren, und Fröhlich vollzog die Bewegung getreulich nach. »Und ich rede hier nicht allein von dem angerichteten materiellen Schaden«, fügte er hinzu.

Der Aufseher hob seine Keule, und Fröhlich machte einen weiteren, diesmal sehr raschen Schritt, der die Distanz zwischen ihm und dem gepanzerten Koloss auf gute zwei Meter vergrößerte. Gleichzeitig wiederholte er sein verstohlenes Winken in Leonies Richtung, endlich zu verschwinden.

»Viel größer dürfte der nachfolgende Schaden sein, für den Sie der Besitzer dieses Etablissements ganz zweifellos - und zwar in vollem Umfang - regresspflichtig machen wird«, meinte Fröhlich. »Allein der Verdienstausfall dürfte ein erkleckliches Sümmchen ergeben, und dazu kommt noch...«

Der Aufseher schwang mit einem wütenden Knurren seine Keule, und Leonie war vollkommen sicher, dass sie Fröhlich treffen und auf der Stelle zerschmettern müsste, aber der greise Anwalt überraschte sie ein weiteres Mal. Mit einer fast tänzerisch anmutenden Bewegung wich er dem Hieb aus und machte gleichzeitig zwei, drei Schritte zurück und zur Seite. Die Keule pfiff harmlos vor ihm durch die Luft, und Fröhlich wäre zweifellos noch weiter zurückgewichen, wäre er nicht mit dem Rücken gegen einen der mächtigen Eichenbalken gestoßen, die die Decke stützten.

»Und dazu kommt noch mein Honorar, das nicht unwesentlich ist«, fuhr er fort, »sowie die Gerichtskosten. Ich würde Ihnen also wirklich dringend anraten...«

Der Aufseher schwang mit einem zornigen Brüllen seine Keule, aber wieder zog Fröhlich im letzten Moment den Kopf ein, sodass der mörderische Hieb sein Ziel verfehlte und stattdessen den Stützbalken abrasierte.

Fröhlich brachte sich mit einem hastigen Sprung in Sicherheit, als Holztrümmer und sogar ein Teil der Decke niederregneten, und Leonie nutzte den Lärm, um hastig ein gutes Stück weiter in Richtung Tür zu kriechen. Noch wagte sie es nicht, aufzuspringen und einfach loszurennen, aber Fröhlich hatte sich bereits wieder gefangen und lockte den Aufseher rückwärts gehend tiefer in den verwüsteten Raum hinein. Nur noch ein Augenblick und der Weg nach draußen war frei.

»Aber ich bitte Sie!«, keuchte Fröhlich. »Gewalt ist noch nie eine Lösung gewesen. Sie machen doch alles nur noch schlimmer!«

Der Aufseher schwang brüllend seine Keule. Wieder entging Fröhlich dem Hieb mit einer Leichtfüßigkeit, die Leonie bei einem Mann seines Alters nie und nimmer erwartet hätte, und näherte sich dabei gleichzeitig einem weiteren Stützbalken.

Auch Leonie kroch auf Händen und Knien weiter. Sie hatte das Ende der zerstörten Theke erreicht, und zwischen ihr und dem rettenden Ausgang lagen jetzt nur noch wenige Schritte.

Dennoch riskierte sie es noch nicht aufzuspringen und zu fliehen, sondern sah noch einmal mit klopfendem Herzen zu Fröhlich und dem Aufseher zurück. Der gepanzerte Koloss näherte sich dem alten Notar mit wiegenden Schritten und hackte ab und zu mit seiner Keule nach ihm, aber Fröhlich wich den Hieben immer wieder im letzten Moment aus, bis er mit dem Rücken gegen den Stützbalken stieß.

»Ihr grobes Verhalten könnte übrigens durchaus ein weiteres Strafverfahren nach sich ziehen«, keuchte Fröhlich. Sein Atem ging jetzt schwer und seine Stimme zitterte. Dennoch wich er auch dem nächsten Hieb mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit aus, und er war sogar schon gute zwei Schritte entfernt, als die Stachelkeule den Balken kappte und Holzsplitter und Steine und Putz dort niedergingen, wo er gerade noch gestanden hatte.

Ein schweres machtvolles Zittern lief durch das Haus. Leonie hörte ein unheimliches, mahlendes Knirschen, und trotz der Dunkelheit glaubte sie zu sehen, wie sich die gesamte Decke durchbog, wie eine Zeltplane, auf der sich Regenwasser sammelte.

»Sie machen alles nur noch schlimmer, so glauben Sie mir doch!«, ächzte Fröhlich. Er sprang zur Seite, um der heranzischenden Keule auszuweichen, und näherte sich im Zickzack dem nächsten Balken. »Vorsätzliche Körperverletzung ist kein Kavaliersdelikt, seien Sie dessen versichert!«

Wieder verfehlte ihn die Keule nur um Haaresbreite, und Leonie nahm allen Mut zusammen, richtete sich hinter ihrer Deckung auf und war mit drei, vier schnellen Schritten an der Tür, genau in dem Moment, in dem der Aufseher den höchsten Stützpfeiler kappte und Fröhlich mit einem entsetzten Hüpfer zur Seite sprang.

Diesmal erbebte das ganze Haus. Leonie spürte, wie sich der Fußboden unter ihr ein deutliches Stück senkte, und für einen Moment schien eine träge, wellenförmige Bewegung durch die Decke zu laufen. Überall regneten jetzt Staub und Teile der hölzernen Deckenverkleidung nieder, und das unheimliche Ächzen und Knirschen, das sie schon einmal gehört hatte, hob wieder an, ohne diesmal jedoch wieder aufzuhören. Es wurde ganz eindeutig Zeit, das Haus zu verlassen.

Stattdessen blieb sie aber unter der Tür noch einmal stehen und sah zu Fröhlich und dem Aufseher zurück. Es überraschte sie nicht einmal besonders, dass Fröhlich gezielt einen weiteren Pfeiler ansteuerte, während der Aufseher ihm knurrend und keulenschwingend folgte.

Aber sie sah auch noch etwas.

Die Tür, durch die sie hereingekommen waren, war nicht mehr leer. Eine hoch gewachsene, schlanke Gestalt in einem schwarzen Kapuzenmantel war unter der Öffnung erschienen, und Leonie musste das Gesicht unter der Kapuze nicht erkennen um zu wissen, um wen es sich bei der düsteren Erscheinung handelte.

Der Archivar selbst war gekommen um sie zu holen.

»Fröhlich!«, schrie sie.

Der alte Notar ignorierte sie ebenso wie sein in Stacheln gepanzerter Gegner. Er hatte den vierten und somit vorletzten Stützbalken erreicht und sah den Aufseher mit einem Ausdruck perfekt gespielten Bedauerns im Gesicht an. »Ich muss Sie noch einmal dringend auf die möglichen Konsequenzen Ihres ungebührlichen Verhaltens aufmerksam machen. Was Sie da tun, ist zumindest grober Unfug, wenn nicht mehr.«

Der Aufseher brüllte vor Wut und schwang seine Keule, und gleichzeitig machte der Archivar auf der anderen Seite des Raumes eine erschrockene Handbewegung.

Aber er war zu spät.

Fröhlich duckte sich und sprang mit einer schnellen Bewegung zur Seite, und die Keule knickte den dreißig Zentimeter durchmessenden Eichenbalken so mühelos, wie Leonie ein Streichholz zwischen Daumen und Zeigefinger zerbrochen hätte.

Sie wartete nicht ab, was weiter geschah, sondern warf sich mit einer einzigen Bewegung herum und stürmte aus dem Haus.

Auf der schmalen Gasse vor dem Burgkeller war eine altmodische, zweispännige Kutsche vorgefahren. Wie schon einmal saß Vater Gutfried oben auf dem Bock, doch dieses Mal war er nicht allein. Vielmehr gewahrte Leonie Professor Wohlgemut neben ihm, und auf dem Dach der Kutsche hatten sich zwei weitere, deutlich kleinere Schatten zusammengekauert.

Ein berstender Schlag wehte aus dem Haus hinter ihr heraus. Leonie fuhr erschrocken zusammen und war mit einem einzigen Satz bei der offen stehenden Tür des altertümlichen Gefährts. Das Dröhnen und Splittern aus dem Haus hielt nicht nur an, sondern nahm ganz im Gegenteil noch weiter zu.

Genau in dem Moment, in dem sich Leonie durch die offen stehende Tür warf, explodierten sämtliche Fensterscheiben des Gebäudes. Millionen winziger Glassplitter überschütteten die Straße wie kleine, gefährliche Geschosse, schlugen Funken auf dem Kopfsteinpflaster und hämmerten in das Holz der Kutsche. Die Pferde schrien gepeinigt auf, irgendetwas zerschlitzte das lederne Polster unmittelbar neben ihr mit einem ekelhaften Laut, der an das Geräusch eines Rasiermessers erinnerte, das durch Fleisch glitt, und dann schrie auch sie gequält auf, als zwei oder drei der heimtückischen kleinen Geschosse in ihre nackten Beine bissen.

Großmutter beugte sich trotz des anhaltenden Trommelfeuers gläserner Wurfgeschosse vor und knallte die Tür zu, und im gleichen Moment setzte sich die Kutsche mit einem Ruck in Bewegung, der Leonie endgültig von der Bank schleuderte.

Hastig rappelte sie sich auf und fuhr zum Fenster herum. Das gesamte Gebäude war mittlerweile in einer Wolke aus Staub und fliegenden Trümmern gehüllt, die sich rasend schnell auf der ganzen Straße ausbreitete. Dennoch sah Leonie, wie sich das Gasthaus allmählich nach vorne zu neigen begann. Die Wände des Erdgeschosses beulten sich aus, als hätten sie plötzlich nicht mehr die Kraft, das Gewicht der auf ihr lastenden Stockwerke zu tragen, dann brach das ganze Haus in einer gewaltigen Implosion aus Staub und fliegenden Trümmern zusammen.

Leonie ließ sich mit einem erschöpften Laut auf den Sitz zurücksinken. Ihr Herz hämmerte wie verrückt und sie zitterte am ganzen Leib. Die Schnittwunden in ihrem Bein taten entsetzlich weh.

»Fröhlich?«, fragte Großmutter leise. Auch sie schien mindestens einen der gefährlichen Glassplitter abbekommen zu haben, denn sie presste die linke Hand gegen die Wange. Ein dünnes Rinnsal aus hellrotem Blut sickerte zwischen ihren Fingern hervor.

»Ja.« Leonie nickte traurig »Warum hat er das getan?«

Es dauerte eine Weile, bis ihre Großmutter antwortete. »Vielleicht aus demselben Grund, aus dem Meister Bernhard sein Leben geopfert hat um uns zu retten. Und aus dem uns die anderen helfen.«

»Wohlgemut und Vater Gutfried?«

»Ja.«

»Aber sie sind Geschöpfe des Archivars!«, murmelte Leonie verständnislos. »Er hat sie erschaffen! Wieso stellen sie sich jetzt gegen ihn?«

»Vielleicht weil es die einzige Möglichkeit für sie ist, ihrem Leben einen Sinn zu geben«, antwortete Großmutter leise. Sie seufzte tief, zog ein spitzenbesetztes Taschentuch hervor und begann das Blut von ihrer Wange zu tupfen. Leonie sah, dass die Wunde weit tiefer war, als sie bisher angenommen hatte, aber Großmutter gab nicht den geringsten Laut der Klage von sich, und auch sie sagte nichts dazu, sondern beugte sich wieder zur Seite und sah aus dem Fenster.

Das zusammengebrochene Gasthaus war mittlerweile nicht mehr zu sehen. Die Kutsche rumpelte in halsbrecherischem Tempo über das ausgefahrene Kopfsteinpflaster der Altstadt und wurde immer noch schneller.

»Wohin fahren wir?«, fragte sie.

Großmutter tupfte weiter über die heftig blutende Wunde in ihrem Gesicht und hob mit einem neuerlichen Seufzen die Schultern. »Nach Hause.« Sie klang mutlos. »Vielleicht haben wir noch eine winzige Chance. Auch wenn ich nicht wirklich daran glaube.«

»Fröhlich hat gesagt, es wäre noch nicht zu spät«, sagte Leonie leise.

Sie wartete vergeblich darauf, dass Großmutter antwortete. Schließlich beugte sie sich wieder zur Seite und sah aus dem Fenster. Die Kutsche hatte die schmalen Straßen der Altstadt mittlerweile verlassen und beschleunigte immer noch, sodass die Häuser beiderseits der Straße zu ineinander fließenden grauen Schemen zu werden schienen. Irgendetwas stimmte nicht damit, fand Leonie, ebenso wenig wie mit der Straße selbst, über die die Kutsche stetig schneller werdend jagte. Aber Leonie war im Moment nicht in der Verfassung, darüber nachzudenken.

Sie sah wieder nach hinten - und fuhr erschrocken zusammen. Sehr weit hinter ihnen, aber dennoch deutlich zu erkennen, war eine schwarze Gestalt in einem Kapuzenmantel erschienen. Der Anblick war beinahe grotesk, aber er ließ Leonie dennoch für einen Moment vor Furcht erstarren. Der Archivar schritt gemächlich aus ohne zu rennen oder auch nur schnell zu gehen, und dennoch wurde der Abstand zwischen ihm und der dahinpreschenden Kutsche langsam, aber unerbittlich kleiner.

»Er kommt näher, habe ich Recht?«, fragte Großmutter leise.

Leonie nickte. »Können wir ihm entkommen?«

»Nein«, antwortete Großmutter. »Niemand kann einem Geschöpf entkommen, das die Realität beherrscht. Aber vielleicht...« Sie brach ab und presste die Lippen aufeinander.

»Vielleicht?«, hakte Leonie nach.

»Das Buch«, antwortete Großmutter schleppend. »Es ist immer noch im Safe deines Vaters eingeschlossen.«

»Dein Buch?«, vergewisserte sich Leonie. Großmutter nickte, aber es fiel Leonie reichlich schwer, das zu glauben. »Aber wieso lässt er etwas von so ungeheurem Wert einfach zurück?«, fragte sie zweifelnd.

»Weil er es nicht braucht«, antwortete Großmutter. »Er hat jetzt die Macht über das ganze Archiv. Welche Rolle spielt da ein einziges Leben?«

Leonie wollte widersprechen, aber ihre Großmutter unterbrach sie mit einer raschen, zugleich aber auch sonderbar mutlosen Geste. Sie schüttelte traurig den Kopf. »Sieh aus dem Fenster, Leonie«, sagte sie.

Leonie sah ihre Großmutter eine halbe Sekunde lang einfach nur verständnislos an, aber dann drehte sie sich gehorsam auf dem Sitz um und kam ihrem Wunsch nach.

Im ersten Moment konnte sie auch jetzt kaum mehr als vorbeijagende Schatten erkennen, aber dann sah sie, was ihre Großmutter meinte. Die Straße, über die die Kutsche ratterte, kam ihr durchaus bekannt vor, und trotzdem hatte sie fast keine Ähnlichkeit mehr mit der Stadt, in der sie geboren und aufgewachsen war.

Die Häuser waren alt und trist; monotone, gleichförmige Ziegelsteinbauten mit winzigen schmutzstarrenden Fenstern und eingesunkenen Dächern. Überquellende Mülltonnen flankierten die schmalen Türen und hier und da schlurfte eine zerlumpte Gestalt mit hängenden Schultern und grauem Gesicht den Gehsteig entlang. Eine fast greifbare Atmosphäre von Furcht und Niedergeschlagenheit lag über der Szenerie. Nirgends war ein Auto zu sehen, oder auch nur ein Fahrrad. Selbst die wenigen Bäume, an denen sie vorüberkamen, wirkten farblos und blass, und noch während Leonie hinsah, begann sich das Bild weiter zu verändern: Schwarze, schmutzige Wolkenbänke schoben sich über den Himmel und begannen den Mond und die Sterne zu verschlingen, und hinter den monotonen Häuserzeilen wuchsen ganze Wälder voll rauchender Schlote in die Höhe, die noch mehr schwarzen Qualm in die Luft spien. Plötzlich waren die Bürgersteige doch voller Menschen: ausgemergelten, in Lumpen gehüllten Reihen graugesichtiger Männer und Frauen, die sich mit hängenden Köpfen dahinschleppten. Etwas in Leonie schien sich bei diesem Anblick zu einem eisigen Ball zusammenzuziehen, an dem sie zu ersticken meinte.

»Aber das...«, krächzte sie. »Das ist...«

»... die Welt, die der Archivar erschaffen hat«, führte Großmutter den Satz zu Ende, als Leonies Stimme versagte.

»Aber das ist die Hölle!«, keuchte Leonie. So entsetzlich der Anblick auch sein mochte, war es ihr doch zugleich auch unmöglich, den Blick davon loszureißen. »Warum... warum tut er das?«

»Weil ihm menschliche Gefühle und Empfindungen fremd sind«, antwortete Großmutter. »Die Menschen gehen zur Arbeit, essen und schlafen und gehen wieder zur Arbeit, und das ist alles, was zählt. Sie funktionieren.«

»Wie Maschinen«, murmelte Leonie.

Wieder nickte Großmutter. Leonie spürte die Bewegung nur, denn der schreckliche Anblick schlug sie noch immer vollkommen in seinen Bann. »Beinahe wie in Orwells 1984. Nur schlimmer. Ich frage mich, ob er vielleicht einen Blick in die Zukunft getan hat, ohne es selbst zu wissen.«

»Nein! Das darf nicht sein«, murmelte Leonie. »So... so darf es nicht enden!«

Plötzlich konnte sie nur noch mit Mühe die Tränen zurückhalten. Vielleicht einzig, damit ihre Großmutter das feuchte Schimmern in ihren Augen nicht sah, drehte sie den Kopf hastig in die andere Richtung.

Der Archivar war näher gekommen. Obwohl nur wenige Augenblicke vergangen waren, seit sie das letzte Mal zu ihm zurückgeblickt hatte, war die Distanz zwischen der unheimlichen Gestalt und der Kutsche auf weniger als die Hälfte zusammengeschmolzen. Leonie schätzte, dass ihnen nur noch vier oder fünf Minuten blieben, bis er sie eingeholt hatte. Hinter dem Archivar tobte eine ganze Armee düsterer Schatten heran, die nicht genau zu erkennen waren, so als versuche die Finsternis selbst Gestalt anzunehmen. Leonie wusste jedoch nur zu gut, woraus diese Woge heranrasender Schwärze bestand: Es waren die Heerscharen des Archivars, die ihrem finsteren Herrn auf dem Fuß folgten, um...

Ja, dachte Leonie. Warum eigentlich?

Sie sprach den Gedanken laut aus. »Er muss einen Grund haben, uns zu verfolgen«, murmelte sie nachdenklich. Ihre Großmutter sah sie nur fragend an, und Leonie fuhr aufgeregt fort: »Er würde uns bestimmt nicht mit all seinen Kriegern verfolgen, wenn wir ihm nicht gefährlich werden könnten!«

Ein nachdenklicher Ausdruck erschien auf Großmutters Gesicht. Sie sagte nichts.

»Das Buch in Vaters Safe«, fuhr Leonie aufgeregt fort. Ihre Gedanken überschlugen sich schier. »Es ist das einzige, das sich nicht im Archiv befindet, habe ich Recht?«

»Ja«, murmelte Großmutter. »Aber es ist doch nur ein...«

»Es ist dein Buch«, unterbrach sie Leonie.

Großmutters Augen wurden groß. »Und ich war es, die ihm diese Verschwörung überhaupt erst ermöglicht hat«, fügte sie hinzu. »Natürlich! Deshalb will er um jeden Preis verhindern, dass...« Sie brach mitten im Wort ab, sprang auf und beugte sich aus dem Fenster, so weit sie konnte. »Gutfried!«, schrie sie. »Fahren Sie schneller! Jede Sekunde zählt!«

Tatsächlich hörte Leonie das Knallen einer Peitsche, und noch bevor ihre Großmutter sich wieder ganz setzen konnte, beschleunigte der Wagen mit einem plötzlichen Ruck noch einmal, sodass sie reichlich unsanft in die Polster zurückgeworfen wurde.

Vollkommen unbeeindruckt davon und mittlerweile mindestens genauso aufgeregt wie Leonie fuhr sie fort: »Ich kann ihn aufhalten, verstehst du? Ich muss nur zurück bis zu jenem Tag, an dem ich ihn das erste Mal besiegt habe, und dafür sorgen, dass ich niemals vergesse, wie gefährlich er ist! Ich kann alles ungeschehen machen!«

»Das würde bedeuten, dass du dein ganzes Leben umschreiben musst«, sagte Leonie ernst, aber Großmutter fegte ihre Worte mit einer unwilligen Handbewegung zur Seite. »Nein. Es gibt einen Punkt, an dem ich angefangen habe leichtsinnig zu sein. Es ist lange her, viele, viele Jahre, bevor du überhaupt auf die Welt gekommen bist, Leonie. Aber ich kann mich noch genau erinnern. Ich weiß, was ich zu tun habe!«

Das Fenster wurde aufgerissen, und Maus, der offensichtlich bäuchlings auf dem Dach lag, streckte den Kopf herein. »Wir sind gleich da«, verkündete er aufgeregt. »Aber viel Zeit bleibt uns nicht. Was immer Sie vorhaben, es sollte besser schnell gehen.«

»Das wird es«, versicherte Großmutter. »Ich weiß genau, was ich tun muss.« Sie maß Maus dabei mit einem so sonderbaren Blick und einem so warmen Lächeln, dass Leonie sich verwirrt fragte, ob sie vielleicht irgendetwas nicht mitbekommen hatte.

Die Kutsche wurde tatsächlich noch einmal schneller, sodass Leonie nicht mehr dazu kam, ihrer Großmutter eine entsprechende Frage zu stellen, sondern für die nächsten Minuten voll und ganz damit beschäftigt war, sich irgendwo festzuklammern, um nicht von der wild hin und her schaukelnden Bank geschleudert zu werden.

Gottlob dauerte die wilde Jagd jedoch nicht mehr lange. Es vergingen nur noch wenige Minuten, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Die Gebäude, an denen sie vorüberrasten, begannen allmählich kleiner zu werden und, soweit das überhaupt möglich war, sogar noch schäbiger. Dennoch erkannte Leonie endlich die Straße wieder, in der ihr Elternhaus lag - auch wenn sie wie die ganze Stadt selbst eher ein Zerrbild dessen war, woran sie sich erinnerte; die Häuser waren winzig und verfallen, und die wenigen Vorgärten waren hoffnungslos verwildert. Hinter keinem einzigen Fenster brannte Licht, obwohl es noch nicht einmal besonders spät war.

Endlich wurde der Wagen langsamer, rumpelte noch einmal so unsanft über ein Hindernis, dass Leonie um ein Haar mit dem Kopf gegen die Decke geprallt wäre, und hielt dann mit einem so harten Ruck, dass sie auf den glatten Lederpolstern den Halt verlor und nach vorne rutschte. Gedankenschnell streckte sie die Hand aus, bekam den Türgriff zu fassen und nutzte den Schwung ihrer eigenen Bewegung, um die Tür aufzureißen und sich gleichzeitig nach außen zu schwingen. Ihre Großmutter kletterte auf der anderen Seite deutlich langsamer aus dem Wagen, und auch Maus und die anderen stiegen mehr oder weniger umständlich von dem antiquierten Gefährt herunter.

Leonie stand einfach nur da und starrte das Haus aus ungläubig aufgerissenen Augen an.

Nach dem, was sie auf dem Weg hierher gesehen hatte, hätte sie eigentlich gewarnt sein müssen, und trotzdem traf sie der Anblick wie ein Schlag ins Gesicht.

Das Haus, vor dem sie angehalten hatten, hatte nur noch grobe Ähnlichkeit mit dem Gebäude, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Die äußerliche Form war möglicherweise gleich, aber das war dann auch schon alles. Die meisten Fenster hatten kein Glas mehr. Überall bröckelte der Putz von den Wänden und das Dach war an mehreren Stellen eingesunken. Die Fenster des Anbaus waren mit Brettern vernagelt, Papierfetzen, trockenes Laub und Unrat hatten sich in Winkeln und Nischen eingenistet, und der Wind spielte klappernd mit den morschen Fensterläden. Hinter der offen stehenden Haustür brannte Licht, aber es war nur ein trüber, flackernder Schein, der die Dunkelheit, die von dem Haus Besitz ergriffen hatte, nur noch zu betonen schien.

»Wir können es ungeschehen machen«, sagte Großmutter mit leiser, mitfühlender Stimme. Sie berührte Leonie sanft an der Schulter und versuchte aufmunternd zu lächeln, aber es misslang. »Aber du musst mir dabei helfen. Und du auch, mein junger Freund. Kommt!«

Die letzten Worte hatten Maus gegolten, der sie reichlich irritiert ansah, ihr aber dennoch widerspruchslos folgte, als sie mit trippelnden kleinen Schritten auf die offen stehende Tür zuging. Auch Wohlgemut, Gutfried und selbst der Scriptor schlossen sich ihnen an, beinahe wie um sie abzuschirmen. Als sie die kurze, aus nur drei Stufen bestehende Treppe zur Tür hinaufgingen, drehte sich Leonie noch einmal um und sah die Straße zurück.

Der Archivar hatte sie fast erreicht. Vielleicht blieb ihnen noch eine Minute, wahrscheinlich aber noch nicht einmal das. Sie begannen zu rennen.

Drinnen im Haus wurde es nicht besser, sondern schlimmer. Das Licht, das sie von außen gesehen hatten, stammte von einer Hand voll dicker roter Wachskerzen, die auf den Treppenstufen und dem Geländer aufgereiht waren. Falls es in diesem Haus jemals elektrischen Strom gegeben hatte, dann musste es Jahre her sein, denn dort, wo die Kerzen standen, hatten sich bizarre Gebilde aus geschmolzenem Wachs gebildet, die über lange Zeit hinweg zu Boden getropft waren, und Decke und Wände waren voller schwarzem, schmierigem Ruß. Das Licht reichte nicht wirklich aus, um Einzelheiten zu erkennen, aber Leonie war fast froh darüber, denn das wenige, was sie sehen konnte, war schon eindeutig mehr, als sie eigentlich sehen wollte. Die Tapeten waren so alt, dass sie überall gerissen waren und sich an zahllosen Stellen von den Wänden zu lösen begannen und ihr Muster unter dem Schmutz der Jahre kaum noch zu erahnen war. Die Türen hingen schief in den Angeln und der ehemals sorgsam gepflegte Parkettboden war aufgequollen und überall gerissen. Ein schwer definierbarer, aber ebenso durchdringender wie unangenehmer Geruch hing in der Luft, und aus dem Obergeschoss drang das Klappern eines losen Fensterladens herab, den der Wind in nahezu regelmäßigem Takt aufriss und wieder gegen die Wand schmetterte.

Etwas an diesem Geräusch schien Großmutter über die Maßen zu irritieren, denn sie blieb mitten in der Bewegung stehen und legte den Kopf in den Nacken, um mit eng zusammengekniffenen Augen nach oben zu sehen, und auch Maus blickte verwirrt in die gleiche Richtung.

Dann geschah etwas Seltsames: Wie auf ein geheimes Zeichen hin drehten sich die beiden um und sahen sich auf eine Weise an, die Leonie einen eisigen Schauer über den Rücken jagte.

»Was ist los?«, fragte sie alarmiert.

»Nichts«, antwortete Großmutter hastig. »Komm weiter.«

Wäre die Situation auch nur ein bisschen weniger unheimlich gewesen, hätte sich Leonie mit dieser Antwort ganz bestimmt nicht zufrieden gegeben. Aber ihre Großmutter hatte Recht: Es war vollkommen egal, wer oder was dort oben war. In spätestens einer Minute würde der Archivar hier sein, und dann war alles andere gleichgültig.

Zumindest der Grundriss des Hauses war gleich geblieben. Sie gingen den langen Korridor entlang zum Arbeitszimmer ihres Vaters, dessen Tür nun eine zwar massive, dennoch aber ganz normale Zimmertür war; so weit man eine Zimmertür mit gleich drei Schlössern und zwei wuchtigen Riegeln als normal bezeichnen konnte, hieß das. Dennoch war Leonie zutiefst erleichtert. Hätte es hier noch dieses Monstrum von Sicherheitstür gegeben, das sie das letzte Mal gesehen hatte, als sie hier gewesen war, so hätten sie vermutlich keine Chance gehabt, sie aufzubekommen, nicht in einer Stunde, und schon gar nicht in der knappen Minute, die ihnen allerhöchstens noch blieb.

Als sie noch drei Schritte von der Tür entfernt waren, wurde sie von innen geöffnet und Frank trat heraus. Er trug eine großkalibrige Pistole in der einen Hand und ein riesiges Schrotgewehr unter dem anderen Arm.

Leonie keuchte erschrocken und auch ihre Großmutter sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein.

»Keine Angst«, sagte Frank rasch. »Ich stehe auf eurer Seite.«

»Fragt sich nur, welche Seite unsere Seite ist«, antwortete Großmutter. »Und was Sie dafür halten, junger Mann.«

Frank wollte antworten, aber Vater Gutfried kam ihm zuvor. »Nicht«, sagte er hastig. »Er sagt die Wahrheit.«

Leonie blickte unschlüssig von ihm zu Frank und wieder zurück. Gutfried und Frank sahen sich auf sonderbare Weise an, und plötzlich und zum ersten Mal, aber vollkommen jenseits allen Zweifels, fiel ihr auf, wie frappierend ähnlich sich die beiden Männer waren, sah man einmal von dem Altersunterschied und der grundverschiedenen Haartracht ab. Wo Wohlgemut und Gutfried Brüder sein konnten, wären Frank und er ohne Probleme als Vater und Sohn durchgegangen, oder auch als Großvater und Enkel. Über ein Übermaß an Fantasie schien sich der Archivar tatsächlich nicht beklagen zu können.

Eines der Pferde draußen vor dem Haus stieß ein erschrockenes Wiehern aus, und in der nächsten Sekunde hörte Leonie, wie die Kutsche mit gewaltigem Getöse davonfuhr, als die beiden Zugpferde gemeinsam durchgingen. Erschrocken drehte sie den Kopf und sah eine düstere Gestalt in einem schwarzen Kapuzenmantel auf die Tür zukommen.

»Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als Ihnen zu vertrauen«, sagte Wohlgemut. »Los.«

Frank wich mit einem raschen Schritt wieder durch die Tür zurück und wartete, bis sie an ihm vorbeigegangen waren. Leonie erwartete, dass er sie nun schließen würde, aber stattdessen hob er sein Gewehr und gab einen einzelnen Schuss auf den Archivar ab. Die Explosion war so laut, dass Leonie das Gefühl hatte, ihre Trommelfelle würden platzen. Automatisch schlug sie die Hände auf die Ohren, aber sie sah trotzdem, wie der Archivar für einen Moment im Schritt stockte - wenn auch vermutlich nicht, weil ihn die Schrotladung in irgendeiner Form verletzt hätte; die im Übrigen glatt durch ihn hindurchzugehen schien, denn Leonie sah, wie der altersschwache Türrahmen hinter ihm samt eines Teils der Wand einfach in Fetzen gerissen wurde.

Frank knallte die Tür zu und legte rasch hintereinander die massiven Eisenriegel vor, von denen es auch auf der Innenseite gleich drei Stück gab. »Nur um die Fronten zu klären«, sagte er grimmig.

Großmutter schüttelte den Kopf, enthielt sich aber jeglichen Kommentars und wandte sich stattdessen mit einer entsprechenden Geste an Maus. »Leonie hat mir erzählt, du wärst stolz darauf, dass es kein Schloss auf der Welt gibt, das du nicht aufbekommst. Stimmt das?«

Maus nickte heftig und Großmutter deutete auf den uralten Tresor, der in der Ecke neben der Tür stand, und sagte: »Dann hast du jetzt Gelegenheit, es zu beweisen.«

Maus drehte sich siegessicher zum Tresor um - und sein Lächeln entgleiste zu einer Grimasse, als er sich dem Safe gegenübersah, an dem er schon einmal gescheitert war. Wie alles hier drinnen hatte auch er sich zurückverwandelt und war jetzt wieder der ganz normale, betagte Geldschrank, nicht mehr das nahezu bombensichere Monstrum mit Handabdruck-Scanner und allem anderen hochmodernen Schnickschnack, an dem selbst der König aller Safeknacker gescheitert wäre.

Was nichts daran änderte, dass Maus ganz offenbar in seinem ganzen Leben noch nie ein Zahlenschloss gesehen hatte.

»Aber da... da ist ja gar kein Schloss«, sagte er hilflos.

Ein dumpfer Schlag traf die Tür. Einer der eisernen Riegel flog einfach davon, aus einem zweiten löste sich der größte Teil der Schrauben und regnete klirrend zu Boden. Wohlgemut und Vater Gutfried stellten sich schützend vor Großmutter und Frank hob sein Gewehr.

»Es ist im Grunde ganz einfach«, erklärte Leonie hastig. »Du musst nur an dem kleinen Rad drehen und die richtigen Zahlen eingeben, dann geht das Schloss auf.«

Maus sah sie noch einen Moment lang fragend an, aber dann ließ er sich vor dem Safe in die Hocke sinken und begann mit fliegenden Fingern an dem kleinen Zahlenfeld zu drehen. Obwohl er in seinem ganzen Leben bestimmt noch keinen Kriminalfilm gesehen hatte, legte er in perfekter Safeknacker-Manier das Ohr gegen die schwere Stahltür und lauschte, während er das Rädchen behutsam drehte. Ein leises Klicken erscholl, dann noch eines und noch eines, und plötzlich stieß er einen kleinen, triumphierenden Schrei aus und zog die schwere Eisentür nach außen auf.

Praktisch im gleichen Sekundenbruchteil flog die Zimmertür nach innen und der Archivar stand wie hingezaubert unter der Öffnung.

Frank feuerte sein Schrotgewehr ab. Diesmal konnte Leonie sehen, wie die Schrotladung einfach durch den Archivar hindurchging, ohne auf den geringsten Widerstand zu treffen, und ein Stück des Treppengeländers hinter ihm pulverisierte. Der Archivar machte eine rasche Handbewegung, und das Gewehr wurde Frank aus den Fingern gerissen und prallte mit solcher Wucht gegen die Wand, dass sich noch ein zweiter Schuss löste und es in Stücke brach. Frank versuchte seine Pistole zu ziehen, und der Archivar machte eine zweite, wütendere Handbewegung, und Frank flog quer durch den Raum und prallte mit kaum geringerer Wucht gegen die Wand. Er brach zusammen und blieb reglos und mit geschlossenen Augen liegen.

Maus riss das schwere ledergebundene Buch aus dem Safe, fuhr herum und machte einen Schritt, um es Großmutter zu bringen, und der Archivar trat vollends ein und streckte die Hand aus, um nach dem Jungen zu greifen. Ganz zweifellos hätte er ihn auch erwischt, wäre da nicht plötzlich ein zweiter, kaum weniger großer Schatten gewesen, der an Maus vorbeistürmte und den Archivar mit seinem wütenden Kreischen ansprang. Alles ging so schnell, dass Leonie nicht einmal wirklich begriff, was sie sah, bevor es auch schon wieder vorüber war.

Dennoch tat der selbstmörderische Angriff des Scriptors seine Wirkung. Leonie beobachtete voller Entsetzen, wie der Archivar unter dem Anprall des Geschöpfes, das er selbst erschaffen hatte, zwar tatsächlich einen Schritt weit zurücktaumelte, dann aber die Arme hob und den Scriptor regelrecht in Stücke riss. Der winzige Augenblick aber, den das unheimliche Geschöpf abgelenkt war, reichte aus. Maus war mit einem Satz bei Großmutter, warf ihr das Buch zu und sank dann mit einem qualvollen Stöhnen auf die Knie, als der Archivar eine zornige Handbewegung in seine Richtung machte. Leonie konnte gerade noch rechtzeitig hinzuspringen um ihn aufzufangen, als er bewusstlos zur Seite kippte.

Der Archivar schleuderte die Überreste des Scriptors zu Boden und stampfte mit einem wütenden Schritt auf Großmutter zu. Leonie versuchte ihn anzugreifen, aber sie kam nicht einmal in seine Nähe. Der Archivar wiederholte seine zornige Handbewegung und Leonie hatte das Gefühl, von einem unsichtbaren Vorschlaghammer getroffen und quer durch den Raum geschleudert zu werden.

Hilflos taumelte sie an Gutfried, ihrer Großmutter und Professor Wohlgemut vorbei und prallte mit dem Rücken gegen die Tischkante, wo sie wimmernd zusammenbrach. Sie hatte plötzlich Mühe, überhaupt noch klar zu sehen. Alles drehte sich um sie, ihr Rücken schien in reinem weißem Schmerz zu explodieren und die Gestalten Großmutters und ihrer beiden letzten übrig gebliebenen Verbündeten begannen vor ihren Augen zu verschwimmen. Aber nichts davon spielte eine Rolle. Es kam einzig und allein darauf an, Großmutter Zeit zu verschaffen, das Buch aufzuschlagen und die passende Seite zu finden.

Vater Gutfried schien das wohl ebenso zu sehen, denn plötzlich fuhr auch er herum und trat dem Archivar hoch aufgerichtet und ohne das mindeste Anzeichen von Furcht entgegen.

Und etwas sehr Seltsames geschah: Statt ihn einfach mit einer wütenden Handbewegung aus dem Weg zu fegen, blieb der Archivar stehen und sah den greisen Geistlichen aus seinen unsichtbaren, schrecklichen Augen an. Du also auch, dröhnte seine lautlose Stimme. Du weißt, was mit Verrätern geschieht.

»Ich habe keine Angst vor dir«, antwortete Gutfried. »Jetzt nicht mehr. Keiner von uns fürchtet dich noch.«

Dann seid ihr noch größere Narren, als ich dachte, erwiderte der Archivar.

»Wir sind genau das, wozu du uns gemacht hast«, erklärte Gutfried. »Aber keiner von uns will noch länger dein Werkzeug sein!«

Genug, donnerte der Archivar. Er fegte Gutfried mit einer fast beiläufigen Geste zur Seite, und nun war es an Wohlgemut, ihm in den Weg zu treten. Nach dem, was er gerade gesehen hatte, musste ihm vollkommen klar sein, wie sinnlos sein Tun war, und dennoch trat er dem Archivar ebenso ruhig und ohne Angst entgegen wie Bruder Gutfried gerade.

Großmutter hatte aufgehört, mit fliegenden Fingern im Buch ihres eigenen Lebens zu blättern, und kramte einen altmodischen schwarzen Füllfederhalter hervor.

Geh aus dem Weg, donnerte der Archivar.

Wohlgemut schüttelte ruhig den Kopf. »Niemals.«

Ganz wie du willst. Der Archivar fegte ihn beiseite, machte einen Schritt und beugte sich vor, um die Hand nach Großmutter auszustrecken, und Leonie schrie gellend auf und warf sich mit dem Mut purer Verzweiflung zum zweiten Mal auf ihn. Ihre Großmutter hatte mittlerweile die Kappe des Füllers abgeschraubt und setzte die Feder an.

Der Kopf des Archivars flog mit einem Ruck in den Nacken. Seine Hand kam in einer zornigen Bewegung hoch, doch dieses Mal waren selbst seine übermenschlich schnellen Reaktionen zu langsam. Leonie spürte, wie dieselbe unsichtbare Macht, die Wohlgemut und die anderen niedergestreckt hatte, dicht an ihr vorüberraste und mit solcher Gewalt den Tisch traf, gegen den sie gerade gestürzt war, dass das altersschwache Möbel regelrecht pulverisiert wurde, dann prallte sie mit weit vorgestreckten Armen gegen den Herrn des Archivs.

Ebenso gut hätte sie versuchen können, den Tresor mit bloßen Händen aus der Wand zu reißen. Die unheimliche Kreatur wankte nicht einmal - und sie machte sich auch nicht die Mühe, ihre dämonischen Kräfte ein zweites Mal gegen sie einzusetzen. Stattdessen versetzte sie Leonie einen fast beiläufigen Hieb mit der flachen Hand, der sie zurücktaumeln und halb bewusstlos zusammenbrechen ließ. Unmittelbar neben ihrer Großmutter blieb sie liegen. Wie durch einen immer dichter werdenden Schleier sah sie, wie Großmutter die Feder ansetzte und zu schreiben begann und...

Der Archivar machte eine weitere Handbewegung. Großmutter schrie auf und krümmte sich wie unter einem Hieb. Das Buch wurde ihr aus den Händen gerissen und schlitterte davon, der Federhalter prallte klirrend auf den Boden und rollte zielsicher in Leonies ausgestreckte Hand.

Mein Kompliment, alte Freundin, sagte der Archivar. Ich gebe zu, dass ich dich zum zweiten Mal unterschätzt habe. Fast hättest du mich abermals besiegt. Aber nun ist es vorbei. Gib auf.

Großmutter krümmte sich noch immer wie unter Schmerzen.

Stöhnend drehte sie sich auf die Seite und ihr Blick suchte den Leonies.

»Es ist niemals vorbei«, keuchte sie. »Selbst wenn du mich umbringst, wird eine andere kommen, die dich aufhält. Irgendwann. Die Welt, die du erschaffen willst, kann keinen Bestand haben.«

Die Worte galten dem Archivar, aber ihr Blick hielt Leonies Augen unverrückbar fest. Ein so verzweifeltes Flehen stand darin geschrieben, dass Leonie an sich halten musste, um nicht laut aufzustöhnen, aber das durfte sie nicht, denn sie hatte ganz plötzlich begriffen, was es war, was Großmutter von ihr verlangte. Auch ihre Worte hatten keinen anderen Sinn als den, um dessentwillen sich schon Frank, Wohlgemut und Gutfried und selbst der Scriptor geopfert hatten: ihr Zeit zu verschaffen. Das Buch lag nur ein kleines Stück neben ihr, praktisch zum Greifen nahe, und sie musste wortwörtlich nur die Finger schließen, um den Stift zu ergreifen.

Aber es ist niemand mehr da, der mich aufhalten könnte, antwortete der Archivar. Verstehst du denn nicht? Du bist die Letzte, die die Macht dazu gehabt hätte.

Leonie schloss die Hand um den Füllfederhalter und drehte sich zugleich behutsam auf die Seite. Ihr Herz machte einen erschrockenen Sprung, als sie sah, dass das Buch nicht mehr aufgeschlagen war.

»Irgendwann wird jemand kommen, der dich besiegt«, fuhr Großmutter fort. Leonie drehte sich unendlich behutsam herum, streckte die Hand nach dem Buch aus und zog es zu sich heran. »Jemand, der klüger ist als ich.«

Du hast dich nicht verändert, alte Freundin, antwortete der Archivar. In all den Jahren nicht. Sei vernünftig. Kommt auf meine Seite. Du und deine Enkelin. Euch wird nichts geschehen.

»Niemals«, erwiderte Großmutter. Leonie hatte das Buch mittlerweile endgültig zu sich herangezogen, aber sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte. Ein Moment, viele Jahre vor ihrer Geburt! Wie sollte sie wissen, wovon ihre Großmutter überhaupt gesprochen hatte! »Lieber sterbe ich!«

Ich würde es bedauern, dazu gezwungen zu sein, meinte der Archivar. Aber es ist deine Entscheidung.

Leonie schlug das Buch auf. Das uralte, trockene Pergament knisterte, als sie die ersten Seiten umschlug, und so leise das Geräusch auch war, es entging der unheimlichen Kreatur nicht.

Der Archivar sah mit einem Ruck auf, und Leonie konnte die jähe Wut, die urplötzlich in dem grausamen Geschöpf aufflammte, fast körperlich spüren. Der Archivar streckte die Hand in ihre Richtung aus.

»Jetzt!«, schrie Großmutter. Plötzlich wirkte sie alles andere als kraftlos und schwach, sondern bäumte sich auf, krallte die Hände in den schwarzen Umhang des Archivars und zerrte ihn zu sich herab.

»Schnell, Leonie!«, schrie sie. »Eine Minute! Länger kann ich ihn nicht halten!«

Leonie verschenkte drei oder vier der ihr verbleibenden kostbaren sechzig Sekunden damit, ihre Großmutter nur entsetzt anzustarren, dann aber fuhr sie herum und begann mit fliegenden Fingern in dem Buch zu blättern. Was sollte sie nur tun? Sie konnte unmöglich erraten, von welchem Moment in ihrer Vergangenheit Großmutter gesprochen hatte, nicht in einem Buch, in dem die Erinnerungen eines ganzen Lebens aufgeschrieben waren!

»Schnell, Leonie«, schrie Großmutter. »Ich kann ihn nicht mehr halten!«

Aber was sollte sie denn nur tun? Sie wusste doch nicht, wovon ihre Großmutter überhaupt sprach, und sie konnte doch unmöglich...

Hinter ihr erscholl ein markerschütterndes Brüllen, als der Archivar all seine ungeheuren Kräfte entfesselte, um den Griff ihrer Großmutter zu sprengen, und dann...

... wusste Leonie, was sie zu tun hatte.

Mit fliegenden Fingern blätterte sie um, fand die richtige Seite und begann zu schreiben...

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