Die Schule des dritten Zyklus

Die 410. Schule des dritten Zyklus befand sich in Südirland. Ausgedehnte Felder, Weinberge und kleine Eichenwälder zogen sich über die Hänge bis zum Meer hin. Weda Kong und Ewda Nal waren während des Unterrichts gekommen und gingen nun langsam den Korridor entlang, der die Unterrichtsräume ringförmig umgab. Der Tag war trübe, leichter Regen fiel, und der Unterricht fand nicht wie sonst auf den Waldwiesen unter den Bäumen statt, sondern in den Klassenzimmern.

Weda Kong kam sich wie ein Schulmädchen vor. Sie ging auf Zehenspitzen zu den Eingängen und lauschte. Wie in den meisten Schulen, hatten auch hier die Klassenzimmer keine Türen, sondern vorgebaute Wände, die wie Kulissen ineinander verschachtelt waren. Ewda Nal machte das Spiel mit. Die Frauen spähten vorsichtig in die Klassenräume, um Ewdas Tochter zu finden.

Im ersten Raum sahen sie einen mit blauer Kreide gezeichneten Vektor, der über die Fläche einer Wand ging. Um ihn ringelte sich eine Spirale. Zwei Spiralabschnitte waren von querliegenden Ellipsen umgeben, in die ein rechtwinkliges Koordinatensystem eingetragen war.

„Bipolare Mathematik!“ rief Weda leise mit gespieltem Entsetzen.

„Das ist noch nicht alles! Einen Augenblick noch“, entgegnete Ewda.

„Nachdem wir nun die Schattenfunktionen der Kochlearrechnung kennengelernt haben“, erklärte ein bejahrter Lehrer mit tiefliegenden, funkelnden Augen, „kommen wir zu dem Begriff ›Repagularrechnung‹. Der Name ist von einem alten lateinischen Wort abgeleitet, das ›Schranke‹ oder ›Barriere‹ bedeutet, genauer gesagt, wechselseitiger Übergang von einer Qualität in die andere.“ Der Lehrer zeigte auf eine der Ellipsen quer zur Spirale. „Auf die Mathematik angewandt, die Erforschung wechselseitig ineinander übergehender Erscheinungen.“

Weda Kong zog die Freundin mit sich fort, und sie verbargen sich hinter einem Vorsprung.

„Das ist ja ganz neu! Das gehört doch zu dem Gebiet, über das Ihr Ren Boos am Meeresufer gesprochen hat.“

„Die Schule vermittelt den Schülern immer das Neueste, das Alte wird ständig verworfen. Wenn sich die junge Generation veraltete Kenntnisse aneignete, wo bliebe da unsere rasche Entwicklung? Der Zeitaufwand für die Wissensvermittlung ist ohnehin noch viel zu groß. Jahrzehnte dauert es, bis ein Mensch den Bildungsstand erreicht hat, der ihn zur Erfüllung seiner gigantischen Aufgaben befähigt.

Dieser rhythmische Wechsel der Generationen, wo auf einen Schritt nach vorn neun Zehntel Schritt zurück folgt, wenn nämlich die ablösende Generation heranwächst und ausgebildet werden muß, ist des Menschen härtestes Gesetz, das Gesetz des Todes und der Geburt. Vieles von dem, was wir in der Mathematik, der Physik und der Biologie gelernt haben, ist veraltet. Anders verhält es sich mit Ihrer Geschichtswissenschaft. Sie veraltet langsamer, da sie selbst sehr alt ist.“

Sie schauten in einen anderen Raum. Hier saßen Jungen und Mädchen von ungefähr siebzehn Jahren. Ihre geröteten Wangen zeigten, wie sehr sie vom Unterricht gepackt waren.

„Die Menschheit hat die härtesten Belastungsproben bestanden.“ Die Stimme der Lehrerin klang erregt. „Und bis heute gilt als Wichtigstes im Geschichtsunterricht, die historischen Fehler der Menschheit mit all ihren Folgen zu studieren. Unser Leben und die lebensnotwendigen Gegenstände wurden immer komplizierter, so daß eine Vereinfachung unumgänglich war. Je komplizierter die Lebensbedingungen wurden, um so mehr verflachte die geistige Kultur. Es durfte nichts Überflüssiges mehr geben, das den Menschen unnötig belastete. Mit allem, was einer Erleichterung des täglichen Lebens dient, befassen sich die besten Köpfe unserer Zeit genauso ernsthaft wie mit wichtigen wissenschaftlichen Problemen. Vorbild war für uns der allgemeine Entwicklungsweg der Tierwelt, der darauf gerichtet war, durch Automatisierung der Bewegungen und Herausbildung der Reflexe die Aufmerksamkeit zu entlasten. Die Automatisierung der Produktivkräfte schuf ein analoges reflektorisches Steuerungssystem in der Produktion und erlaubte den meisten Menschen, sich mit dem zu beschäftigen, was das Grundanliegen des Menschen ist: mit wissenschaftlicher Forschung. Das Gehirn, das uns die Natur gegeben hat, ist zur Forschung bestimmt, wenn es auch ursprünglich nur der Nahrungssuche und der Ermittlung der Eßbarkeit gedient hat.“

„Gut!“ flüsterte Ewda Nal. Da entdeckte sie ihre Tochter.

Versonnen blickte das nichtsahnende Mädchen auf das undurchsichtige Fensterglas.

Neugierig verglich Weda Kong das Mädchen mit seiner Mutter: das gleiche lange, glatte schwarze Haar, bei der Tochter allerdings mit einem blauen Band durchflochten und von zwei großen Schleifen zusammengehalten. Das gleiche ovale Gesicht, dem die zu breite Stirn einen kindlichen Ausdruck verlieh, die gleichen hervortretenden Backenknochen. Eine schneeweiße Bluse aus synthetischer Wolle unterstrich die matte Blässe ihrer Haut und das tiefe Schwarz der Augen, der Brauen und Wimpern. Die rote Korallenkette paßte gut zu dem reizvollen jungen Mädchen.

Wie alle in der Klasse trug Ewda Nals Tochter kurze Hosen, nur waren sie an den Seitennähten mit roten Fransen besetzt.

„Ein Indianerschmuck“, flüsterte Ewda Nal, als sie den fragenden Blick der Freundin sah.

Die beiden Frauen zogen sich schnell in den Korridor zurück, denn die Lehrerin hatte ihren Vortrag beendet und trat aus dem Klassenraum. Einige Schüler, unter ihnen auch Ewda Nals Tochter, eilten ihr nach. Das Mädchen blieb unvermittelt stehen, sie hatte die Mutter bemerkt, ihre großes Vorbild und ihren ganzen Stolz. Ewda wußte noch nicht, daß es in der Schule eine Arbeitsgemeinschaft gab, deren Mitglieder sich für den gleichen Lebensweg wie ihr, Idol, die berühmte Ewda Nal, entschieden hatten.

„Mama!“ flüsterte das Mädchen und schmiegte sich mit einem verlegenen Blick auf Weda Kong an die Mutter.

Die Lehrerin kam heran.

„Ich werde den Rat der Schule gleich informieren, daß Sie hier sind“, sagte sie. Ewdas abwehrende Geste vermochte sie nicht davon abzubringen. „Wir müssen doch wenigstens etwas von Ihrem Kommen profitieren.“

„Profitieren Sie lieber von ihr“, sagte Ewda und stellte Weda Kong vor.

Die Geschichtslehrerin wurde rot bis zu den Haarwurzeln und sah plötzlich sehr jung aus.

„Ausgezeichnet!“ rief sie, bemüht, den sachlichen Ton beizubehalten. „Die älteren Gruppen stehen kurz vor ihrer Entlassung. Eine Abschiedsrede von Ewda Nal in Verbindung mit einer Betrachtung über alte Kulturen und Rassen von Weda Kong — das wäre ein Abschluß für unsere Jugend! Hab ich nicht recht, Rea?“

Ewdas Tochter klatschte begeistert in die Hände. Mit dem elastischen Gang einer Sportlerin eilte die Lehrerin zu den Diensträumen, die sich in einem langgestreckten Anbau befanden.

„Rea, du nimmst dir von der Produktionsarbeit frei, und wir gehen im Garten spazieren“, schlug Ewda ihrer Tochter vor. „Ich kann nicht noch einmal kommen, bevor du dich für deine Herkulestaten entscheidest. Das letztemal hatten wir uns ja noch nicht endgültig geeinigt.“

Wortlos hakte Rea die Mutter unter. In jedem Schulzyklus wechselten theoretischer Unterricht und Produktionsarbeit miteinander ab. Die nächste war eine von Reas Lieblingsstunden: das Schleifen optischer Gläser. Aber was war wichtiger als der Besuch der Mutter!

Weda ließ Mutter und Tochter allein und ging zu dem kleinen astronomischen Observatorium hinüber.

„Wo ist denn dein kleiner Kai?“ erkundigte sich Ewda. Das Mädchen blickte die Mutter traurig an. Kai war ihr Patenschüler gewesen. Es war üblich, daß die älteren Schüler die Patenschaft über Schüler nahe gelegener Schulen des ersten oder zweiten Zyklus übernahmen. Bei der Sorgfalt, die für die Erziehung aufgewandt wurde, war diese Hilfe für die Lehrer unerläßlich.

„Kai ist in den zweiten Zyklus gekommen und weit weggefahren. Mir tut es sehr leid. Warum schickt man uns nur alle vier Jahre an einen anderen Ort, in einen anderen Zyklus?“

„Aber Kind, du weißt doch, daß die Psyche unter gleichförmigen und eintönigen Eindrücken ermüdet und abstumpft.“

„Ich verstehe nur nicht, warum man den ersten der vier dreijährigen Zyklen mit Null bezeichnet. Da beginnen doch schon Erziehung und Ausbildung der Kleinen von ein bis vier Jahren.“

„Die Bezeichnung ist veraltet und völlig unzutreffend. Doch ohne zwingende Notwendigkeit ändern wir nicht solche eingebürgerten Ausdrücke, dadurch wird nur menschliche Energie vergeudet. Und das zu verhindern, ist jeder einzelne verpflichtet.“

„Aber bedeutet dann die Organisation der Zyklen nicht auch einen großen Kräfteverschleiß? Die Schüler lernen und leben für sich, und dauernd versetzt man sie an einen anderen Ort.“

„Dieser Kräfteverschleiß wird reichlich durch die Zunahme der Aufnahmefähigkeit und somit des Nutzeffektes der Ausbildung wettgemacht, die beide unvermeidlich von Jahr zu Jahr nachlassen würden. Ihr jungen Leute entwickelt euch je nach Alter und Erziehung zu ganz unterschiedlichen Wesen. Wenn Jugendliche verschiedenen Alters zusammen leben, stört das die Erziehung ganz erheblich und schadet auch den Schülern selbst. Durch die Einteilung in vier Altersgruppen sind die Altersunterschiede recht zusammengeschrumpft, aber eine endgültige Lösung ist das auch noch nicht. Doch unterhalten wir uns erst einmal über deine Wünsche und Absichten. Ich muß sicher eine Vorlesung vor euch allen halten — vielleicht klären sich deine Fragen dann ganz von selbst.“

Rea vertraute der Mutter ihre geheimsten Gedanken mit dem offenherzigen Vertrauen eines Kindes an, das in der Ära des Großen Rings groß geworden ist und nie kränkenden Spott oder Unverständnis kennengelernt hat. Mit dem siebzehnten Lebensjahr war für sie die Schulzeit beendet. Dann schloß sich die dreijährige Periode der Herkulestaten an, in der sie bereits im Kreise Erwachsener arbeitete. Erst danach wurde endgültig über Neigungen und Fähigkeiten entschieden. Mit der zweijährigen Hochschulausbildung erwarb sie dann das Recht, selbständig auf dem gewählten Fachgebiet zu arbeiten. Während seines langen Lebens fand der Mensch genügend Zeit, sich Hochschulbildung für fünf, sechs Fachgebiete anzueignen, denn er wechselte ja mehrmals seine Arbeit. Von der Wahl der ersten schwierigen Tätigkeit aber — der Herkulestaten — hing sehr viel ab. Deshalb wurden sie erst nach gründlicher Überlegung ausgewählt und nie, ohne einen Erwachsenen zu konsultieren.

„Habt ihr schon die psychologischen Abschlußtests hinter euch?“ fragte Ewda.

„Ja. Zwanzig bis vierundzwanzig habe ich in den ersten acht Gruppen, achtzehn und neunzehn in der zehnten und dreizehnten Gruppe und siebzehn sogar in der siebzehnten Gruppe!“ verkündete Rea stolz.

„Das ist ja prachtvoll!“ rief Ewda erfreut. „Da stehen dir ja alle Türen offen. Hast du dir das mit deiner ersten Herkulestat auch nicht noch anders überlegt?“

„Nein. Ich werde bestimmt Krankenschwester auf der Insel des Vergessens. Anschließend will unsere ganze Arbeitsgemeinschaft, deren Vorbild du bist, in einer psychologischen Klinik auf Jütland arbeiten.“

Ewda machte ein paar scherzhafte Bemerkungen über die eifrigen Psychologen, doch Rea bat die Mutter, Mentor aller Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft zu werden; sie alle standen ebenfalls vor der Wahl ihrer Herkulestaten.

„Ich sehe schon, ich werde meinen ganzen Urlaub hier verbringen müssen“, sagte Ewda lachend. „Was aber soll Weda Kong machen?“

Rea hatte die Begleiterin ihrer Mutter schon ganz vergessen. „Sie ist sehr nett“, sagte sie ernst, „und fast so hübsch wie du!“

„Viel hübscher!“

„Nein, ich weiß es besser“, beharrte Rea. „Und ich sage es nicht etwa, weil du meine Mutter bist.“

„Jetzt aber Schluß mit den Schmeicheleien, mein Kind! Die Zeit drängt.“


Weda Kong wanderte die Allee entlang, immer tiefer in den kleinen Ahornwald hinein. Die feuchten, breiten Blätter rauschten leise. Über die nahe gelegene Wiese zogen schemenhaft abendliche Nebelschwaden. Weda Kong genoß die bewegte Stille der Natur und dachte, wie günstig die Schulen doch immer gelegen seien. Bei der Erziehung war eines der wichtigsten Dinge, den Kindern die Natur nahezubringen, Achtung und Liebe ihr gegenüber zu wecken. Hatte der Mensch keinen Blick mehr für die Natur, war das gleichzusetzen mit einem Stillstand in seiner Entwicklung; denn nicht mehr beobachten heißt nicht mehr verallgemeinern können. Weda dachte an die Kunst zu lehren, diese überaus wertvolle Fähigkeit in einer Epoche, in der man endlich begriffen hatte, daß die Bildung auch Erziehung sein muß, wenn sie ein Kind auf seinen schweren Lebensweg vorbereiten soll. Gewiß, die angeborenen Eigenschaften bilden die Grundlage, aber ohne die behutsame Formung des menschlichen Charakters durch einen Lehrer können sie nutzlos bleiben.

Die Historikerin dachte an die Zeit, da sie selbst ein junges Mädchen der dritten Altersgruppe voller innerer Widersprüche war. Sie hatte von Selbstaufopferung geträumt und gleichzeitig alles nur von ihrem Standpunkt aus, mit der gesunden Egozentrik der Jugend, beurteilt. Was hatten ihre Lehrer damals geleistet!

In den Händen des Lehrers liegt die Zukunft des Schülers; dank seinen Bemühungen wird der Jugendliche befähigt, die schwierigste Aufgabe zu meistern: sich selbst zu überwinden, seinen Egoismus und seine zügellosen Wünsche zu bezwingen.

Ganz in der Nähe hörte Weda Stimmen. Sie ging ihnen nach, kam bald zu einem kleinen, von Kiefern eingeschlossenen See, wo etwa zehn Jungen, mit Kunststoffschürzen angetan, sich mit Beilen an einem langen Eichenstamm zu schaffen machten. Die jungen Baumeister begrüßten die Historikerin ehrerbietig und erklärten ihr, daß sie nach geschichtlichem Vorbild ein Schiff bauen, ohne automatische Sägen und Maschinen. Mit dem Schiff wollten sie während der Ferien zu den Ruinen von Karthago fahren, gemeinsam mit ihren Lehrern für Geschichte, Geographie und Produktionsarbeit.

Weda wünschte den Schiffbauern viel Erfolg und wollte weitergehen. Da trat ihr ein großer, schlanker Bursche mit semmelblondem Haar in den Weg.

„Sie sind zusammen mit Ewda Nal gekommen? Darf ich Sie etwas fragen?“

Weda nickte.

„Ewda Nal arbeitet in der ›Akademie des Leides und der Freude‹. Wir haben bereits die gesellschaftliche Struktur unseres und einiger anderer Planeten durchgenommen, doch über die Rolle dieser Akademie hat man uns noch nichts erzählt.“

Weda erzählte von den statistischen Erhebungen, die die Akademie im Leben der Gesellschaft durchführte: von den Berechnungen des Leides und des Glücks im Leben des einzelnen, von der Erforschung des Leides nach Altersgruppen. Dann analysierte die Akademie die Veränderungen des Leides und der Freude in den einzelnen Entwicklungsetappen der Menschheit. Wie grundverschieden auch die Erlebnisse waren, so wurden doch aus den Massenergebnissen, die mit Hilfe statistischer Methoden erarbeitet wurden, wichtige Gesetzmäßigkeiten abgeleitet. Die Räte, die die Weiterentwicklung der Gesellschaft lenkten, waren stets um die besten Kennziffern bemüht. Nur wenn die Freude das Leid überwog oder ihm, wenigstens die Waage hielt, konnte der Entwicklungsstand der Gesellschaft als günstig bezeichnet werden.

„Die ›Akademie des Leides und der Freude‹ spielt also eine führende Rolle?“ fragte ein Junge mit blitzenden Augen.

Die anderen lachten, und Wedas erster Gesprächspartner erläuterte: „Ol hat es mit der führenden Rolle. Dauernd phantasiert er von den großen Persönlichkeiten der Vergangenheit.“

„Das ist gefährlich“, sagte Weda lächelnd. „Als Historikerin kann ich euch verraten, daß diese großen Führerpersönlichkeiten die abhängigsten Menschen waren.“

„Abhängig von der Bedingtheit ihrer Handlungen?“ fragte der semmelblonde Junge.

„So ist es. Aber das gehört Gesellschaftsordnungen der Ära der Partikularistischen Welt an und den noch früheren. Heutzutage gibt es die führende Rolle eines einzelnen nicht mehr; die Maßnahmen eines Rates ohne Zustimmung der übrigen sind undenkbar.“

„Und der Wirtschaftsrat? Ohne seine Zustimmung kann niemand etwas Wichtiges unternehmen“, wandte Ol ein.

„Das stimmt, denn die Ökonomie ist die einzige reale Grundlage unserer Existenz. Aber mir scheint, ihr habt eine nicht ganz richtige Vorstellung von der Führungstätigkeit. Habt ihr schon die Zytoarchitektonik des menschlichen Gehirns durchgenommen?“

Die Jungen bejahten.

Weda bat um einen Stock und zeichnete Kreise in den Sand.

„Hier in der Mitte ist der Wirtschaftsrat. Von ihm führen direkte Verbindungen zu seinen beratenden Organen: der ALF — der ›Akademie des Leides und der Freude‹, der APK — der ›Akademie der Produktivkräfte‹, der ASVZ der ›Akademie für Stochastik und Vorhersage der Zukunft‹, und der APA — der ›Akademie für Psychophysiologie der Arbeit‹. Eine Zweigverbindung besteht zu dem selbständig arbeitenden Rat für Astronautik. Er wiederum hat direkte Verbindungen zur ›Akademie für gelenkte Strahlung‹ und zu den Außenstationen des Großen Rings. Weiter…“

Weda zeichnete ein kompliziertes Schema in den Sand und fuhr fort: „Erinnert euch das nicht an das menschliche Gehirn? Die Forschungs- und die Registrierungszentren, das sind die Zentren der Sinne. Die Räte sind die Assoziationszentren. Ihr wißt, daß das ganze Leben aus dem Wechsel von Akkumulation und Entladung besteht, aus Reiz und Hemmung. Das Hauptzentrum der Hemmung ist der Wirtschaftsrat, der alles den realen Möglichkeiten des gesellschaftlichen Organismus und seiner objektiven Gesetze anpaßt. Diese Wechselwirkung gegensätzlicher Kräfte, die in harmonische Arbeit umgesetzt wird, das eben ist unser Gehirn und unsere Gesellschaft — beide entwickeln sich unaufhaltsam vorwärts. Vor langer Zeit einmal vermochte die Kybernetik die kompliziertesten Wechselwirkungen und Veränderungen auf relativ einfache Operationen von Maschinen zurückzuführen. Doch je mehr unser Wissen zunahm, um so komplizierter erwiesen sich die Erscheinungen und Gesetze der Thermodynamik, Biologie und Ökonomie, und die vereinfachten Vorstellungen von der Natur und der gesellschaftlichen Entwicklung verschwanden für immer.“

Die Jungen lauschten regungslos.

„Wem kommt nun die entscheidende Rolle in diesem Gesellschaftsgefüge zu?“ wandte sich Weda an den Verehrer großer Persönlichkeiten. Der schwieg verlegen, doch der semmelblonde Junge kam ihm zu Hilfe.

„Der Weiterentwicklung!“ erklärte er kühn, und Weda war begeistert.

„Einen Preis für die ausgezeichnete Antwort!“ rief sie lachend und löste von ihrer linken Schulter eine Emaillespange, auf der ein weißer Albatros über blauem Meer abgebildet war. Sie reichte die Brosche dem Jungen. Als sie sein Zögern bemerkte, sagte sie nachdrücklich: „Zur Erinnerung an unser heutiges Gespräch und an die Weiterentwicklung!“

Da nahm der Junge den Albatros.

Die Spange war ein Geschenk Erg Noors gewesen. In dem plötzlichen Bedürfnis, sie weiterzuschenken, kam vieles zum Ausdruck, unter anderem der Wunsch, alles Frühere, das bereits Vergangenheit war, abzustreifen.


Alle Einwohner des Schulstädtchens hatten sich in dem runden Saal im Zentrum des Gebäudes versammelt. Ewda Nal, im schwarzen Kleid, stieg auf das von oben angestrahlte Podium und ließ ihren Blick ruhig über die Reihen des Amphitheaters gleiten.

Die Versammelten verstummten, um der leisen klaren Stimme zu lauschen. Lautsprecher wurden nur noch bei Sicherheitsanlagen verwendet. Seitdem man Televisiofone hatte, wurden auch keine großen Auditorien mehr benötigt.

„Siebzehn Jahre — damit beginnt ein neuer Lebensabschnitt! Bald werdet ihr in der Versammlung des irischen Bezirks die traditionellen Worte sprechen: Ihr, die Älteren, deren Ruf zur Arbeit ich folge, nehmt mein Können und Wollen, nehmt meine Arbeit und lehrt mich Tag und Nacht. Reicht mir eure helfende Hand, denn der Weg ist schwer. Ich werde euch folgen. — In dieser alten Formel wird so manches zwischen den Zeilen gesagt, wovon ich heute zu euch sprechen möchte.

Von Kindheit an lehrt man euch die Dialektik, die in den Büchern der Antike ›Geheimnis des Gegensätzlichen‹ genannt wurde. Nur ›Eingeweihte‹, geistig und moralisch hochstehende Menschen — so glaubte man —, könnten sie beherrschen. Heute lernt ihr von frühester Jugend an die Welt durch die Gesetze der Dialektik begreifen. Ihr wurdet in einer wohlorganisierten Gesellschaftsordnung geboren, die von vielen Generationen, von Milliarden unbekannter arbeitsamer Menschen geschaffen wurde.

Die Erziehung des neuen Menschen aber ist eine komplizierte Arbeit, sie erfordert individuelle Untersuchungen und Fingerspitzengefühl. Die Gesellschaft gibt sich nicht mehr mit Menschen zufrieden, deren Erziehung mehr oder weniger dem Zufall überlassen war, und deren Charakterschwächen mit der naturgegebenen Erbmasse entschuldigt wurden. Jeder schlecht erzogene Mensch ist eine Schande für die ganze Gesellschaft, ein Beweis für Fehler des Kollektivs.

Ihr aber, die ihr euch noch nicht von der Egozentrik der Jugend befreit habt, sollt stets bedenken, wieviel von euch selbst abhängt. Es gibt viele Wege, die ihr wählen könnt, doch da ihr frei entscheidet, tragt ihr auch die Verantwortung für eure Entscheidung. Der Traum des unzivilisierten Menschen von der Rückkehr zur Natur, von der Freiheit der Urgesellschaft ist längst verflogen. Die Menschheit stand vor der Wahl zwischen gesellschaftlicher Disziplin, lang währender Erziehung und Bildung oder Untergang. Die bedauernswerten Philosophen, die die Rückkehr zur Natur predigten, verstanden und liebten die Natur nicht wirklich, sonst hätten sie gewußt, wie grausam und unerbittlich sie ist und daß sie alles vernichtet, was sich ihren Gesetzen nicht beugt.

Der Mensch der neuen Gesellschaft erkannte die Notwendigkeit, sein Wünschen, Wollen und Denken einer Disziplin zu unterwerfen. Die Erziehung des Geistes und des Willens ist für jeden von uns ebenso obligatorisch wie die Erziehung des Körpers. Das Studium der Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft sowie in der Ökonomie löste die individuelle zielstrebige Wissensaneignung ab. Wenn wir sagen ›Ich will‹, so meinen wir damit ›Ich weiß, daß es möglich ist‹.

Bereits vor Jahrtausenden sagten die Griechen: ›Metron ariston‹, das heißt: Das Maß ist das Höchste. Und wir fügen heute hinzu: Grundlage der Kultur ist, in allem das rechte Maß zu kennen.

In dem Grad, wie das kulturelle Niveau stieg, verringerte sich das Streben nach dem kleinlichen Glück des Eigentums, das schnell abstumpft und Unzufriedenheit hervorruft. Wir lehren euch das weit größere Glück des Verzichts, das Glück, anderen helfen zu können, das Glück wahrer Freude an der Arbeit.

Die Sorge um die körperliche Erziehung, das saubere, anständige Leben vieler Generationen hat euch vor dem dritten großen Feind der menschlichen Psyche bewahrt: der Gleichgültigkeit. Energiegeladen, ausgeglichen, psychisch gesund, reiht ihr euch in die Welt der Arbeit ein. Je vollkommener ihr seid, um so vollkommener ist die Gesellschaft, denn hier besteht eine wechselseitige Abhängigkeit. Ihr werdet euch ein hohes geistiges Milieu in der Gesellschaft schaffen, zu der ihr gehört, und sie wiederum wird euch erhöhen. Die gesellschaftliche Umwelt ist der wichtigste Faktor der Erziehung und Bildung des Menschen. Sein ganzes Leben über wird der Mensch erzogen und geformt.“

Ewda Nal machte eine Pause, strich sich mit einer flüchtigen Handbewegung übers Haar und fuhr dann fort: „Träumerei nannten einst die Menschen das Bestreben, die Wirklichkeit zu erkennen. So aber werdet ihr euer Leben lang träumen und freudig Erkenntnisse sammeln, euch weiterentwickeln, kämpfen und arbeiten. Laßt euch durch plötzliche Rückschläge nicht beirren — das sind gesetzmäßig wiederkehrende Windungen in der Entwicklungsspirale. Die Wirklichkeit der Freiheit ist hart, doch durch die Disziplin eurer Ausbildung und Erziehung seid ihr darauf vorbereitet. Deshalb ist euch, die ihr eure Verantwortung kennt, jederzeit eine Veränderung eurer Tätigkeit gestattet, wenn ihr persönlich Freude daran habt. Die Träume von paradiesischer Untätigkeit sind durch die Geschichte ad absurdum geführt; sie widersprechen der kämpferischen Natur des Menschen. Jede Epoche hat ihre Schwierigkeiten, doch die rasche und unaufhaltsame Entwicklung der Kenntnisse und Gefühle der Wissenschaft und der Kunst bedeutet für die gesamte Menschheit größtes Glück.“

Nachdem Ewda Nal ihren Vortrag beendet hatte, begab sie sich zu den vorderen Sitzreihen, wo Weda Kong sie empfing, wie sie auf dem Fest Tschara empfangen hatte. Alle Anwesenden erhoben sich mit der Geste, mit der man einem noch nie erlebten Kunstgenuß Beifall zollt.

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