Meister Bernhards Entscheidung

»Was für eine herzergreifende Rede!«

Leonie fuhr so erschrocken herum, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und rasch die Hand ausstreckte, um sich an der Wand abzustützen, fast hätte sie überrascht aufgeschrien, als sie die schlanke Gestalt erkannte, die unter der Tür erschienen war. Von allen Menschen auf der Welt hätte sie den nicht sehr großen dunkelhaarigen Mann mit der Lockenfrisur und dem kurz geschnittenen, aber stets ein wenig ungepflegt wirkenden Vollbart am wenigsten hier erwartet. Sie konnte sein Gesicht vor dem hell erleuchteten Hintergrund des Korridors nicht richtig erkennen, aber dennoch registrierte sie das böse, triumphierende Glitzern in seinen Augen.

»Ich habe dir doch versprochen, dass wir uns wiedersehen, du kleine Kröte«, sagte Meister Bernhard.

»Sie?«, murmelte Leonie überrascht.

»Wer ist das?«, fragte Großmutter.

»Niemand«, antwortete Leonie. Etwas leiser und mit einem zornigen Blick in Bernhards Gesicht fügte sie hinzu: »Jedenfalls niemand, den du kennen lernen möchtest.«

Bernhards hämisches Grinsen wurde noch breiter. »In diesem Punkt sind wir wohl ausnahmsweise einmal einer Meinung, edles Fräulein«, meinte er spöttisch. »Möchtest du mich der Dame des Hauses nicht vorstellen?«

Leonies Antwort bestand nur aus einem eisigen Blick, aber ihre Gedanken überschlugen sich. Das letzte Mal, als sie den Schausteller und Dieb gesehen hatte, hatte er sich im eisernen Griff eines von Hendriks Männern befunden und war wesentlich kleinlauter gewesen als jetzt, und sie war nicht nur vollkommen sicher gewesen, ihn niemals wiederzusehen, sondern hatte ihn schlichtweg vergessen. Mit einiger Verzögerung deutete sie eine Handbewegung in seine Richtung an und sagte: »Das ist Meister Bernhard, Großmutter. Ich habe dir von ihm erzählt.«

Sie sah nicht zu Großmutter zurück, aber sie konnte hören, wie ihre Ketten leise klirrten, als sie nickte. »Ja«, sagte sie. »Ich erinnere mich.«

Meister Bernhard trat einen halben Schritt von der Tür zurück, sodass das Licht nun vollends auf sein Gesicht fiel und Leonie den übertrieben verletzten Ausdruck auf seinen Zügen erkennen konnte. »Aber wie unhöflich von dir, mein Kind«, sagte er spöttisch. »Du musst deiner Großmutter ja schlimme Sachen über mich erzählt haben. Dabei bin ich extra hierher gekommen, um mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass es dir auch gut geht.«

»Ja, das glaube ich«, erwiderte Leonie düster.

»Aber es ist wahr!«, behauptete Bernhard. »Glaub mir - in all der Zeit, in der ich in der luxuriösen Unterkunft saß, die dein Vater für mich und meine Familie bereitgestellt hat, habe ich praktisch nur an dich gedacht und an den Moment, in dem wir uns wiedersehen.« Er seufzte. »Die Jugend von heute ist undankbar.«

»Was wollen Sie?«, fragte Leonie. Eine leise, aber dringliche Stimme mahnte sie sich genau zu überlegen, was sie sagte. Ihr letztes Aufeinandertreffen war zwar lange her, aber sie hatte den hasserfüllten Blick nicht vergessen, den Bernhard ihr zum Abschied zugeworfen hatte. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Vorhin, als sie hierher gebracht worden war, da hatte sie geglaubt, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte. Aber es hatte sich wieder einmal bestätigt, was sie eigentlich nach dieser ganzen Geschichte hätte wissen müssen: Es konnte immer noch eine Wendung zum Schlimmeren geben.

»Aber habe ich das denn nicht gesagt?«, wunderte sich Bernhard. »Ich wollte mich davon überzeugen, dass es dir gut geht. O ja - und ich soll dich und deine entzückende Großmutter abholen. Wenn die Damen dann so weit wären...« Er trat noch weiter zurück, grinste breit und machte eine spöttisch-einladende Armbewegung.

Leonie stand langsam auf, doch ihre Großmutter rührte sich nicht. Wie konnte sie auch - die beiden Eisenringe hielten sie ja unbarmherzig an der Wand fest. Bevor sie jedoch etwas Entsprechendes zu Bernhard sagen konnte, trat der Gaukler endgültig zur Seite und zwei Scriptoren wuselten herein. Der eine scheuchte Leonie heftig gestikulierend und mit einer Flut von Beschimpfungen bis zum anderen Ende der kleinen Zelle, der zweite machte sich derweil an Großmutters Ketten zu schaffen. Mit einem leisen Klirren, das fast im schmerzerfüllten Seufzen der alten Frau unterging, denn der Scriptor war alles andere als vorsichtig, lösten sie sich und fielen zu Boden. Großmutter versuchte aufzustehen, aber ihr fehlte sichtlich die Kraft dazu. Sie fiel sofort auf die Knie und wäre nach vorn gestürzt, hätte der Scriptor nicht mit seinen dürren Händen zugegriffen und sie aufgefangen. Aber er tat auch das nur, um sie so derb auf die Füße zu reißen, dass sie einen erneuten Schmerzenslaut ausstieß.

»Was tust du denn da, du dummer Tölpel?« Bernhard war mit zwei schnellen Schritten in der Zelle und versetzte dem Scriptor einen Fußtritt, der ihn gegen die Wand schleuderte, wo er keuchend in sich zusammensank und einen Moment benommen liegen blieb. »Unser Herr hat gesagt, wir sollen ihr nichts antun!«

Meister Bernhard griff ebenso rasch zu wie der Scriptor vor ihm, als Großmutter erneut zusammenzubrechen drohte, aber Leonie fiel auf, dass er trotz der Schnelligkeit seiner Bewegungen und seiner groben Worte erstaunlich behutsam zu Werke ging. Er ließ sie beinahe vorsichtig in seine ausgestreckten Arme fallen, beugte sich ein wenig vor und legte dann ihren rechten Arm über seine Schulter. Als er sich wieder aufrichtete, schlang er den anderen Arm um Großmutters Taille, um sie auf diese Weise zu stützen.

Der zweite Scriptor rappelte sich umständlich wieder in die Höhe, bedachte Bernhard mit einem hasserfüllten Blick und ließ seinen Zorn dann an Leonie aus, indem er ihr mit dem nackten Fuß kräftig vor das Schienbein trat. Es tat nicht einmal besonders weh, aber Leonie musste sich beherrschen, um den Knirps nicht zu packen und so lange zu schütteln, bis ihm die Frechheiten vergingen. Statt jedoch zu tun, wonach ihr zumute war, verzog sie ganz im Gegenteil die Lippen und tat so, als hätte ihr der Tritt deutlich mehr wehgetan, als es in Wahrheit der Fall war. Der Scriptor zeigte sich daraufhin zufrieden, krallte seine dürre Skeletthand in ihren Unterarm und zerrte sie brutal in Richtung Tür, während sein Kamerad ihr einen zusätzlichen und vollkommen überflüssigen Stoß in den Rücken versetzte. Leonie tat ihm den Gefallen, einen hastigen Stolperschritt zu machen, als hätte sie seine Attacke tatsächlich fast aus dem Gleichgewicht gebracht, und die beiden Quälgeister hörten damit auf, ihren Ärger an ihr auszulassen. Dicht hinter Bernhard und ihrer Großmutter verließ sie die Kerkerzelle.

Leonie hatte erwartet, draußen weitere Wachen vorzufinden; noch mehr Scriptoren, vielleicht auch einige Aufseher oder einen der schrecklichen Redigatoren, doch der Gang war vollkommen leer. Wie fast jeder Stollen, durch den sie bisher hier unten gekommen war, verlor er sich in weiter Entfernung in einem unheimlichen, grün leuchtenden Nebel, aber sie hörte ein ganzes Konzert der bizarrsten und zum Teil erschreckendsten Laute: Schreien, das Knirschen und Ächzen uralter, geheimnisvoller Maschinen, ein dumpfes Stampfen, manchmal etwas, das wie ein Peitschenschlag in ihren Ohren klang und zwei- oder dreimal auch von einem gellenden Schrei beantwortet wurde, und über all dem lag ein dumpfes, unendlich langsames und schweres Wummern, das an das Schlagen eines gewaltigen Herzens erinnerte.

All diese Laute vermengten sich zu etwas, das Leonie mit jedem Schritt mehr Angst einflößte. Ihr Herz begann zu pochen, und obwohl sie sich mit aller Kraft dagegen wehrte, dauerte es doch nur wenige Augenblicke, bis das an- und abschwellende Dröhnen, das die grässlichen Schreie und das Kreischen fast übertönte, auch ihr eigenes Herz in seinen Takt zwang. Es war eine Geräuschkulisse, als näherten sie sich dem tiefsten Pfuhl der Hölle, und dass sie nichts von alledem sah, was sie verursachte, machte es beinahe noch schlimmer.

»Wohin bringen Sie uns?«, fragte sie nach einer Weile. Dem Scriptor, der sie noch immer am Arm gepackt hielt, schien diese Frage nicht zu gefallen, denn er kniff sie kräftig mit seinen langen Fingernägeln und warf ihr einen zornsprühenden Blick zu, aber fast zu ihrer Überraschung antwortete Bernhard doch darauf.

»Unser Herr will euch sehen«, sagte er.

»Ihr Herr?«, wiederholte Leonie.

Bernhard deutete ein Achselzucken an und drehte den Kopf, um im Gehen zu ihr zurückzublicken. »Mein neuer Auftraggeber eben.«

»Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie sich da eingelassen haben, habe ich Recht?«, fragte Leonie.

Abermals hob er im Gehen die Schultern. »Man muss sehen, wo man bleibt. Die Gastfreundschaft deines Vaters jedenfalls war nicht dazu angetan, in mir die Sehnsucht nach noch mehr davon wachzurufen.«

Leonie ersparte es sich, darauf zu antworten. Aber ihr fiel etwas auf, wovon sie im ersten Moment nicht einmal ganz sicher war, ob sie es wirklich sah oder nur zu sehen glaubte, weil sie es gern gehabt hätte: Bernhard ging deutlich langsamer, als nötig gewesen wäre, und Leonie bemerkte auch, wie angespannt sein rechter Arm war, mit dem er die schmale Taille ihrer Großmutter umfasst hielt. Wäre es nicht völlig absurd gewesen, dann hätte Leonie geschworen, dass er ganz unauffällig versuchte, ihre Großmutter mehr zu tragen als zu stützen und ihr das Gehen auf diese Weise so leicht wie möglich zu machen. Schließlich fragte sie: »Und was will Ihr neuer Auftraggeber von uns?«

Bernhard lachte hässlich. »Das wirst du schon noch früh genug herausfinden, Kleines«, sagte er böse. »Aber ich bin fast sicher, dass es dir nicht gefallen wird.«

Wahrscheinlich zum ersten Mal, seit Leonie diesen sonderbaren Schausteller kennen gelernt hatte, waren sie vollkommen einer Meinung. Sie ersparte es sich, irgendetwas darauf zu erwidern, das hätte Bernhard ohnehin nur Gelegenheit zu einer neuen gehässigen Bemerkung gegeben, sondern konzentrierte sich stattdessen darauf, den grünen Nebel am Ende des Stollens mit Blicken zu durchdringen. Es blieb jedoch bei dem Versuch. Ohne dass sie in der Lage gewesen wäre, den Unterschied irgendwie in Worte zu kleiden, war ihr doch klar, dass sich die unterirdische Welt des Labyrinths verändert hatte. Und auch wenn es schier unmöglich war, den Finger auf diese Veränderung zu legen, so gab es doch keinen Zweifel daran, dass sie nicht zum Guten war. Alles schien auf den ersten Blick auszusehen wie immer und doch wirkten die uralten, gemauerten Wände düsterer, die Türen gedrungener und abweisender. Selbst der Unterschied zwischen Licht und Schatten erschien ihr gewaltiger, als er eigentlich hätte sein dürfen, als hätte die Helligkeit in gleichem Maße an Kraft verloren, wie die Finsternis an Substanz gewonnen.

Der Weg war noch weit, aber doch nicht mehr so weit, wie sie befürchtet hatte. Leonie schätzte, dass sie vielleicht noch zwei- oder dreihundert Schritte zurücklegten, bis der blassgrüne Schein vor ihnen allmählich lichter wurde. Auch war es ihr, als wären sie nicht mehr allein in dem Gang; zwei- oder dreimal glaubte sie eine Bewegung vor sich zu erkennen und ebenso oft einen vagen Umriss, den sie nur aus den Augenwinkeln wahrzunehmen vermochte und der sofort verschwand, wenn sie versuchte ihn mit Blicken zu fixieren, und mindestens einmal war sie vollkommen sicher, eine große, schemenhafte Gestalt in einem schwarzen Kapuzenmantel zu erkennen, die inmitten des grünen Leuchtens stand, sich aber irgendwie auf dem schmalen Grat zwischen Helligkeit und Finsternis bewegte, als wäre sie nichts von beidem, sondern ein Geschöpf des Zwielichts.

Endlich aber hatten sie das Ende des Ganges erreicht, und vor ihnen lag die Tür zu einer der Leonie schon zur Genüge bekannten Galerien, die um den gewaltigen runden Kuppelsaal führten.

Es war das Scriptorium. Noch bevor Leonie ganz auf das schmale Felsband hinaus- und an das nur hüfthohe Geländer herantrat und einen Blick in die Tiefe werfen konnte, wusste sie, wo sie waren. Sie hatten nahezu den gleichen Weg genommen, den sie auch bei ihrem allerersten Besuch hier unten gewählt hatte, und unter ihr lag der gigantische Schreibsaal, in dem nun wieder Tausende und Abertausende hässlicher kleiner Scriptoren an ebenso vielen hölzernen Stehpulten damit beschäftigt waren, mit Federkielen in große, ledergebundene Bücher zu schreiben. Der klinisch saubere, von jedem Leben verlassene Computersaal, zu dem ihr Vater diesen Raum gemacht hatte, war ebenso verschwunden wie die moderne Einrichtung, die Glaswände und die verborgenen Wandregale voller Datenträger und CDs, die den Platz der handgeschriebenen Bücher eingenommen hatten.

Und doch hatte sich etwas geändert. Es war wie auf dem Weg hierher, nur ungleich stärker - Leonie konnte den Unterschied auch jetzt nicht greifen, aber er war zu deutlich, um ihn zu ignorieren oder sich auch nur einreden zu können, dass es ihn nicht gab. Alles wirkte... düsterer. Die Bewegungen der Scriptoren waren hektischer, härter, das Geräusch, mit dem ihre Schreibfedern über das alte Pergament kratzten, klang unangenehmer, wie das von Fingernägeln auf Schiefertafeln, alle Schatten wirkten tiefer, das Licht dunkler, als verbreite es außer Helligkeit auch noch etwas anderes, etwas Finsteres. Der größte Unterschied aber war: Bei ihrem ersten Besuch im Archiv hatte der Schreibsaal erschreckend auf sie gewirkt wegen seiner Fremdartigkeit und der unheimlichen und vor allem unverständlichen Dinge, die hier geschahen, jetzt aber lag etwas wie ein körperlich fühlbarer Atem der Furcht über dem gewaltigen Raum.

Kaum hatte sie diesen Gedanken gedacht, da sah sie die Gestalt wieder, die sie schon auf dem Weg hierher ein paarmal wahrzunehmen geglaubt hatte. Diesmal war es anders. Sie konnte sie ganz deutlich sehen, ein gutes Stück von ihnen entfernt, fast auf der anderen Seite des Saales, aber so klar zu erkennen, als sorge ein unheimlicher Zauber dafür, dass die Distanz zwischen ihnen keine Rolle mehr spielte. Der Archivar.

»Er beobachtet uns«, sagte Großmutter. Sie hatte die unheimliche Gestalt im gleichen Moment entdeckt wie Leonie.

»Aber warum?«

»Weil er deine Furcht spürt«, antwortete Großmutter. »Du darfst ihm diesen Triumph nicht gönnen, Leonie. Er spürt deine Angst und zieht Kraft daraus. Und das ist auch der Grund, warum er uns all dies zeigt. Er will, dass du siehst, wie gewaltig sein Sieg ist.«

Leonie blickte die unheimliche Gestalt auf der anderen Seite der Galerie traurig an. Sie wusste, dass ihre Großmutter Recht hatte, aber zugleich irrte sie sich auch. So unglaublich es ihr auch selbst erschien: Sie suchte vergeblich nach Angst in sich. Sie war niedergeschlagen und mutlos und hatte jede Hoffnung verloren, doch vielleicht hatte sie genau deshalb keine Angst mehr.

»Sie sollten jetzt lieber die Klappe halten, Oma«, bemerkte Bernhard. »Ich habe das Gefühl, dass er Sie hört und nicht besonders erbaut über Ihre Worte ist. Ich an Ihrer Stelle würde ihn nicht reizen.«

»Wohin bringen Sie uns?«, fragte Leonie zum wiederholten Mal. Sie hatte nicht ernsthaft mit einer Antwort gerechnet, aber Bernhard deutete mit einer Kopfbewegung zu einer der zahlreichen Treppen, die von der Galerie hinunter in das eigentliche Scriptorium führten.

»Spar dir deinen Atem, Kleine«, sagte er. »Der Weg ist noch ziemlich weit.«

Auch das war Leonie nicht neu. Sie war diesen Weg ja schon einmal gegangen und wusste, dass ihre Kräfte beinahe nicht gereicht hätten, die gewaltige Halle zu durchschreiten und das finstere Tor an ihrem anderen Ende zu erreichen. Sie wusste aber auch, dass sie sich jede entsprechende Bemerkung Bernhard gegenüber sparen konnte, aber der dunkelhaarige Gaukler überraschte sie ein weiteres Mal.

Sie erreichten die Treppe und Bernhard hatte kaum die erste Stufe genommen, als Leonies Großmutter ins Stolpern kam und ihn um ein Haar mit sich in die Tiefe gerissen hätte. Meister Bernhard fluchte, drehte sich aber mit einer überraschend schnellen und geschickten Bewegung zur Seite und fing den drohenden Sturz ab, indem er sich mit Rücken und Hinterkopf gegen die Wand sinken ließ. Praktisch in der gleichen Bewegung löste er die Hand von Großmutters Arm, der noch immer über seinen Schultern lag, schob den freien Arm unter ihre Kniekehlen und trug sie nun, scheinbar ohne die geringste Mühe, auf beiden Armen die Treppe hinab. Unten angekommen stellte er sie zwar wieder auf die Füße, hob sie aber sofort wieder hoch, als sie erneut zusammenzubrechen drohte. Ohne auch nur einen Blick zu Leonie und ihren beiden hässlichen Bewachern zurückzuwerfen, wandte er sich um und marschierte in scharfem Tempo weiter in die Halle hinein.

»Sie können mich jetzt wieder herunterlassen«, sagte Großmutter, nachdem er das erste Dutzend Schritte zurückgelegt hatte.

»Das werde ich bestimmt nicht tun«, knurrte Bernhard. »Ich möchte in diesem Leben noch auf der anderen Seite ankommen. Außerdem soll ich Sie lebendig abliefern. Ich habe keine Lust, nur deshalb Ärger zu bekommen, weil Sie mir unterwegs schlapp gemacht haben.«

Leonie war noch verwirrter. Meister Bernhards Worte mochten im ersten Moment einleuchtend klingen, denn Leonie hatte die ganze Zeit über bezweifelt, dass ihre Großmutter in der Verfassung war, den weiten Weg durch das Scriptorium und vielleicht noch die endlose Treppe auf der anderen Seite hinab durchzustehen, aber Tatsache war, dass er sich bisher schon alle Mühe gegeben hatte, ihr das Gehen so leicht wie möglich zu machen, und sie nun auf den Armen trug; und das, obwohl er sich bislang keineswegs als feinfühlig oder rücksichtsvoll hervorgetan hatte.

Leonie verscheuchte den Gedanken. Mit Sicherheit bewegten Meister Bernhard ganz genau die Gründe, die er gerade selbst genannt hatte. Sie war wohl verzweifelt genug, sich an Hoffnungen zu klammern, die es gar nicht gab.

Was sie vorhin schon gespürt hatte, wurde zur Gewissheit, während sie den riesigen Schreibsaal durchquerten. Er hatte sich verändert. Von einem unheimlichen und fremden Ort war er zu einer Welt geworden, in der die Angst herrschte. Keiner der Scriptoren, an denen sie vorüberkamen, wagte es auch nur, von seiner Arbeit aufzusehen oder ihnen einen verstohlenen Blick zuzuwerfen, und aus jeder ihrer schnellen, hektischen Bewegungen sprach nackte Furcht. Selbst die riesigen Aufseher, die da und dort zwischen den Pultreihen patrouillierten und mit Argusaugen darüber wachten, dass jeder seine Arbeit tat, wirkten auf ihre Weise verängstigt, obwohl Leonie sie doch als Geschöpfe kennen gelernt hatte, die selbst Angst und Schrecken verbreiteten. Sie musste an das denken, was ihre Großmutter vorhin zu ihr gesagt hatte. Wenn die Welt, zu der der Archivar die Wirklichkeit machen würde, so war wie dieser gespenstische Saal, dann war es vielleicht tatsächlich besser, wenn sie sie nie kennen lernten.

Nach einer kleinen Ewigkeit erreichten sie die Mitte des riesigen Saals und damit den düsteren Steinturm, in dem Leonie damals den Scriptor gefangen genommen hatte, aber diesmal machten sie dort nicht Halt, sondern setzten ihren Weg in unveränderter Geschwindigkeit fort. Leonie war bereits müde. Ihr Rücken begann zu schmerzen und sie hatte nicht nur das Gefühl, dass sie jeder weitere Schritt ein kleines bisschen mehr Anstrengung kostete als der vorherige, sondern auch dass sich das jenseitige Ende der Halle fast im gleichen Tempo von ihnen entfernte, in dem sie sich darauf zubewegten.

Und sie war nicht die Einzige, der es so erging. Auch wenn Meister Bernhard sich alle Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen, so entging Leonie doch keineswegs, dass seine Schritte eine Menge von ihrem anfänglichen Elan verloren hatten und es ihm nun deutlich immer schwerer fiel, Großmutter zu tragen. Ein- oder zweimal geriet er ins Stolpern und fand nur allmählich in seinen gewohnten Rhythmus zurück, und auf dem letzten Stück des Weges war sie beinahe sicher, dass er es nicht mehr schaffen würde. Als sie endlich am Fuß der Treppe ankamen, über der sich das gewaltige Eisentor erhob, wankte er merklich, und seine Kräfte versagten endgültig, noch bevor sie die Hälfte der Stufen hinter sich gebracht hatten. Mit einem erschöpften Seufzen stellte er ihre Großmutter auf die Füße, machte noch einen halben, wankenden Schritt und sank dann zitternd vor Schwäche und Erschöpfung auf die schwarzen Steinfliesen. »Nur einen Moment«, murmelte er. »Es geht... gleich weiter.« Leonie war über ihre eigene Reaktion einigermaßen erstaunt; ob Bernhard erschöpft war oder nicht, hätte ihr herzlich egal sein oder sie sogar mit Schadenfreude erfüllen sollen, aber sie empfand ganz im Gegenteil Mitleid. So wie sie Meister Bernhard und seine Truppe kennen gelernt hatte, hätte sie alles von ihm erwartet - nur nicht die fast rührende Art, auf die er sich um ihre Großmutter gekümmert hatte, auch wenn er sich alle Mühe gab, dies zu überspielen. Sie kam jedoch nicht dazu, eine entsprechende Bemerkung zu machen, denn Bernhard hatte sich kaum auf die Stufen sinken lassen und das Gesicht in den Händen verborgen, da ertönte ein dumpfes, lang nachhallendes Dröhnen und einer der beiden gewaltigen eisernen Torflügel bewegte sich scharrend nach innen. Leonie und ihre Großmutter sahen alarmiert hoch und auch Bernhard hob müde den Kopf und warf einen Blick über die Schulter zurück.

Das Tor schwang weiter auf und gab den Blick auf den dahinter liegenden, düsteren Gang frei, in dem sich verschwommene, auf unheimliche Weise missgestaltete Schemen bewegten, dann erschien wie aus dem Nichts eine schlanke Frauengestalt unter der Öffnung mit langem glattem Haar, das ihr bis weit über die Schultern fiel. Im allerersten Moment war Leonie einfach nur verwirrt, aber dann begriff sie, dass sie niemand anderem als dem Archivar gegenüberstanden, der wieder die Gestalt Theresas angenommen hatte. Trotz dieses Wissens fühlte sie ein Aufwallen von fast grenzenloser Erleichterung über diese erneute Verwandlung und - noch absurder - beinahe so etwas wie Sympathie. Auch wenn ihr Anblick Leonie einen tiefen, schmerzhaften Stich versetzte, war Theresa doch für lange Zeit der einzige Mensch gewesen, den sie für ihren Freund gehalten hatte, und obwohl dies vielleicht die grausamste aller Lügen gewesen war, konnte sie sich noch immer nicht von dieser Vorstellung lösen.

Vielleicht war sie jedoch die Einzige, die die Gestalt am Ende der Treppe so sah. Ihre Großmutter sog scharf die Luft ein und der Ausdruck auf dem Gesicht Meister Bernhards war nur mit purem Entsetzen zu beschreiben. Er sprang auf die Füße, nahm die Hände herunter und alles Blut wich aus seinem Gesicht.

»Verzeiht, Herr«, stammelte er. »Ich...«

Theresa - der Archivar - schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab. »Schon gut!«, sagte sie, ohne den Blick auch nur einen Sekundenbruchteil von Leonies Gesicht zu nehmen. »Da ist jemand, der auf dich wartet.«

Leonie schluckte die Antwort hinunter, die ihr auf der Zunge lag. Sie hatte nicht vergessen, was ihre Großmutter vorhin in der Zelle gesagt hatte. Es gab nichts mehr, was sie noch tun konnten, und nichts, was sie noch hätte sagen können. Ganz gleich, was es gewesen wäre, es hätte den Triumph des Archivars nur noch vergrößert.

Als sie ohne ein Wort weiterging, blitzte es für einen Moment in Theresas Augen auf; ein kurzes Funkeln, das Leonie im ersten Moment für Zorn hielt, bis ihr klar wurde, dass selbst ihr trotziges Schweigen das unheimliche Geschöpf nur amüsierte. Vielleicht war das überhaupt das Allerschlimmste.

Bernhard drehte sich müde um und streckte die Hand nach Großmutter aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, als ihn ein eisiger Blick aus den Augen der alten Frau traf. Mühsam, aber mit stolz erhobenem Kopf bewegte sich Großmutter die Treppe hinauf und auf den Archivar zu. Das unheimliche Wesen, das ihr in der Gestalt einer jungen Frau entgegenblickte, schien ebenso wie Leonie und sicherlich auch Meister Bernhard darauf zu warten, dass sie stehen blieb, aber sie setzte ihren Weg ohne zu zögern fort, und etwas ganz und gar Unglaubliches geschah: Es war am Ende der Archivar, der zur Seite wich.

Hintereinander durchschritten sie das gewaltige eiserne Tor. Leonie konnte sich nicht mehr ganz genau daran erinnern, wie es hier ausgesehen hatte, als sie diesen Weg das erste Mal genommen hatte, aber der Gang kam ihr auf die gleiche, schaudern machende Art verändert vor wie das Scriptorium: Alles wirkte düsterer, unförmiger, als hätte es sich ein kleines Stück weiter in Richtung jener Welt verschoben, in der die Albträume und die Angst zu Hause waren.

Erst nachdem sie schon eine ganze Strecke zurückgelegt hatten, fiel Leonie auf, dass die beiden Scriptoren ihnen nicht mehr folgten. Auch sonst begegnete ihnen keiner der unheimlichen Bewohner dieses unterirdischen Reiches, während sie durch den langen, von schweren eisernen Türen gesäumten Gang schritten.

Das Unglück geschah, als sie ihr Ziel fast erreicht hatten und der grün leuchtende Nebel vor ihnen wieder heller zu werden begann. Großmutters Schritte waren immer langsamer und schleppender geworden, sodass Meister Bernhard noch zweimal den Arm nach ihr ausgestreckt hatte um ihr zu helfen, was sie aber jedes Mal mit dem gleichen trotzigen Kopfschütteln abgelehnt hatte. Plötzlich aber strauchelte sie, streckte mit einem erschrockenen Seufzen den Arm nach der Wand aus um sich abzustützen und wäre dennoch gestürzt, wären nicht Bernhard und Leonie gleichzeitig vorgesprungen um sie aufzufangen.

Der Archivar ging noch einige Schritte weiter, drehte sich dann langsam herum und sah ebenso spöttisch wie mitleidlos zu ihnen zurück, während Leonie sich mit einem raschen Blick davon überzeugte, dass ihrer Großmutter auch tatsächlich nichts passiert war, bevor sie sie behutsam wieder auf die Füße stellte. Erneut wollte Bernhard die alte Frau einfach auf die Arme nehmen, um sie wie ein Kind zu tragen, und wieder lehnte sie seine Hilfe mit einem schwachen, aber entschiedenen Kopfschütteln ab, ließ es aber immerhin zu, dass er ihren linken Arm um seine Schultern legte und seinerseits mit dem rechten Arm ihre Hüfte umschlang, um sie auf diese Weise zu stützen.

»Danke«, sagte Leonie leise. Bernhard sah sie auf eine seltsam schuldbewusste Art an und Leonie fügte flüsternd und mit einem raschen Blick in Richtung des Archivars hinzu: »Weißt du eigentlich, mit wem du dich da eingelassen hast?«

Sie las die Antwort in Bernhards Augen; ebenso wie den Umstand, dass er es nicht wagte, sie laut auszusprechen.

»Wie geht es deiner Familie?«, fragte sie, als sie weitergingen, laut und im Grunde mehr an den Archivar gewandt als an Bernhard. Zugleich wurde ihr klar, wie albern der Versuch war, dieses Geschöpf zu täuschen. Der Archivar war nicht darauf angewiesen, gesprochene Worte zu verstehen, sondern las ihre Gedanken so mühelos, wie Leonie in einem Buch gelesen hätte.

Dennoch antwortete Bernhard. »Sie sind tot«, sagte er hart. »Außer mir und Maus hat niemand die Gastfreundschaft Eures Vaters überlebt, ehrwürdiges Fräulein.«

Leonie fuhr unter den Worten zusammen wie unter einem Hieb. Hinter Bernhards zornigem Ton verbarg sich ein Schmerz, den auch sie selbst wie einen tiefen Stich in die Brust fühlte. »Das tut mir Leid«, sagte sie, und das war ehrlich gemeint.

»Ja«, versetzte Bernhard bitter. »Mir auch.«

Sie legten den Rest des Weges schweigend zurück. Leonies Herz begann stärker zu klopfen, als sie sich dem Ende des gewölbten Tunnels näherten. Obwohl sich hier alles auf schreckliche Weise verändert hatte, glaubte sie ihre Umgebung nun doch wiederzuerkennen. Die Erinnerung war nicht deutlich genug um sie zu greifen, aber es handelte sich auf keinen Fall um eine gute Erinnerung. Da war etwas mit den niedrigen Eisentüren, an denen sie vorbeikamen, etwas das... Der Archivar blieb mitten im Schritt stehen und drehte sich zu ihr um. Für einen winzigen Moment schien sein Gesicht zu flackern, als versuche unter den vertrauten Zügen Theresas etwas anderes Gestalt anzunehmen, etwas Düsteres, dann hatte er sich wieder in der Gewalt und bedeutete Bernhard und ihr mit einer herrischen Geste, schneller zu gehen. Hätte Leonie nicht gewusst, dass nichts dazu in der Lage war, sie wäre überzeugt gewesen, gerade mit angesehen zu haben, wie irgendetwas das Geschöpf zutiefst erschreckt hatte. Aber natürlich war das nichts als reines Wunschdenken.

Aus Leonies böser Vorahnung wurde Gewissheit, als sie auf die schmale Galerie am Ende des Ganges hinaustraten. Unter ihnen lag der Leimtopf.

Allerdings erkannte Leonie ihn kaum wieder. Der gewaltige Raum war voller Bewegung. Leonie erblickte auf Anhieb Hunderte von Aufsehern, Arbeitern und Scriptoren, dazu buchstäblich Tausende von Schusterjungen und auch etliche der schrecklichen Redigatoren, die scheinbar ziel- und sinnlos durcheinander hasteten.

Aber es waren nicht nur die Geschöpfe des Archivars, die den riesigen runden Raum füllten. Zwischen ihnen erkannte Leonie lange Schlangen menschlicher Gestalten in weiß-rot gestreiften Hemden und ledernen Kniehosen, die von Aufsehern mit derben Stößen und Peitschenknallen vorwärts gezwungen wurden, bis sie...

Leonies Herz machte einen erschrockenen Satz und schien weit oben in ihrem Hals weiterzuklopfen, als sie die offen stehende, rechteckige Klappe entdeckte, auf die die Männer zugetrieben wurden. Sie kannte diesen Ort. Seit sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte er sich verändert: Das grässliche Sprungbrett war nicht mehr da, und neben der offen stehenden Klappe standen nun mehr und deutlich schwerer bewaffnete Aufseher, die mit den Händen an ihren Waffen und Argusaugen darüber wachten, dass niemand aus der langsam vorrückenden Reihe ausbrach, aber der brodelnde grüne Sumpf unter der Klappe im Metallgitterboden, aus dem klebriger Dampf und dann und wann eine träge schillernde Blase aufstiegen, die an der Oberfläche mit einem dumpfen Geräusch platzte, war derselbe geblieben.

Einer nach dem anderen wurden die bisher so unbesiegbaren Krieger der Stadtgarde auf den Rand der offen stehenden Klappe zugetrieben. Und Leonies Herz begann in purem Entsetzen zu hämmern, als sie dabei zusah, wie die Männer kurz darauf in die blubbernde grüne Masse gestoßen wurden, in der sie lautlos versanken.

»Aber... aber das kannst du doch nicht machen«, krächzte sie. »All diese Menschen! Du kannst sie doch nicht... nicht einfach umbringen!«

Der Archivar drehte sich langsam in ihre Richtung. Und ein kaltes, durch und durch mitleidloses Lächeln erschien auf dem wunderschönen Frauengesicht, hinter dem sich das wahre Antlitz des Ungeheuers verbarg, und zugleich schien in seinen Augen etwas wie ein wilder Triumph aufzulodern.

»Du darfst nicht glauben, was du siehst«, sagte Großmutter ruhig. Ihre Stimme war leise, kaum mehr als ein Flüstern, und zitterte vor Schwäche - und doch war sie zugleich von einer solchen Kraft und Stärke erfüllt, dass der Archivar für einen Moment den Kopf wandte und sie unsicher ansah.

Aber wirklich nur für einen Moment. Dann wandte er sich wieder ganz zu Leonie um, und abermals flammte in seinen Augen dieser schreckliche Ausdruck auf, der Leonie das Gefühl gab, irgendetwas würde aus ihr herausgerissen.

»Warum tust du das?«

Es war ihre Großmutter, die antwortete, nicht Theresa. »Um dich zu quälen«, sagte sie leise. »Du darfst ihn deinen Schmerz nicht spüren lassen. Er macht ihn nur stärker.«

Leonie starrte ihre Großmutter fast entsetzt an. »Nicht spüren lassen?«, wiederholte sie ungläubig. »Aber das sind...«

»Menschen?«, unterbrach sie ihre Großmutter. Sie schüttelte traurig den Kopf. »Hast du denn alles vergessen, was ich dir gesagt habe?«, fragte sie. »Nichts hier ist das, wonach es aussieht. Keiner von diesen Männern hat jemals wirklich gelebt. So wenig wie Sie, mein Freund.«

Der letzte Satz hatte Meister Bernhard gegolten, der sie aus großen Augen anstarrte. Er sagte nichts, aber aus seinem Gesicht wich nun auch noch das allerletzte bisschen Farbe, und Leonie konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn zu arbeiten begann.

»Das ist genug!«, sagte der Archivar scharf. Er machte einen Schritt, der ihn genau zwischen Leonie und ihre Großmutter brachte, sodass er den Blickkontakt zwischen ihnen unterbrach.

Irgendetwas schien mit ihm nicht zu stimmen, dachte Leonie. Theresas Gesicht... verlor irgendwie an Glaubwürdigkeit. Es war ihr nicht möglich, einen anderen Ausdruck dafür zu finden. Nichts an Theresas vertrauten Zügen schien sich wirklich zu verändern, und doch spürte sie mit jedem Atemzug mehr, dass sie nichts weiter als einem raffinierten Trugbild gegenüberstand. Hatte sie den schwachen Punkt des Archivars gefunden? Vielleicht war dieses scheinbar so allmächtige Geschöpf doch nicht so unüberwindlich...

Mühsam riss sie ihren Blick von den grausamen Augen der Kreatur los und zwang sich, noch einmal in die Halle hinabzusehen. Der Anblick hatte nichts von seiner Schrecklichkeit verloren. Wahrscheinlich hatte ihre Großmutter Recht, dachte Leonie. Nichts von alledem, was sie zu sehen glaubte, war real. Sie sah nur das, was ihr ihre menschlichen Sinne zu sehen vorgaukelten, weil das, was dieser unbegreifliche Ort wirklich war, einfach zu fremd und erschreckend gewesen wäre, um den Anblick zu ertragen.

Aber dieses Wissen nutzte ihr nichts.

Damals als Theresa ihr erklärt hatte, dass die Schusterjungen und Arbeiter nicht real waren, da hatte ihr dieses Wissen durchaus geholfen, die lebensverachtende Grausamkeit zu ertragen, mit der die Aufseher mit ihren kleineren Brüdern umsprangen. Nun aber sah sie Menschen, die wie wehrlose Opferlämmer zur Schlachtbank geführt wurden, und dieser Anblick war beinahe mehr, als sie ertragen konnte.

»Sie... sie sehen so echt aus«, murmelte sie.

»Aber sie sind es nicht«, erklärte Großmutter. »Kind, glaubst du denn tatsächlich, dass dein Vater mit dem Leben wirklicher Menschen spielen würde wie mit Schachfiguren?«

Leonie hätte diese Frage nicht einmal beantworten können, wenn sie es gewollt hätte. Die Wahrheit war: Sie wusste es nicht. Sie war nicht mehr sicher, ob sie den Mann, zu dem ihr Vater geworden war, wirklich noch kannte.

»Und wo ist der Unterschied?«, fragte Theresa gehässig. Großmutter wollte etwas sagen, aber Theresa schnitt ihr mit einer herrischen Geste das Wort ab. »Wo ist der Unterschied?«, fragte sie noch einmal. Sie deutete auf Bernhard. »Sieh dir diesen Dummkopf an. Hat er existiert, bevor ich ihn erschaffen habe?« Sie beantwortete ihre eigene Frage kurzerhand mit einem heftigen Kopfschütteln selbst. »Nein. Mit ihm verhält es sich wie mit den...«, sie betonte das von einem leisen Lachen begleitete Wort auf sonderbare Weise, »... Kriegern deines Vaters. Es hat ihn nicht gegeben. Nicht bevor ich entschieden habe, dass er zu existieren hat.«

»Aber das... das... das ist... das ist doch blanker Unsinn«, stieß Meister Bernhard hervor. »Ich bin...«

Theresa brachte ihn mit einem verächtlichen Blick zum Verstummen. »Oh, du glaubst, es wäre nicht wahr?«, fragte sie höhnisch. »Du glaubst, du wärst ein richtiger, lebender Mensch mit einer Vergangenheit und einer Zukunft?« Sie lachte böse, schnippte mit den Fingern und wie aus dem Nichts erschien ein Scriptor zwischen ihr und Leonie. Er sah ein bisschen verdattert aus, fand Leonie, aber er kam nicht dazu, irgendetwas zu sagen, denn Theresa fuhr mit einer spöttischen Geste in seine Richtung fort: »Ich habe dich erschaffen, genauso wie ich ihn erschaffen habe. Du solltest das niemals vergessen. Denn wenn mir danach ist...«, sie streckte den Arm aus, ergriff den total verblüfften Scriptor am Schlafittchen und schleuderte ihn mit einer fast beiläufigen Geste über die Brüstung, »... kann ich dich genauso mühelos wieder vernichten.«

Meister Bernhard starrte eine Sekunde lang aus hervorquellenden Augen in die Richtung, in die der kreischende Gnom verschwunden war. Dann wandte er sich langsam und unendlich mühevoll zu Theresa um. »Aber... aber ich erinnere mich doch«, stammelte er. Seine Stimme zitterte, so als könne er nur noch mit Mühe die Tränen zurückhalten. »Ich weiß doch alles! Mein... mein ganzes Leben. Jeder einzelne Tag! Meine Jugend. Meine Eltern und...«

»Das alles habe ich dir gegeben«, unterbrach ihn Theresa. »Ich weiß, dass du dich erinnerst, denn ich habe diese Erinnerungen erschaffen. Du erinnerst dich an den Tag, an dem du deinen ersten Diebstahl begangen hast. An deinen Vater, von dem du mehr Schläge als Essen bekommen hast, und deine Mutter, die keine Gelegenheit ausgelassen hat, dir zu sagen, dass sie dich nicht wollte und du die Schuld an ihrem erbärmlichen Leben trägst.«

Bernhard starrte sie an. Er stand wie gelähmt da.

»O ja, und all die anderen schlimmen Dinge, die dir widerfahren sind«, fuhr Theresa höhnisch fort. »Du hattest eine so schreckliche Jugend, dass aus dir gar nichts anderes werden konnte als ein verbitterter, böser Mensch. Das ist bedauerlich.« Sie zuckte betont beiläufig mit den Achseln. »Aber es war notwendig. Schließlich brauchte ich einen durch und durch bösen und skrupellosen Menschen für meine Zwecke.«

»Aber das... das kann doch nicht sein!«, stotterte Bernhard. Er zitterte am ganzen Leib.

»Aber warum denn nicht?«, kicherte Theresa. »Es war ganz leicht, weißt du?«

»Hör auf.«, schrie Leonie. Der Anblick des zitternden, leichenblassen Mannes brach ihr fast das Herz.

»Aber warum denn?«, erkundigte sich Theresa. »Er tut dir doch nicht etwa Leid, oder? Nach allem, was er dir angetan hat?« Das hämische Grinsen verschwand so plötzlich von ihrem Gesicht, wie es erschienen war, und machte einer womöglich noch schlimmeren Kälte Platz, vielleicht der einzig wahre Ausdruck, zu dem das Geschöpf fähig war, das in der Maske einer harmlosen jungen Frau vor Leonie stand.

»Nun, wenn das so ist, dann sag mir, weshalb sie dir nicht Leid tun?« Sie deutete auf die nicht enden wollende Kette weiß-rot gekleideter Gestalten, die unter ihnen entlangzog. »Ein jeder von ihnen hat die Erinnerungen an ein ganzes Leben voller Leid und Glück, voller Freude und Schmerz. Es ist nicht damit getan, sich einen Körper vorzustellen. Und es ist leichter, Leben zu erschaffen als die Verantwortung dafür zu übernehmen.«

»Hör ihm nicht zu, Leonie!«, rief Großmutter. »Er will dich nur quälen. Dein Schmerz ist sein Lebenselixier. Glaub ihm nicht! Benutze die Gabe! Du kannst die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind!«

Wieder... flackerte Theresas Gesicht auf diese unheimliche, mit Worten kaum zu beschreibende Art, als versuchte etwas durch und durch Unmenschliches, Böses darunter Gestalt anzunehmen. Einen Moment lang schien es Leonie, als gewänne die vorgetäuschte Realität noch einmal die Oberhand, dann zerfloss das schmale Frauengesicht endgültig und die düstere Erscheinung des Archivars stand wieder vor ihnen.

Ich verstehe, wisperte seine unheimliche Stimme hinter Leonies Stirn. Ihr besteht also auf den Anblick wirklicher Menschen? Ganz wie ihr wollt. Mit einem Ruck fuhr er herum und gab ihnen mit einer herrischen Geste zu verstehen, dass sie ihm folgen sollten.

Im ersten Moment wollte Leonie sich seinem Befehl widersetzen, denn keine Strafe des Archivars konnte so schlimm sein wie das, was sie dort unten erwarten musste. Aber dann wurde ihr klar, dass dieser kindische Trotz den Triumph des Archivars nur noch vergrößern würde, und sie setzte sich mit einem Ruck in Bewegung und folgte ihrer Großmutter und Meister Bernhard, die das Ende der Galerie schon fast erreicht hatten. Sie betraten eine der Leonie wohl bekannten, in steilem Winkel nach unten führenden Treppen. Die schmalen Stufen, die schon Leonie Probleme bereiteten, erwiesen sich für ihre Großmutter als nahezu unüberwindliches Hindernis, sodass sie dieses Mal keine Einwände erhob, als Bernhard ihr helfen wollte.

Auch wenn es sich auf der schmalen Treppe als sehr schwierig erwies, bemühte sich Leonie, mit den beiden Schritt zu halten und möglichst sogar neben Bernhard herzugehen, nur für den Fall, dass ihn die Kräfte verlassen sollten. Doch obwohl er sehr langsam ging und manchmal sogar vor Schwäche zu wanken schien, war seinem Gesicht nicht die geringste Spur von Erschöpfung anzusehen - allerdings auch kein anderes Gefühl. Sein Gesicht war leer und seine Augen schienen in eine weit entfernte Unendlichkeit zu blicken, die von einem namenlosen Schrecken erfüllt war.

Erst nachdem Bernhard unten angekommen war, stieß er einen erschöpften Laut aus, blieb stehen und wankte einen Moment lang so stark, dass Leonie ernsthaft befürchtete, dass nun er es war, der gestützt werden musste. Sie wollte tatsächlich die Hand ausstrecken, aber Bernhard schüttelte müde den Kopf und lehnte sich kurz gegen die Mauer, um neue Kräfte zu schöpfen. Sie standen auf einem schmalen Streifen des Metallgitterbodens, unter dem der kochende grüne Leim brodelte. Die Hitze, die davon aufstieg, war nahezu unerträglich und trieb Leonie nicht nur den Schweiß auf die Stirn, sondern ließ auch jeden Atemzug zu einer Qual werden.

»Geht es noch?«, fragte sie mitfühlend. Ganz gleich, was dieser Mann ihr auch angetan haben mochte - alles, was sie in diesem Augenblick für ihn empfand, war Mitleid. Der Archivar hatte Recht, dachte sie niedergeschlagen. Es spielte keine Rolle, woher ein Mensch kam. Was ihn ausmachte, das war nicht seine Herkunft, sondern das Leben, das er gelebt hatte.

»Nur... einen kleinen Moment«, bat der schwarzhaarige Gaukler. »Ich bin... gleich wieder bei Kräften.«

Zu Leonies Erstaunen erhob der Archivar keinerlei Einwände, sondern stand nur in einiger Entfernung da und starrte reglos zu ihnen zurück. Sicher hatte sein Schweigen nichts mit Verständnis für Meister Bernhards Schwäche zu tun oder gar Mitleid, sondern hatte gänzlich andere, finsterere Gründe, aber das war Leonie vollkommen gleich.

»Die Zelle«, flüsterte Bernhard. »Gleich die zweite Tür auf der linken Seite.«

Um ein Haar hätte Leonie sich verraten, denn sie verstand zunächst gar nicht, wovon er sprach. Buchstäblich im allerletzten Moment, bevor sie eine entsprechende Frage stellen und möglicherweise alles verderben konnte, fing sie einen warnenden Blick ihrer Großmutter auf; und alles, was sie in diesem Moment hoffen konnte, war, dass der Archivar nicht ständig ihre Gedanken las. Statt irgendetwas zu sagen, deutete sie nur ein Schulterzucken an und tat so, als werfe sie einen langen, aufmerksamen Blick in die Halle.

Was sie beinahe sofort wieder bedauerte. Von der Galerie aus betrachtet hatte der Leimtopf einen entsetzlichen Anblick geboten, doch von hier unten wirkte die ganze Szene noch ungleich schrecklicher. Sie standen buchstäblich an der Pforte zur Hölle. Kaum einen Meter vor ihren Füßen brodelte der grüne Leim. Da waren Hunderte und Aberhunderte riesiger gepanzerter Gestalten, das Klirren von Metall und das Rasseln von Ketten, Peitschenknallen und Schreie, und über alldem das wie das Tosen einer düsteren Meeresbrandung an- und abschwellende Stöhnen der Gefangenen, die noch immer in einer schier endlosen Schlange auf die Richtstätte zugetrieben wurden.

»Sieh nicht hin«, flüsterte ihre Großmutter. »Das ist es, was er will! Deine Angst macht ihn stärker! Schau nicht hin! Sie leben nicht wirklich!«

Aber wie konnte sie das? Vielleicht hatte ihre Großmutter ja Recht, und all diese zahllosen Männer dort vorne waren nichts als dienstbare Geister, die ihr Vater durch die Macht des Buches erschaffen hatte. Und dennoch: Wie konnte sie dieser Gedanke trösten, nach dem, was sie gerade in Bernhards Augen gelesen hatte?

»Hast du uns deshalb hierher gebracht?«, fragte sie mit einer trotzigen Kopfbewegung auf den Leimtopf. »Um uns zu zeigen, was uns erwartet?« Sie versuchte herausfordernd zu lachen, aber sie spürte selbst, wie kläglich es misslang. Selbst in ihren eigenen Ohren klang der Laut fast wie ein Schluchzen. Dennoch fuhr sie fort: »Ich habe keine Angst vor dem Tod. Bring mich doch um, wenn es dir Spaß macht!«

Dich töten? Die lautlose Stimme des Archivars klang ehrlich erstaunt. Warum sollte ich das tun?

Offensichtlich war sie nicht die Einzige, die die lautlose Stimme des Archivars gehört hatte. Ihre Großmutter schüttelte traurig den Kopf und sah sie mit einem Ausdruck von Schmerz in den Augen an, der Leonie schier das Herz brach, obwohl sie ihn nicht verstand. »Er wird uns nicht töten, Leonida«, sagte sie. »So weit reicht seine Macht nicht.« Müde hob sie den Arm und deutete mit einer schmalen, vor Schwäche zitternden Hand tiefer in die Halle hinein. »Er wird uns etwas viel Schlimmeres antun.«

Leonies Blick folgte der Geste. Im ersten Moment verstand sie nicht, was ihre Großmutter ihr zeigen wollte - aber dann stockte ihr buchstäblich der Atem, als ihr Blick an einer der riesigen, in stachelbewehrtes, schwarzes Eisen gehüllten Gestalten hängen blieb.

Es war kein Aufseher.

Die Gestalt stand ein wenig abseits von den anderen, zwar in der Kette der Aufseher, die ihre Gefangenen weiter antrieben, und wie sie mit einer großen, mehrschwänzigen Peitsche bewaffnet, aber ohne sich an der erbarmungslosen Treibjagd zu beteiligen. Und auch das Gesicht unter dem schwarzen eisernen Helm war nicht das eines Aufsehers.

Es war das Gesicht ihres Vaters.

»Nein«, hauchte Leonie. »Das... das kann nicht sein!«

Nicht mehr lange, flüsterte die lautlose Stimme des Archivars hinter ihrer Stirn. Noch wehrt er sich, doch schon bald wird er einer meiner treuesten Diener sein. Das unheimliche Geschöpf drehte sich ganz zu ihr um, und obwohl sein Gesicht unter der schwarzen Kapuze nach wie vor unsichtbar blieb, spürte sie den Blick seiner schrecklichen Augen wie die Berührung einer unsichtbaren, glühenden Hand. Und du.

»Nein!« Leonie schrie fast. »Niemals!«

Der Archivar machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Und wozu auch? Leonie wusste, dass er Recht hatte. Sie würde sich wehren. Sie würde kämpfen, mit all ihrer Kraft und jedem bisschen Mut, das in ihr war. Doch wie sollte sie gegen einen Feind bestehen, der alle Zeit des Universums hatte und weder Erbarmen noch Schwäche kannte? Irgendwann würde auch sie der Versuchung erliegen, vielleicht nach einem Jahr, vielleicht nach zehn oder auch hundert Jahren, aber irgendwann würde sie zerbrechen.

Die lautlose Stimme des Archivars in ihrem Kopf sprach aus, was sie selbst sich nicht zu denken gestattete: Warum kämpfen, wenn es nichts zu gewinnen gibt?

»Ja«, flüsterte Meister Bernhard. »Nicht in der Welt, die du erschaffen wirst, du Ungeheuer.« Und plötzlich schrie er: »Lauft!«

Mit einem gellenden Schrei stürzte er vor und warf sich mit weit ausgebreiteten Armen auf den Archivar.

Leonie war noch immer viel zu erschüttert, um auch nur zu begreifen, was Bernhard meinte, und womöglich hätte sie diese unwiderruflich allerletzte Chance verstreichen lassen, wäre ihre Großmutter nicht gewesen. Noch während Bernhard mit weit ausgebreiteten Armen auf den Archivar zusprang, fuhr sie herum, war mit einem Satz bei Leonie und riss sie so grob mit sich, dass sie um ein Haar gestürzt wäre. Nur mit Mühe fand sie ihre Balance zurück, und es kostete sie sogar noch mehr Mühe, mit ihrer Großmutter Schritt zu halten, die ein geradezu unglaubliches Tempo entwickelte. Sie stolperte förmlich hinter ihrer Großmutter her, als diese auf einen der zahllosen Tunnel zustürmte, die in den Leimtopf hineinführten. Das Letzte, was sie sah, war Meister Bernhard, der gegen den Archivar prallte und ihn mit sich von den Füßen riss. Eng aneinander geklammert stürzten die beiden nach hinten und fielen in den kochenden Leim, der hoch aufspritzte und sich mit einem saugenden Geräusch über ihnen schloss. Dann rasten sie in den gemauerten Tunnel hinein und ihre Großmutter machte noch zwei stolpernde Schritte und sank dann zitternd vor Erschöpfung gegen die Wand.

»Wohin?«, keuchte sie. »Was hat er gesagt? Leonie!«

Was hatte wer gesagt? Leonies Gedanken überschlugen sich dermaßen, dass ihr schwindelte. Der Gang schien sich um sie zu drehen. Sie verstand weder, wovon ihre Großmutter überhaupt sprach, noch warum Bernhard das getan hatte. Diese Flucht war vollkommen sinnlos. Der Einzige, der bei Meister Bernhards selbstmörderischer Aktion den sicheren Tod fand, war er selbst, ganz gewiss nicht der Archivar, der hinterher nur umso zorniger reagieren würde. Und die Verfolger waren zweifellos bereits auf dem Weg. Leonie konnte ihr wütendes Gebrüll und das schwere Stampfen ihrer Schritte bereits hinter sich hören. Und selbst wenn sie ihnen entkommen könnten - wohin sollten sie schon fliehen?

»Leonie!«

Was hatte Meister Bernhard gesagt? Die zweite Tür auf der linken Seite? Leonies Blick irrte verzweifelt über die niedrigen Eisentüren mit den vergitterten Gucklöchern, die den Gang zu beiden Seiten säumten. Der Tunnel ähnelte jenem, in den sie damals zusammen mit ihren Eltern geflohen war, aber gerade das gab ihrer Verzweiflung nur noch neue Nahrung, denn sie wusste ja, dass sich dahinter nichts als winzige Kerkerzellen befanden, ganz ähnlich der, in der ihre Eltern und sie sich damals...

Leonie verschenkte noch eine weitere kostbare Sekunde, in der sie einfach dastand und sich unbeschreiblich blöd vorkam. Wie hatte sie das nur vergessen können?! Mit einem einzigen Satz war sie an der alles entscheidenden Tür und riss sie auf. »Komm!«, keuchte sie. »Schnell!«

Ihre Großmutter versuchte es sogar, aber ihre Kräfte reichten nicht mehr. Die kurze Flucht hierher in den Gang musste sie restlos erschöpft haben. Sie machte einen taumelnden Schritt, stolperte und wäre gestürzt, hätte Leonie sie nicht in letzten Moment aufgefangen.

»Großmutter!«, rief Leonie entsetzt. »Was ist mit dir?«

»Nichts«, antwortete Großmutter matt. Schon der Klang ihrer Stimme strafte das Wort Lügen. Ihr Gesicht war grau vor Schwäche und sie zitterte am ganzen Leib. Trotzdem schüttelte sie den Kopf, als Leonie etwas sagen wollte, und machte sogar Anstalten, ihre Hände wegzuschieben, um sich aus ihrer Umarmung zu befreien.

»Geh«, murmelte sie. »Ich halte dich nur auf. Bring dich in Sicherheit!«

»Kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte Leonie grimmig. Sie schüttelte den Kopf, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Du kommst mit!«

»Ich wäre dir nur ein Klotz am Bein«, beharrte ihre Großmutter. Abermals versuchte sie sich aus Leonies Griff zu lösen. »Lass mich hier. Vielleicht kann ich ihn... irgendwie aufhalten.«

»Wenn ich das täte, dann wäre ich nicht besser als der Archivar«, antwortete Leonie ernst. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Also, was ist? Wollen wir uns streiten, bis sie hier sind, oder bist du vernünftig?«

Für die Dauer eines Herzschlages sah ihre Großmutter sie nur fast verzweifelt an, aber dann erschien ein Ausdruck von übertrieben gespielter Empörung auf ihren Zügen. »Junge Dame«, sagte sie streng. »Eine solche Frage - noch dazu in diesem Ton - sollte ich dir stellen, nicht du mir!«

Leonie grinste. »Das tut mir ausgesprochen Leid, verehrte Frau Großmama«, erwiderte sie. »Ich gelobe, später entsprechend Buße zu tun. Vielleicht streue ich mir ein bisschen Asche aufs Haupt oder so was.« Sie stand auf. »Aber jetzt schlage ich vor, dass wir von hier verschwinden.«

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