Zwei

Dean Winchester starrte den Mann mit dem weißen Spitzbart auf der anderen Seite des Tisches seelenruhig an.

Sie waren die beiden letzten verbliebenen Spieler einer Pokerpartie, die die ganze Nacht gedauert hatte. Dean hatte einen ansehnlichen Stapel Chips vor sich aufgebaut. Der weiße Ziegenbart hatte noch einhundert Dollar in Chips übrig und betrachtete seine Karten nervös, während er bereits die zwölfte Zigarre paffte. Dass er das unter einem roten RAUCHEN VERBOTEN Schild tat, hatte zu Beginn des Spiels für Lacher gesorgt, aber jetzt war es nur noch ermüdend.

Dean bezweifelte, dass er jemals den Geruch von billigen Zigarren aus seiner Lederjacke bekommen würde, aber diesen Preis musste er zahlen – und die sechshundert Dollar, die er sich von Bobby Singer geliehen hatte, um sich in das Spiel einzukaufen. Er und sein Bruder Sam waren geradezu mittellos, was bedeutete, dass sie einen großen Gewinn brauchten. Jedenfalls, wenn sie solche Sachen wie Essen und Benzin für Deans 1967 Chevrolet Impala bezahlen wollten. Schließlich waren verhungern und auf der Straße liegen bleiben zusätzliche Unannehmlichkeiten, wenn man gerade versuchte, die Apokalypse zu verhindern.

Der weiße Ziegenbart starrte auf Deans vier aufgedeckte Karten: eine Herzzwei, Kreuzdrei, Herzvier und eine Piksechs. Er selbst hatte drei Asse offen liegen und eine Karovier. Dean hatte die ganze Zeit die Erhöhungen seines Gegners gehalten, aber nie selbst erhöht. Er konnte es sich leisten, großzügig zu sein, wenn man den monstermäßigen Haufen Chips betrachtete und wusste, dass der weiße Ziegenbart in den letzten Zügen lag.

Ich sollte mir wirklich den Namen dieses Typen merken, dachte Dean.

Dann überlegte er es sich anders. Nee, warum auch?

Ziegenbarts Problem war es, dass er nicht wusste, ob Dean einfach nur zum Spaß mitging oder nicht. Immerhin war es Dean möglich, bei allen seinen Einsätzen mitzugehen, auch wenn er nur Schrott auf der Hand hatte. Seine aufgedeckten Karten deuteten eventuell auf eine Straße hin, vielleicht aber auch auf zwei Paare oder einen Dreier.

Andererseits konnte Ziegenbart leicht ein Full House oder sogar vier Asse auf der Hand haben. Unwahrscheinlich, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen.

Was Ziegenbart beschäftigte, dachte Dean, war, dass sein Stapel Chips sich im Laufe der Nacht langsam aber sicher bis zum Morgen erhöht hatte. Das war kein Zufall. Die anderen fünf Spieler waren ausgestiegen und der Großteil ihres Geldes wurde jetzt von tönernen Scheiben verkörpert, die entweder vor Dean aufgestapelt oder mitten auf dem Tisch lagen.

Auf mannigfaltige Weise erschien es ihm lächerlich, Poker zu spielen, während der Weltuntergang bevorstand, aber sie mussten irgendwie an Bargeld kommen. Außerdem war es ebenso lächerlich, so sachlich über das Ende der Welt nachzudenken.

Trotzdem war es unausweichlich. Sam war von einem Dämon namens Ruby manipuliert worden, Luzifer aus der Hölle zu befreien. Die Engel und Dämonen rüsteten sich und die Menschheit würde den Preis dafür zahlen müssen.

Die Engel bestanden darauf, dass Dean das Gefäß für den Erzengel Michael war, und die Dämonen waren genauso davon überzeugt, dass es Sams Schicksal war, als Gefäß für Luzifer zu dienen. Ihnen war gesagt worden, dass das unvermeidbar war und dass sie ihr Schicksal akzeptieren sollten.

Beide weigerten sich auch nur eine verdammte Sache zu akzeptieren. Sozusagen.

Sie hatten keine Ahnung, wie sie diesen Kampf gewinnen sollten, wollten es aber versuchen oder kämpfend untergehen.

Aber zurück zu naheliegenderen Dingen.

„Kommen Sie schon, Colonel Sanders“, sagte Dean und brach das Schweigen so plötzlich, dass alle im Raum aufschreckten. „Einsatz oder Passen?“

Der Ziegenbart seufzte.

„Lässt mir keine Wahl, oder?“ Er schob all seine Chips in die Mitte des Tischs. „Hunnert.“

Dean warf lässig zwei Fünfzig-Dollar-Chips.

„Ich halte.“

Grinsend drehte der Ziegenbart sein Herzass neben den drei andern um.

„Vierer.“

Dean stieß einen langen Atemzug aus und drehte die Herzsechs um. Dann die Herzvier.

Der Ziegenbart dachte, dass Dean nur zwei Paare – Sechsen und Vieren – hatte, und begann nach den Chips zu greifen. Dann drehte Dean die dritte Karte um: Die Herzfünf.

Er hatte die Herzzwei, -drei, -vier, -fünf und -sechs: Einen Straight Flush, die einzige Hand, die einen Vierer übertrumpfen konnte.

Er grinste wie eine Katze, die einen Kanarienvogel verschluckt hatte.

„Oh, verdammt, nein!“, brüllte der Ziegenbart.

Hinter Dean begannen drei Männer zu lachen. Einer war der Barkeeper, der das Spiel veranstaltete. Die anderen beiden waren die einzigen Spieler, die dageblieben waren, nachdem sie ihr Geld verzockt hatten. Sie waren neugierig, wie das Spiel ausgehen würde.

Der Barkeeper konnte es sich leisten, zu lachen. Einhundert Dollar der Einkaufssumme wanderten für die Benutzung seiner Halle direkt in seine Tasche. Nachdem Dean Bobby ausgezahlt hatte, blieben ihm drei Riesen. Und es war so gut wie sicher, dass Bobby ihn die sechshundert behalten ließ.

Oder vielleicht auch nicht. Bobby war in letzter Zeit nicht gerade in wohltätiger Stimmung. Das passiert, wenn man im Rollstuhl sitzt.

„Es war mir ein Vergnügen, Gentlemen“, sagte Dean, während er seinen Stuhl zurückschob. Er ging zur Bar, um seinen Gewinn und sein Handy abzuholen.

Missmutig sank der Mann mit dem weißen Ziegenbart in seinem Stuhl zusammen.

„Das Vergnügen liegt ganz bei dir, Junge“, brummte er.

Schmunzelnd zählte der Barkeeper einen Stapel Geldscheine.

„Mach dir keine Gedanken um Hal, Sohn“, sagte er, als er fertig war. „Er ist es einfach nicht gewöhnt, zu verlieren.“

„Überrascht mich nicht“, kommentierte Dean. „Er ist gut“, dann grinste er breit. „Aber ich bin besser.“

Die beiden verbliebenen Spieler rollten mit den Augen. Einer von ihnen sprach.

„Komm das nächste Mal wieder her, wenn du in der Stadt bist. Ich denke, ich kann für uns alle sprechen, wenn ich sage, wir wüssten eine Revanche zu schätzen.“

„Da wette ich drauf“, antwortete Dean fröhlich. Dann ging er zum Ausgang und ignorierte, dass ihm Hal hinter einer Wolke aus Zigarrenrauch messerscharfe Blicke zuwarf.

Als er die Tür öffnete, zuckte Dean zusammen, als die aufgehende Sonne ihm direkt in die Augen schien. Aus irgendeinem Grund hatte er gedacht, dass die Sonne frühestens in einer Stunde aufgehen würde.

Er ging über den Parkplatz, griff in die Jackentasche, um sein Handy herauszunehmen, und schaltete es ein. Zwei Nachrichten warteten auf ihn.

Eine war Wie geht’s euch von Ellen Harvelle, die sich seit des Vorfalls in River Pass mit religiösem Eifer nach den Winchesters erkundigte.

Die andere war von Sam und ließ ihn wissen, dass es sich bei dem Omen, von dem sie geglaubt hatten, dass es sich in East Brady, Pennsylvania, manifestierte, lediglich um einen verrückten alten Mann mit einem Hang zur Brandstiftung handelte.

Als er die Nachrichten abgehört hatte, war er beim Impala angekommen, der zwischen einem SUV und einem Pick-up geparkt war.

Er steckte das Telefon weg und startete den Wagen, sah in den Rückspiegel –

– und fuhr fast aus der Haut vor Schreck, als er plötzlich Castiels mit Bartstoppeln bedecktes, ausdrucksloses Gesicht auf dem Beifahrersitz entdeckte.

„Was zur Hölle, Cass?“

„Sam und Bobby haben gesagt, dass du hier bist. Bobby wollte mich nicht im Haus haben.“

Dean setzte den Impala von seinem Parkplatz zurück und sah über die Schulter.

„Wie oft muss ich dich noch an meine Privatsphäre erinnern, Cass, hä?“

Trotz des Moments der Panik, den er durchgemacht hatte, fiel es Dean schwer, sauer auf Castiel zu sein. Er war ein Engel, der gegen seine Kameraden rebellierte, weil er glaubte, dass sie nicht wahrhaft den Wünschen Gottes folgten.

Die Engel hatten Castiel für seine Taten getötet, er war aber aus einem nicht erkennbaren Grund wiederauferstanden. Cass glaubte, dass Gott dafür verantwortlich war. Die anderen Engel dachten, es wäre Luzifers Werk, ein Versuch, die Saat des Unfriedens innerhalb der himmlischen Heerscharen zu säen.

Dean gab einen Scheiß darauf – er wollte nur, dass Engel und Dämonen verschwanden.

Cass war ein Freund und Alliierter der Winchesters geworden. Auch wenn er einige seiner Fähigkeiten verloren hatte – etwa die, andere zu heilen –, hatte er immer noch genug Engel-Mojo, um Sam und Dean eine große Hilfe zu sein, wenn sie ihn brauchten.

„Ich möchte, dass du und Sam nach San Francisco fahrt“, fuhr Castiel fort, ohne Deans Frage Beachtung zu schenken, während der auf die Straße einbog. „Das Herz des Drachen ist wiederauferstanden.“

„Ah, okay“, antwortete Dean, während er auf die leere Straße fuhr. „Und was soll das genau heißen? Dass da ein Drache in San Francisco ist?“

„Nein, aber ein Geist kehrt auf diese Ebene zurück – einer, den die Dämonenhorden in ihrem Kampf gegen die Engel benutzen können. Es hat schon Tote gegeben.“

„Okay, dann.“ Jetzt war er auch nicht viel schlauer als vorher.

„Ich weiß, es ist weit, Dean. Aber es ist wichtig.“

Dean seufzte.

„Ich muss zuerst mit Sam und Bobby reden, Cass.“

„Sam weiß schon Bescheid und hat die ganze Nacht recherchiert.“

„Schön, dass du uns eine Wahl lässt“, antwortete Dean wütend. Er umklammerte fest das Steuer und stieß einen weiteren tiefen Seufzer aus. „In Ordnung, in Ordnung, lass mich einfach den Impala auftanken und wir fahren …“

„Ich kann euch auch einfach hinsenden“, schlug Cass vor.

„Nein“, sagte Dean nachdrücklich.

„Es sind 1500 Meilen von hier bis San Francisco, Dean. Ihr werdet allein einen Tag für die Fahrt brauchen …“

„Ich habe es dir schon einmal gesagt, Cass, wenn du das machst, verdreht es mir den Schließmuskel.“ Er fühlte sich schon bei dem Gedanken daran elend.

„Nein, ich passe.“

Castiel schüttelte den Kopf.

„Sehr gut. Sam hat die beiden vorherigen Manifestationen des Herzens des Drachen recherchiert.“

Dean bog rechts ab und man konnte den Singer-Schrottplatz sehen. Bobby wird es nicht gefallen, Cass hier zu sehen, dachte er verbissen. Und als hätte der Engel seine Gedanken gelesen, sah er Castiel leicht zusammenzucken.

„Alles klar, Cass?“

Castiel schluckte und räusperte sich.

„Bobby mag es nicht, wenn ich bei ihm zu Hause bin. Er ist immer noch sehr … wütend über seinen Zustand und meine Unfähigkeit, ihn zu heilen. Ich glaube nicht, dass er mich sehen will.“

„Cass, ich bin sicher, er wird sich daran …“

„Ich überlasse euch jetzt euch selbst“, unterbrach ihn Castiel und verschwand.

Plötzlich wünschte sich Dean, er hätte einen Drink, aber er schüttelte den Kopf und fuhr weiter.

In einem Moment war Castiel da, im nächsten wieder nicht. Egal, wie oft das passierte, er fand es noch immer verstörend. Deshalb wollte er keinesfalls mit dabei sein. Nicht, wenn es kein absoluter Notfall war. Es hatte sich bewährt, um von Zachariah wegzukommen.

In diesen Fall nicht.

Er bog in die Einfahrt ein und parkte den Impala neben einem Schrottauto, an dem Bobby vor seiner Verletzung gearbeitet hatte. Seither stand es unberührt da. Es war immer noch eine offene Frage, ob er je wieder würde laufen können. Auch wenn es immer noch möglich war, einen Schrottplatz vom Rollstuhl aus zu betreiben, wusste Dean, dass Bobby nicht gerade glücklich darüber war.

Kann ihm deswegen keinen Vorwurf machen.

Und wenn die vier die Welt nicht davor retten konnten, in Flammen aufzugehen, dann war das auch egal.

Drinnen saß Sam mit einem dampfenden Becher Kaffee am Küchentisch. Ein Blick zur Kaffeemaschine sagte Dean, dass gerade eine frische Runde gemacht wurde und die Kanne fast voll war.

„Hey“, sagte Sam ohne von den Papierbergen aufzusehen, die er durchsah. Sie kamen wahrscheinlich alle gerade frisch aus Bobbys Laserdrucker. „Wie ist es gelaufen?“

„Nun, Sprit, Essen und Unterkunft werden für eine Weile kein Problem sein“, antwortete er und ging zur Anrichte herüber. „Cass hat mir von der Frisco-Sache erzählt.“

Nickend blickte Sam jetzt hoch.

„Ja, basierend auf dem, was er mir erzählt hat, habe ich mal nachgeschaut. Dieser Geist ist im Dezember 1969 erschienen und erneut im Dezember 1989.“

„Alle zwanzig Jahre also? Dann ist es keine Überraschung, dass er zurück ist“, sagte Dean, nahm sich einen Becher von Bobbys Spüle und schenkte sich einen Kaffee ein. „Cass hat gesagt, dass es kein richtiger Drache ist.“

„Nun, ich bin mir da nicht so sicher“, sagte Sam und reichte ihm einige Papiere. „Wir haben aufgeschlitzte Leichen und welche, die kross gebraten wurden.“

„Ja, aber Drachen?“, fragte Dean und nahm die Papiere.

„Ich meine, komm schon! Das stammt doch direkt aus einem Märchen.“

„Dean, du warst in der Hölle, ich habe die Apokalypse ausgelöst und wir sollten eigentlich von einem Erzengel und dem Teufel besessen sein. Und jetzt wirst du skeptisch?“

„Ja, eigentlich …“ Dean blickte auf den Ausdruck, der oben auf dem Stapel lag.

Dann zündete der Gedanke.

Verdammterschweinehund …“

Sam runzelte die Stirn.

„Was?“

Dean hielt seinem Bruder den Ausdruck unter die Nase. Es war die Kopie eines Artikels des San Francisco Chronicle von 1969, mit allen Fotografien. Er zeigte mit dem Finger auf jemanden, der bei den Aufnahmen in der Menge stand.

„Schau dir den Kerl an.“

Sam kniff die Augen zusammen.

„Ich kann ihn nicht …“ Dann sah er näher hin. „Sorry, ich erkenne ihn nicht.“

„Oh. Nein, das dachte ich auch nicht.“ Dean nahm den Ausdruck und begann zu lesen. Die Geschichte handelte zur Hälfte von einem Pärchen, das in der Nähe des Winterland Ballroom ums Leben gekommen war – dort hatten in den sechziger und siebziger Jahren große Konzerte stattgefunden. Und die Person, auf die er gezeigt hatte, war ein glatzköpfiger Mann mit einem sehr düsteren Gesichtsausdruck.

Dean hatte das Gesicht an zwei Wendepunkten seines Lebens gesehen. Einmal als Kind, als Bilder von ihm die Wände ihres Hauses in Lawrence, Kansas geziert hatten. Diese Bilder wurden vernichtet, als ihr Haus während des Angriffs des Dämons Azazel 1983 Feuer gefangen hatte. Mary, die Mutter von Dean und Sam, war dabei umgekommen. Sam, der zu dieser Zeit erst sechs Monate alt war, konnte sich natürlich nicht an die Bilder erinnern.

Das zweite Mal war vor einem Jahr gewesen, als Castiel Dean ins Jahr 1973 zurückgeschickt hatte und er Samuel und Deanna Campbell und ihre Tochter Mary kennengelernt hatte, seine Großeltern und seine Mutter. Zu Deans großem Entsetzen waren sie ebenfalls Jäger gewesen. Die Campbell-Eltern wurden 73 von Azazel getötet.

Der glatzköpfige Mann war Samuel Campbell – sein Großvater. Und anscheinend waren sie auf einer der Familienjagden der Campbells hinter dem Herzen des Drachen her gewesen.

Загрузка...