Nach der Katastrophe

Es wurde Abend, bis sie nach Hause kamen, und obwohl bis spät in die Nacht nicht eine Minute verging, in der Leonie nicht über die unvorstellbare Katastrophe nachdachte, konnte sie hinterher nicht wirklich sagen, was genau geschehen war oder auch nur in welcher Reihenfolge. Sie erinnerte sich nur an Lärm, Flammen und reines Chaos. Das Flugzeug hatte sich in eine brodelnde Feuerkugel verwandelt, aus der Stichflammen und brennende Trümmerstücke in alle Richtungen flogen, und noch bevor der gewaltige Lärm der Explosion über ihnen zusammenschlug, erbebte die riesige Fensterscheibe wie unter einem Fausthieb, als sie die Druckwelle traf. Hinterher wurde ihr klar, dass alles noch viel schlimmer hätte kommen können. Hätte die Explosion die Fensterscheibe zerschmettert, dann wäre die Anzahl der Opfer bestimmt noch viel größer gewesen, denn zweifellos hätten sich die Scherben in gefährliche Geschosse verwandelt, die unter die Zuschauer gefahren wären. Das geschah nicht, aber natürlich brach in dem großen Restaurant - wie übrigens auf dem gesamten Flughafen - sofort Panik aus. Leonie erinnerte sich nur noch an Schreie, durcheinander rennende Menschen und umstürzende Tische, Stühle und an Geschirr, das klirrend zerbrach.

Wie sie nach Hause gekommen waren, wusste sie nicht mehr. Viele Fluggäste und Besucher hatten den Flughafen in heller Panik verlassen, aber sie und ihre Eltern hatten nicht zu ihnen gehört, und als sie endlich gehen wollten, da hatten sie es gar nicht mehr gekonnt. Sowohl in den Parkhäusern als auch auf der Straße vor dem Flughafengebäude herrschte ein hoffnungsloses Chaos. Selbst wenn sie ein freies Taxi gefunden hätten - was nicht der Fall war -, wären sie keinen Meter von der Stelle gekommen. Kurz darauf hatten dann auch noch Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienst das Gelände praktisch abgeriegelt, von dem Belagerungsring aus Reportern, Fotografen und Fernsehteams, der sich hinter den Absperrungen gebildet hatte, ganz zu schweigen.

Leonie erinnerte sich an all das und zugleich auch nicht. In ihrem Kopf purzelten die Bilder durcheinander wie Splitter eines zerbrochenen Spiegels, und alles, was sie spürte, war eine dumpfe Betäubung. Keinen Schmerz, keinen Schrecken. Sie hatte sich leicht verletzt: Als das Flugzeug explodierte, hatte sie ganz instinktiv die Hände vors Gesicht gerissen und sich dabei eine üble Schramme an der Tischkante zugezogen, aber selbst diesen Schmerz spürte sie kaum.

In ihr war nichts weiter als eine große, schreckliche Leere. Es war, als hätte die Explosion nicht nur das Flugzeug zerstört, sondern auch etwas in ihr vernichtet. Sie hätte Schmerz empfinden sollen, denn neben all den anderen Menschen - im Fernsehen hatten sie von mehr als zweihundert Opfern gesprochen - war auch ihre Großmutter ums Leben gekommen, aber sie empfand... nichts. Der Tag ging zu Ende und draußen vor den Fenstern wurde es allmählich dunkel. Leonie lag angezogen auf dem Bett, starrte die Decke über sich an und wartete darauf, dass diese entsetzliche Leere aus ihrem Inneren verschwand, aber das geschah nicht. Sie wäre ja schon froh gewesen, wenn wenigstens der Schmerz gekommen wäre, aber selbst dieser oft letzte Begleiter des Menschen ließ sie jetzt im Stich.

Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Sie sah nicht auf die Uhr, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass es spät am Abend sein musste, als sie das Zimmer verließ und mit hängenden Schultern ins Bad schlich. Unten im Wohnzimmer lief der Fernseher und sie glaubte, die Stimmen ihrer Eltern zu hören, doch sie achtete kaum darauf, sondern setzte ihren Weg fort, ohne auch nur einen Blick über das Geländer in die Tiefe zu werfen. Die Welt dort unten interessierte sie nicht. Vielleicht würde sie nie wieder etwas wirklich interessieren.

Das Licht im Bad ging automatisch an, als sie den Raum betrat - nur eine der technischen Spielereien, die ihr Vater so liebte und mit denen das ganze Haus von oben bis unten gespickt war - und sie ging langsam zum Waschbecken, drehte den Kaltwasserhahn auf und hielt die Handgelenke fast eine Minute lang unter den eisigen Strahl. Die Kälte ließ sie mit den Zähnen klappern, aber die erhoffte Wirkung blieb aus. Wie der brennende Schmerz an ihrer Hand schien auch die Kälte sonderbar irreal; als wäre sie etwas, das gar nicht sie betraf, sondern wie das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, ihr zwar seit fünfzehn Jahren vertraut war und trotzdem das einer Fremden zu sein schien.

Als sie den Wasserhahn zudrehte, fiel ihr Blick auf etwas Kleines, Silberfarbenes, das am Rand des Waschbeckens lag. Verwirrt griff sie danach und drehte es im Licht.

Es dauerte eine Weile, bis sie überhaupt erkannte, was sie da in der Hand hielt. Eine kleine silberne Nadel mit einer verchromten Kugel an jedem Ende. So etwas benutzte man in einem Piercing-Studio, wenn sie sich richtig erinnerte. Etliche von Leonies Klassenkameraden und -kameradinnen hatten solche Piercings, daher kannte sie sie, obwohl sie selbst so etwas nie getragen hätte. Aber wie kam dieses Piercing hierher?

Leonie dachte einen Moment lang ebenso angestrengt wie vergeblich über diese Frage nach, dann legte sie die Nadel wieder auf den Waschbeckenrand zurück und starrte in den Spiegel...

... der keiner mehr war.

Stattdessen blickte sie in eine hellen, scheinbar endlosen Tunnel, dessen Wände aus reinem weißen Licht zu bestehen schienen. An seinem Ende - eine Galaxie und zwei Unendlichkeiten entfernt - schimmerte ein noch helleres Licht, und während Leonie verständnislos in diese weiße Unendlichkeit blinzelte, bewegte sich das Licht, kam näher und begann wirbelnde Formen und Umrisse zu bilden. Es vergingen nur wenige Atemzüge, bis aus den wogenden Lichtschleiern ein Gesicht geworden war.

Das Gesicht ihrer Großmutter.

»Groß...mutter«, hauchte sie stockend.

»Sie darf es nicht tun, Leonie«, sagte Großmutter. »Du musst sie aufhalten!«

»Aber was... was bedeutet das?« Leonie blinzelte und presste die Lider so fest zusammen, dass ihre Augen wehtaten, und schlug sie wieder auf. Das Gesicht war immer noch da.

»Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe«, erklärte Großmutter. »Einen furchtbaren Fehler. Aber sie darf nicht versuchen, ihn durch einen noch schlimmeren Fehler wieder gutzumachen. Sag ihr das!«

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, keuchte Leonie.

Das Gesicht antwortete nicht. Für einen ganz kurzen Moment bohrte sich der Blick der uralten, gütigen Augen Großmutters in den Leonies, und sie gewahrte eine Furcht und ein Entsetzen darin, die sie erschauern ließen.

Dann verschwand das Gesicht.

Der leuchtende Tunnel erlosch und Leonie blickte wieder in den Spiegel und in ihr eigenes schreckensbleiches Gesicht.

»Großmutter?«, flüsterte sie, und dann schrie sie auf, riss die Arme in die Höhe und schlug mit solcher Wucht gegen den Spiegel, dass er zerbrach. »Großmutter!«, schrie sie noch einmal. »Großmutter, komm zurück!«.

Die Tür wurde aufgerissen, dann griffen starke Hände nach Leonies Schultern, zerrten sie vom Waschbecken fort und zwangen sie sich umzudrehen. Hinter ihr regneten die Scherben des zerborstenen Spiegels ins Waschbecken. Leonie schrie immer noch nach ihrer Großmutter und versuchte sich loszureißen. Erst als ihre Mutter sie grob bei den Handgelenken ergriff und so fest rüttelte, dass ihre Zähne schmerzhaft aufeinander schlugen, hörte sie auf.

Schlagartig wich alle Kraft aus ihrem Körper. Ihre Knie wurden weich. Sie sank nach vorne und wäre gestürzt, hätte Mutter sie nicht aufgefangen und in die Arme geschlossen. Leonie begann schluchzend zu weinen. »Großmutter«, wimmerte sie. »Das war... Großmutter.«

Ihre Mutter begann ihr tröstend über das Haar zu streichen. »Weine ruhig, mein Liebling«, flüsterte sie. »Das ist schon in Ordnung. Lass alles raus.«

Leonie machte sich mit einiger Mühe aus ihrer Umarmung los und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, um die Tränen fortzuwischen. Sie hatte sich an den Scherben des Spiegels geschnitten. Es tat nicht sehr weh, aber sie spürte, wie sie ihr Gesicht zusätzlich mit Blut verschmierte.

»Um Gottes willen, Leonie«, keuchte ihre Mutter. »Was ist denn mit deinen Händen?«

»Großmutter«, stammelte Leonie. »Der Spiegel...«

»Das spielt doch jetzt keine Rolle«, sagte ihre Mutter. »Du hast dich geschnitten!«

»Nein, du... du verstehst nicht. Es war Großmutter. Sie hat zu mir gesprochen und...«

Ihre Mutter hörte gar nicht zu. Mit sanfter Gewalt führte sie Leonie zum Waschbecken, drehte den Wasserhahn auf und hielt ihre Hände unter den Strahl. Diesmal tat das kalte Wasser regelrecht weh, aber Leonie sah auch schon nach ein paar Sekunden, dass sie nicht ernst verletzt war. Die Schnitte, die sie sich an den Spiegelscherben zugezogen hatte, waren nicht sehr tief. Die meisten hatten bereits aufgehört zu bluten.

»Anscheinend hast du noch einmal Glück gehabt.« Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Das hätte schlimm ausgehen können. Es ist meine Schuld. Ich hätte dich nicht allein lassen dürfen. Nicht nach so einem Tag.«

»Der Spiegel...«, begann Leonie, wurde aber sofort wieder von ihrer Mutter unterbrochen.

»Jetzt vergiss doch diesen dummen Spiegel«, sagte sie. »Hauptsache, dir ist nichts Schlimmes passiert.« Sie griff nach einem Handtuch, befeuchtete einen Zipfel und wollte das Blut aus Leonies Gesicht wischen, aber sie drehte den Kopf weg und wich ihr aus.

»Du verstehst nicht«, sagte sie. »Ich habe sie gesehen. Ihr Gesicht war im Spiegel! Sie... sie hat mit mir gesprochen!«

Ihre Mutter sah sie durchdringend an, dann drehte sie sich zur Seite und maß die Spiegelscherben im Waschbecken mit einem sehr langen undeutbaren Blick. »Sie fehlt dir sehr, nicht wahr? Mir fehlt sie jedenfalls. Ich habe es noch gar nicht ganz verstanden. Es ist alles so furchtbar schnell gegangen.« Ihre Stimme wurde leiser, und obwohl sie weiter starr auf die funkelnden Scherben im Waschbecken blickte, sah Leonie, dass in ihren Augen plötzlich Tränen schimmerten. Mit einem Mal kam ihr zu Bewusstsein, dass sie nicht die Einzige war, die einen schrecklichen Verlust erlitten hatte. Sie hatte ihre Großmutter verloren, aber ihre Mutter hatte schließlich ihre Mutter verloren.

»Ich habe sie wirklich gesehen«, sagte sie sehr leise, aber auch sehr ernst.

»Ich weiß«, antwortete Mutter. »Auch ich sehe sie überall. Ich höre ihre Schritte und ich rieche sogar ihr Kölnischwasser.« Sie lächelte traurig. »Weißt du noch, wie oft ich mich darüber beschwert habe, dass sie mit dem Zeug das ganze Haus verpestet? Wie froh wäre ich, wenn ich es jetzt noch einmal riechen könnte.« Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne und biss darauf. »Käme sie doch zurück. Sie könnte darin baden, wenn sie es wollte. Gott, könnte ich doch nur noch irgendetwas tun, um sie zurückzuholen!«

Leonie schwieg. Ihre Mutter hatte den Sinn ihrer Worte noch nicht einmal ansatzweise verstanden, aber sie versuchte es auch nicht. Andererseits war es ja vielleicht tatsächlich so, wie ihre Mutter glaubte: Sie hatte die Schwere des Schlags, den sie erlitten hatte, noch gar nicht erfasst - wie konnte sie da sicher sein, dass ihr ihre Nerven nicht einfach einen Streich gespielt hatten?

Ihre Mutter seufzte, dann trat sie an den Badezimmerschrank, um das Erste-Hilfe-Kästchen herauszunehmen. Sorgfältig reinigte sie Leonies Schnittwunden, versorgte die kleineren mit Heftpflaster und die beiden etwas tieferen Schnitte mit einer Mullbinde. »Das ist halb so wild«, erklärte sie, als sie fertig war. »Wahrscheinlich brauchen wir den Verband gar nicht, aber sicher ist sicher.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Eigentlich bin ich ja heraufgekommen, um dich zu holen. Wir müssen... ein paar Dinge besprechen. Fühlst du dich in der Lage dazu?«

Das fast unmerkliche Zögern in ihren Worten machte Leonie klar, dass es sich bei den paar Dingen, die ihre Eltern mit ihr besprechen wollte, ganz bestimmt nicht um etwas Angenehmes handelte, dennoch nickte sie.

»Bist du sicher?«, fragte ihre Mutter. »Ich meine: Wir können es verschieben, wenn du dich nicht wohl fühlst.«

»Es geht schon«, meinte Leonie leise.

»Gut«, sagte ihre Mutter. »Dann mach dich ein bisschen frisch und komm nach unten ins Wohnzimmer.«

Sie ging. Leonie blieb noch eine kurze Weile reglos stehen, bevor sie wieder ans Waschbecken trat und sich das Gesicht wusch. Anschließend trocknete sie sich übertrieben sorgfältig mit dem Handtuch ab, das ihre Mutter gerade benutzt hatte. Ihr war selbst klar, dass sie das nur tat, um Zeit zu gewinnen. Ohne dass ein Grund dafür zu bestehen schien, fürchtete sie sich fast davor, nach unten zu gehen - als ob es noch irgendetwas gäbe, was ihr das Schicksal antun konnte!

Als sie sich vom Waschbecken abwenden wollte, fiel ihr Blick wieder auf das kleine Piercing, und sie fragte sich erneut, wie die Metallnadel eigentlich hierher kam. Niemand in diesem Haus hatte Verwendung für etwas Derartiges, und die wenigen Freunde Leonies betraten niemals dieses Badezimmer, das der Familie vorbehalten war. Außerdem hatte sie keine Freunde, die sich piercten. Und dennoch konnte sie sich des immer stärker werdenden Gefühls nicht erwehren, dass es mit diesem merkwürdigen Schmuckstück etwas ganz Besonderes auf sich hatte. Ohne selbst recht zu wissen warum, nahm sie die Metallnadel vom Waschbeckenrand und steckte sie ein, bevor sie das Bad verließ.

Wie ihre Mutter angekündigt hatte, hielten sie und ihr Vater sich im Wohnzimmer auf, und wie Leonie erwartet hatte, waren sie nicht allein. Doktor Fröhlich stand hoch aufgerichtet zwischen ihnen. Sie waren offensichtlich in eine Debatte verstrickt, die man ebenso gut auch als ausgewachsenen Streit hätte bezeichnen können. Er hatte das Monokel abgenommen und fuchtelte damit herum wie der böse Zauberer aus dem Märchen mit seinem Zauberstab und seine Wangen zierten hektische rote Flecken.

»Störe ich?«, fragte Leonie.

Fröhlich brach mitten im Satz ab und sah für einen Moment regelrecht komisch aus, wie er so mit offenem Mund dastand, aber Leonie war nicht zum Lachen zumute. Für einen ganz kurzen Augenblick blitzte ein Bild in ihrer Erinnerung auf: Fröhlichs Gestalt, die sich in der Fensterscheibe des Restaurants spiegelte, unmittelbar bevor das Flugzeug explodiert war.

»Oh, hallo Leonida.« Fröhlich fand seine Fassung wieder, klemmte das Monokel ins Auge und kam auf sie zu. Bevor Leonie etwas dagegen tun konnte, ergriff er ihre Hand. Vermutlich sollte es eine Geste des Trostes sein, aber Leonie war die Berührung äußerst unangenehm. Sie zog die Hand zurück und Fröhlich sah für eine Sekunde irgendwie hilflos aus, dann fing er sich wieder.

»Mein herzliches Beileid«, sagte er. »Du armes Kind. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr ich den Verlust teile, den du erlitten hast. Deine Großmutter war eine so wunderbare Person.«

Leonie sah aus den Augenwinkeln, wie schwer es ihrer Mutter fiel, einfach dazustehen und nichts zu sagen. In ihrem Gesicht arbeitete es und sie hatte die Hände zu Fäusten geballt. Ihr Vater dagegen wirkte völlig ruhig, fast gelassen, aber Leonie ließ sich von dieser scheinbaren Gleichmut nicht täuschen. Ihr Vater sah meistens so aus, als interessiere ihn das, was in der Welt rings um ihn vorging, nicht wirklich, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Er war ein sehr aufmerksamer Beobachter, und obwohl er wenig sprach, hatte das, was er sagte, meistens Hand und Fuß.

»Danke«, sagte Leonie. »Aber Sie sind doch nicht nur gekommen, um mir das zu sagen, oder?«

Fröhlich wirkte noch irritierter als bisher. Wenn er schauspielert, dachte Leonie, dann perfekt. Er wirkte tatsächlich so, als könne er ihre Feindseligkeit nicht verstehen. »Nein, ich... nicht nur«, gestand er unsicher. »Da sind noch ein oder zwei Dinge, die geklärt werden müssen. Ich habe das meiste schon mit deinen Eltern besprochen, aber natürlich...« Er druckste einen Moment herum. »Es wäre schon vonnöten, dich anzuhören. Schon aus rein juristischen Gründen.«

»Und das muss heute sein?«, fragte Leonies Mutter. Ihre Stimme bebte, als brauche sie all ihre Kraft, um nicht loszuschreien. »Ausgerechnet jetzt, an diesem Abend? Haben Sie überhaupt kein Herz?«

»Natürlich kann ich Ihre Gefühle durchaus nachvollziehen, meine Liebe...«, begann Fröhlich.

»Das bezweifle ich«, unterbrach ihn ihre Mutter.

»... aber die Sache duldet leider keinen Aufschub, fürchte ich«, brachte Fröhlich seinen Satz in bedauerndem Tonfall zu Ende.

»Welche Sache?«, fragte Leonie.

Fröhlich sah sie kurz an, dann den Fernseher. Eine Nachrichtensendung lief und natürlich gab es nur ein Thema: den Flugzeugabsturz. Leonie ertrug es nur einen Augenblick lang, den Bildern der brennenden Wrackteile, Feuerwehr und Rettungsmannschaften, besorgt dreinblickender Flughafenangestellter und weinender Angehöriger zu folgen. Sie sah hastig wieder weg.

»Ja, ich fürchte, es geht um... diese Sache.« Fröhlich räusperte sich unbehaglich. »Ich weiß, es ist der denkbar schlechteste Moment, und vielleicht mag es dir und deinen Eltern sogar grausam erscheinen, aber durch den plötzlich Tod deiner Großmutter ergeben sich leider einige hm... unangenehme juristische Konsequenzen.«

»Großer Gott, Mann, doch nicht jetzt!«, keuchte Mutter.

»Ich fürchte, die Angelegenheit duldet keinerlei Aufschub«, wiederholte Fröhlich, wobei er Leonie einen fast schon verzweifelt um Verständnis flehenden Blick zuwarf.

Leonies Mutter wollte auffahren, aber ihr Vater hob rasch die Hand. »Lass ihn ausreden - bitte. Es könnte wichtig sein.«

»Danke.« Fröhlich lächelte flüchtig. »Das Problem ist - wie ich Ihnen bereits mehrfach zu erklären versuchte - Folgendes: Wir haben zwar heute Morgen alle notwendigen Unterschriften und Beglaubigungen geleistet, aber durch den so unvorhersehbar früh eingetretenen Tod ihrer geschätzten Frau Mutter ergeben sich leider ein paar Komplikationen.«

»Komplikationen?«, fragte Mutter.

»Es könnte sein, dass die Eigentumsübertragung nicht rechtskräftig ist«, sagte Fröhlich. »Jedenfalls nicht sofort.«

»Und was genau soll das heißen?«, fragte Leonies Vater. »Ich meine: So, dass auch ein normaler Mensch versteht, wovon Sie reden. Nicht nur Juristen.«

Fröhlich sah ein bisschen beleidigt aus. »Es könnte eine länger andauernde Rechtsunsicherheit eintreten, bis zu deren Klärung die normale gesetzliche Erbfolge gilt. Das heißt«, wandte er sich an Mutter, »dass zumindest für eine Weile Sie die alleinige Erbin des Geschäftes und aller anderen Besitztümer ihrer verstorbenen Frau Mutter sind.«

»Und?«, fragte Leonie. »Wen interessiert das? Mich nicht und meine Eltern ganz bestimmt auch nicht.«

»Darüber hinaus...«, Fröhlich ignorierte sie kurzerhand, »... besteht die Möglichkeit, dass die Behörden... gewisse Fragen stellen.«

»Fragen?«, wiederholte Mutter verständnislos.

Fröhlich sah weg. Aber Vater sagte ruhig: »Deine Mutter ist ums Leben gekommen, keine zwei Stunden nachdem sie ihren ganzen Besitz auf Leonie übertragen hat. Die Polizei könnte gewisse Zusammenhänge erkennen.«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst!«, entfuhr es Mutter, und auch Leonie starrte ihren Vater entsetzt an.

»Natürlich nicht«, sagte Fröhlich rasch. »Dennoch muss ich Ihrem Gatten zustimmen. Selbstverständlich ist schon der bloße Gedanke unsinnig, aber ich weiß auf der anderen Seite auch leider nur zu gut, wie die Ermittlungsbehörden denken. Zumindest bis zu dem Moment, in dem die Gründe für den Absturz restlos aufgeklärt sind, könnte irgendein übereifriger Beamter Zusammenhänge vermuten, wo gar keine sind.«

»Selbstverständlich«, sagte Mutter böse. »Wir haben das Flugzeug in die Luft gesprengt, um schneller an das Geld zu kommen.«

»Es würden zumindest einige unangenehme Fragen gestellt«, erwiderte Fröhlich ungerührt. »Ich glaube nicht, dass Sie im Augenblick in der Verfassung sind, sich...«

»Und ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht«, unterbrach ihn ihr Vater. »Sie sollten jetzt besser gehen. Es spielt überhaupt keine Rolle, wem das Geschäft gehört oder dieses verdammte Geld!«

»Ich fürchte, doch«, widersprach Fröhlich. »Ich habe durchaus Verständnis für Ihre Lage. Mehr, als Sie vielleicht glauben. Ihre geehrte Schwiegermutter war nicht nur meine Klientin, sondern auch eine gute alte Freundin. Aus diesem Grund fühle ich mich einfach verpflichtet, Ihnen Ihre Lage zu verdeutlichen.«

Eine gute alte Freundin?, dachte Leonie. Sie erinnerte sich an das Gespräch zwischen Großmutter und Fröhlich, das sie belauscht hatte. Es hatte sich für sie nicht nach einem Gespräch zwischen zwei guten alten Freunden angehört.

»Was genau soll das heißen?«, fragte sie. Das Misstrauen in ihrer Stimme war unüberhörbar.

»Es geht um den ausdrücklichen Wunsch deiner Großmutter, Leonida«, sagte Fröhlich, nun wieder direkt an sie gewandt. »Es ist so, wie sie selbst heute Morgen gesagt hat: Es ist in eurer Familie Tradition, dass das Erbe immer von der ältesten auf die jüngste Generation übergeht. Eine sehr alte und für deine Großmutter sehr wichtige Tradition.«

»Und?«, fragte Vater. »Dann warten wir eben die paar Wochen, bis die Dokumente rechtskräftig sind. Wo ist das Problem?«

»Das war nicht der Wunsch Ihrer verstorbenen Schwiegermutter«, sagte Fröhlich stur. Er klang nervös, fand Leonie. »Diese Tradition war ihr ungemein wichtig, müssen Sie wissen.«

»Und was sollen wir Ihrer Meinung nach jetzt tun?«

Fröhlich zögerte. Mit sichtlichem Unbehagen griff er in die Jackentasche und förderte einen dicken Briefumschlag zutage. »Ihre Schwiegermutter war eine sehr vorausschauende Frau. Sie hat mir schon vor Jahren präzise Anweisungen für einen Fall wie diesen gegeben. Das hier...«, er wedelte mit dem Briefumschlag, »... ist eine exakte Kopie der Dokumente, die Sie heute Morgen bereits unterschrieben haben, beglaubigt und von mir versiegelt. Sie sind ein halbes Jahr zurückdatiert. Sie müssen Sie nur noch einmal unterschreiben und die Eigentumsübertragung wäre mit sofortiger Wirkung rechtsgültig.«

»Wie bitte?«, fragte Vater. »Wissen Sie, was Sie da sagen? Das ist Urkundenfälschung! Muss ich Ihnen als Notar das erklären?«

»Nein«, antwortete Fröhlich. »Gewiss nicht. Aber dass ich bereit bin, gegen meinen Amtseid zu verstoßen, sollte Ihnen eigentlich klar machen, wie ernst ich den letzten Willen Ihrer Schwiegermutter nehme.« Er wedelte abermals mit dem Umschlag. »Sie können die Unterlagen prüfen, wenn Sie wollen. Sie werden keinen Unterschied zu denen von heute Morgen finden - bis auf das Datum.«

»Da stimmt doch etwas nicht«, sagte Vater. »Die ganze Sache stinkt zum Himmel!«

»Aber wenn es doch Mutters ausdrücklicher Wunsch war...«, wandte Leonies Mutter ein.

»Nein!« Leonie räusperte sich, trat mit einem entschlossenen Schritt zwischen Fröhlich und ihre Eltern und sagte noch einmal: »Nein. Ich glaube Ihnen nicht.«

»Aber mein Kind...«, begann Fröhlich.

»Ich glaube nicht, dass es nur darum geht«, fuhr Leonie fort, mit leiser, aber sehr entschlossener Stimme. Sie fühlte sich nicht wohl dabei. Fröhlich war trotz allem eine Respektsperson, ein Erwachsener. Und ihre Eltern hatten sie dazu erzogen, Erwachsenen mit Respekt zu begegnen. Doch nun fuhr sie trotzdem fort: »Ich habe Sie und Großmutter heute Morgen belauscht. Ich weiß nicht genau, worum es ging, aber ich weiß, dass Sie einen Streit hatten. Sie waren mit ihrer Entscheidung nicht einverstanden. Und jetzt kommen Sie hierher und wollen, dass wir irgendetwas unterschreiben?«

Fröhlich wurde blass. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich...«

»Ich denke, das reicht jetzt«, fiel ihm ihr Vater ins Wort, nicht sehr laut, aber in fast schneidendem Ton. »Sie haben meine Tochter gehört. Bitte gehen Sie jetzt, bevor ich auf die Idee komme, die Polizei zu rufen, damit sie sich Ihre Verträge etwas genauer ansieht.«

Für die Dauer eines Herzschlages sah Fröhlich beinahe so aus, als wolle er in Tränen ausbrechen, dann senkte er enttäuscht den Blick, steckte den Umschlag wieder ein und zog ihn gleich darauf wieder hervor, um ihn auf den Tisch zu legen.

»Überlegen Sie es sich noch einmal«, bat er. »Bitte. Es ist wichtig. Wichtiger, als Sie wahrscheinlich ahnen.«

Er ging ohne ein weiteres Wort. Niemand machte sich die Mühe, ihn hinauszubegleiten, doch nach ein paar Sekunden hörten sie das Geräusch der ins Schloss fallenden Haustür.

»Das ist unglaublich«, sagte Vater kopfschüttelnd. »Ein Notar, der seine Klienten zur Urkundenfälschung auffordert!«

»Vielleicht hat er ja wirklich einen guten Grund dafür.« Mutter wirkte sehr ernst und sehr nachdenklich. »Was er über die Familientradition gesagt hat, ist wahr. Mutter wollte unbedingt, dass Leonie das Geschäft erbt und niemand sonst.«

»Dagegen hat ja auch niemand etwas«, sagte Vater. »Aber welchen Unterschied machen da schon ein paar Tage?« Er nahm den Briefumschlag, den Fröhlich dagelassen hatte, vom Tisch und ließ ihn in seiner Tasche verschwinden. »Das lese ich mir später durch, und zwar sehr aufmerksam.« Nachdenklich wandte er sich an Leonie. »Bei dem Streit, von dem du erzählt hast - worum ging es da?«

Leonie hob die Schultern. »Ich weiß es nicht genau«, sagte sie wahrheitsgemäß. »Fröhlich war mit irgendeiner Entscheidung, die Großmutter getroffen hatte, nicht einverstanden, das ist alles, was ich mitbekommen habe.«

»Wahrscheinlich mit dem da.« Vater schlug mit der flachen Hand auf die Jackentasche, in der der Briefumschlag steckte. Er schien einen Moment intensiv nachzudenken und seufzte dann. »Ich gehe mal ins Internet und versuche etwas über diesen Dr. Fröhlich herauszufinden.«

»Jetzt?«, fragte Mutter verständnislos.

»Ich kann sowieso nicht schlafen«, antwortete Vater. »Und es könnte immerhin wichtig sein.«

Er ging. Mutter sah ihm fast entsetzt nach, aber Leonie konnte ihren Vater sogar verstehen. Großmutters Tod ging ihm offenbar genauso nahe wie ihr und ihrer Mutter, doch er gehörte nicht zu den Menschen, die ihre Gefühle offen zeigen konnten. Es war eben seine Art, mit dem Schmerz fertig zu werden.

Leonie nahm auf der Couch Platz und sah wieder zum Fernseher hinüber. Sie zeigten immer noch Bilder von der Absturzstelle, diesmal Luftaufnahmen, die wahrscheinlich von einem Hubschrauber stammten, der allen Verboten zum Trotz über der Landebahn kreiste.

»Wissen sie schon, was passiert ist?«, fragte Leonie.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. Sie blickte ebenfalls auf den Fernseher und sie hatte die Arme um den Leib geschlungen, als wäre ihr kalt, nahm aber nicht Platz. Sie sah unendlich verloren aus. »Nein. Ich glaube sie suchen noch nach dem Flugschreiber oder so etwas. Vorher kann man nichts Bestimmtes sagen. Ich weiß auch gar nicht, ob ich es wirklich wissen will. Großmutter ist tot. Und es macht sie nicht wieder lebendig, wenn wir wissen warum.«

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass da irgendetwas...«, begann Leonie, hatte aber plötzlich nicht mehr den Mut, den Satz zu Ende zu führen.

»Natürlich nicht«, beteuerte Mutter. »Es war ein Unfall. Ein schrecklicher Unfall, nicht mehr, aber auch nicht weniger.« Sie nahm die Arme herunter und drehte sich ganz zu Leonie herum. »Was du gerade erzählt hast, das mit dem Streit zwischen Fröhlich und Großmutter - ist das wahr?«

»Ich weiß nicht genau, ob es wirklich ein Streit war«, antwortete Leonie nach kurzem Überlegen. »Er war sehr aufgeregt wegen irgendetwas, das sie getan hatte, aber ich weiß nicht was. Waren sie wirklich so alte Freunde, wie er behauptet?«

»Fröhlich?« Mutter deutete ein Achselzucken an. »Ich weiß es nicht. Ich habe ihn heute Morgen zum ersten Mal gesehen, genau wie du.«

Das kam Leonie einigermaßen merkwürdig vor, falls Fröhlich und Großmutter tatsächlich so gute alte Freunde gewesen waren, wie der Notar behauptete. »Ist das nicht seltsam?«, fragte sie.

»Ja«, bestätigte ihre Mutter traurig. »Es ist wirklich seltsam. Da verbringt man fast jeden Tag seines gesamten Lebens mit einem Menschen, und erst wenn er nicht mehr da ist, wird einem klar, wie wenig man eigentlich von ihm gewusst hat. Und dann ist es zu spät, um noch Fragen zu stellen.«

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