Zwölf
Tommy Shin hasste es, sich mit dem Alten herumzuschlagen.
Unglücklicherweise hatte er keine Wahl. Der Alte erwartete immer noch Respekt von den Leuten, mit denen er Geschäfte machte. Es gab einfach keine andere Möglichkeit, um seinen Crack-Kokain-Lieferanten ohne die Hilfe des Alten bei der Stange zu halten. Und es gab keinen in Chinatown, der dem Alten keinen Gefallen schuldete.
Also fand sich Tommy damit ab – er hatte einfach keine Wahl.
Eines Tages, sagte er sich, würde er endlich den Respekt errungen haben, den er verdiente und könnte den Alten in Rente schicken. Fürs Erste aber brauchte er ihn.
Besonders, wenn gerade nichts anderes los war.
Tommy rief den Alten in sein Büro, das über Shin’s Delight Restaurant an der Pacific Avenue in der Nachbarschaft von Chinatown lag. Wie üblich grinste er ihn spöttisch an, als er eintrat. Als das noch das Büro des Alten gewesen war, war es mit Gemälden und Artefakten aus China dekoriert gewesen.
Aber Tommy hatte das nicht gefallen. Also hängte er, als es sein Büro wurde, stattdessen Poster auf – von Filmen wie Batman und Lethal Weapon II oder von Bands wie REM und Public Enemy. Er hatte sogar die Wände gestrichen.
Touristen erwarteten, dass ein chinesisches Restaurant rote Wände mit einer goldenen Borte hatte. Er wollte sie nicht verstören, zumindest so lange sie das Geld brachten. Aber Tommy hatte darauf bestanden, dass sein Büro schwarz gestrichen wurde. Er hatte in einer Zeitschrift gelesen, dass dunkle Wände die Leute nervös machten, und Tommy mochte es, wenn man in seiner Gegenwart nervös wurde.
Jetzt blickte der Alte mit Abscheu auf die Musik- und Filmposter, dann drehte er sich zu Tommy um.
Während der Alte eine Art Pilzkopffrisur aus schlohweißem Haar trug, hatte Tommy seine Haare mit Schaumfestiger spitz nach oben frisiert. Der Alte trug traditionelle chinesische Kleidung, während Tommy ein weißes Leinenjackett mit bis zu den Ellenbogen aufgekrempelten Ärmeln über einem Polohemd mit hochgestelltem Kragen trug.
„Du bringst unseren Traditionen noch immer keinen Respekt entgegen.“
Das sagte der Alte immer, wenn er Tommy sah, und natürlich sagte er es auf Mandarin.
Tommys Antwort war ebenso routiniert, aber er sprach englisch.
„Diese Traditionen sind aus China. Wir sind jetzt in Amerika. Wir sollten uns auch so benehmen.“
Der Alte nahm auf dem Gästestuhl gegenüber Platz und sprach weiter Mandarin.
„Ich nehme nicht an, dass du mich hast rufen lassen, damit ich dir sagen kann, was für ein Schwachkopf du bist?“
Lächelnd entschied sich Tommy, das Gespräch dem Alten zuliebe auf Mandarin fortzusetzen.
„Nicht, dass ich das nicht genieße, aber ja, es gibt einen Grund.“ Er öffnete eine Schreibtischschublade und zog eine Hängeakte heraus. Er gab sie dem Alten und sagte: „Wir haben hier ein Problem und ich könnte deinen Rat gebrauchen, wie wir es beseitigen können.“
Der Alte schnaubte, während er den Ordner nahm.
„Jetzt willst du meinen Rat?“
„Ich hole immer deinen Rat ein, wenn es um bedeutende Belange geht“, sagte Tommy immer noch lächelnd. „Drei von meinen engsten Vertrauten sind tot. Das ist eine Kopie des Polizeiberichts – ich habe ihn von meinem Cop.“
„Warum gehst du so absurde Risiken ein?“, fragte der Alte. „Der Polizei kann man nicht trauen.“
„Diesem Polizisten zahle ich gutes Geld, um mich mit Informationen zu versorgen“, sagte Tommy mit finsterer Miene. „Er ist nützlich.“
„Das ist Geldverschwendung. Die Polizei weiß nichts über unsere Angelegenheiten, also können sie unseren Leuten nicht ihre Gesetze aufzwingen. Wenn du ihre Regeln annimmst, machst du es leichter für sie, deine Geschäfte zu komplizieren. Und wenn du einen bezahlst, riskierst du entdeckt zu werden.“
„Der Profit ist gestiegen, seit ich das Ruder übernommen habe, und die einzigen Festgenommenen waren einfache Handlanger aus den unteren Rängen. Sie wissen nicht, was ich mache.“
Jetzt lächelte der Alte.
„Warum soll ich dir dann helfen?“
Tommy lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
„Lies die Akte.“
Der Alte öffnete endlich den Pappordner, sah ihn durch und schnitt eine Grimasse.
Tommy hatte zuerst ähnlich reagiert, als er hörte, dass Hsu, Li und und Lao tot waren. Wer immer sie umgebracht hatte, hatte es übertrieben. Er hatte sie verbrannt und ihnen Schnittwunden zugefügt. Tommy hatte Laos Leiche selbst gefunden – in der Gasse hinter dem Restaurant. Bei dem Anblick war ihm schlecht geworden, und weil er sich dauernd übergeben musste, hatte er sich ein sehr schönes Paar Mokassins ruiniert.
„Jemand“, sagte Tommy, als der Alte die Akte zuklappte, „wird eine ganze Menge Ärger bekommen.“
Der Alte nickte.
„Das hier ist mehr als einfach nur einige deiner engsten Vertrauten zu ermorden. Wenn es nur eine Kugel in den Hinterkopf wäre, würde ich glauben, dass sie etwas Idiotisches gemacht haben. Aber das hier …“
Der Alte seufzte. „Das ist ein Machtkampf, den jemand mit beachtlichen Hilfsmitteln begonnen hat.“
Frustriert hob Tommy die Hände.
„Was für ‚Hilfsmittel‘ könnten so was machen?“
„Solche, die nicht von dieser Welt sind“, sagte der Alte. „Sie kommen aus der nächsten.“
Tommy rollte mit den Augen.
„Das ist absurd.“
„Wirklich? Hast du den Bericht deines Polizisten-Freunds überhaupt gelesen?“
„Was meinst du?“
Der Alte öffnete die Akte an einer bestimmten Stelle und schob sie über den Tisch. „Siehst du diesen Bericht des Gerichtsmediziners? Die Leichen hatten Verbrennungen dritten Grades, die gleichmäßig über den Körper verteilt waren, trotzdem gab es keine Anzeichen von Feuer in ihrer Nähe. Die Toten waren zu zerbrechlich, um sie zu bewegen.“
„Und?“, fragte Tommy und wunderte sich, was das für einen Unterschied machen sollte.
„Also, du junger Tölpel, das war keine natürliche Todesursache.“
Tommy lachte.
„Was sonst, eine über-natürliche?“
„Verspotte mich nicht“, sagte der Alte. „Du bist zu jung, um dich daran zu erinnern, aber das ist schon einmal passiert. Mehrere Einwohner aus Chinatown sind auf diese Art vor zwanzig Jahren umgebracht worden. Das Gerücht ging um, dass das Herz des Drachen dafür verantwortlich war. Es ist möglich, dass es zurückgekehrt ist.“
Tommy rollte noch einmal mit den Augen.
„Das ist doch nur ein Märchen! Ich habe etwas über den bösen Geist gehört, als ich ein Teenager war. Es war damals genauso dämlich wie heute.“
Der Alte zuckte die Schultern.
„Spotte nur“, sagte er. „Es sind deine Vertrauten, die umgebracht werden, was soll das also? Aber es ist offensichtlich, dass jemand das Herz des Drachen wiedererweckt hat. Und es ist genauso offensichtlich, dass du diese Person finden musst, bevor sie dich tötet.“
Damit stand der alte Mann vom Stuhl auf. Er hielt kurz inne, um das Bild von Mel Gibson und Danny Glover neben der Tür verächtlich anzusehen. Dann versetzte er Tommy noch einen letzten Schlag zum Abschied.
„Du glaubst, du bist etwas Besseres als ich“, sagte er. „Aber du bist nur ein Narr, der Glück hatte.“
Tommy schüttelte angeekelt den Kopf und antwortete nicht. Er drückte mit dem Finger auf die Gegensprechanlage, die ihn mit dem Foyer außerhalb des Büros verband, wo sein letzter noch lebender Vertrauter – Benny Hao – wartete.
„Komm rein“, sagte er auf Englisch.
Hao, ein breitschultriger, muskulöser, imposanter Kerl stolzierte ins Zimmer.
„Ja, Boss?“
„Sag Mai-Lin, dass sie alles über ‚das Herz des Drachen‘ herausfinden soll, was sie kann.“
Für einen kurzen Augenblick lachte Benny, dann bemerkte er, dass Tommy nicht in sein Lachen einstimmte und hörte auf.
„Bist du sicher, Boss?“, fragte er zaghaft. „Ich dachte, das wäre nur so eine Geschichte.“
„Vielleicht – aber ich will sichergehen.“
„Äh, okay.“ Er ging zur Tür, dann drehte er sich um. „Oh, und Al ist draußen.“
„Was will der denn?“
„Sagt, er hätte einen Termin.“
Gerade als er Benny sagen wollte, er solle Al in den Kopf schießen, erinnerte er sich, dass er sich tatsächlich mit Al verabredet hatte. Er hatte es über diesem Durcheinander mit den vier Toten nur vergessen.
„Scheiße, gut“, fauchte er. „Schick den kleinen Trottel rein.“
Nickend verließ Benny den Raum.
Einen Moment später kam Al herein. Er trug ein Polohemd, Jeans und Mokassins. Sein schulterlanges Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden.
„Was willst du?“, fragte Tommy ungeduldig. Er konnte hören, wie Benny draußen im Foyer mit Mai-Lin telefonierte.
„Ich wollte dir einige Vorschläge unterbreiten, was die Abholung der Kollekte betrifft.“
Tommy blinzelte verwirrt.
„Was?“
„Du hast Probleme, das Schutzgeld einzutreiben, und ich glaube, ich weiß warum. Wir holen es immer am Ersten des Monats.“
Tommy konnte nicht glauben, dass er gerade dieses Gespräch führte.
„Al, ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber eine Menge unserer Leute sind tot.“
„Äh, okay. Ich wollte nur …“ Al räusperte sich und drängte weiter. „Wenn wir am Ersten kassieren, haben die Besitzer ihr Bargeld für gewöhnlich schon zur Bank gebracht und behaupten, sie hätten nichts in der Kasse. Wenn wir alles am ersten Samstag einsammeln, wird das besser funktionieren. Am Samstag sind die Banken geschlossen, also können sie nicht behaupten, dass sie kein Bargeld haben.“
So wütend er war, weil Al ihn unterbrochen hatte, musste Tommy doch zugeben, dass das keine schlechte Idee war. Das Schutzgeld am Ersten des Monats zu kassieren, war eine der Regeln des Alten, und Tommy hatte das aus Gewohnheit beibehalten.
Aber er war mehr als glücklich, sich von einer weiteren veralteten Praktik zu verabschieden.
Jetzt allerdings war nicht die Zeit dazu.
„Al, es ist eine gute Idee, aber nicht jetzt, okay? Wir machen das nächste Woche.“
Al sah geplättet aus.
„In Ordnung, Boss.“
Albert drehte sich zum Gehen um, aber Tommy hielt ihn auf.
„Hey, hast du etwas über so was wie das ‚Herz des Drachen‘ gehört?“
Albert Chao zuckte nur die Schultern.
„Nee – nie davon gehört.“