Im Mauseloch

Die schwere Tür fiel mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss. Leonie tastete einen Moment lang wie wild in der fast vollständigen Dunkelheit nach dem Riegel, bevor sie sich klar machte, dass sie sich ja in einer Kerkerzelle befanden, an deren Innenseite es ganz bestimmt keinen Öffnungsmechanismus gab. Sie konnte nur hoffen, dass draußen jemand auf die Idee kam, die Tür zu öffnen und einen neugierigen Blick in den Raum dahinter zu werfen.

Nicht dass er irgendetwas gesehen hätte. Zumindest ging es Leonie so. Es war zwar nicht vollkommen dunkel hier drinnen, aber doch nahezu. Durch das vergitterte Guckloch, das sich in Augenhöhe in der schweren Eisentür befand, fiel ein schwacher Schimmer blassgrünen Lichts herein, der sie lediglich Umrisse erahnen ließ. Selbst ihre Großmutter, die einen Schritt neben ihr stand, war kaum mehr als ein blasser Schemen, den sie vielleicht nur deshalb sah, weil sie wusste, dass er da war. Dafür hörte sie ihre schweren, mühsamen Atemzüge umso deutlicher. Für einen Moment konnte Leonie nicht sagen, welches Gefühl stärker in ihr war: Ihre Bewunderung für die Kraft, die die alte Frau trotz des Martyriums, das hinter ihr lag, immer noch aufbrachte, oder die Sorge um sie.

Auf der anderen Seite der Tür erscholl ein dumpfes Poltern und dann das Stampfen zahlreicher Schritte, die rasch auf sie zuhielten. Leonie bedeutete ihrer Großmutter mit einem hastigen Wink, möglichst still zu sein, und spähte mit klopfendem Herzen durch das Guckloch nach draußen. Schatten huschten durch den Gang, die Schritte waren jetzt so laut wie Kanonenschläge, und dann rannte mehr als ein Dutzend Aufseher und Redigatoren brüllend und Waffen schwingend an der Tür vorbei, und dazu eine mindestens doppelt so große Anzahl von Scriptoren und Schusterjungen. Leonies Herz machte einen erschrockenen Sprung, als eine der kaum handgroßen Kreaturen für einen Moment im Laufen innehielt und sie fast sicher war, dass sie kehrtmachen und sich der Tür zuwenden würde. Dann aber setzte der hässliche Zwerg seinen Weg fort, und nur einen Moment später war die wilde Horde verschwunden und Leonie trat mit einem erleichterten Aufatmen von der Tür zurück. Sie waren keineswegs in Sicherheit, doch vielleicht hatten sie zumindest eine kleine Atempause gewonnen.

»Sind sie fort?«, fragte Großmutter.

Leonie wollte antworten, doch genau in diesem Moment erscholl in der Zelle hinter ihnen ein leises Klirren und etwas wie schweres Atmen und so fuhr sie stattdessen erschrocken herum und versuchte die fast vollkommene Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen.

Im ersten Moment erkannte sie fast noch weniger. Dann aber gewahrte sie eine verschwommene Gestalt, die zusammengekauert in der hintersten Ecke der Zelle hockte, und glaubte ein leises, unterdrücktes Stöhnen zu hören.

»Wer ist da?«, fragte sie.

Sie rechnete nicht ernsthaft mit einer Antwort, bekam sie aber doch zumindest indirekt: Das Klirren wiederholte sich und auch das Stöhnen war nun deutlicher zu vernehmen und klang beinahe so, als versuche jemand Worte zu formen, ohne dass es ihm wirklich gelang.

»Wer ist da?«, fragte sie abermals. Ihr Herz klopfte. Obwohl sie schreckliche Angst hatte, machte sie einen vorsichtigen Schritt auf den Schatten zu, und dann noch einen und schließlich einen dritten, bis sie erneut stehen blieb und ungläubig die Augen aufriss.

Aus dem Schemen war mittlerweile ein Körper geworden, der in zusammengekauerter Haltung und mit ausgebreiteten Armen an die Wand gekettet dasaß. Er war kaum größer als ein Kind und trug einen zerschlissenen, schwarzen Kapuzenmantel, der nicht nur wie das typische Kleidungsstück der Scriptoren aussah, sondern ganz zweifellos auch von einem solchen stammte. Das Gesicht darunter gehörte jedoch keinem hässlichen, hakennasigen Zwerg, sondern einem vielleicht neun- oder zehnjährigen, sehr blassen Jungen mit eingefallenen Wangen, dunklem Haar und einer verschorften Schramme auf dem Nasenrücken. Es war...

»Maus!«, schrie Leonie und war mit einem Satz neben dem Gauklerjungen.

Der Junge hob mühsam die Lider. Im allerersten Moment blieben seine Augen leer. Dann aber flackerte es darin auf, und nur den Bruchteil einer Sekunde später füllten sie sich mit einer wilden Hoffnung, die Leonie wie ein Stich in die Brust traf, denn sie wusste, dass sie sie nicht erfüllen konnte. »Edles Fräulein?«, murmelte Maus benommen.

»Leonie«, verbesserte sie ihn automatisch und schüttelte dann hastig den Kopf, als Maus widersprechen wollte. »Was tust du hier? Ich meine: Wie kommst du hierher? Wo sind die anderen?«

Die Fragen waren so überflüssig wie dumm, aber sie waren das Einzige, was ihr im ersten Moment einfiel. Sie hatte den Jungen nicht mehr gesehen, seit er Hendriks Häschern im Haus ihrer Eltern entkommen war, und sie verspürte einen heftigen Anflug schlechten Gewissens, als ihr klar wurde, dass sie seitdem kaum an ihn gedacht hatte.

»Sie haben sie... erschlagen«, antwortete Maus. Seine Stimme war so schwach, dass Leonie ihn kaum verstand, obwohl sie ihr Gesicht so nahe an das seine herangebracht hatte, dass sie sich fast berührten. »Nur Meister Bernhard und ich... sind noch am Leben. Habt ihr ihn gesehen?«

Leonie presste im letzten Moment die Lippen aufeinander, bevor ihr eine Antwort entschlüpfen konnte, aber Großmutter, die ihr gefolgt war, sagte mit leiser, mitfühlender Stimme: »Er ist tot, mein armer Junge. War er dein Vater?«

Maus drehte den Hals, um in Großmutters Gesicht hinaufblicken zu können. Er schüttelte den Kopf. »Tot?« Seine Augen wollten sich mit Tränen füllen, die er mit letzter Kraft niederkämpfte. »Was ist geschehen?«

»Er war ein sehr tapferer Mann«, antwortete Großmutter. »Er hat sein Leben geopfert, damit wir fliehen können.«

»Dann... solltet ihr... gehen.« Maus versuchte sich zu bewegen, erstarrte aber sofort wieder und sog mit einem schmerzerfüllten Laut die Luft zwischen den Zähnen ein. Auch Leonie presste erschrocken die Lippen aufeinander, als sie sah, was die rostigen Eisenfesseln den schmalen Handgelenken des Jungen angetan hatten. Seine Haut war zerschunden, blutig und von schwärenden Wunden übersät, wo er vergeblich versucht hatte, die eisernen Fesseln zu sprengen. Leonie streckte instinktiv die Hände aus, aber sie wagte es nicht, ihn zu berühren.

»Er hat Recht, Leonie«, sagte Großmutter. »Sie werden bald hier sein.«

»Nicht ohne ihn«, antwortete Leonie leise, aber in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Meister Bernhard mochte sein Leben geopfert haben, um das ihre zu retten, aber sie waren zugleich auch einen Handel eingegangen. Er hatte ihnen diese Zelle genannt, weil Maus hier gefangen war; und ganz bestimmt nicht nur, damit sie ihn sahen. Sie griff nach Maus’ Handfesseln und zerrte einen Moment mit aller Kraft daran, aber alles, was sie erreichte, war, dass der Junge ein leises Wimmern ausstieß.

»Das hat keinen Sinn«, sagte sie niedergeschlagen. »Vielleicht kann ich sie aus der Wand reißen.« Sie versuchte es, aber die rostigen Ketten saßen so fest wie einzementiert. Maus keuchte vor Schmerz.

»Die Scharniere«, wimmerte er. »Du musst die Scharniere öffnen!«

Im ersten Moment begriff Leonie nicht, was er meinte, aber dann unterzog sie die eisernen Handfesseln einer zweiten, etwas genaueren Inspektion und verstand. Die breiten Metallringe waren konstruiert wie Handschellen: zwei Halbkreise, die auf der einen Seite von einem Vorhängeschloss und auf der anderen von grobschlächtigen Scharnieren zusammengehalten wurden. Wenn es ihr gelang, die Splinte aus den Scharnieren zu drücken, fielen sie wahrscheinlich einfach auseinander. Unverzüglich versuchte sie es, aber das einzige Ergebnis ihrer Bemühungen war ein abgebrochener Fingernagel.

»Du brauchst ein Werkzeug«, stöhnte Maus. »Irgendetwas, um wenigstens einen Splint rauszuschieben. Den Rest mache ich dann schon.«

Leonie nickte hastig und sah sich verzweifelt in der finsteren kahlen Zelle um, aber abgesehen von dem fauligen Stroh auf dem Boden war da absolut nichts.

Draußen polterten wieder Schritte. Leonie unterdrückte den Impuls, hinauszusehen, aber sie konnte hören, dass es sich um einen deutlich größeren Trupp handelte als beim ersten Mal und dass sich die Verfolger diesmal mehr Zeit ließen. Sie glaubte in einiger Entfernung das dumpfe Zuschlagen einer Tür zu hören. Anscheinend begannen sie nun damit, die Umgebung gründlicher abzusuchen.

»Das hat keinen Zweck«, murmelte Maus. »Bringt euch in Sicherheit.«

»Wir gehen alle zusammen oder gar nicht«, antwortete Leonie grimmig.

»Und es hat überhaupt keinen Sinn, ihr zu widersprechen«, fügte Großmutter hinzu. »Glaub mir, ich weiß das.« Ernster und an Leonie gewandt sagte sie: »Beeil dich lieber. Sie werden gleich hier sein.«

Wie um ihre Worte auf der Stelle zu bestätigen, drang erneut das dumpfe Knallen einer Tür zu ihnen herein; aber im gleichen Moment hatte sie die rettende Idee. Hastig griff sie nach oben, streifte die Kette, die Theresa ihr zurückgegeben hatte, über den Kopf und nestelte mit zitternden Fingern die verchromte Piercing-Nadel ab. Einen winzigen Moment lang drohte sie in Panik zu geraten, als es ihr nicht sofort gelang, die kaum stecknadelkopfgroße Kugel von einem Ende abzuschrauben, dann löste sich das mikroskopisch feine Gewinde und die Kugel fiel zu Boden und hüpfte in die Dunkelheit davon. Das Ende der Nadel, das darunter zum Vorschein kam, war stumpf. Leonie beugte sich hastig vor und drückte es auf den Splint - im ersten Moment ohne den geringsten Erfolg. Dann aber begann sich der rostige Metallstab langsam und widerwillig zu bewegen.

Nicht weit entfernt schlug eine Tür. Schritte polterten.

»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, warnte Großmutter.

Leonie tat, was sie konnte, aber sie wagte es nicht, noch mehr Kraft aufzuwenden. Die dünne Nadel begann sich bereits gefährlich durchzubiegen. Wenn sie zerbrach und sie ihr einziges Werkzeug verloren, war alles vorbei. Der Splint war jetzt gut zur Hälfte herausgerutscht, aber er bewegte sich nur quälend langsam weiter.

Wieder schlug eine Tür. Leonie schätzte, dass ihre Verfolger allerhöchstem noch zwei oder drei Zellen entfernt waren.

»Leonie«, drängte Großmutter.

»Ja!«, schnappte Leonie. »Ich tue ja, was ich kann!«

Der Splint bewegte sich weiter, drohte sich für einen kurzen schrecklichen Moment zu verkanten und rutschte dann plötzlich fast widerstandslos aus dem Scharnier und fiel mit einem hellen Klirren zu Boden. Leonie ließ sich mit einem erleichterten Seufzen zurücksinken, und Maus streifte hastig die Handfessel ab, bückte sich nach dem Splint und machte sich damit an der anderen Schelle zu schaffen. Obwohl er in einer sehr unglücklichen Position dasaß und sein nunmehr freies Handgelenk blutüberströmt war und er bestimmt große Schmerzen hatte, stellte er sich wesentlich geschickter an als Leonie.

»Schnell jetzt«, keuchte er. »Lauft! Ich mache das hier schon.«

Daran zweifelte Leonie keinen Augenblick, als sie sah, wie beinahe mühelos Maus die Handfessel löste, an der sie selbst gerade fast verzweifelt war. Meister Bernhard hatte anscheinend nicht übertrieben, als er behauptet hatte, dass es kein Schloss auf der Welt gab, das Maus widerstehen konnte.

Unmittelbar neben ihnen fiel eine Tür ins Schloss. Leonie hörte ein dumpfes, wütendes Knurren und stampfende Schritte, die auf sie zuhielten. Hastig streifte sie sich die Kette wieder über und stand in der gleichen Bewegung auf. Ihr Blick irrte durch den Raum, tastete nahezu verzweifelt über die schimmligen Wände - und dann war die Tür da.

Sie war nicht einmal überrascht. Ganz im Gegenteil hatte sie tief in sich die ganze Zeit über gewusst, dass es hier einen Ausweg geben musste, ebenso wie sie damals eine Tür gefunden hatte, als sie zusammen mit ihren Eltern in einer ganz ähnlichen Zelle eingesperrt gewesen war.

Nur dass diese Tür vollkommen anders aussah.

Es war eigentlich gar keine richtige Tür, eher ein rechteckiges Loch mit nicht ganz sauberen Rändern, als hätte jemand damit begonnen, eine Tür in die Wand zu brechen, wäre aber nicht ganz fertig geworden. Was dahinter lag, konnte sie nicht erkennen.

Langsam ging sie darauf zu, blieb noch einmal stehen und trat dann mit klopfendem Herzen hindurch. Hinter ihr erscholl ein helles Klirren, mit der Maus’ zweite Handfessel zu Boden fiel, und als Leonie sich umdrehte, sah sie, wie die Tür hinter ihnen aufflog. Ein riesiger Aufseher versuchte sich hereinzudrängen und blieb mit seinen breiten Schultern im Türrahmen stecken wie ein stacheliger Korken in einem zu engen Flaschenhals. Zwischen seinen Beinen wuselten zwei, drei Schusterjungen herein, dann versuchte ein Scriptor dasselbe Kunststück und blieb seinerseits zwischen den Beinen des gepanzerten Riesen stecken und damit war der Eingang ebenso zuverlässig verschlossen wie mit einer meterdicken Stahltür.

Die Schusterjungen, die es hereingeschafft hatten, waren nicht viel glücklicher dran: Maus stampfte einen von ihnen kurzerhand in den Boden, der zweite hatte das Pech, ihrer Großmutter über den Weg zu laufen und sich einen saftigen Tritt einzufangen, und der dritte überlegte es sich angesichts dessen, was seinen Kameraden widerfahren war, offensichtlich im letzten Moment anders und bog in scharfem Winkel ab - dummerweise aber in die falsche Richtung, sodass er in vollem Lauf gegen die Wand klatschte und dann stocksteif umfiel. Nur einen Augenblick später stürmten Großmutter und Maus an ihr vorbei durch die Tür und Leonie trat rasch einen Schritt zurück. Als sie sich umdrehte, blieb Großmutter stehen, schnippte mit den Fingern und die Tür verschwand und machte einer massiven Wand aus grauem Fels Platz.

Leonie riss ungläubig die Augen auf. »Wie hast du das gemacht?«

»Genauso wie du die Tür erschaffen hast.« Großmutter hob mit einer leicht verlegenen Bewegung und einem ebensolchen Lächeln die Schultern und fügte hinzu: »Ehrlich gesagt ist das Fingerschnippen nicht unbedingt nötig. Aber es macht die Sache irgendwie dramatischer, finde ich.«

Leonie fragte sich, woher ihre Großmutter die Kraft zu einem Scherz nahm, aber sie ging nicht darauf ein, sondern sagte: »Ich? Ich habe diese Tür nicht erschaffen.«

»Das hast sie vielleicht nicht im Sinne des Wortes erschaffen, sie uns aber nutzbar gemacht«, beharrte Großmutter. »Denn obwohl diese Tür immer schon da war, können sie die gewöhnlichen Menschen nicht sehen.«

»So wie die Tür in unserem Keller.« Leonie sah sich schaudernd um. Anders als damals, als sie zusammen mit ihren Eltern geflohen war, befanden sie sich jetzt nicht in einem gemauerten Gang, sondern in einem unregelmäßig geformten Tunnel, der eher so aussah, als hätte ihn ein riesiger Wurm mit wenig Sorgfalt aus dem Fels herausgeknabbert. Sie sagte nichts dazu, sondern drehte sich noch einmal in die Richtung um, aus der sie gekommen waren. Die Felswand hinter ihnen sah aus, als gäbe es nichts, was sie erschüttern könnte.

Großmutter schien ihren Blick wohl richtig gedeutet zu haben, denn sie schüttelte mit einem bedauernden Seufzen den Kopf und sagte: »Sie werden den Archivar alarmieren. Und für ihn existiert diese Wand ebenso wenig wie für dich. Wir sollten gehen.«

Leonie widersprach nicht, aber sie fragte sich insgeheim doch, wohin sie gehen sollten. Der Tunnel unterschied sich nicht wirklich von den endlosen Stollen und Gängen des Archivs. Auch er zog sich vollkommen gleichförmig dahin, bis er sich in graugrünem Dunst verlor. Weit niedergeschlagener und mutloser, als sie sich selbst eingestehen wollte, marschierte sie los.

Es war nicht das erste Mal, dass ihr schon nach wenigen Schritten jedes Zeitgefühl abhanden kam. Sie hätte nicht sagen können, ob sie eine Stunde oder eine Minute unterwegs gewesen waren, als sich die graugrüne Unendlichkeit vor ihnen wieder aufhellte und sie schließlich in einen vollkommen leeren Raum traten, dessen Wände und Decke ebenso unregelmäßig geformt waren wie die des Ganges, der sie hierher geführt hatte. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, ein rasches Huschen irgendwo vor sich zu erkennen, doch als sie genauer hinsah, war da nichts. Es überraschte Leonie allerdings kaum, dass ihre Nerven anfingen, ihr den einen oder anderen bösen Streich zu spielen.

»Was ist das hier?«, fragte sie. Obwohl sie die Stimme unwillkürlich zu einem Flüstern gesenkt hatte, warfen die leeren Wände sie als unheimlich verzerrtes Echo zurück, das Leonie ein eisiges Frösteln über den Rücken jagte. Diese Umgebung flößte ihr eine Angst ein, die sie sich nicht erklären konnte. Alles hier wirkte so... unfertig.

»Ich glaube, wir sind in seinem Buch.« Großmutter machte eine angedeutete Kopfbewegung in Richtung Maus. Sie flüsterte ebenfalls, wenn auch vermutlich aus anderen Gründen als Leonie. Maus stand wie gelähmt da und sah sich aus fast entsetzt aufgerissenen Augen um. Dem Gauklerjungen machte dieser unheimliche leere Raum offensichtlich noch mehr Angst als ihr.

Langsam gingen sie weiter. Der Raum war ihr auf den ersten Blick nicht besonders groß vorgekommen, aber sie brauchten erstaunlich lange um ihn zu durchqueren, und als sie versuchte seine Größe mit Blicken zu erfassen, gelang es ihr nicht.

Dafür glaubte sie abermals, ein blitzartiges Huschen aus den Augenwinkeln heraus wahrzunehmen. Doch es war auch diesmal wieder verschwunden, als sie genauer hinsah. Dennoch blieb ein komisches Gefühl zurück. Sie war jetzt nicht mehr sicher wie noch vor einem Moment, wirklich nur einer Täuschung aufgesessen zu sein.

Der Raum endete in einem kurzen Gang, von dem mehrere Kammern abzweigten. Die beiden ersten, an denen sie vorüberkamen, waren ebenso leer wie die erste, in der dritten aber nahm sie wieder eine Bewegung wahr, und diesmal war sie davon überzeugt, sie sich nicht nur eingebildet zu haben. Leonie kämpfte ihre nagende Furcht nieder und trat mit einem entschlossenen Schritt in den Raum.

Unmittelbar vor ihr saß eine Maus.

Leonie blinzelte. Eigentlich war an der Maus nichts Besonderes; es war eine ganz normale graue Hausmaus, vielleicht fünf oder sechs Zentimeter lang und mit einem dünnen, nackten Schwanz. Und einer dick verschorften Schramme auf der Nase.

»Conan?«, murmelte sie.

Die Maus setzte sich auf die Hinterläufe auf und schnüffelte so aufgeregt in ihre Richtung, dass ihre Barthaare zitterten. Es war Conan, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Leonie wollte sich ganz automatisch in die Hocke sinken lassen und die Hand nach ihr ausstrecken, aber die Maus drehte sich plötzlich um und war dann mit wenigen trippelnden Schritten verschwunden. Leonie blinzelte noch einen Augenblick lang verständnislos ins Leere, dann kehrte sie zu Maus und ihrer Großmutter zurück. Großmutter warf ihr einen fragenden Blick zu, auf den Leonie aber nur mit einem angedeuteten Achselzucken reagierte, und zu ihrer Erleichterung gab sich ihre Großmutter damit zufrieden. Sie gingen schweigend weiter.

Auch der nächste Raum war groß und nicht ganz symmetrisch geformt, aber anders als die, durch die sie bisher gekommen waren, nicht vollkommen leer - auch wenn Leonie beim allerbesten Willen nicht sagen konnte, was er eigentlich enthielt. Es gab eine Anzahl sonderbar formloser Umrisse, die sich in unentwegter nebelhafter Bewegung zu befinden schienen, sodass es unmöglich war, sie wirklich zu erkennen. Auf eine kaum in Worte zu fassende Weise kamen sie ihr vage vertraut und zugleich unendlich fremd vor.

»Was... was ist das?«, murmelte sie. Ihr Herz klopfte. Sie rechnete nicht wirklich mit einer Antwort. Aber sie bekam sie zumindest indirekt, als sie in Maus’ Gesicht blickte. Er war kreidebleich geworden, und in seinen Augen stand ein Erschrecken geschrieben, dessen wahres Ausmaß sie noch nicht einmal zu erahnen vermochte.

»Er tut mir so unendlich Leid, mein Junge«, sagte Großmutter leise. Sie trat dichter an Maus heran und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. »Ich hätte es dir sagen sollen.«

»Ihm was sagen?«, fragte Leonie.

»Dass das hier sein Buch ist«, erklärte Großmutter. »Alles, was in den Annalen des Archivs über sein Leben aufgezeichnet ist.«

»Aber es ist vollkommen leer!«

Sie las die Antwort in den Augen ihrer Großmutter, und nur einen Moment später sprach Maus aus, was Leonie kaum wagte zu denken. »So wie mein Leben«, murmelte er. »Hier ist nichts, weil ich nie gelebt habe.«

»Aber das stimmt doch nicht«, protestierte Leonie. »Du bist...«

»... ein Ding, das der Archivar erschaffen hat«, fiel ihr Maus ins Wort. »Nichts als ein Werkzeug.« Er lachte, aber es klang nicht echt, nur ein Laut, mit dem er die Tatsache verbergen wollte, dass er mit Mühe die Tränen zurückhielt. »Hier ist nichts, weil ich nie gelebt habe. Ich bin gar kein richtiger Mensch.«

Der Schmerz, der aus diesen Worten sprach, brach Leonie fast das Herz. »Das ist nicht wahr«, sagte sie wütend. »Du bist hundertmal mehr Mensch als viele andere, die ich kenne!«

Maus sah sie an. Seine Augen schimmerten feucht. »Das ist sehr freundlich von Euch, edles Fräulein«, sagte er, und dass er dabei wieder in seine alte, förmliche Anrede zurückfiel, war für Leonie in diesem Moment vielleicht das Allerschlimmste. »Aber ich fürchte, dass die Wahrheit deutlich zu sehen ist.« Er zog die Nase hoch. »Jedenfalls verstehe ich jetzt, warum Meister Bernhard nicht mehr leben wollte.«

»Du irrst dich, mein lieber Junge«, erwiderte Großmutter sanft. »Ich weiß wenig über Meister Bernhard, aber ich habe selten jemanden getroffen, der etwas Menschlicheres getan hätte. Er wurde vielleicht nicht als Mensch geboren, aber mit dem, was er getan hat, ist er unwiderruflich dazu geworden.«

»Dann sollte ich mich vielleicht auch dem Archivar zum Fraß vorwerfen«, sagte Maus bitter.

Großmutter ignorierte seine Worte. »Es ist nicht wichtig, woher du dein Leben hast, mein Junge. Wichtig ist einzig und allein, was du damit machst.«

Maus schwieg. In seinen Augen glitzerten immer noch Tränen, aber irgendetwas in seinem Gesicht... veränderte sich. Leonie konnte nicht sagen was, aber sie spürte deutlich, dass etwas in Maus vorging. Etwas Wichtiges. Zwei oder drei Atemzüge lang starrte Maus sie noch auf diese sonderbare, fast furchteinflößende Art an - dann fuhr er auf dem Absatz herum und war wie der Blitz verschwunden. Leonie wollte ihm nacheilen, aber ihre Großmutter hielt sie mit einer raschen Bewegung zurück.

»Lass ihn«, meinte sie. »Er braucht jetzt Zeit für sich alleine.«

Das bezweifelte Leonie nicht - nur war im Moment ganz und gar nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Sie sah sich unschlüssig um und ein ganz kleines bisschen ängstlich.

Und vielleicht sogar mehr als nur ein ganz kleines bisschen.

»Und wie kommen wir jetzt hier hinaus?«

»So wie wir hereingekommen sind.« Großmutter deutete nach vorne. »Mach dir keine Sorgen um den Jungen. Ich bin sicher, er findet aus eigener Kraft raus. Man sieht es ihm zwar nicht an, aber er ist sehr stark und verfügt über ganz spezielle Fähigkeiten. Ich spüre so etwas.«

Das war nicht die Antwort, die Leonie hatte hören wollen. Aber sie kannte ihre Großmutter auch gut genug um zu wissen, dass sie zumindest im Moment keine andere bekommen würde, und so gingen sie weiter. Insgeheim war Leonie froh, diese gespenstische Kammer zu verlassen. Es wurde jedoch nicht besser, als sie wieder in den düsteren Gang hinaustraten. Leonie hätte geschworen, dass sie gerade noch nicht da gewesen war, nun aber lagen wenige Schritte vor ihnen die ersten Stufen einer ausgetretenen, in einem gefährlichen Winkel nach oben führenden Treppe. Von Maus war nichts zu entdecken.

Zwischen ihnen und der Treppe lag jetzt nur noch eine einzige Tür. Sie ging mit schnellen Schritten daran vorbei - nach dem, was sie gerade erlebt hatte, wollte sie gar nicht mehr sehen, was sich dahinter verbarg -, aber ihre Großmutter blieb stehen und trat nach kurzem Zögern vollends hindurch. Widerwillig machte Leonie kehrt und folgte ihr.

Allerdings nur, um diesen Entschluss sofort wieder zu bereuen.

Der Raum, der vor ihnen lag, war noch weitaus unheimlicher als der vorhergehende. Nichts war hier so, wie es sein sollte. Das Ganze hatte eine Form, die mit Blicken nicht zu erfassen war, als wäre all das hier nach den Regeln einer Geometrie errichtet, die nicht Teil der vertrauten Schöpfung war. Das Licht wirkte... krank, und auch dieser Raum war voller sonderbarer Gegenstände, deren bloßer Anblick allein schon reichte, um Leonie mit Unbehagen zu erfüllen.

Einen Unterschied jedoch gab es: Diesmal dauerte es nur einen Moment, bis Leonie die Bedeutung des einen oder anderen Umrisses zu erkennen begann. Da war eine riesige, zusammengestauchte Kommode, deren halb offen stehende Schubladen an gierig gefletschte Raubtiermäuler erinnerten. Etwas wie ein auf grässliche Weise verzerrtes Gitterbett, über dem der Albtraum eines Mobiles hing, das nur aus Zähnen und rasiermesserscharfen Klingen zu bestehen schien. An den Wänden waren Bilder, die schauderhafte Monster und mörderische Clownsgesichter zeigten, und andere, noch schlimmere Dinge. Auch wenn schon dieser erste schemenhafte Eindruck reichte, Leonie einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen, so war dies doch nichts anderes als ein Kinderzimmer, oder genauer gesagt: der Albtraum eines Kinderzimmers.

»Großer Gott«, hauchte sie.

Ihre Großmutter reagierte nicht darauf, ja, sie schien Leonie nicht einmal gehört zu haben. Sie verharrte wie gelähmt und auf ihrem Gesicht stand ein Ausdruck blanken Entsetzens geschrieben. Dabei sah sie nicht so aus, als hätte sie der bloße Anblick dieses grässlichen Zimmers so erschreckt. Vielmehr wirkte sie wie ein Mensch, der etwas sah, was zu erkennen er sich einfach weigerte.

»Aber das... das kann doch unmöglich...« Ihre Stimme versagte. Leonie sah, wie sie ihre schmalen Hände so fest zu Fäusten ballte, dass die Knöchel wie weiße Narben durch die Haut stachen.

»Großmutter?«, fragte Leonie alarmiert.

Weitere fünf oder zehn quälend endlose Sekunden verstrichen, in denen ihre Großmutter aus aufgerissenen Augen auf das unglaubliche Bild starrte. Dann gab sie sich einen sichtlichen Ruck, murmelte: »Nein. Das kann nicht sein«, und drehte sich zu Leonie um. Ein reichlich verunglücktes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Entschuldige. Ich habe nur für einen Moment gedacht...« Wieder brach sie ab und schüttelte den Kopf, um kurz darauf mit gepresster Stimme neu anzusetzen: »Ich muss mich getäuscht haben. Komm jetzt. Wir müssen gehen.«

Sie gab Leonie gar keine Gelegenheit, zuzustimmen oder zu widersprechen, sondern ging mit schnellen Schritten an ihr vorbei und wandte sich der Treppe zu. Leonie warf ihr einen vollkommen verstörten Blick hinterher und beeilte sich dann, ihr zu folgen.

Sie hatten die Treppe kaum erreicht, da ertönte hinter ihnen ein ohrenbetäubendes, dumpfes Krachen; Felsgestein barst und einzelne Steinbrocken polterten auf den Boden. Leonie hätte nicht einmal zurückblicken müssen um zu wissen, was den Lärm verursachte.

Sie tat es trotzdem und sie wurde nicht enttäuscht.

Immerhin waren es keine Aufseher, die mit wehenden Mänteln hinter ihnen herangestürmt kamen, sondern nur drei oder vier Scriptoren und eine Hand voll Schusterjungen. Und wäre sie allein gewesen, dann hätte sie keine Sekunde lang daran gezweifelt, dass sie ihren Verfolgern ohne sonderliche Anstrengung davonlaufen könnte.

Unglückseligerweise war sie das nicht. Ihre Großmutter hatte zwar bereits zwei oder drei Stufen Vorsprung gewonnen, aber sie wurde auch mit jeder Stufe langsamer, und Leonie hatte keineswegs vergessen, dass sie vor kurzem schon einmal vor Erschöpfung in ihren Armen zusammengebrochen war. Woher sie die Kraft nahm, überhaupt noch weiterzulaufen, war ihr ein Rätsel. Während Leonie mit weit ausholenden Sätzen zu ihr aufholte, überschlug sie in Gedanken ihre Chancen und kam zu dem Schluss, dass die Scriptoren sie spätestens auf der Hälfte der Treppe eingeholt haben würden.

»Lauf!«, keuchte Großmutter. »Bring dich in Sicherheit! Du kannst es schaffen!«

Leonie machte sich nicht einmal die Mühe, zu antworten, sondern griff kommentarlos nach ihrem Arm und versuchte sie zu stützen, damit sie wenigstens ein bisschen schneller laufen konnte. Es half tatsächlich, allerdings nur für einen kurzen Moment, dann sank ihre Großmutter mit einem erschöpften Stöhnen gegen die Wand und versuchte ihre Hände abzustreifen.

»Das hat keinen Sinn mehr«, murmelte sie. »Ich schaffe es nicht.«

Das Schlimme war, dass sie vermutlich Recht hatte. Leonie musste nur einen einzigen Blick in Großmutters Gesicht werfen um zu erkennen, dass sie nun endgültig und unwiderruflich am Ende ihrer Kräfte angelangt war. Und die Treppe führte noch gute zwanzig oder dreißig Stufen weit nach oben, bevor sie vor einer wuchtigen hölzernen Tür endete.

Der Verzweiflung nahe sah sie nach unten; gerade im richtigen Moment, um einen Schusterjungen zu erblicken, der hereingefegt kam und wie ein lebender Gummiball die Treppe hinaufsprang.

Wenigstens eine Stufe weit.

Als er die zweite hinaufhüpfen wollte, tauchte eine winzige graue Maus vor ihm auf, die ihm ohne das mindeste Zögern ins Gesicht sprang. Der Schusterjunge kreischte erschrocken, verlor vor lauter Überraschung das Gleichgewicht und stürzte mit hilflos rudernden Armen nach hinten.

So komisch der Anblick war, viel nutzte Conans Mut nicht. Schon stürmte gleich ein halbes Dutzend weiterer Schusterjungen heran, gefolgt von drei oder vier Scriptoren, die triumphierend aufkreischten, als sie ihrer Beute ansichtig wurden, und ihre Schritte noch einmal beschleunigten.

Keiner von ihnen schaffte es bis zur Treppe.

Conan hüpfte von seinem ersten Opfer herunter und grub seine winzigen, aber nadelspitzen Zähne in die nackten Zehen eines weiteren Schusterjungen, und plötzlich war eine zweite Maus da, dann eine dritte, eine vierte und fünfte, und schließlich wimmelte der Bereich unmittelbar vor der Treppe nur so von Mäusen, die scheinbar aus dem Nichts auftauchten - was sie aber nicht daran hinderte, sich unverzüglich auf die Scriptoren und ihre kleineren Brüder zu stürzen.

Leonie spürte eine sanfte Berührung am Fuß, senkte den Blick und fuhr erschrocken zusammen, als sie die quirlige braungraue Flutwelle sah, die irgendwo hinter ihnen begann und sich piepsend und pfeifend über die Treppe ergoss, um über die schwarz gekleideten Gnome herzufallen. So ungestüm war der Anprall der lebenden Woge aus Hunderten und Aberhunderten von Mäusen, dass die Schusterjungen einfach von den Füßen gerissen wurden und selbst die viel größeren Scriptoren wankten und einer von ihnen gar auf die Knie herabfiel.

»Leonie! Hierher!«

Der Schrei war unter dem Fiepen Hunderter wütender Mäusestimmen und dem Kratzen und Scharren Tausender scharfer Krallen auf hartem Stein kaum zu hören. Dennoch fuhr Leonie instinktiv herum und blinzelte zum oberen Ende der Treppe hinauf. Die Tür stand jetzt weit offen und war von fast schmerzhaft grellem Licht erfüllt, sodass sie die kleinwüchsige Gestalt, die darunter erschienen war und ihr hektisch zuwinkte, nur als schwarzen Umriss ausmachen konnte. Aber sie erkannte die Stimme.

Ohne noch einen Blick nach unten zu werfen, ergriff sie die Hand ihrer Großmutter und lief weiter, so schnell es die immer rascher nachlassenden Kräfte der alten Frau zuließen. Im ersten Moment hatte sie das Gefühl, kaum von der Stelle zu kommen, doch dann löste sich Maus von seinem Platz unter der Tür und eilte ihnen entgegen, und mit seiner Hilfe ging es besser. Ihre Großmutter schwankte immer stärker, und Leonie bezweifelte ernsthaft, dass sie aus eigener Kraft auch nur eine einzige weitere Stufe geschafft hätte. Maus und sie trugen die alte Frau im Grunde mehr als dass sie aus eigener Kraft ging. Trotzdem näherten sie sich dem Ende der Treppe rasch und erreichten die rettende Tür binnen weniger Augenblicke.

Und beinahe hätten sie es sogar geschafft.

Maus erreichte die Tür als Erster, stürmte hindurch und zog Großmutter so heftig hinter sich her, dass sie um ein Haar und Leonie tatsächlich das Gleichgewicht verlor. Sie geriet ins Stolpern, streckte den Arm aus und fing sich an der Wand ab, bevor sie stürzen und sich auf den steinernen Stufen womöglich schwer verletzen konnte.

Als sie sich aufrappeln wollte, schloss sich eine knochige Hand um ihr linkes Fußgelenk und riss so derb daran, dass Leonie endgültig nach vorne fiel.

Irgendwie schaffte sie es im letzten Moment, ihren Sturz mit den Armen halbwegs abzufangen, aber sie prellte sich dabei so heftig beide Handgelenke, dass sie vor Schmerz aufstöhnte und bunte Sterne vor ihren Augen explodierten. Sie blieb etliche Sekunden lang benommen liegen und biss die Zähne zusammen, bevor sie Schmerz und Tränen so weit zurückgekämpft hatte, dass sie den Kopf wenden und zurücksehen konnte.

Soweit ihr Blick reichte, schien sich die Treppe in einen lebendigen brodelnden Teppich verwandelt zu haben. Es waren buchstäblich Tausende von Mäusen, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren und sich todesmutig auf die Scriptoren und ihre kleineren Brüder gestürzt hatten. Von den Schusterjungen war nichts mehr zu erkennen, abgesehen von einer Hand hier und einem Fuß dort, die wie die Glieder von Ertrinkenden aus der Oberfläche eines kochenden Sumpfes ragten. Selbst die meisten Scriptoren waren unter dem Ansturm der Mäusearmee zu Boden gegangen, auch wenn sie nicht ganz so große Schwierigkeiten hatten, sich der kleinen Quälgeister zu erwehren.

Die meisten. Aber nicht alle.

Ein einzelner Scriptor hatte es bis zu ihr hinauf geschafft. Auch er war auf Hände und Knie herabgesunken. Mäuse krabbelten zu Hunderten auf ihm herum, zerrten an seinem Mantel und zerkratzten sein Gesicht und seine Hände, und obwohl die Angreifer winzig waren, blutete der hässliche Gnom bereits aus zahlreichen Wunden. Dennoch stemmte er sich mit nur einer Hand in die Höhe und zerrte mit der anderen nochmals kräftig an ihrem Fuß.

Leonie benutzte den anderen Fuß, um wuchtig in ihn hineinzutreten. Der Scriptor kreischte und begann heftig aus der Nase zu bluten, ließ ihren Fuß aber trotzdem nicht los, sondern klammerte sich nur mit noch größerer Kraft daran fest und nahm nun auch noch die andere Hand zu Hilfe, um sie in die Tiefe zu zerren. Leonie versetzte ihm einen weiteren, noch härteren Tritt, dann gab sie es auf und begann mit zusammengebissenen Zähnen die Stufen hinaufzukriechen, wobei sie den Scriptor einfach hinter sich herschleifte. Auf den ersten ein oder zwei Stufen ging es noch ganz gut, dann aber verstärkte der Scriptor seinen Griff plötzlich so sehr, dass sie vor Schmerz aufstöhnte. Zu allem Überfluss hatte er sich offensichtlich mit den Füßen irgendwo festgehakt, denn sosehr sich Leonie auch anstrengte, sie kam einfach nicht mehr von der Stelle. Nicht einmal zwei weitere deftige Fußtritte auf seine gewiss ohnehin schon gebrochene Nase brachten den hässlichen Gnom dazu, sie loszulassen. Ganz in Gegenteil spürte Leonie, wie sie allmählich, aber auch unaufhaltsam, die Treppe wieder hinabgezogen wurde. Verzweifelt verdoppelte sie ihre Anstrengungen, sich loszureißen, erreichte damit aber nur, dass sich die rasiermesserscharfen Fingernägel des Scriptors noch tiefer in ihr Fleisch gruben und der Schmerz ihr schon wieder die Tränen in die Augen schießen ließ.

Plötzlich erscholl über ihr ein wütendes Knurren. Leonie sah einen verschwommenen Schemen in einem zerfetzten schwarzen Mantel über sich hinwegspringen, den Scriptor packen und ohne die geringste Mühe in die Tiefe schleudern; dann wirbelte Maus herum, riss sie grob am Arm in die Höhe und schleifte sie so unsanft hinter sich her, dass sie sich zu allem Überfluss auch noch die Schienbeine aufschürfte. Dennoch erreichten sie auf diese Weise binnen weniger Augenblicke die rettende Tür, und Maus stieß sie so derb weiter, dass sie hindurchstolperte und nach zwei ungeschickt taumelnden Schritten auf die Knie fiel. Diesmal war der Schmerz so schlimm, dass ihr übel wurde.

Leonie sank kraftlos nach vorne und konnte nur noch mit Mühe verhindern, dass sie gänzlich stürzte. Alles drehte sich um sie, und ihre Knie fühlten sich an, als hätte sie jemand mit einem Vorschlaghammer behandelt. Wie durch einen dämpfenden Nebel hindurch hörte sie, dass Maus hinter ihr die Tür zuwarf und mit fliegenden Fingern den Riegel vorlegte, und gleichzeitig sagte Maus vor ihr: »Leonie! Ist alles in Ordnung?«

»Schon gut«, murmelte sie benommen. »Hauptsache, ich...« Sie stockte. Für die Dauer eines einzelnen schweren Herzschlags blinzelte sie verständnislos in Maus’ Gesicht, das durch den Schleier ihrer Tränen immer wieder auseinander zu fließen schien, dann drehte sie mit einem Ruck den Kopf und starrte die kleine, in einen zerfetzten schwarzen Kapuzenmantel gehüllte Gestalt an, die gerade damit beschäftigt war, mit sichtbarer Mühe einen überdimensionalen Riegel vor die Tür zu wuchten, durch die sie gerade gestolpert waren. Aber wie konnte Maus gleichzeitig den Riegel vorlegen und hier stehen und sie fragen, wie sie sich fühlte?

Maus - der Maus, der an der Tür stand - drehte sich um und Leonie kannte die Antwort auf ihre Frage: Maus war nicht Maus.

Das Gesicht, das unter der zerknitterten schwarzen Kapuze zum Vorschein kam, gehörte einem Scriptor.

Leonie fiel in Ohnmacht.

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