Vier

Samuel Campbell hasste Weihnachten.

Er hatte nichts gegen den Feiertag an sich. Das wagte er gar nicht, ehrlich. Jedes Mal, wenn er es erwähnte, schenkte ihm Deanna einen ihrer Blicke und hielt ihm anschließend einen Vortrag über die Wintersonnenwende. Viele Kulturen feiern den Tod und die Wiedergeburt der Sonne, weil sie Leben spendet, und so weiter und so weiter.

Samuel verstand das, wirklich. Er verstand, warum die Christen die Geburt von Jesus Christus zu dieser Zeit im Jahr feierten. Das frühe Christentum war gut darin gewesen, heidnische und jüdische Rituale zu verknüpfen, einzig um den Übertritt schmackhaft zu machen. Er hatte es immer schon als Ironie empfunden, dass die frühe Kirche das sehr viel besser konnte als die moderne.

Es störte Samuel auch nicht, wie kommerziell der Feiertag geworden war, mit Bildern vom Weihnachtsmann auf Cola-Dosen und den Kaufhäusern, die ihr Bestes taten, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Er war auch nicht sonderlich verärgert darüber, dass der Feiertagsauftrieb jedes Jahr früher und früher zu beginnen schien. Der Kalender wechselte gerade auf Dezember und schon kündigten Fernsehwerbungen Feiertagsrabatte an.

Sogar das ganze „Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“-Zeugs war von den Hippies vereinnahmt worden, was für Samuel einen bitteren Beigeschmack hatte. Immerhin, der Gedanke war gut, wenn vielleicht auch naiv.

Nein, was er an Weihnachten hasste, war das Timing. Die Monster liebten Sonnenwenden geradezu, besonders die im Winter. Sie liebten nichts mehr, als bei Nacht herauszukommen, und jetzt näherte sich schnell die längste Nacht des Jahres.

Keiner liebte die Nacht mehr als Vampire. Im Moment kauerte Samuel sich unter die Büsche in einem Vorgarten am Ende einer Sackgasse in Big Springs, in der Nähe einer Autobahnausfahrt. Hier war es kälter als am Hintern eines Yetis, aber die Informationen von Vater Callapso besagten, dass der Vampir hier lebte.

Er hatte diesen speziellen Blutsauger jetzt schon seit ein paar Tagen verfolgt. Die meisten seiner Opfer waren Mädchen, hauptsächlich Teenager, die zu dumm waren, um Nein zu sagen, wenn ein Mann sie nach Hause bringen wollte. Samuels Erfahrung nach waren die meisten Teenager-Mädchen tatsächlich so dumm. Er dankte Gott, dass seine fünfzehnjährige Tochter Mary wohl nicht in dieses Schema passte.

Eigensinnig, nervtötend, respektlos, ja – Mary verkörperte all diese Dinge. Samuel hatte auf ein gehorsames kleines Mädchen gehofft, aber sie hatte schon früh gesehen, wie schlecht die Welt war. Er hatte sein Kind quasi von Geburt an dazu erzogen, wie es sich verteidigen, eine Waffe abfeuern, ein Messer benutzen konnte. Mary wusste, dass nicht nur das Monster in ihrem Schrank real war, sondern dass man es erschießen konnte und sollte. Auf Gehorsam zu hoffen, war reine Zeitverschwendung.

Das Röhren eines Motors ertönte in der Entfernung und kam schnell näher. Samuel entdeckte das Fahrzeug, von dem das Geräusch ausging, schnell: Es war ein aufgemotztes Angeberauto mit Heckflossen von der Sorte, mit dem Jungen Mädchen beeindrucken wollten. Er wusste nicht viel über Autos, nur dass sie losfuhren, wenn er aufs Gaspedal trat und anhielten, wenn er bremste.

Wahrscheinlich wusste Mary alles bis auf den letzten Buchstaben auswendig, weil sie jede freie Minute in einer Autowerkstatt verbrachte. So ein Junge, der dort nach der Schule arbeitete, bemühte sich um sie, und Samuel hatte sich vorgenommen, ihn unter die Lupe zu nehmen. Er hatte nur noch nicht die Zeit gefunden.

Sein einziger Trost war, dass Marys außerschulische Aktivitäten sie wahrscheinlich davon abhalten würden, etwas anderes zu tun, als nur zu reden. Das Leben eines Jägers war nicht gerade auf große Romanzen ausgelegt.

Er hatte einmal versucht, es ihr zu erklären.

„Aber was ist mit dir und Mom?“, hatte sie trotzig gefragt.

„Das ist etwas anderes“, hatte Samuel schwach protestiert.

„Wie?“, hatte Mary gedrängt und Samuel hatte aufgegeben, weil er wusste, dass er das nicht beantworten konnte.

Das Auto fuhr die Einfahrt neben dem Haus hinauf. Samuel warf einen prüfenden Blick auf den Boden, wo Pfeil und Bogen sowie eine Machete lagen. Er wollte die Pfeile benutzen, um den Vampir zu stoppen und die Machete, um ihm den Kopf abzuschlagen.

Die Kreatur stellte den Motor der protzigen Karre ab, schwang sich aus dem Fahrersitz und ging ums Auto, um sein Opfer zu holen. Der Blutsauger machte seiner Gattung alle Ehre: groß, dunkle Haare, gut aussehend. Er trug lange Koteletten, wie die meisten der jungen Leute heute, die keine Hippies waren, außerdem eine blaue Jacke und eine Krawatte. Trotz allem bewunderte Samuel seine blitzsaubere Erscheinung.

Die meisten Vampire sahen aus, als wären sie ihrer Zeit ein wenig hinterher – Unsterbliche hatten eine andere Wahrnehmung der Zeit. So wie der, der ungefähr vierzig Jahre alt zu sein schien und trotzdem davon sprach, dass er im „Weltkrieg“ gegen „Jerry“ gekämpft hatte. Viele der Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg nannten ihn immer noch allein Weltkrieg. Für diejenigen, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten, wie Samuel, ging es nur um „Nazis“ oder „Krauts“.

Als der Vampir die Autotür öffnete, um das Mädchen aussteigen zu lassen, hörte Samuel ein wohlbekanntes Kichern.

„Was für ein starkes Haus!“, sagte Mary mit einer viel höheren, quietschigeren Stimme als gewöhnlich. Selbst in der Dunkelheit konnte er sehen, dass ihr Mund leicht geöffnet und ihre Augen weit aufgerissen waren.

Er musste zugeben, dass er schon ein bisschen stolz darauf war, wie gut seine Tochter in eine andere Rolle schlüpfen konnte. Stolz, der davon getrübt wurde, dass er seine fünfzehnjährige Tochter als Köder für einen Blutsauger benutzte. Aber so war der Job eben. Dieser Vampir hatte eine Schwäche für Teenager und Samuels Tochter war einer. Also musste sie es sein, die die Kreatur zurück nach Hause lockte, ohne dass andere Mädchen in Gefahr gerieten.

Dann hörte er das tiefe Brummen eines weiteren Motors. Als er sich umdrehte, sah er den Pick-up der Campbell-Familie langsam die Straße herunterfahren. Der Mond schien kaum und die Scheinwerfer waren ausgeschaltet, also war der Truck fast unsichtbar.

Wenn er nicht auf ihn gewartet hätte, wäre er ihm vielleicht auch nicht aufgefallen.

Obwohl er wusste, dass der Wagen gekommen war, konnte er den Fahrer nicht erkennen. Er wusste aber, dass seine Frau Deanna hinterm Steuer saß.

Samuel griff nach unten und nahm einen Pfeil. Er würde seine Deckung aufgeben müssen, um zu zielen – wenn er nicht aufrecht stand, würde er keine gute Schusslinie haben. Und mit Mary direkt daneben wollte er nichts riskieren. Also stand er auf, legte den Pfeil ein und spannte die Sehne.

Der Pfeil flog ab und traf den Vampir direkt in den Rücken, durchschlug seine blaue Jacke und bohrte sich in sein Rückgrat.

Der Vampir zuckte etwas, als er den Aufprall spürte.

„Autsch“, sagte er ruhig und drehte sich stirnrunzelnd um, um zu sehen, woher der Pfeil kam.

Dann lachte er.

„Ah, ich verstehe.“ Er klatschte. „Glückwunsch zu Ihrer ausgezeichneten Treffsicherheit, Sir, aber Sie haben einen entscheidenden Fehler gemacht.“

Samuel blickte finster drein. „Das glaube ich nicht.“

„Haben Sie wirklich gedacht, dass mich das verletzen würde?“, sagte er grinsend.

„Nur das? Nein.“

Plötzlich taumelte die Kreatur.

„Was …?“

„Aber bevor ich hergekommen bin“, sagte Samuel, „habe ich die Pfeilspitze in das Blut eines Toten getaucht.“

Fauchend fiel der Vampir zu Boden und rollte auf dem Rasen vor dem Haus hin und her. Leichenblut war so etwas wie Gift für seine Art. Mary ging zur Seite und suchte sich einen sicheren Aussichtspunkt.

Samuel bückte sich nach seiner Machete.

Er hörte die Tür des Pick-ups zuschlagen und entdeckte Deanna, die mit einem Benzinkanister auf das Haus zukam. Im blassen Licht des Halbmonds sah es aus, als wäre ihr ein Schwanz gewachsen, aber das war lediglich die Scheide von Samuels Claymore-Schwert, die an ihrer Hüfte baumelte. Nachdem Samuel dem Blutsauger den Kopf abgeschlagen hatte, würden sie den Körper verbrennen.

Plötzlich flog die Haustür auf. Metall krachte gegen eine Holzwand und hallte durch die Nacht. Samuel blickte zum Haus und erkannte fünf Gestalten auf der Veranda, die allesamt nicht sehr glücklich aussahen.

Alle fünf hatten gut sichtbare, spitze Schneidezähne.

„Ach, zur Hölle, es ist ein Nest!“, rief er und griff erneut nach Pfeil und Bogen. Bevor er überhaupt den Pfeil anlegen konnte, riss ihm einer der Vampire den Bogen aus der Hand.

„Das sehe ich anders, Fleisch“, knurrte er.

Der Pfeil war immer noch in Samuels Hand, also rammte er ihn dem Vampir in den Leib.

Er griff sich den Bogen von der jetzt betäubten Kreatur, nahm den Köcher und schlang ihn über die Schulter. Dann riss er einen weiteren Pfeil heraus und verschaffte sich einen kurzen Überblick über die Situation.

Zwei Vampire griffen Mary an, die anderen beiden Deanna. Beide Frauen wehrten sich und beide waren für Samuels Geschmack zu dicht an ihren Angreifern, um einen Schuss zu riskieren.

Er griff nach seiner Machete und rammte sie dem, dem er in den Bauch gestochen hatte, in den Hals. Er hatte den Kopf nicht sauber abgeschnitten, aber zusammen mit der Lähmung durch das Leichenblut würde das die Kreatur am Boden halten. Sie könnten ihn später noch fertigmachen.

Er mischte sich ins Kampfgetümmel und half Mary. Einer der Vampire griff nach seinem Arm und zog ihn an sich heran. Er konnte geronnenes Blut in seinem Atem riechen und schreckte zurück. Das gab dem Vampir die Gelegenheit, nach der er suchte.

Der Vampir kam näher und biss ihm in den Hals.

Der Knall eines Schusses hallte in Samuels Ohren wieder, nachdem Mary die. 22er, die sie sicherheitshalber immer bei sich trug, abgefeuert hatte. Die Kugel zerriss das Knie des Vampirs. Das würde ihn nicht umbringen, natürlich nicht – das Knie würde sogar sehr schnell heilen. Der Aufprall war aber stark genug, um das Monster ins Wanken zu bringen.

Samuel nickte ihr kurz zu und wandte sich der zu Boden gegangenen Kreatur zu, während Mary sich zu der anderen umdrehte, die sie immer noch plagte.

Der Vampir hatte sein Knie fest umklammert, das Blut sickerte aus der Wunde und befleckte seine Finger. Er sah zu Samuel hoch und knurrte ihn an.

„Dafür wirst du langsam sterben, Glatzkopf.“

Mit erstaunlicher Geschwindigkeit sprang das Wesen auf die Füße und schlug mit der rechten Faust nach Samuel. Instinktiv hatte der die Machete angehoben, um den Schlag abzuwehren. Die Klinge schnitt durch das Fleisch des Vampirs und schlug mit einem Übelkeit erregenden Schmatzen auf dem Knochen auf.

Als der Vampir in einem verzweifelten Versuch, sich von der Machete frei zu machen, seinen Arm zurückriss, trat Samuel ihm in den Magen. Der Blutsauger fiel rückwärts und Samuel war gezwungen, die Machete loszulassen.

Knurrend setzte die Kreatur – die Klinge immer noch in seinem Unterarm – zum Sprung an, aber Samuel bewegte sich schnell. Er benutzte erneut einen Pfeil als Speer und stach den Angreifer in den Bauch.

Dann schlug er dem Monster den Ellbogen ins Gesicht – was seinem Arm mindestens genauso wehtat wie dem Glaskinn des Vampirs. Er griff nach dem Heft der Machete und riss sie mit roher Gewalt aus dem Fleisch des Vampirs. Er spürte das heiße Spritzen von Wundsekret auf seinem Gesicht.

Ein paar Sekunden lang schlug der Vampir wild um sich, aber das Leichenblut auf der Pfeilspitze machte ihn schnell unschädlich. Samuel enthauptete ihn.

Während er sein Gesicht mit dem Ärmel abwischte, sah Samuel sich um, weil er sehen wollte, wie die Frauen sich schlugen …

Als die fünf Vampire auf der Veranda erschienen waren, hatte er gesehen, dass Deanna den Benzinkanister fallen gelassen hatte. Als er mit einem scharfen Klirren auf dem Asphalt aufschlug, hatte sie bereits nach der Scheide gegriffen und das schottische Zweihandschwert von Samuels Großvater herausgezogen. Während sie besser mit dem Schwert umgehen konnte, war Samuel ein sichererer Bogenschütze und hatte ihr die Waffe für diesen nächtlichen Jagdausflug überlassen.

Die Herkunft des Claidhem-More war ein viel diskutiertes Thema in der Familie Campbell. Das war teilweise Großvater Campbell zuzuschreiben. Er erzählte jedes Mal eine andere Geschichte, wenn man ihn nach dem Schwert mit dem Heft aus Korbweide fragte. Manchmal kam es von einem Mitglied des Clans, das mit Bonnie Prince Charlie gekämpft hatte. Dann wieder war es das Schwert von William Wallace – eine hübsche Geschichte, weil Claymore-Schwerter mit Korbheften im vierzehnten Jahrhundert noch nicht einmal existiert hatten. Einmal hatte Opa Campbell sogar behauptet, dass er damit den Stein von Scone gestohlen hatte.

Eigentlich versuchte Großvater Campbell das Schwert mit fast jedem signifikanten Ereignis der schottischen Geschichte in Verbindung zu bringen.

Die einzige Geschichte, die Samuel tatsächlich glaubte, war die, die sein Großvater ihm auf dem Sterbebett erzählt hatte. Als er es ihm vermachte.

Zu dieser Zeit wusste Samuel bereits darüber Bescheid, dass es schreckliche Dinge gab, die sich nachts ereigneten. Ein Geist hatte seinem besten Freund buchstäblich das Gehirn ausgesaugt und er hatte ihn gerade so töten können.

Irgendwie wusste Großvater Campbell alles über Monster. Er lag in seinem Himmelbett und starrte den jungen Samuel so bedeutungsvoll aus seinen wässrigen Augen an, wie er nur konnte, während der Krebs in seinem Magen wütete und ihn in ständige Hustenanfälle ausbrechen ließ. Er erzählte ihm vom Claidhem-More und wie das Schwert seit dem 18. Jahrhundert eingesetzt wurde, um so viele bösartige Kreaturen zu töten, wie es nur ging.

„Und jetzt“, hatte der Großvater zwischen seinen Hustenanfällen zu Samuel gesagt, „möchte ich, dass du deine eigenen Monster damit erschlägst.“

* * *

Deanna zog das Schwert gerade noch rechtzeitig, bevor zwei Vampire sie angriffen – einer von vorne und der andere von hinten. Sie riss das Schwert hoch und stach den Ersten in den Brustkorb. Heißes Blut spritzte in alle Richtungen und die Kreatur knurrte sie an.

Sie schlug dem anderen den Ellbogen ins Gesicht – eine Verlegenheitslösung. Sie umfasste den Korbgriff des Claymore-Schwertes noch fester, zog es aus der Brust des ersten Vampirs und nutzte den Schwung, um sich auf den zu stürzen, der hinter ihr taumelte.

Das Schwert schnitt in den Arm des Vampirs und mehr Blut spritzte.

Der erste Vampir – von der ihm zugefügten Stichwunde völlig ungerührt – zog sie an den Haaren. Während ihre Haarwurzeln an der Kopfhaut rissen, versuchte Deanna, das Wesen abzuschütteln und gleichzeitig ein Auge auf den zweiten Vampir zu haben, der taumelnd seinen verletzten Arm umklammerte.

Vorhersehbarerweise stürzte sich der Erste direkt auf ihren Hals. Trotzdem erntete er nur einen Mund voller Leinen, denn er hatte sich von ihrem dicken, fleischfarbenen Halstuch täuschen lassen. Aber sie wusste, dass ihn das nur für Sekunden abhalten würde – sobald er sich von der Überraschung erholt hatte, würde er versuchen, ihre Halsschlagader zu zerfetzen.

Aber eine Sekunde war alles, was Deanna brauchte.

Sie holte mit eingeübter Leichtigkeit aus und schwang das Schwert in einem sauberen Bogen herum. Auf diese kurze Distanz schnitt das Claymore-Schwert durch den Hals des Vampirs, wenn auch in einem merkwürdigen Winkel.

Der Kopf war nicht völlig abgetrennt, stattdessen rollte er hin und her, während der Vampir am Boden lag.

„Du dreckige Schlampe!“, keuchte der andere, während er seine fleischigen Hände um Deannas Hals legte. Sie konnte nicht mehr atmen, als der Vampir fester zudrückte, und Deanna fühlte, dass er sie hochhob.

„Du wirst dafür bezahlen!“

Deanna griff panisch mit ihrer freien Hand nach dem Handgelenk des Vampirs, während sie versuchte, mit der anderen das Schwert zu schwingen.

Keine dieser beiden Taktiken war erfolgreich.

Ein Pfeifen in der Luft kündigte einen Pfeil an. Sie hörte ein Tschunk, als der Schaft in den verwundeten Arm des Vampirs einschlug. Trotz des Schmerzes, der seinen Körper durchzucken musste, drückte er trotzig ihren Hals noch ein paar weitere Sekunden lang zu. Dann brach er zusammen. Gerade noch rechtzeitig für Deanna, die bereits angefangen hatte, Sterne zu sehen. Als der Griff sich endlich löste, fiel sie neben den Vampir und konnte endlich wieder kostbare, kühle Luft einatmen.

Sie kam auf die Füße und beendete ihr Werk.

Erst dann schenkte sie ihrem Mann ein kurzes Lächeln.

„Guter Schuss.“

„Gern geschehen“, antwortete Samuel und ging mit seiner Machete gegen den Vampir vor, der ihn und Mary angegriffen hatte.

„Ich glaube“, sagte Deanna, „dass wir mal mit Vater Callapso reden müssen.“

Mary starrte sie an.

„Warum? Er war doch derjenige, der uns hierher geschickt hat.“

„Seine Informationen waren falsch“, erklärte Samuel.

„Es gibt einen großen Unterschied zwischen einem einzelnen Blutsauger und einem Nest!

Deanna hielt das Schwert weiter in der Hand. Sie wollte es nicht in die Scheide stecken, solange es nicht gesäubert war. Sie hob mit der freien Hand den Benzinkanister auf und näherte sich ihrem Mann und ihrer Tochter.

„Es ist ja nicht so, als ob auch nur eine unserer Quellen zu hundert Prozent zuverlässig wäre“, sagte sie. „Wir müssen nur zusehen, dass wir uns auf das, was er uns sagt, größtenteils verlassen können. Wir können trotzdem froh sein, dass der Vater uns überhaupt Informationen zuspielt – und dass er nicht glaubt, wir wären total verrückt.“

Samuel blickte finster.

„Ja, sicher. Der Exorzismus, den wir vor drei Jahren für ihn erledigt haben, hat wohl das seine getan. Er schuldet uns etwas.“

Deanna setzte zu einer Antwort an, dann verbiss sie sich das und nickte in Richtung der blutigen Leichen.

„Ich will ja wirklich keinen Streit anfangen, aber …“

Mary stöhnte dramatisch auf.

„Ach, komm schon, Mom – es ist ja nicht so, dass ich euch noch nie streiten gehört habe.“

„Sie hat nicht über dich gesprochen, Fräuleinchen“, sagte Samuel. „Sie hat gemeint, dass wir noch sechs Vampirleichen loswerden und ein Haus niederbrennen müssen, damit es nicht noch einmal benutzt werden kann. Einmal ein Nest, immer ein Nest.“

„Dann mal los“, sagte Mary mitfühlend. „Lasst uns das hier hinter uns bringen, damit ich mir das Blut abwaschen kann.“

Das überraschte Deanna. Sie berührte ihr Gesicht mit dem Handgelenk ihrer Schwerthand. Sicher, der Geruch des Blutes war gegenwärtig. Sie waren schließlich alle damit getränkt.

„Und Dad?“, fuhr Mary fort. „Ich bin jetzt fünfzehn, also können wir mal mit dieser ‚Fräuleinchen‘-Sache aufhören?“

„Ich denke mal darüber nach“, sagte Samuel mit einem ironischen Lächeln.

Mary sah ihn nur böse an.

Deanna schüttelte den Kopf und wog den Benzinkanister in der Hand.

„Kommt jetzt, ihr Süßen, lasst uns an die Arbeit gehen.“

Mary hatte es immer ein bisschen kitschig gefunden, dass der Briefkasten vor dem Haus die Aufschrift FAMILIE CAMPBELL trug. Es hörte sich an wie etwas aus den guten alten Tagen, als sie ein Kind gewesen war.

Aber die guten alten Tage waren eigentlich nicht so gut gewesen – zumindest nicht so, wie die meisten Leute glaubten. Was die Leute im Fernsehen sahen, hielten sie für die Realität. Mary dagegen hatte gelernt, wie fiktional das Leben tatsächlich sein konnte.

Die Welt veränderte sich. Jeder wusste das natürlich. Dank des Fernsehens konnten alle sehen, was gerade passierte – Woodstock, Kent State, Watts, Vietnam, das Gesetz über die Bürgerrechte, der Marsch auf Washington, die Attentate auf Dr. King und Senator Kennedy, Neil Armstrong auf dem Mond – und niemand erwartete, dass alles so blieb wie gehabt.

Mary dagegen wusste seit ihrem elften Lebensjahr wie groß diese Veränderung tatsächlich war, weil sie gesehen hatte, wie ihre Eltern einen rachsüchtigen Geist exorziert hatten.

Die Mondlandung war erst ein paar Monate her. Für Mary war es fast wie ein Wunder. Weder Deanna noch Samuel schienen sich damals sonderlich dafür zu interessieren, insbesondere, weil es so aussah, als würde sich in St. Louis ein Formwandler herumtreiben. Sie bereiteten gerade den Truck darauf vor, auf die Autobahn zu fahren, um Nachforschungen anzustellen.

„Aber Dad“, hatte Mary damals gesagt. „was wäre, wenn wir in den Weltraum fliegen und vor den Monstern fliehen?“

Darauf hatte Samuel keine gute Antwort gewusst, also hatte er nur die Schultern gezuckt und seine Vorbereitungen fortgesetzt.

Es gab Zeiten, in denen Mary sich fragte, wie es wohl wäre, ein normales Leben zu führen. Meistens war sie ganz glücklich, dass es nicht so war, weil das nur ging, wenn man schlicht und einfach ignorant war. Sicher, sie würde zu Geburtstagspartys gehen und mit ihren Freunden herumhängen und alle anderen Sachen tun können, die man als Teenager eben so macht. Aber sie hätte niemals gewusst, dass jeden Moment ein Vampir, Formwandler oder eine andere eklige Kreatur sie angreifen könnte, um sie zu töten.

Nein, Wissen war Macht. Sie zog es vor, zu wissen, was sie erwartete. Wenn das bedeutete, dass sie weniger Verabredungen hatte, so war das in Ordnung.

Sie fuhren von Big Springs nach Hause, nachdem sie die Vampire und ihr Haus niedergebrannt hatten. Sobald sie angekommen waren, war Marys erstes Ziel das Badezimmer. Ihr langes blondes Haar war mit Vampirblut verklebt, es war einfach ekelhaft. Außerdem, hätte sie ihren Vater oder ihre Mutter vorgelassen, hätten sie ewig gebraucht.

Sie pellte sich die Bluse und die Latzhose vom Leib und warf sie in den Wäschekorb. Wenn sie alle mit Duschen fertig waren, würde Deanna die Sachen mit einem Spezialpulver waschen, das Xin – ein anderer Jäger – ihr empfohlen hatte. Sie stand im heißen Wasserstrahl und massierte sich Baby-Shampoo ins Haar, weil sie festgestellt hatte, dass sie damit organische Rückstände am besten herausbekam. Sie dachte darüber nach, dass der nächtlichen Vampirjagd ein normaler Schultag mit ihren ignoranten Klassenkameraden folgen würde.

Es gab Zeiten, da wünschte sie sich, sie könnte beides haben, ein normales Leben führen und trotzdem eine Jägerin sein. Aber sie wusste, dass das unmöglich war. Traurigerweise machte sie das zu einer Außenseiterin. Ihre Mitschüler hielten sie für seltsam und die Lehrer und Schulangestellten waren wegen ihrer allzu regelmäßigen Fehlzeiten verstimmt. Sehr zu deren Leidwesen schienen auch Gespräche mit den Eltern zu nichts zu führen.

Das war wahrscheinlich der Grund, warum sie so viel Zeit nach der Schule in der Werkstatt verbrachte. Sie ging dorthin, sooft sie konnte. John Winchester arbeitete dort. Er war ein netter Junge und erfrischend normal. Und er war nicht wie viele der anderen Jungen in der High School, die einfach nur total dämlich waren. John dachte immer genau über alles nach, ob es Hausaufgaben waren, der Krieg oder Politik …

Außerdem verurteilte er Mary nicht, so wie die anderen. Er respektierte ihre Privatsphäre und in einer Zeit, in der Frauen ihre BHs verbrannten und gleiche Rechte forderten, behandelte er sie wie einen Menschen und nicht wie ein Mädchen.

Natürlich gab es Gelegenheiten, bei denen sie gern als Mädchen behandelt werden wollte. Trotz des heißen Wassers in der Dusche erschauerte sie bei dem Gedanken, was Samuel wohl sagen würde, wenn er wüsste, was sie gerade dachte.

Solche Gedanken waren nichts im Gegensatz zu dem, was einige Mädchen in der Schule taten. Tatsächlich hatten einige von ihnen ihre BHs weggeworfen, rasierten sich nicht mehr die Achseln und taten weitaus irrere Dinge.

Sie schmunzelte, als sie die Dusche abstellte. Sie wäre gern noch ein paar Minuten geblieben, aber das wäre ihren Eltern gegenüber nicht fair gewesen, die inzwischen bestimmt auch ziemlich stanken. Während sie sich abtrocknete, stellte sie lächelnd fest, dass gerade sie, die den Abend mit einem Vampir verbracht hatte, der auf ihr Blut aus war, Achselhaare und das Verbrennen von BHs „abgedreht“ fand. Normalerweise würde sie sich jetzt die Haare föhnen, aber sie entschloss sich, sie an der Luft trocknen zu lassen, damit Deanna ins Bad konnte. Sie wickelte sich in ein Handtuch und öffnete die Badezimmertür, wobei ihr ein kühler Hauch entgegenschlug.

Deanna stand mit verschränkten Armen draußen und klopfte mit dem Fuß.

„Wird auch Zeit.“

„Entschuldige“, sagte Mary, obwohl sie so schnell gemacht hatte, wie sie konnte.

„Da ist ein Brief für dich“, sagte Deanna, während sie ins Bad ging. „Ich habe ihn auf deine Kommode gelegt.“

„Danke, Mom“, sagte Mary als sie über den Flur zu ihrem Schlafzimmer patschte.

Sie zog die Tür hinter sich zu, zog das Handtuch weg und warf es auf den Boden. Es landete unordentlich neben ihrem Wäschekorb, für den – wie sie immer sagte – ihre Mutter Geld hinausgeworfen hatte. Die Sachen endeten sowieso immer daneben statt darin. Mary öffnete eine Schublade und nahm Unterwäsche heraus.

Dann sah sie den Umschlag, den Deanna ihr hingelegt hatte.

Die Briefmarke war eine Sechs-Cent-Sondermarke mit einem „Pflanzen für schönere Städte“-Aufdruck und einem Stempel aus San Francisco.

Einen Absender gab es nicht, aber sie brauchte auch keinen, weil sie die Handschrift sofort erkannte.

Sie riss den Umschlag auf und las sofort sowohl den Brief als auch den Ausschnitt aus dem San Francisco Chronicle. Dann zog sie ein Batik-T-Shirt und eine Latzhose mit weiten Beinen über.

Als sie die Tür öffnete, überkamen sie Zweifel. Sie zog das T-Shirt wieder aus und ging stattdessen mit einer weißen Bluse los. Wenn sie ihren Vater überzeugen wollte, nach San Francisco zu fahren, durfte sie auf keinen Fall das tragen, was er als „Hippie-Klamotten“ bezeichnete.

Deanna hatte wie üblich in Rekordzeit geduscht und trocknete sich bereits ab, als Mary aus dem Zimmer kam. Sie ging in ihren terrakottafarbenen Bademantel gehüllt zusammen mit Mary die Treppe hinunter. Sie fanden Samuel über den Sportteil des Lawrence Journal gebeugt am Esszimmertisch vor. Er hatte keine Lust gehabt, auf die Frauen zu warten und sich stattdessen in der Küchenspüle gewaschen. Das bedeutete, er war sauber, aber sein Hemd und seine Hose waren voller Wasserflecken.

Mary ging die Sache frontal an.

„Da ist vielleicht ein Job in San Francisco“, kündigte sie an.

Ihr Vater sah von der Zeitung auf.

„Wie bitte?“

„Der Brief, den ich bekommen habe?“ Mary reichte ihm den Umschlag und den Ausschnitt. „Er war von …“

Samuel zuckte zusammen.

„Sag nicht, er war von Yaphet. Dieser verrückte Hippie ist …“

„… in Florida“, sagte Deanna. „Erinnerst du dich, er ist letztes Jahr dort hingezogen.“

„Nein, ich erinnere mich nicht“, sagte Samuel mit einem Seufzen. „Ich behalte schlechte Geschichtenerzähler nicht im Gedächtnis.“ Dann konzentrierte er seine Aufmerksamkeit wieder auf Mary. „Also, von wem ist er denn?“

„John Bartow“, antwortete sie. „Erinnerst du dich?“

Er verzog sein Gesicht und nahm Mary den Brief und den Zeitungsausschnitt aus der Hand.

„Ja, ich erinnere mich.“ Er sah aus, als wäre er gerade in etwas Faules getreten.

„Komm schon, Dad, er war cool.“

Deanna, die geborene Diplomatin, schaltete sich ein. „Er war ein sehr geübter Beobachter des Übernatürlichen, Samuel.“

„Und ein noch ‚geübterer Beobachter‘ unserer Tochter“, sagte Samuel, ohne aufzusehen.

Die Campbells waren vor einem Jahr in San Francisco gewesen, um eine Hexe zu verfolgen, die sich in einem mystischen Blutrausch nach Westen bewegt hatte. Bartow hatte geholfen, die Hexe zu finden. Er war nur ein paar Jahre älter als Mary. Seine Familie hatte ebenfalls zusammen gejagt, bis sie von einem Rudel Höllenhunde umgebracht wurden.

Mary hatte Bartow unheimlich groovy gefunden, was Samuel natürlich ganz verrückt machte. Sie hatten viel gemeinsam, aber Samuel sah einzig und allein, dass Jack ein Junge war und sich für Mary interessierte.

Samuel mochte sowieso niemanden und er mochte ganz besonders nicht, wenn jemand, wie er es nannte, „um sie herumscharwenzelte“. Sie hatte diesen Ausdruck schon immer gehasst.

Deanna ging hinüber und stellte sich hinter ihn. Über seine Schulter gebeugt las sie den Brief und den Artikel.

Dann sah sie auf.

„Er glaubt, es sei ein Drache?“

„So etwas gibt es nicht“, sagte Samuel mit Nachdruck.

„Vielleicht“, sagte Mary. „Aber etwas hat diese Leute umgebracht, so, dass es nach einem Drachen aussieht. Die Leichen waren in Stücke gehackt und verbrannt.“

Deanna nahm den Chronicle-Artikel sanft aus Sams Hand.

„Hier heißt es, dass die erste Leiche – die im Inner Mission District – am Morgen des 4. November gefunden wurde.“

Mary war verwirrt.

„Und?“

Samuel knurrte erneut.

„Der 3. November war der letzte Tag des Neumonds.“

Beschämt senkte Mary den Kopf.

„Richtig, entschuldige.“ Ihre Eltern hatten ihr beigebracht, auf die Mondphasen zu achten. Neumond und Vollmond waren immer voller übernatürlicher Aktivitäten. Es war dumm von ihr, das zu vergessen.

„Vielleicht ist es ja nur ein Geist, der sich zufällig wie ein Drache benimmt“, sagte Deanna. „Aber es hilft auch nicht weiter, dass der dritte und vierte Mord in Chinatown waren.“

„Also, fahren wir?“, fragte Mary hoffnungsvoll. Es hatte ihr das letzte Mal in San Francisco gefallen und sie wollte die Stadt wirklich noch einmal sehen.

Außerdem stand morgen eine Geschichtsarbeit auf dem Stundenplan, für die sie keine Zeit zum Lernen gehabt hatte. Das war die perfekte Gelegenheit, aus dieser Sache rauszukommen.

Samuel blickte zu Deanna hoch, die nickte.

„In Ordnung“, sagte er. „Lasst uns packen.“

„Ich rufe Marty an“, sagte Deanna und meinte Martin Jankovitz aus ihrem Reisebüro. Er konnte ihnen immer sehr schnell relativ günstige Flüge besorgen.

Mary rannte hinauf in ihr Zimmer. Da es nach San Francisco ging, würde sie definitiv ihre Batikshirts einpacken, egal was ihr Vater dazu sagte …

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