Die Befreiung

»Hier, trink das!«

Leonie fuhr erschrocken zusammen, als die schrille Stimme des Scriptors in ihre Gedanken drang, und spannte sich gleichzeitig. Normalerweise wurde sie geschlagen, wenn sie auf einen Befehl oder eine bestimmte Aufforderung nicht sofort reagierte. Diesmal aber beließ es der hässliche Zwerg dabei, den Becher mit Wasser, den er ihr hingehalten hatte, so wuchtig auf den Tisch zu knallen, dass ein Teil seines Inhalts überschwappte, und ihr einen giftigen Blick zuzuwerfen, bevor er herumfuhr und sich mit trippelnden Schritten entfernte.

Leonie musterte den schmucklosen Zinnbecher aus trüben, fast blicklosen Augen, ehe sie zögernd die Hand danach ausstreckte. Sie hatte schrecklichen Durst, so wie sie seit Tagen eigentlich immer hungrig und durstig gewesen war, und sie war hundemüde. Dieser Becher Wasser war seit dem vergangenen Mittag das Erste, was sie zu trinken bekam, und am liebsten hätte sie ihn sofort mit beiden Händen an sich gerissen, um seinen Inhalt mit einem einzigen Zug hinunterzustürzen.

Statt diesem Drang jedoch nachzugeben, griff sie ganz im Gegenteil sehr behutsam nach ihm, hob ihn ganz langsam an die Lippen und begann mit kleinen, vorsichtigen Schlucken zu trinken. Ihre Lippen waren so ausgetrocknet und rissig, dass das kalte Wasser im ersten Moment regelrecht wehtat, und ihre Kehle war so trocken, dass das Wasser irgendwo auf halbem Wege einfach zu versickern schien wie Regentropfen im Sand einer von der Sonne ausgedörrten Wüste.

Leonie zwang sich trotzdem dazu, weiter nur kleine Schlucke zu nehmen. Zugleich versuchte sie den Scriptor unauffällig aus den Augenwinkeln heraus zu beobachten. Sie wäre nicht sehr erstaunt gewesen, hätte er ihr den Becher im allerletzten Moment aus den Händen geschlagen oder ihr seinen Inhalt kurzerhand ins Gesicht geschüttet. Beides war schon mehr als einmal vorgekommen, seit Theresa und sie in Gefangenschaft geraten waren.

Diesmal jedoch beschränkte sich der Scriptor darauf, sie aus wütenden Augen anzustarren. Aber vermutlich brütete er nur gerade wieder eine weitere Gemeinheit aus. Nach den ersten beiden Tagen, die sie die Gefangene der Scriptoren gewesen war, hatte sie geglaubt, alle Bosheiten zu kennen, die sich die hässlichen schwarzen Gnome ausdenken konnten, aber den Gegenbeweis hatten ihre Gefangenenwärter direkt am darauffolgenden Tag angetreten.

Und am Tag danach und an dem darauf folgenden und dem danach.

Leonie wusste nicht, wie viel Zeit seither vergangen war, ob eine Woche oder zwei oder vielleicht noch viel mehr, aber es hatte keinen Tag gegeben, an dem sich die Scriptoren nicht mindestens eine neue Niederträchtigkeit einfielen ließen. Manchmal brachten ihr die Scriptoren einen ganzen Tag lang weder zu essen noch zu trinken oder sie weckten sie fünf- oder sechsmal in einer Nacht oder ließen sie gar nicht schlafen. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass man sie anderthalb oder zwei Tage lang hungern ließ, dann wieder kamen die Scriptoren binnen weniger Stunden mehrmals in ihre Zelle, um ihr zu essen zu bringen, bis sie ihr Zeitgefühl vollkommen verloren hatte.

Als sie das allererste Mal hierher gebracht worden war um mit dem Archivar zu reden, da hatte ihr der Herr des Archivs versprochen, dass weder Theresa noch sie mit den furchtbaren Gerätschaften der Folterkammer Bekanntschaft machen würden, was Leonie mit mehr als nur einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis genommen hatte. Damals hatte sie noch nicht gewusst, dass man einen Menschen auch foltern konnte, ohne glühende Zangen und Streckbänke zu Hilfe zu nehmen.

Vielleicht gehörte ja auch dieser Besuch nur wieder zu einer neuen Bosheit, die sich die Scriptoren ausgedacht hatten, um sie zu quälen. Es war das fünfte oder sechste Mal, dass ihre schwarz gekleideten Wächter sie hierher brachten - sie konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wie oft es wirklich gewesen war -, und zumindest zweimal war der geheimnisvolle Archivar erst gar nicht erschienen; sie hatte einfach eine Weile auf diesem Stuhl gesessen und darauf gewartet, dass etwas geschah, und schließlich hatten die Scriptoren sie wieder zurück in ihre Zelle gezerrt. Die anderen Male hatte die unheimliche Gestalt einfach nur dagesessen und sie angestarrt, ohne irgendetwas zu sagen, ohne eine Forderung zu stellen oder auch nur eine Frage.

Während der vergangenen Tage waren ihr immer wieder Theresas Worte durch den Kopf geschossen, als sie, vor riesigen Eisbechern im Straßencafe hockend, zum ersten Mal über das Archiv gesprochen hatten. »Ich persönlich glaube nicht, dass das Archiv wirklich das ist, was wir darin sehen«, hatte Theresa gemeint. »Es ist ein Ort, an dem das Schicksal aufgezeichnet wird - frag mich nicht, von wem oder wie oder warum. Die Hüterinnen vor uns haben vielleicht Göttergestalten gesehen, die mit Blitzen glühende Buchstaben in Felsen gebrannt haben, und die, die nach uns kommen werden, sehen vielleicht einen Saal voller Computerterminals.«

»Du meinst, jeder sieht das, was er zu sehen erwartet?«, hatte Leonie damals vermutet. »Weil wir das, was wirklich da ist, gar nicht erkennen können?«

Auch wenn Theresa diese Frage bejaht hatte und Leonie ihr geglaubt hatte - im Moment machte es keinen Unterschied. Vielleicht waren die Scriptoren, Schusterjungen und all die anderen Kreaturen tatsächlich keine Lebewesen im eigentlichen Sinne, und vielleicht konnten sie auch nicht wirklich sterben, weil es sie nicht wirklich gab, und vielleicht waren sie nichts als eine Mischung aus ihrer eigenen Fantasie und der viel, viel mächtigeren Vorstellungskraft des Archivars - aber all das änderte überhaupt nichts an der hoffnungslosen Situation, in der sie und Theresa sich befanden.

Den Archivar gab es wirklich, dessen war sich Leonie hundertprozentig sicher, ohne dass sie wusste, woher sie diese Gewissheit nahm. Und das, was er ihr antat, war ebenfalls so real, wie es nur sein konnte.

Nur half ihr dieses Wissen nicht weiter, denn es befähigte sie nicht im Geringsten, etwas an ihrer Situation zu ändern. Alles, was sie tun konnte, war, auf den Archivar zu warten und darauf zu hoffen, dass er sie und Theresa irgendwann aus diesem Albtraum entließ. Dabei war sie sich beinahe sicher, dass der Archivar auch heute wieder nicht kommen würde; und wenn doch, dann nur, um sie anzustarren und nach einer Weile wieder zu gehen.

Umso überraschter war sie, als sie bald darauf das Geräusch der Tür hörte und dann eine wohl bekannte Stimme, die irgendjemandem erklärte, dass er seine Hand lieber da wegnehmen sollte, wo sie gerade sei, falls er Wert darauf legte, sie noch eine Weile zu behalten.

»Theresa?«, fragte sie ungläubig. Ohne auf den Scriptor zu achten, der sie hierher gebracht hatte und jetzt neben der Tür stand und sie missmutig ansah, sprang sie von ihrem Stuhl auf und lief Theresa entgegen, die gerade, begleitet von zwei weiteren Gestalten in schwarzen Kapuzenmänteln, hereinkam. Theresa ihrerseits riss sich mit einem Schrei los, lief ihr entgegen und schloss sie so stürmisch in die Arme, dass sie Leonie um ein Haar von den Beinen gerissen hätte.

»Leonie! O mein Gott, Leonie, ich bin ja so froh!«, rief sie immer und immer wieder, während sie Leonie abwechselnd an sich presste und ihr zum wiederholten Mal auf die Schultern klopfte, und das so heftig, dass Leonie im wahrsten Sinne des Wortes die Luft wegblieb. »Ich bin ja so froh! Du lebst.«

Leonie machte sich mit einiger Mühe los und schob Theresa mit noch mehr Mühe auf Armeslänge von sich. »Die Frage ist nur, wie lange das noch so bleibt«, erklärte sie schwer atmend. Theresa blinzelte und Leonie fügte lachend hinzu: »Anscheinend hast du dir ja vorgenommen, mir den Rest zu geben.«

Theresa blinzelte eine Sekunde lang irritiert, aber dann lachte sie, drückte Leonie noch einmal - vorsichtiger - an sich und wurde dann schlagartig sehr ernst. »Wie geht es dir?«, fragte sie.

»Ich bin jedenfalls am Leben.« Leonie trat noch einen Schritt zurück und maß Theresa mit einem aufmerksamen Blick von Kopf bis Fuß. »Falls ich allerdings auch nur halb so schlimm aussehe wie du, dann möchte ich mich selbst nicht angucken müssen.«

»Du siehst mindestens doppelt so schlimm aus wie ich«, antwortete Theresa. »So entsetzlich wie du kann ich gar nicht aussehen.«

Leonie lachte kurz und wurde dann wieder ernst. Ihre Worte hatten ganz bewusst scherzhaft klingen sollen, aber sie waren der Wahrheit dennoch näher gekommen, als ihr selbst lieb sein konnte. Theresa bot einen Anblick, der sie an Hendrik denken ließ, als sie ihn nach seiner Gefangennahme wiedergesehen hatten. Anscheinend hatte man sie nicht geschlagen, aber ansonsten schien es ihr kaum besser ergangen zu sein als ihm. Sie hatte deutlich an Gewicht verloren. Ihr Haar war stumpf und starrte vor Schmutz, ebenso wie ihre Kleider und ihr Gesicht, und sie sah nicht nur so aus, als hätte sie sich mindestens zwei Wochen lang nicht gewaschen, sondern roch auch so.

»Haben sie dir etwas getan?«, fragte Theresa.

»Sie haben mich nicht auf die Streckbank gelegt, wenn du das meinst«, antwortete Leonie. Dann erzählte sie Theresa mit knappen Worten, wie es ihr ergangen war. »Hast du den Archivar gesehen?«, fragte sie schließlich.

Theresa schüttelte den Kopf.

»Aber ich«, fuhr Leonie fort. »Zwei- oder dreimal. Er hat kein Wort mit mir gesprochen. Er hat nicht einmal eine einzige Frage gestellt. Er verlangt immer nur das Buch!« Sie hob die Schultern. »Ich verstehe ja nicht einmal, was er von uns will.«

»Vielleicht nichts«, meinte Theresa leise. »Vielleicht will er uns einfach nur für unser Eindringen hier bestrafen.« Sie klang nicht so, als ob sie ihren eigenen Worten glaubte, aber sie fügte trotzdem nach einer winzigen Pause und in leicht verändertem, gezwungenoptimistischem Ton hinzu: »Immerhin scheint Hendrik entkommen zu sein. Das gibt mir Anlass zur Hoffnung.«

»Hoffnung?«, fragte Leonie. »Worauf?«

»Nun, wenn er deinen Vater alarmiert...«

»Was dann?«, unterbrach sie Leonie. Sie schüttelte müde den Kopf. »Was soll er denn tun? Dem Archivar eine offizielle Protestnote schicken oder die Marines alarmieren und uns gewaltsam befreien?« Leonie lächelte bitter. »Nein, ich fürchte, diesmal sitzen wir wirklich in der Tinte, Theresa.«

Theresas Blick umwölkte sich. »Und es ist alles meine Schuld«, murmelte sie.

»Deine Schuld? Quatsch!«, widersprach Leonie. »Wie kommst du denn darauf?«

Theresa kam nicht dazu, zu antworten. Leonie spürte es, unmittelbar bevor es geschah. Die Tür ging auf und zwei weitere Scriptoren betraten den Raum, begleitet von gut zwei Dutzend Schusterjungen, die sofort einen wuselnden Kreis um Theresa und Leonie bildeten und aus winzigen hassverzerrten Gesichtern zu ihnen heraufstarrten. Theresa betrachtete die kaum handgroßen Knirpse verächtlich und stieß sogar mit dem Fuß nach einem von ihnen, als er ihr zu nahe kam, aber Leonie lief ein Schauer über den Rücken. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wozu die kleinen Ungeheuer fähig waren. Um ein Haar hätten ihre Eltern und sie diese Erkenntnis mit dem Leben bezahlt.

Dann vergaß sie die Schusterjungen schlagartig, denn der Archivar betrat den Raum. Obwohl Leonie die unheimliche Gestalt mittlerweile mehrmals gesehen hatte, war es auch diesmal wieder, als streife ein eiskalter Hauch ihre Seele und ließe etwas darin erstarren.

Der Archivar ging mit langsamen Schritten um den Tisch herum, vor dem Leonie gerade gesessen hatte, und blieb auf der anderen Seite stehen. Der Blick unsichtbarer, kalter Augen richtete sich auf sie und Leonie wappnete sich innerlich gegen einen weiteren Angriff der schrecklichen geistigen Übermacht des Ungeheuers.

Aber nichts geschah. Die unsichtbaren Augen starrten sie nur an. Es gab in ihrem Geist nichts mehr, was zu ergründen sich noch gelohnt hätte. Alle Geheimnisse waren aufgedeckt, alle ihre intimsten Sehnsüchte und Wünsche ans Licht gezerrt. Allein die bloße Erinnerung an das, was der Archivar ihr angetan hatte, löste schon fast körperliche Übelkeit in ihr aus. Doch nichts von alldem, was sie erwartete, geschah.

DAS BUCH, donnerte die lautlose Nichtstimme des Archivars in ihren Gedanken.

»Aber ich weiß doch nicht einmal, was du von mir willst!«, jammerte Leonie.

DAS BUCH, wiederholte der Archivar stur.

»Verdammt noch mal, ich weiß nicht, wovon du redest!«, schrie Leonie.

Theresa sog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein, und auch etliche der Scriptoren rissen erstaunt die Augen auf oder duckten sich sogar, als rechneten sie ernsthaft damit, dass ihnen im nächsten Moment der Himmel auf den Kopf fiele.

Auch ein Teil von Leonie krümmte sich schier vor Angst, aber gleichzeitig regte sich auch ein immer stärker werdender Trotz in ihr. Plötzlich war es ihr vollkommen egal, was mit ihr geschah - was konnte ihr der Archivar denn noch antun, das schlimmer wäre als das, was er ihr bereits angetan hatte?

DAS BUCH.

»Ich weiß nicht, wo dein verdammtes Scheißbuch ist!«, brüllte sie.

Die Scriptoren hielten die Luft an und Theresas Gesicht verlor auch noch das allerletzte bisschen Farbe.

Lange, endlos lange, wie es Leonie vorkam, starrte der Archivar sie an. Dann, quälend langsam, hob er die Hand - und deutete auf Theresa!

»Nein!«, keuchte Leonie. »Nicht sie! Sie... sie hat nichts damit zu tun!«

Gleich vier Scriptoren auf einmal stürzten sich auf Theresa. Die junge Frau stieß einen davon zu Boden und versetzte einem anderen eine Backpfeife, die ihn hilflos zurücktaumeln und schwer auf das knochige Hinterteil plumpsen ließ, dann waren die beiden anderen heran und rissen sie einfach um. Leonie wollte ihr zu Hilfe eilen, doch sie hatte sich noch nicht halb umgedreht, da machte der Archivar eine fast beiläufige Geste und Leonie erstarrte mitten in der Bewegung. Vollkommen hilflos musste sie mit ansehen, wie Theresa von einem halben Dutzend Scriptoren niedergerungen und dann grob wieder auf die Füße gezerrt wurde. Jeweils zwei Scriptoren klammerten sich an ihren rechten und ihren linken Arm und eine ganze Meute Schusterjungen an ihre Beine. Eins der kleinen Biester hockte auf ihrer Schulter und vergnügte sich damit, aus Leibeskräften an ihren Haaren zu zerren.

»Bitte«, flehte Leonie. »Lass sie in Ruhe. Sie hat mit alledem nichts zu tun!«

DAS BUCH.

»Aber ich weiß doch nicht einmal, welches Buch du meinst«, rief Leonie. »Bitte! Wenn du jemanden für was-auch-immer bestrafen willst, dann nimm mich!«

Wieder starrte der Archivar sie für endlos quälende Sekunden an, dann drehte er sich mit einem Ruck um und hob die Hand. Die unheimliche Lähmung fiel von Leonie ab, aber sofort waren zwei Scriptoren heran und packten ihre Handgelenke.

Theresa und sie wurden grob aus dem Raum und eine lange gewendelte Treppe hinaufgezerrt. Es war nicht der Weg, auf dem man sie hierher gebracht hatte, aber Leonie versuchte auch erst gar nicht ihn sich zu merken. Die unterirdische Welt des Archivars war ein Labyrinth, das nicht nur keinem irgendwie erkennbaren System folgte, sondern sich auch beständig zu verändern schien. Manchmal gab es Türen oder Treppenschächte, wo vorher massives Mauerwerk gewesen war oder umgekehrt, und auch der Weg von ihrer Zelle in den Raum, in dem sie den Archivar getroffen hatte, schien jedes Mal unterschiedlich lang gewesen zu sein.

Die Treppe führte zu einem endlos langen Korridor hinauf, wo sie von vier schwer bewaffneten Aufsehern erwartet wurden, die Theresa und sie in die Mitte nahmen. Sie wurden losgelassen, aber die Scriptoren und Schusterjungen blieben in ihrer Nähe, während sie weitergingen.

Leonie wollte an Theresas Seite treten um mit ihr zu reden, aber ihre Bewacher ließen das nicht zu. Kaum hatte sie auch nur einen halben Schritt getan, machte einer der Aufseher eine zornige Handbewegung und stieß ein drohendes Knurren aus.

»Nicht«, sagte Theresa hastig. »Gib ihnen keinen Vorwand!«

Leonie verzichtete darauf, nachzufragen, wofür sie ihnen keinen Vorwand geben sollte. Widerstrebend stolperte sie zwischen den hünenhaften Kriegern voran, bis sie die nächste Abzweigung erreicht hatten; eine weitere Treppe, die steil in die Höhe führte und in einen niedrigen Gang mit zahlreichen, ausnahmslos geschlossenen Türen mündete. Stimmen und das Klirren von Metall drangen ihnen entgegen, und ein leicht süßlicher Geruch, der unangenehme Erinnerungen in Leonie wachrief, ohne dass sie im allerersten Moment genau sagen konnte woran.

Es war Theresa, die plötzlich scharf die Luft einsog und erschrocken nach vorne deutete. »Der Leimtopf!«

Kein Zweifel, sie hatte Recht, dachte Leonie schaudernd. Das Rasseln von Ketten und das dumpfe Wummern und Ächzen gewaltiger Maschinen wurden mit jedem Schritt lauter, und am Ende des Ganges war ein unheimliches grünes Leuchten erschienen, in dem sich verschwommene Schatten bewegten. Leonies Herz begann vor Angst immer heftiger zu schlagen. Sie wusste nicht, was sie erwartete, aber es würde zweifellos etwas durch und durch Entsetzliches sein.

Nur einen Moment später wurde aus ihrer Befürchtung Gewissheit. Sie betraten den riesigen runden Raum mit dem Metallgitterboden, unter dem der Leimtopf brodelte. Der Marzipangeruch des kochenden Buchbinderleims war so intensiv geworden, dass es ihr fast den Atem verschlug, und auch die Hitze hatte spürbar zugenommen.

Theresa und sie wurden über den vibrierenden Gitterboden zur Mitte des Raumes geführt, wo der Archivar sie erwartete. Er war umgeben von einem guten Dutzend Aufsehern und nahezu ebenso vielen der unheimlichen Kreaturen, denen sie im Zug begegnet waren. Der Würfel aus rostigen Eisenstäben, in dem Leonie beim ersten Mal ihre Eltern vorgefunden hatte, war verschwunden, und an seiner Stelle erhob sich nun eine massige Konstruktion aus wuchtigen Balken und rostigem, schwarzem Eisen, die Leonie auf unheimliche Weise an ein Sprungbrett erinnerte, wie man es in Schwimmbädern sah.

»Was... ist das?«, fragte sie ängstlich.

Theresa hob die Schultern. »Sieht so aus, als sollte da jemand kielgeholt werden«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln.

Leonie wollte antworten, aber der Archivar machte eine befehlende Geste, und einer der Aufseher packte Leonie bei den Schultern und hielt sie mit eisernem Griff fest, während Theresa abermals von vier Scriptoren und einer Schar Schusterjungen ergriffen und festgehalten wurde.

DAS BUCH.

Leonie hätte am liebsten laut aufgeschrien. Wenn der Archivar alle ihre Gedanken und Geheimnisse kannte, wieso verstand er dann nicht, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, was er überhaupt von ihr wollte?

Zwei, drei endlose Atemzüge lang starrte der Archivar sie aus seinen unsichtbaren Augen an, dann hob er die Hand, und Leonie sah aus den Augenwinkeln, wie Theresa von ihren Bewachern brutal auf die unheimliche Konstruktion zugeschleift wurde, obwohl sie nicht den geringsten Versuch machte, sich zu widersetzen.

DAS BUCH.

»Aber ich verstehe doch nicht, was du willst!«, wimmerte Leonie. »Bitte, tu ihr nichts! Sie hat nichts mit unserem Streit zu schaffen.« Tränen liefen über ihr Gesicht, und obwohl sie wusste, wie sinnlos es war, versuchte sie sich loszureißen und zu Theresa zu eilen. Natürlich gelang es ihr nicht. Der riesige Aufseher schien ihre Anstrengung nicht einmal zu bemerken.

Ein helles Quietschen und Schrillen erklang und unter dem Ende der unheimlichen Laufplanke begann ein Teil des Gitterbodens auf rostigen Scharnieren auseinander zu gleiten. Theresa keuchte vor Entsetzen und begann sich nun doch zu wehren, aber gegen die Übermacht der Scriptoren und Schusterjungen hatte sie keine Chance. Ohne langsamer zu werden zerrten sie Theresa auf das Ende der Planke zu, bevor sie endlich anhielten.

Die zischende blassgrüne Masse unter ihnen schien stärker zu brodeln, als könnte sie es kaum noch erwarten, ihres Opfers habhaft zu werden.

»Bitte!«, schrie Leonie. Verzweifelt bäumte sie sich im Griff des Aufsehers auf. »Tu ihr nichts! Nimm mich!«

Tatsächlich schien der Archivar einen winzigen Moment zu zögern. Aber dann hob er wieder mit einer knappen befehlenden Geste die Hand. Theresa versuchte noch einmal ihre Bewacher abzuschütteln. Zwei, drei Schusterjungen taumelten zur Seite, und einer der geifernden Knirpse flog sogar in hohem Bogen durch die Luft und landete in der brodelnden grünen Masse, um augenblicklich darin zu versinken. Aber die Übermacht war einfach zu groß. Unbarmherzig wurde sie weiterhin in Richtung Schlund gezerrt, unter dem der kochende Leim lauerte.

Ein helles Sirren erklang, und einer der Scriptoren, die Theresas Arme gepackt hatten, schwankte, griff sich an den Hals und kippte dann rücklings in den Leimtopf. Theresa schrie gellend auf und befreite sich mit der Kraft der schieren Verzweiflung von ihren Bewachern und dann brach in der riesigen runden Halle buchstäblich die Hölle los.

Plötzlich war die Luft erfüllt von einem Chor gellender Schreie, wütenden Gebrülls und rasender, sirrender Schatten, die, wie es schien, von überall zugleich auf die Scriptoren und Aufseher herabregneten und Tod und Verderben in ihre Reihen säten. Leonie keuchte vor Schmerz, als sich die Pranken des Aufsehers, der sie gepackt hielt, erschrocken zusammenzogen, allerdings nur, um sich einen Sekundenbruchteil später zu lösen und sie endgültig loszulassen. Aus seinem Hals ragten gleich drei kurze gefiederte Pfeile.

Leonie taumelte mit einem erschrockenen Keuchen zur Seite, gerade noch rechtzeitig, um nicht von der zusammenbrechenden riesigen Kreatur unter sich begraben zu werden. Unverzüglich grapschte ein zweiter Aufseher mit seinen gewaltigen Pfoten nach ihr und auch eine der schrecklichen Kreaturen aus dem Zug setzte sich knurrend in Bewegung. Beide wurden von einem ganzen Hagel tödlicher Pfeile und Armbrustgeschosse niedergestreckt, bevor sie sie erreicht hatten.

Irgendjemand schrie ihren Namen, aber Leonie achtete nicht darauf, sondern stürmte blindlings los, um zu Theresa zu gelangen. Etwas prallte gegen sie und ließ sie schwanken. Scharfe Krallen griffen nach ihrem Arm, glitten daran ab und hinterließen heftig blutende, brennende Schrammen in ihrer Haut. Immer mehr und mehr Pfeile und andere Wurfgeschosse regneten auf die Kreaturen des Archivars herab. Leonie duckte sich unter etwas Großem, an einem Ende tödlich Glitzerndem und machte einen hastigen Schritt zur Seite, als ein Scriptor sie in einem Anfall von selbstmörderischem Mut (oder auch Dummheit) ansprang. Leonie stieß ihn fort, fand endlich Theresa in dem allgemeinen Chaos wieder und war mit zwei, drei hastigen Schritten bei ihr.

Auch Theresa hatte sich der meisten ihrer Gegner entledigt, aber ein letzter Scriptor und mindestens ein Dutzend Schusterjungen setzten ihr noch immer heftig zu. Erst als Leonie neben ihr anlangte und in das Handgemenge eingriff, gelang es Theresa, auch die letzten der kleinen Angreifer abzuschütteln und sich schwer atmend aufzurichten, und auch Leonie fand endlich Zeit, den Blick zu heben und sich umzusehen.

Im ersten Moment kam es ihr immer noch so vor, als käme der Hagel tödlicher Pfeile und Wurfgeschosse buchstäblich aus dem Nichts, aber dann sah sie blitzende Pickelhauben und weiß-rot gestreifte Hemden auf einer der Galerien, die in mehreren übereinander liegenden Kreisen um die Halle liefen.

»Die Stadtwache!«, keuchte Theresa überrascht. »Das sind ja Hendriks Männer!«

»Also ist er doch entkommen«, sagte Leonie. Hendrik hatte es offensichtlich nicht dabei bewenden lassen, sich selbst in Sicherheit zu bringen, sondern war unverzüglich und mit Verstärkung zurückgekehrt, um Theresa und sie zu befreien. Ob ihm das allerdings gelingen würde, das stand auf einem ganz anderen Blatt. Der Angriff war so vollkommen überraschend und mit solcher Präzision erfolgt, dass er die Krieger des Archivars buchstäblich gelähmt hatte - aber diese Überraschung würde nicht endlos andauern, und trotz der Opfer, die der Hagel von Pfeilen und Armbrustbolzen gefordert hatte und noch immer forderte, wimmelte die Halle nach wie vor von riesigen bewaffneten Gestalten.

»Leonie! Theresa!«

Leonie sah hoch und suchte nach der Stimme, die ihren und Theresas Namen gerufen hatte. Schließlich gewahrte sie eine hoch gewachsene Gestalt in weiß-rot gestreiftem Wams und kupferfarben schimmerndem Brustharnisch und mit Pickelhaube, die unter dem gleichen Eingang aufgetaucht war, durch den Theresa und sie den Leimtopf betreten hatten. Ihr Gesicht war hinter einem sonderbaren Gittervisier verborgen, sodass Leonie es nicht erkennen konnte, dafür aber identifizierte sie die Stimme umso deutlicher.

»Hendrik!«

Theresa nickte grimmig. »Los!«

Sie fuhren unverzüglich herum und stürmten los, aber Leonie warf dennoch einen hastigen Blick über die Schulter zurück, und was sie sah, ließ ihr Herz einen erschrockenen Sprung tun.

Der Archivar hatte sich gänzlich in ihre Richtung umgewandt, und Leonie spürte selbst über die Entfernung hinweg die tobende Wut der schrecklichen Kreatur, die sich unter dem schwarzen Kapuzenmantel befand. Sie rechnete instinktiv damit, von derselben furchtbaren Kraft getroffen zu werden, die Theresa in der Käfigzelle von den Beinen gerissen hatte, doch stattdessen machte der Archivar nur eine weit ausholende Geste mit beiden Armen und seine Geschöpfe setzten brüllend zur Verfolgung an. Leonie erschrak, als sie sah, wie schnell die scheinbar so plumpen Aufseher und Krieger waren. Die Bogenschützen oben auf der Galerie konzentrierten ihr Feuer nun ganz auf ihre Verfolger und viele ihrer Geschosse fanden mit tödlicher Präzision ihr Ziel.

Aber der Vorteil der Überraschung war dahin, und weder feuerten die Gardisten auf reglos dastehende Ziele, die nicht ahnten, was ihnen bevorstand, noch waren es menschliche Gegner. Etliche Verfolger stürzten, aber Leonie sah auch Aufseher und Krieger, die von drei, vier, fünf Pfeilen getroffen wurden und dennoch weiterstürmten, als wären es nicht mehr als Nadelstiche. Und sie waren schnell.

Dieser Anblick ließ Leonie ihr Tempo noch einmal steigern. Eine Hand voll Schusterjungen versuchte Theresa und sie aufzuhalten, aber sie rannten sie schlichtweg über den Haufen, ebenso wie die zwei oder drei Scriptoren, die verrückt genug waren, sich ihnen in den Weg zu stellen.

Dennoch war Leonie ganz und gar nicht sicher, dass sie es schaffen würden. Der Pfeilhagel von der Galerie schien an Intensität abgenommen zu haben, und es kam Leonie auch so vor, als hätte die Zielsicherheit der Gardisten nachgelassen. Leonie sah im Laufen hoch und erkannte entsetzt, dass auch dort oben Krieger des Archivars aufgetaucht und heftige Kämpfe ausgebrochen waren.

Obwohl sie versuchte noch schneller zu laufen, hätte sie es um ein Haar nicht geschafft. Hendrik winkte sie aufgeregt heran, und plötzlich tauchten auch rechts und links von ihm Männer in Pickelhauben und schimmernden Brustharnischen auf, die wuchtige Armbrüste in Anschlag brachten. Leonie hielt entsetzt den Atem an, als die Männer nur flüchtig zielten und dann abdrückten und die Geschosse so dicht an ihr vorbeiflogen, dass sie ihren Luftzug zu spüren glaubte.

Hinter ihr erscholl ein schmerzerfülltes Grunzen und ein dumpfer Aufschlag, aber Leonie wagte es nicht, einen Blick zurückzuwerfen. Es war auch nicht nötig - sie konnte das wütende Knurren ihrer Verfolger ebenso deutlich hören wie ihre stampfenden Schritte, die unerbittlich näher kamen.

Die Gardisten luden hastig ihre Armbrüste nach und feuerten eine zweite Salve ab, dann ließen sie ihre Waffen fallen, und in ihren Händen erschienen wie hingezaubert lange Hellebarden mit gefährlichen Spitzen, die sie den Angreifern entgegenreckten - und damit auch Leonie und Theresa!

Leonie schrie vor Schreck laut auf, versuchte sich zu ducken und stolperte über ihre eigenen Füße. Sie fiel, riss instinktiv die Arme schützend vors Gesicht und rollte unter den vorgestreckten Lanzen der Krieger hinweg. Dicht neben ihr vollführte Theresa nahezu exakt (und im Gegensatz zu ihr absichtlich) dasselbe Manöver und kaum eine Sekunde später rannten mehrere Krieger des Archivars gegen die tödliche Barriere. Sie spießten sich damit buchstäblich selbst auf, aber der Anprall war auch so heftig, dass eine oder zwei der Hellebarden zersplitterten und etliche Gardisten einfach von den Füßen gerissen wurden.

Ungeschickt versuchte Leonie sich aufzurappeln, aber sie hatte die Bewegung noch nicht halb zu Ende gebracht, als sie von einer starken Hand ergriffen und grob in die Höhe und zugleich weiter in den Gang gezerrt wurde. Hinter ihr wurden Schreie und dumpfe Kampfgeräusche laut, und Leonie bemerkte aus den Augenwinkeln, dass die Gardisten abermals ihre Waffen fallen gelassen und stattdessen Schwerter und schlanke Rapiere gezogen hatten, um den Ansturm der Archivkrieger aufzuhalten.

Sonderlich erfolgreich schienen sie damit nicht zu sein. Zwar war es den Angreifern noch nicht gelungen, in den Tunnel einzudringen, aber die Hand voll Verteidiger wurde doch Schritt für Schritt zurückgedrängt.

»Bist du verletzt?« Hendrik zwang sie fast gewaltsam, ihren Blick von der schrecklichen Szene zu lösen und ihn anzusehen. Als sie es tat, kam ihr Hendriks Frage beinahe lächerlich vor. Das Gesicht hinter dem eigentümlichen Gittervisier war blass und stoppelbärtig. Schwere, fast schwarze Ringe lagen unter seinen Augen und seine Wangen wirkten eingefallen. Er sah so erschöpft und müde aus wie vor ihrer missglückten Flucht aus dem Gitterkäfig.

Mit einiger Verspätung schüttelte Leonie den Kopf, und Hendrik wandte sich mit einem fragenden Blick an Theresa, die sich unmittelbar neben Leonie aus eigener Kraft aufrichtete. »Und du?« Sie machte eine beruhigende Geste.

»Dann kommt.« Hendrik wandte sich mit einer Bewegung um, die schnell war, seine Erschöpfung aber fast noch deutlicher erkennen ließ als sein Gesicht. »Schnell, wir haben nicht viel Zeit.«

Er rannte los, hielt Leonies Hand dabei jedoch eisern fest, sodass sie einfach hinter ihm hergezerrt wurde, und das in einem Tempo, das seinen jämmerlichen Zustand Lügen strafte. Leonie musste ihre ganze Geschicklichkeit aufwenden, um nicht von den Füßen gerissen zu werden. So groß wie Hendriks Panik sichtlich war, traute sie ihm durchaus zu, sie einfach hinter sich herzuschleifen, sollte sie stürzen.

Erst als sie das Ende des Tunnels und damit eine schmale Treppe erreichten, die steil in die Höhe führte, ließ Hendrik ihre Hand los und deutete mit einer Kopfbewegung nach oben. »Schnell«, keuchte er schwer atmend. »Wir versuchen sie aufzuhalten.«

Theresa setzte sich hastig in Bewegung, aber Leonie zögerte noch eine Sekunde, um zu Atem zu kommen, aber auch um noch einmal zu Hendriks Männern zu blicken. Sie waren mittlerweile ein gutes Stück weit in den Gang zurückgetrieben worden, und Leonie hatte das sichere Gefühl, dass die Angreifer nur deshalb nicht noch viel schneller vorwärts kamen, weil sie sich in ihrer Masse gegenseitig behinderten. Mindestens einer der Gardisten war bereits gefallen, und etliche bluteten aus tiefen Wunden und hatten sichtlich immer größere Mühe, sich ihrer Gegner zu erwehren.

»Worauf wartest du?«, fauchte Hendrik ungeduldig.

»Dass du mitkommst«, antwortete Leonie. Sie machte eine unwillige Handbewegung, als Hendrik widersprechen wollte. »Du hast doch nicht wirklich vor, dich mit diesen Ungeheuern anzulegen?«, fragte sie in ganz bewusst spöttisch-verletzendem Ton. »Ich habe leider keinen Spiegel dabei, sonst könntest du selbst sehen, wie lächerlich das wäre. Außerdem«, fügte sie hinzu, als Hendrik immer noch zögerte, »willst du mich doch nicht etwa allein lassen, oder? Immerhin sollst du auf mich aufpassen.«

Natürlich wusste Hendrik, warum sie das sagte. Er war nicht dumm. Aber er war wohl auch Realist genug, sich selbst einzugestehen, dass er sich nicht in der Verfassung befand, einen ernst gemeinten Kampf auch nur einen Augenblick zu überstehen.

Schweren Herzens nickte er. »Also gut. Aber schnell!«

Diesmal ließ sich Leonie nicht zweimal bitten, sondern stürmte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, los, blieb aber auf halber Strecke wieder stehen, da Hendrik bei ihrem Tempo nicht mithalten konnte. Keuchend kam er neben ihr an und lehnte sich für einen Augenblick an die Wand, um wieder zu Atem zu kommen.

»Wie lange warst du weg?«, fragte Leonie mitfühlend.

»Oben, in der richtigen Welt?« Hendrik überlegte einen Moment. »Zu lange«, murmelte er schließlich. »Vielleicht vier, fünf Stunden. Ich konnte deinen Vater nicht gleich erreichen. Und es hat lange gedauert, bis ich meine Männer alarmiert hatte. Es tut mir Leid. Aber es ging einfach nicht schneller.«

Das hatte Leonie nicht gemeint. Für Theresa und sie waren viele Tage vergangen, für Hendrik jedoch nur wenige Stunden. Was nichts anderes bedeutete, als dass er sich noch immer in dem gleichen Zustand vollkommener Erschöpfung befand, in dem er aus dem Käfig geflohen war. Beim Anblick seines blassen, von kaltem Schweiß bedeckten Gesichts fragte sich Leonie, woher er überhaupt noch die Kraft nahm, sich auf den Beinen zu halten.

Sie wartete einen Moment - vermutlich länger, als gut war -, dann forderte sie Hendrik mit einer entsprechenden Geste auf weiterzugehen. Auf den letzten Stufen war sie es, die Hendrik stützte, nicht umgekehrt. Der Kampflärm unter ihnen wurde lauter und in das helle Klirren der Waffen mischten sich immer öfter gellende Schmerzensschreie.

Oben auf der Galerie angekommen wurde es schlimmer, nicht besser. Die Kämpfe, die sie von unten aus beobachtet hatte, waren für den Moment zum Erliegen gekommen, aber ihre Spuren waren unübersehbar. Zahlreiche Aufseher und Scriptoren lagen erschlagen auf dem Boden, doch dazwischen gewahrte Leonie auch etliche reglose Gestalten im kupferverzierten Weiß-Rot der Stadtgarde. Die Überlebenden hatten sich vielleicht dreißig oder vierzig Schritte entfernt verschanzt und schossen mit Armbrüsten und Bogen über die Brüstung in die Halle hinab. Etliche von ihnen waren verletzt, und es waren deutlich weniger, als sie bisher angenommen hatte; vielleicht zwei Dutzend, wenn überhaupt.

Leonie schrie vor Erleichterung auf, als sie unter ihnen ihren Vater erblickte, und rannte los. Inmitten der Stadtgarde war er unschwer auszumachen - er überragte die meisten um ein gutes Stück, und er war der Einzige, der keine Uniform trug, sondern schwarze Jeans, einen gleichfarbigen Rollkragenpullover und einen ebenfalls schwarzen, fast bodenlangen Ledermantel. In der linken Armbeuge hielt er etwas, das wie ein flaches Buch aussah, auch wenn Leonie irgendetwas daran falsch vorkam.

Als er ihren Schrei hörte, fuhr er herum und wollte ihr entgegeneilen, aber mehrere Krieger vertraten ihm hastig den Weg und einer der Männer hielt ihn sogar an der Schulter zurück Vater riss sich mit einer rüden Bewegung los, blieb aber dennoch stehen, und Leonie beschleunigte ihre Schritte noch mehr, sodass Hendrik nun endgültig hinter ihr zurückfiel.

»Leonie!« Auf den letzten Metern eilte Vater ihr nun doch entgegen und schloss sie so heftig in die Arme, dass sie den Boden unter den Füßen verlor und ein kleines Stück in die Höhe gerissen wurde. »Ich bin ja so froh, dich zu sehen! Bist du in Ordnung?«

Leonie machte sich mit einiger Mühe los und trat einen halben Schritt zurück. Ihr Vater lachte erleichtert und ließ sich halb in die Hocke sinken, damit sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden. Seltsam - Leonie war bisher gar nicht aufgefallen, dass ihr Vater so groß war. »Geht es dir auch wirklich gut?«, fragte er. »Ich meine: Haben sie dir etwas getan?«

»Es geht mir gut«, antwortete Leonie betont, »und sie haben uns nichts getan. Aber ihr hättet wirklich keine halbe Minute später kommen dürfen.« Sie sah zu Theresa hin, die nur zwei Schritte entfernt dastand und ihren Vater und sie abwechselnd und mit unterschiedlichem Gesichtsausdruck musterte. Auch Vater sah in dieselbe Richtung und in seinen Augen blitzte es kurz und zornig auf. Doch als er sich erneut an Leonie wandte, lächelte er wieder erleichtert.

»Gut. Aber darüber können wir später reden. Jetzt müssen wir hier verschwinden, und das möglichst schnell.« Er stand mit einem Ruck auf und drehte sich in der gleichen Bewegung um. »Hendrik! Wie weit sind deine Leute?«

Leonie bemerkte erst jetzt, dass auch Hendrik mittlerweile zu ihnen aufgeholt hatte. Er beantwortete Vaters Frage jedoch nicht gleich, sondern machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in einem der Gänge, die gleich zu Dutzenden auf die Galerie mündeten. Schon nach einem Augenblick kehrte er zurück und schüttelte stumm den Kopf.

»Verdammt«, sagte Vater.

»Was ist los?«, fragte Leonie alarmiert. Sie konnte nicht sagen, ob der Ausdruck auf dem Gesicht ihres Vaters Schrecken, blankes Entsetzen war oder vielleicht eine Mischung aus beidem.

»Der Rückweg«, antwortete ihr Vater. »Sie haben uns den Rückweg abgeschnitten. Wir müssen einen anderen suchen.« Er starrte einen Moment konzentriert auf das Buch hinab, das er bisher unter dem Arm getragen hatte, und wandte sich wieder an Hendrik. »Ich brauche ein wenig Zeit. Einen Ort, an dem wir uns verteidigen können.«

»Hier entlang.« Hendrik deutete ohne zu zögern hinter sich.

Vater nickte zustimmend, und Hendrik und die meisten seiner Männer begannen sich unverzüglich in den Gang zurückzuziehen, auf den er gerade gedeutet hatte. Auch Leonie wollte ihnen folgen, doch dann begab sie sich stattdessen an Theresas Seite, die an die Brüstung herangetreten war und in die Tiefe starrte.

Ein eisiger Schauer rann Leonie über den Rücken, als sie dasselbe tat. Die Halle unter ihnen wimmelte von Kriegern. Leonie vermochte nicht zu sagen, wo sie so plötzlich hergekommen waren, aber ihre Zahl hatte sich mindestens verdoppelt, wenn nicht verdreifacht. Und sie hatte das unheimliche Gefühl, dass es immer noch mehr und mehr wurden. Den Archivar selbst konnte sie nicht mehr sehen, aber sie konnte seine Anwesenheit spüren.

Leonie schrak heftig zusammen, als sich eine schwere Hand auf ihre Schulter legte. Aber es war nur Hendrik, der noch einmal zurückgekehrt war, um Theresa und sie zu holen. »Komm jetzt«, sagte er. »Und sprich mit deinem Vater. Wir werden versuchen sie aufzuhalten, aber ich weiß nicht, wie lange uns das gelingt. Was immer er vorhat, er sollte es besser schnell tun.«

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