Eins

Der Regen hatte seit fast einer Stunde kaum nachgelassen.

Yoshio Nakadai kniete in einem Schuppen neben der Straße in der seiza-Position – Knie und Schienbeine auf der Erde, die Füße unter den Hinterbacken gekreuzt – und wartete, dass es aufhörte zu regnen. Der Unterstand war ausschließlich dafür gebaut worden, Reisende vor Regenschauern zu schützen. Der wiederkehrende Rhythmus des prasselnden Regens auf dem Dach half ihm, sich auf seine Meditation zu konzentrieren.

Eine Konzentration, die er in letzter Zeit nur schwer aufbringen konnte. Auch jetzt schien es nahezu unmöglich, seinen Geist zu leeren.

Einst hätte ein Samurai wie Nakadai Seppuku – rituellen Selbstmord – begangen, wenn die Besitztümer seines Herren erobert, dessen Ländereien eingenommen und er seines Titels enthoben worden wäre. Aber diese Tage lagen in der Vergangenheit. Keiner kannte mehr den Weg der Ehre. Der Kodex des Bushi war zu einem Ammenmärchen geworden, das man Kindern am Lagerfeuer erzählte und nicht wie damals ein Lebensstil.

Jetzt war Nakadai nur noch einer von vielen herrenlosen Ronin, die im Land umherzogen, in der Hoffnung, dass ihnen ihre Fähigkeiten das Überleben ermöglichten. Ein Jahr war vergangen, seit sein Herr in Edo in Ungnade gefallen war. Seitdem hatte Nakadai gegen Bezahlung Menschen und Karawanen mit seinem Schwert beschützt. Er hatte als Detektiv gearbeitet, als Schlichter einen Disput zwischen zwei Kaufleuten beigelegt und als Lehrer dem Sohn eines wohlhabenden Mannes beigebracht, sich selbst zu verteidigen.

Sein Ruf hatte ihm gute Dienste geleistet, besonders in den Städten nahe Edo. Anders als andere Ronin handelte Nakadai immer ehrenhaft. Er konnte gar nicht anders. Außerdem war es wahrscheinlicher, dass man ihn erneut anheuerte, wenn er seine Arbeit gewissenhaft und gut ausführte.

Obwohl es Nakadai gelungen war, genug Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen, fehlte ihm die Befriedigung, nach der er sich sehnte. Hätte er tatsächlich Seppuku begangen, so wie die Tradition es verlangt, hätte er vielleicht Frieden gefunden. Aber sollte man aus Loyalität zu einem unehrenhaften Mann sterben?

Nakadai fühlte keine besondere Liebe zum Shogunat. Aber in diesem Fall hatten sie Recht daran getan, seinen Herren abzusetzen, der sich als Feigling und Dieb erwiesen hatte. Die Unehrenhaftigkeit lag bei seinem Herrn und nicht bei Nakadai.

Es gab keinen Grund für Leute seines Schlags, zu sterben.

Trotzdem verlangte es die Ehre von ihm. Er hatte den Lehnseid geschworen und die Tatsache, dass sein Herr dieser Ehre nicht wert war, änderte nichts daran, dass er sein Wort gegeben hatte.

Dieses Rätsel plagte ihn unentwegt. Sein Geist wollte sich nicht leeren.

Der Rhythmus des Regens wurde plötzlich von im Matsch platschenden Schritten unterbrochen.

Nakadai öffnete die Augen und spähte durch den trüben Regenschleier. Er sah einen kleinen Mann auf den Unterstand zulaufen. Sobald er angekommen war, wischte er sich vergebens den Regen aus dem Gesicht und von den Kleidern. Als er sich letztendlich in seinen durchweichten Zustand ergeben hatte, lachte der Neuankömmling und sprach:

„Seid gegrüßt, ich hoffe, es macht Euch nichts aus, wenn ich den Schuppen mit Euch teile.“

„Natürlich nicht“, antwortete Nakadai leise. Dann schloss er erneut die Augen, in der Hoffnung, der Mann würde verstehen, dass er nicht gestört werden wollte.

Allerdings schien dies nicht der Fall zu sein.

„Ich habe eigentlich erwartet, dass der Regen bis jetzt weitergezogen wäre“, fuhr der Mann fort und steckte seinen Kopf unter der Ecke des Daches hervor. „Ich habe mir gesagt, ‚Cho, du musst nur noch eine Stunde bis zur nächsten Stadt gehen, du schaffst es, bevor der Regen zu stark wird.‘ Stattdessen wurde es ein richtiger Wolkenbruch!“ Der Mann, der sich Cho nannte, drehte sich wieder zu seinem Mitinsassen um und betrachtete ihn näher.

„Hey, Sie kommen mir bekannt vor.“

Nakadai seufzte und öffnete die Augen. Ganz sicher würde er keinen meditativen Zustand erreichen, solange diese Cho-Person anwesend war. Nicht, dass er etwa ohne ihn in diese Verlegenheit gekommen wäre.

Er stand auf und ging am Rande der Hütte entlang, um das Gefühl in seinen Beinen wiederzuerlangen. Der Raum war so klein, dass er den Neuankömmling mehr als einmal umrunden musste.

„Gehen Sie auch in die Stadt?“, fragte der Mann und folgte Nakadai mit den Blicken. „Ich glaube, Sie sind ein Ronin, nicht wahr?“ Dann schüttelte er den Kopf. „Okay, das war nicht schwer zu erraten, weil Sie ein schönes Katana besitzen und wirken, als könnten Sie mich mit einem Blick vernichten. Aber Ihre Kleider haben schon bessere Zeiten gesehen. Bitte nehmen Sie mir nicht übel, was ich jetzt frage. Hoffen Sie, Arbeit zu finden?“

„Ja.“

Nakadai setzte seine Besichtigung des Unterstands fort, ohne Augenkontakt aufzunehmen. Von Zeit zu Zeit blickte er gen Himmel, um nach einem Zeichen zu suchen, dass sich der Sturm verziehen würde.

Trotz seiner sehnlichsten Wünsche sprach sein Begleiter erneut.

„Wissen Sie, Sie kommen mir wirklich bekannt vor. Ich bin ein Bote, wissen Sie, und ich komme viel herum. Ich wäre gern ein Samurai oder sogar ein Ronin geworden, aber Sie sollten mich mal mit einem Schwert sehen. Oder, ich denke, das sollten Sie nicht, weil ich sehr schlecht bin. Ich habe immer noch eine Narbe.“

Endlich wandte Nakadai seinen Blick Cho zu und musste feststellen, dass er nicht sonderlich beeindruckt war. Der Bote hatte muskulöse Beine, wie es sein Beruf wohl verlangte, aber er hatte auch riesige Augenbrauen, schlechte Zähne, schwache Arme und seine Kleider hingen schlampig am Oberkörper herunter. Letzteres konnte man zumindest dem Sturm zuschreiben. Aber das andere …

Einer von seinen schlaffen Armen, der linke, wies eine lange Narbe vom Ellenbogen bis zum Handgelenk auf.

„Ziemlich traurig, huh? Aber ich konnte mich schon immer schnell bewegen und so wurde ich Läufer. Sehr bald heuerten mich Leute an, um Botschaften zu überbringen. Das ist gut – ich kann in andere Städte reisen und treffe eine Menge Leute.

„Wissen Sie, ich bin mir einfach sicher, dass ich Sie von irgendwoher kenne“, sagte er wieder.

Nakadai drehte sich weg. Die Narbe war alt, verheilt und ziemlich gerade. Sie rührte wahrscheinlich von einem Unfall her – vielleicht war er mit dem Schwert in der Hand gestolpert und hatte sich im Fallen geschnitten.

„Jetzt habe ich’s!“, rief Cho aus und zeigte auf ihn.

„Sie sind Doragon Kokoro, nicht wahr?“

Nakadai zuckte zusammen.

„Mein Name ist Yoshio Nakadai.“ Er hatte diesen Spitznamen nie gemocht. Der Samurai, der im Handumdrehen sieben Banditen getötet hatte. Sie hatten die Karawane seines Herrn angegriffen, während sie auf dem Weg nach Edo zu einer Audienz beim Shogun gewesen waren. Die Banditen waren nicht sehr geschickt und außerdem betrunken. Sogar ein schlecht trainierter Affe hätte sie schnell ausschalten können. Aber sein Herr hatte eher auf die Quantität als auf die Qualität der Angreifer geachtet und Nakadais Verteidigung zu einem löwenartigen Akt hochstilisiert. Als sie in Edo ankamen, sprach er von Nakadai als dem Mann mit dem Herz eines Drachen und der Spitzname Doragon Kokoro war seither an ihm hängen geblieben.

Cho schüttelte den Kopf und grinste schief, dann verbeugte er sich formell.

„Es ist mir eine Ehre, Euch zu treffen.“

„Danke“, sagte Nakadai aus Höflichkeit. Wenn Cho sich geehrt fühlte, bitte schön. Er starrte in den Himmel und sah, dass der Schauer sich lichtete und der Horizont sich blau färbte.

„Der Regen wird bald aufhören“, stellte er fest.

„Ausgezeichnet“, antwortete Cho, aber sein Gesicht verzog sich. „Oder vielleicht nicht. Sehen Sie, während ich normalerweise sehr stolz auf meine Arbeit als Bote bin, muss ich heute schlechte Nachrichten überbringen.“

„Das ist beklagenswert“, sagte Nakadai beiläufig. Er hatte kein Interesse an den privaten Nachrichten anderer.

„Sehr bedauernswert. Ich komme vom örtlichen Daimyo mit Neuigkeiten, die den Leuten, die ich repräsentiere, nicht gefallen werden.

„Sehen Sie“, fuhr Cho trotz Nakadais Bestreben, die Privatsphäre von Sender und Empfänger zu wahren, fort. „Da gibt es zwei Jungfrauen, deren Schicksal nicht entschieden ist.“

Nakadai drehte sich um und sah den Boten an.

„Was meinen Sie?“

„Ein Mann namens Kimota hat seinen Sohn zwei verschiedenen Bewerbern versprochen. Die Väter beider Jungfrauen haben den Brautpreis gezahlt. Bevor der Disput wie auch immer beigelegt werden konnte, wurde Kimota krank und starb.“

„Warum hat der Sohn nicht einfach einen der Väter ausgezahlt?“, fragte Nakadai. „Oder beide und sich eine andere Frau zum Weibe genommen?“

„Unglücklicherweise hat Kimota diesen Betrug angezettelt, weil er Wettschulden zahlen musste“, erklärte Cho. „Das Geld war lange ausgegeben und der junge Mann ist jetzt beiden Frauen verpflichtet.“

„Das ist ein schwieriges Problem“, stimmte Nakadai kopfschüttelnd zu. „Ich nehme an, Sie wurden zum Daimyo gesandt, um einen Richterspruch zu erhalten.“

„Genau“, sagte Cho mit einem Seufzer. „Aber der Daimyo hat sich geweigert, Recht in dieser Sache zu sprechen. Er hat es als unter seiner Würde betrachtet, den Disput eines Spielers zu entscheiden.“

Nakadai rieb sich das Kinn. Das Plätschern des Regens verringerte sich und in einer oder zwei Minuten würde es draußen hell genug sein, damit sie ihre jeweiligen Reisen fortsetzen konnten.

Deswegen ergriff er das Wort.

„Ich habe von Zeit zu Zeit“, sagte er langsam, „als Vermittler in solcherlei Disputen fungiert. Solche, die zu sensibel – oder zu gering – für den Daimyo waren. Vielleicht kann ich von Nutzen sein.“

Chos Miene hellte sich auf.

„Vielleicht“, sagte er. „Beide Väter hatten erwartet, dass der Daimyo alle ihre Probleme lösen würde.“

Nakadai gestattete sich ein kleines Lächeln.

„Meiner Erfahrung nach löst ein Daimyo kein einziges Problem außer seinen eigenen.“

Cho lachte laut.

„Sehr wahr“, stimmte er zu. Dann richtete er sich auf und blickte den gefallenen Samurai direkt an. „Wir würden uns geehrt fühlen, wenn das Herz des Drachen als Vermittler fungieren würde.“

Nakadai zuckte beim Klang seines Spitznamens zusammen und ging aus dem Unterstand.

„Sollen wir dann?“ Er drehte sich um und ging die Straße mit zügigen Schritten hinunter.

„Sicherlich“, antwortete Cho enthusiastisch und rannte los, um zu dem Ronin aufzuschließen und ihn zu überholen, bis er ihm vorausging.

Während der Bote vorbeiging, dachte Nakadai, er habe einen merkwürdigen Ausdruck auf dem Gesicht seines neuen Reisegefährten gesehen. Das wechselnde Licht hatte seine Augen pechschwarz erscheinen lassen.

Aber er tat den Gedanken schnell als eine spontane Illusion ab.

Der Streit erwies sich als zu schwierig für Nakadai, um ihn zu schlichten. Beide Frauen bestanden darauf, dass sie Kimotas Sohn versprochen waren – einem verwirrten Jungen namens Shiro.

Zuerst sprach er mit einer von Shiros zukünftigen Bräuten namens Keiko.

„Der Daimyo ist ein elender Wurm!“, wetterte sie schrill. „Wie wagt er es, meine Zukunft als etwas so Unbedeutendes anzusehen! Was ist das für ein Daimyo, der uns einfach links liegen lässt? Ich sage Euch, man sollte ihn aufhängen! Oder wenigstens seiner Position entheben. Er ist fast so schlimm wie Kimota, der uns ausgenutzt hat.“

„Ihr seid Samurai, Ihr solltet etwas dagegen tun!“

Nakadai lauschte geduldig Keikos Geschrei, das immer lauter wurde, je länger sie fortfuhr. Dann dankte er ihr und sprach mit der anderen Frau namens Akemi.

Unglücklicherweise tat Akemi nichts, außer zu weinen. Nakadai versuchte, ihr Fragen zu stellen – etwas, das bei Keiko unnötig gewesen war, weil sie ohne Fragen von allein sprach. Aber jede Frage bekam nur ein weiteres Schluchzen zur Antwort.

Als Nächstes sprach Nakadai mit den Vätern. Er war besorgt, dass es böses Blut zwischen ihnen geben könnte, doch die gemeinsame Misere hatte sie anscheinend wie Kameraden zusammengeschweißt.

„Kimota hat mich überzeugt“, begann Keikos Vater, „die Verlobung bis zum Erntedanktag geheim zu halten.“

Akemis Vater fuhr fort. „Er hat mich um das Gleiche gebeten. Es war ein schlechtes Jahr für Getreide, wissen Sie?“

„Kimota hat erklärt, dass die Nachricht von einer bevorstehenden Hochzeit die Leute aufheitern würde. Wir wussten ja, dass die Ernte schlecht wird“, beendete Keikos Vater.

Nakadai nickte. Er fragte sich, wie es Kimota gelungen war, die beiden Verlobungen in einer so kleinen Stadt geheim zu halten. Normalerweise wusste jeder so ziemlich über die Angelegenheiten der anderen Bewohner Bescheid.

Zuletzt sprach Nakadai dann mit Shiro.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll“, klagte der junge Mann. Er saß mit gebeugtem Kopf da und starrte mehr auf seine Sandalen, als er Nakadai ansah. „Beide Frauen wären würdige Ehefrauen, selbstverständlich, und ich würde mit jeder von ihnen glücklich. Ich habe es ehrlich nie erwartet, eine so vornehme Frau wie Akemi oder Keiko zu heiraten. Aber mein Vater hat mir nie etwas von alledem gesagt. Das erste Mal habe ich von einer Verlobung erfahren, als Keikos und Akemis Väter mich beide nach der Beerdigung meines Vaters ansprachen.“

Wenn Nakadai eine solche Verhandlung führte, zeigte sich normalerweise irgendwo eine entscheidende Tatsache, die bisher verborgen geblieben war und das weitere Vorgehen vorzeichnete. Aber in diesem Fall hatte er alles, was er herausfinden konnte, bereits von Cho im Schuppen erfahren. Kimota hatte die beiden Männer dazu gebracht, einen Brautpreis für Shiro zu bezahlen. Weil Shiro nur eine heiraten konnte, wäre er verpflichtet, dem anderen Vater das Geld zurückzuzahlen. Das würde ihn und seine Braut allerdings vollkommen mittellos machen.

Das erste Mal, seit sein Herr entehrt worden war, wusste Nakadai nicht genau, was er machen sollte.

In der Stadt befand sich ein bescheidenes Wirtshaus und in seiner dritten Nacht dort saß Nakadai bei Kerzenlicht und reinigte sein Katana. Der Rhythmus, in dem er das Tuch auf der gebogenen Klinge auf- und abbewegte half ihm, seine Gedanken zu ordnen.

Er hörte Schritte auf der Hauptstraße. Um diese Zeit schlief der Großteil der Bevölkerung tief und fest, darum hallten die Schritte laut durch die Nacht.

Sie kamen zudem immer näher an das Wirtshaus heran.

Innerhalb weniger Momente fiel der Schatten einer verhüllten Frauengestalt, beleuchtet von einer flackernden Kerze, auf die Papiertür, die zu Nakadais Zimmer führte. Der Arm des Schattens bewegte sich nach vorne und schob die Tür zur Seite.

Es war Akemi. Sie fiel auf die Knie.

„Vergebt mein Eindringen, Doragon Kokoro, aber ich muss mit Euch sprechen.“

Nakadai biss die Zähne zusammen. Cho hatte ihn der Stadtbevölkerung als das Herz des Drachen vorgestellt und er schätzte es nicht, dass dieser Name haften geblieben war. Ganz zu schweigen davon, dass er es nicht schätzte, wenn Leute unangemeldet in sein Zimmer kamen.

Trotzdem musste er Akemi zuhören, weil dies die ersten Worte waren, die sie tatsächlich in seiner Anwesenheit sprach. Also nickte er und steckte sein Schwert in die Scheide.

Sie erhob sich, schloss die Tür, kam auf ihn zu, kniete sich erneut vor ihn hin und verbeugte sich tief.

„Ich bitte Euch inständig, zugunsten meines Vaters zu entscheiden.“

„Euch ist beiden gleiches Unrecht angetan worden“, antwortete er. „Warum sollte Keiko leiden und Ihr profitieren?“

Plötzlich veränderten sich Akemis Augen von blassblau zu pechschwarz.

„Weil, oh mächtiges Herz des Drachen, ich Euch keine Wahl lasse.“ Ihre Stimme klang jetzt seltsam guttural.

Sofort sprang Nakadai auf die Füße und zog sein Schwert. Zusammen mit der Transformation ihrer Augen veränderte sich ihr Gesicht. Es verformte sich in etwas nicht Menschliches.

„Was bist du?“, fragte er fordernd.

„Eigentlich? Nur ein Dämon, der versucht die Leute der Stadt gegeneinander aufzuhetzen. Nur zum Spaß, eigentlich. Menschen gegen andere Menschen, denen sie vertrauen, aufzubringen – das nenne ich ein Fest.“

Akemis Kopf schleuderte vor und zurück. „Aber diese Bauern wollen nicht mitmachen. Statt darum zu kämpfen, wer diese kleine, langweilige Ratte Shiro heiraten darf, laufen sie jammernd zum Daimyo und betteln um Hilfe.“

„Aber dann habe ich dich gefunden.“

Jetzt zeigte sich auf Akemis Gesicht ein Ausdruck, den man kaum ein Lächeln nennen konnte.

„Und jetzt komme ich zu etwas, das mir sehr viel mehr als bloße Unterhaltung bieten wird.“

Nakadai verharrte in einer defensiven Stellung und widerstand der Versuchung, sich auf den Eindringling zu stürzen.

„Ich werde niemals einer Kreatur wie dir helfen, Dämon, wenn es das ist, was du wirklich bist.“

„Wirklich? Was passiert als Nächstes?“, schnurrte der Dämon mit einer Stimme wie Schotter. „Du greifst mich an? Wenn du das machst, wirst du die arme, wehrlose Akemi verletzen – und die Bauern verdammen dich als den Mörder einer unschuldigen Frau.“

Nakadai wusste, dass das Monster die Wahrheit sprach – aber er konnte auch nicht tatenlos zusehen.

Also hielt er seine Position und ließ den Dämon weitersprechen.

„Weißt du“, sagte der mit einer Spur von Akemis Stimme, „eines Tages werde ich dich brauchen. Nicht heute, nicht einmal bald, aber wenn der Tag für diese Aufgabe kommt, wird es das Opfer eines Helden erfordern.“ Die schwarzen Augen starrten Nakadai direkt an. „Weißt du, wie schwer es ist, einen Helden zu finden, besonders in dieser erbärmlichen Zeit?

Während ich Besitz von Cho ergriffen hatte – auf der Suche nach einem Zeitvertreib – und vorgab, zum Daimyo zu gehen, hatte ich die Hoffnung beinahe aufgegeben, je wieder einen tugendhaften Mann zu treffen. Aber dann sah ich dich in dem Unterstand und mir wurde klar, ich habe meinen Helden. Dann musste ich dich nur noch herlocken, und das war das Leichteste von der Welt.“

„Ich werde keinesfalls bei einem deiner Pläne helfen.“

„Deine Kooperation ist weder erforderlich noch nötig“, sagte das Ding, das Akemi kontrollierte, schmunzelnd.

Bevor der erstaunte Ronin reagieren konnte, begann der Dämon Akemis Kleider zu zerreißen und ihren Kopf gegen einen Stützbalken der Wirtschaft zu schlagen.

Dann schrie sie.

Sie schrie weiter und Nakadai verließ der Mut, als er erkannte, dass es keine Verteidigung gab. Er wusste, dass er nur ein paar Sekunden Zeit hatte, bevor jemand auf ihre Schreie reagierte. Seine einzige Möglichkeit war es, zu erklären, was passiert war. Die andere Alternative war es, den Weg des Feiglings zu gehen und zu fliehen.

Die Ehre erlaubte keine Flucht.

Schritte klapperten auf der Straße, mischten sich mit den Schreien der Frau und brachen die Stille. Die Tür zum Gasthaus wurde aufgestoßen und ein halbes Dutzend Männer starrte entsetzt auf Nakadai mit seinem gezogenen Schwert und Akemi, die sich nackt und blutend auf dem Boden wand.

Einer der Männer war Akemis Vater. Er rief den Namen seiner Tochter, kniete sich neben sie, nahm sie in die Arme und wischte ihr das Blut aus den Augen.

„Was hat er dir angetan, meine teure Tochter?“

Wimmernd antwortete der Dämon, dessen Augen jetzt wieder normal aussahen, mit Akemis Stimme: „Ich habe ihn angefleht, für uns zu entscheiden, und er hat mich angegriffen!“ Sie hob ihren Kopf und starrte Nakadai bösartig an. „Sagte, ich wäre nicht würdig, eine Braut zu sein und wenn er mit mir fertig wäre, würde ich es nie mehr sein!“

Akemis Vater fuhr zu ihm herum.

„Ihr wagt es, meiner Tochter Gewalt anzutun?“

Ein weiterer Stadtbewohner erhob das Wort.

„Wir dachten, Doragon Kokoro wäre ein Mann von Ehre! Aber er ist nur ein weiterer schmutziger Ronin!“

„Ich habe Eure Tochter nicht angefasst“, sagte Nakadai und wusste, dass es vergebens war. „Sie ist von einem Dämon besessen!

Akemis Stimme zerschnitt die Nachtluft.

„Er lügt!“

„Natürlich lügt er“, sagte ihr Vater. Dann wandte er sich an die Männer in der Tür. „Ergreift ihn!“

Nakadai hätte mit größter Leichtigkeit Widerstand leisten können. Das waren immerhin Bauern. Er hätte alle sechs – und Akemi dazu – ohne Schwierigkeiten töten und entkommen können.

Aber sein Katana hatte noch nie das Blut eines Unschuldigen gefordert. Das würde es auch jetzt nicht, selbst wenn es Nakadais Tod bedeutete.

Nein, er wusste, dass sein Schicksal besiegelt war, als der Dämon in Akemis Gestalt den Raum betrat. Oder vielleicht in dem Moment, als er Schutz vor dem Regen gesucht hatte.

Also ließ er sich festnehmen, sich das Schwert nehmen, fesseln und auf den Marktplatz bringen. Mehr Dorfbewohner gesellten sich auf dem Weg zu ihnen. Sie waren von dem Aufruhr angezogen worden. Er wurde an einen Pfahl gebunden und Wachen wurden beauftragt, ihn zu bewachen. Aber sie hätten sich die Mühe sparen können – er würde den Sonnenaufgang mit Würde erwarten.

Bei Sonnenaufgang hatte sich die gesamte Stadt versammelt, um Recht zu sprechen. Akemis Vater erzählte allen, was Doragon Kokoro seiner Tochter angetan hatte und spuckte währenddessen in den Staub.

„Spricht jemand zur Verteidigung des Ronin?“, sagte er herausfordernd.

Niemand sagte etwas.

Während das Seil beißend in seine Handgelenke auf seinem Rücken schnitt, betrachtete Nakadai die Menge, die sich vor ihm versammelt hatte. In ihren Augen erkannte er Abscheu vor dem, was sie glaubten, das er Akemi angetan hatte. Enttäuschung, dass das Herz des Drachen offenbar nicht so gut war wie sein Ruf. Es drängte ihn, die Wahrheit zu sagen, aber er wusste, dass das nichts ändern würde.

Akemis Vater drehte sich zu ihm um. Seine Augen färbten sich schwarz.

Also ist der Dämon in einen anderen Körper geschlüpft, dachte Nakadai.

„Es scheint, als wärt Ihr verdammt, Ronin“, sagte er ohne ein Anzeichen der gutturalen Stimme. „Ihr hättet Euer Vergnügen lieber im Hurenhaus anstatt bei meiner Tochter suchen sollen, Bastard.“ Er spuckte erneut vor Nakadais Füße.

Von Cho und Akemi konnte der Gefangene keine Spur erkennen. Er fragte sich, was aus denen, die der Dämon besessen hatte, wurde, nachdem er sie verlassen hatte. Er vermutete, dass der Dämon keinen Gedanken daran verschwendete.

Seine Augen wechselten zurück zu ihrem normalen Aussehen und Akemis Vater drehte sich wieder zu der Menge um.

„Yoshio Nakadai, das sogenannte Herz des Drachen, wird für seine Verbrechen verbrannt!“

Die Menge jubelte vor Begeisterung und beschimpfte ihn.

Nakadai war entsetzt.

„Ich verlange das Recht des Seppuku!“, rief er.

Während er sich wieder umdrehte, schnarrte der Dämon mit der Stimme von Akemis Vater.

„Du hast meine Tochter entehrt! Du bist nicht in der Position etwas zu ‚verlangen‘, Ronin-Abschaum!“

Nakadai bewegte sich, um zu protestieren und verstummte dann. Einem Samurai, selbst einem Ronin, einen ehrenhaften Tod zu verweigern, davon hatte man noch nie gehört. Aber er wusste auch, dass weiterer Widerspruch fruchtlos wäre.

Einige der Stadtbewohner rammten einen Bambuspfahl in ausreichendem Abstand zu ihren Behausungen in den Boden, während andere ihn dorthin zerrten und festbanden. Sie vergewisserten sich, dass die Fesseln fest saßen, während sie Reisig von seinen Füßen bis zu den Knien aufhäuften.

Akemis Vater ging und kehrte mit einer Fackel in der Hand zurück.

Die Städter wichen zurück.

„Heute stirbst du für deine Verbrechen, Doragon Kokoro“, rief der Dämon laut genug, damit es alle hören konnten. Ein amüsiertes Grinsen verzog kurz seinen Mund.

Er beugte sich vor und warf die Fackel in das Reisig. Währenddessen flüsterte er in einer Sprache, die Nakadai nicht kannte und die nur der Ronin hören konnte.

Er konnte nichts Gutes im Sinn haben. Als die Flammen seine Beine umzüngelten und seine abgetragenen Kleider Feuer fingen, konnte er noch nicht erraten, was es war.

Obwohl die Flammen dem Herzen des Drachen bei lebendigem Leibe das Fleisch von den Knochen brannten, starb der Ronin ohne zu schreien, während die gesamte Stadtbevölkerung seinen Tod bejubelte.

Der Dämon beobachtete durch die Augen von Akemis Vater, wie Yoshio Nakadai verbrannte. Während die Flammen den Körper des Ronin verschlangen, fraß ein anderes Feuer seine Seele.

Die Kreatur war mit sich zufrieden. So viele seiner Art befassten sich mit schnellen Lösungen – eine Seele hier, etwas politischer Einfluss dort. Solcherlei Dinge waren so – trivial.

Nein, der Dämon zog es vor, um größere Einsätze zu spielen.

Nicht, dass die kleinen Spiele nicht auch ihren Reiz hatten. Er sah sich unter den Leuten der Stadt um, die Kimota so einfach hatte manipulieren können. Damit hatte der Dämon nichts zu tun – eigentlich waren es sogar Kimotas Manipulationen gewesen, die seine Aufmerksamkeit auf diese eigentlich unbedeutende Stadt gelenkt hatten.

Solche entzückenden Machenschaften zogen ihn an wie ein Misthaufen eine Fliege.

Als der Dämon erst einmal verstanden hatte, was hier los war, hatte er sich entschieden, hier etwas Spaß zu haben. Er hatte Kimota eine tödliche Krankheit geschenkt, die Leute noch mehr gegeneinander aufgebracht und dann den Stadtboten eingenommen, um zu garantieren, dass vom Daimyo keine Hilfe kommen würde – was die Leute noch wütender machte.

Die Wut, die Rage – das machte Spaß. Aber in der Lage zu sein, eine noble Seele in die Stadt zu locken, das war Kunst. Und es war ebenfalls Kunst, dass der Ronin noch lange nach diesem köstlichen Moment weiterleben würde.

Während er keine Ahnung hatte, wie lange das sein würde, war sich der Dämon bewusst, dass eines Tages die Dämonen und Engel gegeneinander in den Krieg ziehen würden. Luzifers und Gottes Anhänger würden eine letzte, epische Schlacht schlagen.

Die meisten Dämonen wären nichts anderes als Fußsoldaten und mit ihrem Schicksal zufrieden. Aber dieser Dämon hatte Pläne. Es war ihm dank eines gelangweilten Mannes, der im Besitz einer Schriftrolle war und den Wert seiner Seele nicht besonders hoch schätzte, gelungen, aus der Hölle zu entkommen. Seit diesem Tag streifte er auf der Erde umher und bereitete sich auf den großen Knall vor.

Er war sich nicht sicher, wie lange es noch dauern würde, aber als unsterblicher Dämon konnte er sich Geduld erlauben.

Die unheimlichen Flammen, die er durch einen geflüsterten Zauberspruch beschworen hatte, umschlangen das Herz des Drachen. Sie schwärzten seine Reinheit und seine Ehre weiter, selbst als die physischen Flammen sein Fleisch, die Muskeln und Knochen schmelzen ließen.

Wenn die Zeit gekommen war, würde Yoshio Nakadai eine Waffe von unvorstellbarer Macht in den Händen der Dämonen sein: Eine edle Seele würde für einen unedlen Zweck missbraucht werden.

Загрузка...