Die roten Wellen

Über den breiten Balkon des Observatoriums wehte der Wind. Er trug den Duft blühender Pflanzen herauf, der dunkle, beunruhigende Wünsche weckte. Mwen Mass konnte sich nicht in den Zustand klaren, sicheren Überlegens versetzen, wie es vor einem gefährlichen und verantwortungsvollen Experiment notwendig war. Ren Boos hatte aus Tibet mitgeteilt, daß die Kor-Yull-Anlage umgebaut worden sei und für den neuen Zweck verwendet werden könne. Die vier Beobachter des Satelliten 57 hatten sich sofort bereit erklärt, ihr Leben zu wagen, nur um bei dem Experiment zu helfen. Etwas Derartiges war schon seit langem nicht mehr durchgeführt worden.

Doch das Experiment sollte ohne Wissen des Rates und ohne vorhergehende gründliche Erörterung aller Möglichkeiten begonnen werden, und das gab dem Ganzen einen Beigeschmack feiger Geheimhaltung, die für die modernen Menschen so gar nicht charakteristisch war.

Das große Ziel schien zwar alle diese Maßnahmen zu rechtfertigen, doch… Es entstand der uralte menschliche Konflikt zwischen dem Ziel und den Mitteln. Die Erfahrungen Tausender von Generationen lehrten, daß man den kritischen Punkt — die Grenze des Übergangszustandes — genau bestimmen mußte, wie man es mit Hilfe der Repagularrechnung bei den abstrakten Problemen der Mathematik tat. Doch wie konnte man solche Berechnungen anstellen, wenn es sich um Moral und Intuition handelte?

Mwen Mass kam immer wieder das Schicksal Bet Lons, eines berühmten Mathematikers, in den Sinn. Jener hatte vor zweiunddreißig Jahren die These aufgestellt, verschiedene Anzeichen einer Verschiebung in der Wechselwirkung starker Kraftfelder ließen sich durch das Vorhandensein parallellaufender Dimensionen erklären. Er führte interessante Versuche durch, bei denen Gegenstände einfach verschwanden. Die „Akademie der Grenzen des Wissens“ entdeckte den Fehler in seinen Theorien und gab eine völlig andere Erklärung für die beobachteten Erscheinungen. Bet Lon war äußerst intelligent, dafür aber hatte er wenig moralischen Halt und war nicht Herr seiner selbst. Eigenwillig und egoistisch, wie er war, beschloß er, die Versuche unverändert fortzusetzen. Um wirksame Beweise zu erhalten, warb er mutige junge Freiwillige, die im Dienste der Wissenschaft zu allem entschlossen waren. Doch sie verschwanden ebenso spurlos wie die Gegenstände. Keiner von ihnen gab je Nachricht von „der anderen Seite“, der anderen Dimension, wie der hartnäckige Mathematiker erwartet hatte. Nachdem Bet Lon die zwölf Freiwilligen ins „Nichtsein“ befördert oder, richtiger gesagt, vernichtet hatte, wurde er vor Gericht gestellt. Da er nachweisen konnte, er habe nur mit Einwilligung seiner Opfer gehandelt und er sei überzeugt gewesen, die jungen Leute bewegten sich quicklebendig durch die andere Dimension, wurde er lediglich zur Verbannung verurteilt, verbrachte zehn Jahre auf dem Merkur und zog sich dann auf die Insel des Vergessens zurück. Mwen Mass sah in der Geschichte Bet Lons große Ähnlichkeit mit der seinen. Auch dort war der heimliche Versuch verboten gewesen, denn er hatte sich auf Argumente gestützt, die von der Wissenschaft verworfen worden waren. Diese Ähnlichkeit behagte Mwen Mass ganz und gar nicht.

Übermorgen würde die nächste Sendung über den Ring erfolgen, und dann standen ihm volle acht Tage für das Experiment zur Verfügung. Mwen Mass blickte empor zum Himmel. Die Sterne dünkten ihm heute besonders klar und nahe. Viele kannte er wie alte Freunde bei ihren alten Bezeichnungen. Ja, waren sie nicht eigentlich auch uralte Freunde des Menschen, die ihm die Wege wiesen, seine Gedanken beflügelten, seine Träume anregten?

Das matte Sternchen, das sich zum nördlichen Horizont neigte, war der Polarstern, Gamma Cephei. Im Altertum lag der Polarstern, wie durch Dokumente genau nachgewiesen ist, im Sternbild des Kleinen Bären, doch die Drehung des Randteiles der Galaxis zusammen mit dem Sonnensystem führte ihn in Richtung des Cepheus. Der in der Milchstraße langgestreckte Cygnus, der Schwan, neigte sich bereits mit seinem langen Hals zum Süden. Dort lag der herrliche Doppelstern, den die alten Araber Albireo nannten. In Wirklichkeit sind es aber drei Sterne: Albireo I, der Doppelstern, und Albireo II, ein riesiger blauer Stern mit einem großen Planetensystem. Er war fast ebensoweit von der Erde entfernt wie der gigantische Himmelskörper am Schwanz des Schwans, der Deneb, ein gelbweißer Stern mit der 4800fachen Leuchtkraft unserer Sonne. In der letzten Sendung hatte der zuverlässige Freund Schwan 61 eine Information von Albireo II aufgefangen, eine Warnung, empfangen vierhundert Jahre nach der Sendung, jedoch noch außerordentlich interessant. Ein berühmter Kosmosforscher des Albireo II, dessen Name durch die Erdzeichen als Vlihh os Dhis wiedergegeben wurde, war im Grenzbereich des Sternbildes der Leier auf die bedrohlichste Gefahr des Kosmos, auf den Stern Ookr, gestoßen und ums Leben gekommen. Die Wissenschaftler der Erde zählten diesen Stern zur Klasse E, so genannt zu Ehren des größten Physikers des Altertums, Einstein, der als erster die Existenz solcher Sterne vorausgesagt hatte. In der Folgezeit wurde das allerdings lange bestritten, und man hatte sogar eine Massengrenze für Sterne errechnet, die unter dem Namen Chandrasekhar-Grenze bekannt wurde. Der bekannte Astrophysiker der Vorzeit hatte seinen Berechnungen jedoch nur die elementare Mechanik der Massenanziehung und die allgemeine Thermodynamik zugrunde gelegt und die komplizierte elektromagnetische Struktur der Riesen und Überriesen völlig außer acht gelassen. Aber gerade die elektromagnetischen Kräfte sind Voraussetzung für die Existenz der E-Sterne, die in ihren Ausmaßen mit den roten Riesen der Klasse M, wie zum Beispiel Antares oder Beteigeuze, wetteifern, sich jedoch durch eine größere Dichte auszeichnen, die etwa der unserer Sonne gleichkommt. Die ungeheure Schwerkraft eines solchen Sterns verhindert jede Ausstrahlung, so daß das Licht den Stern nicht verlassen und in den Weltraum, dringen kann. Diese unvorstellbar großen verborgenen Massen, die alles verschlucken, was in den Bereich ihrer Anziehungskraft gerät, existieren unendlich lange im Weltraum.

Auf die völlig dunklen E-Sterne wird man im Raum lediglich durch ihre Gravitation aufmerksam, und ein Sternschiff, das sich ihnen unvorsichtig nähert, ist zum Untergang verurteilt. Auch die unsichtbaren infraroten Sterne der Spektralklasse T bilden für Sternschiffe eine Gefahr, ebenso die aus großen Teilchen bestehenden Dunkelnebel oder die völlig erkalteten Körper der Klasse TT.

Mwen Mass dachte darüber nach, daß die Schaffung des Großen Rings, der die von denkenden Wesen besiedelten Welten verband, für die Erde und folglich für jeden bewohnten Planeten das größte Ereignis gewesen war. Vor allem bedeutet es einen Sieg über die Zeit, die es weder den Menschen noch den anderen denkenden Wesen ermöglicht, in die fernen Tiefen des Raumes vorzudringen. Eine Sendung über den Ring ist eine Sendung in eine beliebig ferne Zukunft, denn auf diese Weise kann der Gedanke des Menschen den Raum immer weiter bis in die entferntesten Gebiete durchdringen. Die Möglichkeit, sehr ferne Sterne zu erforschen, wird real, es ist nur eine Frage der Zeit. Erst kürzlich hatte die Erde eine Mitteilung von dem riesigen, aber sehr fernen Stern Gamma Cygni erreicht. Bis zu ihm sind es 2800 Parsek, und die Mitteilung brauchte über 9000 Jahre bis zur Erde; sie war aber nur den Menschen verständlich und konnte auch nur von Mitgliedern des Rings entziffert werden, die in ihrem Denken den Erdbewohnern nahestanden. Anders ist es allerdings, wenn eine Mitteilung von Kugelsternsystemen oder — haufen ausgeht, die bedeutend älter sind als die flachen Sternsysteme.

Dasselbe gilt für das Zentrum unserer Galaxis. Rings um ihre Achsenanhäufung existiert eine breite Zone des Lebens auf erkalteten, dunklen Körpern, die durch die Strahlung des Galaxiszentrums erwärmt werden. Von dort erhalten wir seit langem unverständliche Mitteilungen — Bilder komplizierter Strukturen, die mit unseren Begriffen nicht auszudrücken sind. Die „Akademie der Grenzen des Wissens“ bemüht sich schon seit vierhundert Jahren vergeblich um ihre Entzifferung. Aber vielleicht… dem Afrikaner stockte der Atem. Von den nahen Planetensystemen, von den Mitgliedern des Großen Rings, kommen Berichte über das innerplanetarische Leben, über ihre Wissenschaft und Technik, ihre Kunstwerke. Die fernen, alten Welten der Milchstraße dagegen zeigen vielleicht die außerplanetarische, die kosmische Entwicklung ihrer Wissenschaft und ihres Lebens? Wie sie die Planetensysteme nach eigenem Ermessen umgestalten, den Raum „rein fegen“ von den gefährlichen Meteoriten, sie gleichzeitig mit den für das Leben ungeeigneten kalten Außenplaneten in das Zentralgestirn befördern, um dessen Strahlungsdauer zu verlängern oder die Erwärmungstemperatur ihrer Sonnen bewußt zu erhöhen. Vielleicht werden die benachbarten Planetensysteme umgestaltet und die günstigsten Voraussetzungen für eine Zivilisation geschaffen.

Mwen Mass setzte sich mit dem Archiv für Gedächtnisaufzeichnungen des Großen Rings in Verbindung und wählte die Signatur einer fernen Mitteilung. Langsam zogen auf dem Bildschirm eigenartige Bilder vorüber, die von dem Kugelsternhaufen Omega Centauri zur Erde gelangt waren. Er liegt unserem Sonnensystem am zweitnächsten, 6800 Parsek von ihm entfernt, und das Licht seiner hellen Sterne braucht 22000 Jahre, um die Erde zu erreichen.

Dichter blauer Nebel breitete sich in gleichmäßigen Schwaden aus. Sie waren von senkrechten schwarzen Zylindern durchbohrt, die sich ziemlich schnell drehten. Von Zeit zu Zeit zogen sich die Zylinder kaum merklich zusammen und glichen dann niedrigen Kegeln, die mit den Grundflächen aneinandergesetzt waren. Plötzlich rissen die blauen Nebelschwaden auseinander, und Feuersicheln drehten sich wie rasend um die Kegelachsen. Die Dunkelheit flog nach oben, blendendweiße Riesensäulen wuchsen empor, aus denen grüne Blitze zuckten.

Mwen Mass rieb sich die Stirn vor Anstrengung; wenn doch wenigstens etwas eine Deutung zuließe.

Auf dem Bildschirm wanden sich die Blitze spiralförmig um die weißen Säulen und fielen plötzlich in einer Flut metallisch glänzender Kugeln hinunter. Daraus entstand ein ringförmiger Gürtel, der immer mehr in die Breite und Höhe wuchs.

Lächelnd schaltete Mwen Mass die Aufzeichnung wieder ab und hing seinen Überlegungen nach.

Weil es entweder in den hohen Breiten der Galaxis keine besiedelten Welten gibt oder weil es uns nicht möglich ist, mit ihnen in Verbindung zu treten, können wir Menschen der Erde noch nicht aus unserem von interstellarem Staub verdunkelten Äquatorialgürtel der Galaxis hinausgelangen. Wir können nicht das Dunkel überwinden, in das unser Stern, die Sonne, und seine Nachbarn getaucht sind. Deshalb ist es für uns schwieriger, das Weltall kennenzulernen, als für die andern.

Mwen Mass blickte zum Horizont, dorthin, wo unterhalb des Großen Bären, unter dem Jagdhund, das Sternbild Haar der Berenike lag. Das ist der Nordpol der Milchstraße. In dieser Richtung erstreckt sich die Weite des außergalaktischen Raumes, ebenso wie auf der entgegengesetzten Seite des Himmels, im Sternbild Sculptor, unweit des bekannten Sterns Fomalhaut, am Südpol der Milchstraße. Im Randgebiet, wo sich unsere Sonne befindet, hat die Spiralscheibe der Galaxis nur eine Dicke von rund 600 Parsek, und man brauchte von der Erde 300 bis 400 Parsek, um sich über dieses gigantische Sternenrad zu erheben. Dieser weite Weg, für Sternschiffe unüberwindbar, bot keine Hindernisse für die Sendungen des Rings. Doch bis jetzt hatte sich noch kein Planet aus den in diesen Gebieten gelegenen Sternen in den Ring eingeschaltet.

Die ewigen Rätsel und schwierigen Aufgaben werden im Nu gelöst sein, wenn es gelingt, die größte wissenschaftliche Revolution zu vollbringen — endgültig die Zeit auszuschalten und zu lernen, jede Entfernung in jedem beliebigen Zeitraum zurückzulegen. Dann werden nicht nur die Sterne unserer Galaxis, sondern auch die entferntesten Sterneninseln von uns nicht weiter entfernt sein als die kleinen Inseln des Mittelmeeres. Darin lag die Rechtfertigung für den tollkühnen Versuch, den Ren Boos ersonnen hatte und den er, Mwen Mass, der Leiter der Außenstationen der Erde, verwirklichen sollte. Wenn sie doch die Durchführung des Versuchs besser begründen könnten, um die Erlaubnis des Rates zu erhalten!

Die Lichter der Spiralstraße wechselten ihre Farbe von Orange in Weiß: zwei Uhr nachts, die Zeit der Transportverstärkung. Mwen Mass erinnerte sich, daß morgen das Fest der Flammenschalen war, zu dem ihn Tschara Nandi eingeladen hatte. Der Leiter der Außenstationen konnte das bronzefarbene Mädchen mit den geschmeidigen Bewegungen nicht vergessen.

Er kehrte in sein Arbeitszimmer zurück, rief das „Institut für Metagalaxis“ an, das stets nachts arbeitete, und bat, ihm für die nächste Nacht die Stereofilme einiger Galaxien zu schicken. Dann stieg er aufs Dach, wo sein Weitsprunggerät stand. Mwen Mass liebte diesen Sport und hatte es darin zu großer Meisterschaft gebracht. Er schnallte sich die Gurte des Geräts um und schwang sich mit einem federnden Sprung in die Luft, wobei er für einen Augenblick den Propeller einschaltete, der von einem leichten Akku betrieben wurde. Mwen Mass beschrieb in der Luft einen Bogen von ungefähr 600 Meter Länge und landete auf einem Vorbau des „Hauses für Ernährung“. Mit weiteren fünf Sprüngen gelangte er zu einem kleinen Garten unter der Steilwand eines Kreideberges, schnallte das Gerät ab und legte sich auf sein Bett, das unter einer riesigen Platane stand. Bald darauf sank er in tiefen Schlaf.

Das Fest der Flammenschalen war nach einem bekannten Gedicht des Historikers und Dichters San Sen benannt worden. Es erzählte von der altindischen Sitte, nach der den Helden, die zu großen Taten auszogen, Schlachtschwerter und Schalen mit brennendem aromatischem Harz von den schönsten Frauen überreicht wurden. Die Schwerter gab es längst nicht mehr, sie galten jedoch noch als Symbol der Heldentat.

Das Fest der Flammenschalen war zum Frühlingsfest der Frauen geworden. Jedes Jahr, im vierten Monat nach der Wintersonnenwende — nach dem alten Kalender im April —, führten die anmutigsten Frauen der Erde Tänze und Gymnastikübungen vor. Die feinen Nuancen der Schönheit der verschiedenen Rassen, die in der Mischbevölkerung des Planeten zum Ausdruck kamen, strahlten hier in unerschöpflicher Vielfalt und waren für die Zuschauer ein erfreulicher Anblick.

Nicht weniger schön war das Fest des Herkules für die Männer, das im neunten Monat nach Wintersonnenwende gefeiert wurde. Ursprünglich legten die Jungen, die die Reife erlangt hatten, dann Rechenschaft über ihre Herkulestaten ab. Später veranstaltete man in diesen Tagen eine Volksschau hervorragender Leistungen des letzten Jahres. Daraus wurde schließlich ein Fest für Männer und Frauen, aufgeteilt in die Tage der Nützlichkeit, der höheren Kunst und der wissenschaftlichen Kühnheit und Phantasie. Auch Mwen Mass war einmal Held des ersten und des dritten Tages gewesen.

Als Mwen Mass im Sonnensaal des Tyrrhenischen Stadions eintraf, trug Weda Kong gerade einige Lieder vor. Bald fand er den neunten Sektor des vierten Radius, wo Ewda Nal und Tschara Nandi saßen. Er stellte sich in den Schatten des Bogenganges und lauschte Wedas Stimme. Ganz in Weiß, das Gesicht den oberen Galerien zugewandt, sang sie ein Lied an die Freude und erschien dabei Mwen Mass wie die Verkörperung des Frühlings.

Am Schluß der Darbietung drückte jeder der Zuschauer auf einen der vor ihm angebrachten vier Knöpfe. An der Decke des Saales flammten goldene, blaue, grüne oder rote Lichter auf und zeigten den Grad des Beifalls für den Künstler an. So wurde das lärmende Klatschen früherer Zeiten vermieden.

Ein Gefunkel von goldenen und blauen Lichtern, zwischen denen sich einige grüne verloren, zeichnete Weda aus. Glühend vor Erregung trat sie zu ihren Freundinnen. Da kam auch Mwen Mass näher und wurde freundlich begrüßt.

Der junge Mann schaute sich um; er suchte seinen Lehrer und Vorgänger, doch Dar Weter war nirgends zu sehen.

„Wo haben Sie Dar Weter versteckt?“ wandte sich Mwen Mass scherzhaft an die drei Freundinnen.

„Und wo haben Sie Ren Boos gelassen?“ antwortete Ewda Nal mit einer Gegenfrage. Mwen Mass wich ihrem durchdringenden Blick aus.

„Weter gräbt unter Südamerika herum, er gewinnt Titan“, sagte Weda Kong; in ihrem Gesicht zuckte es leicht.

Tschara Nandi legte wie schützend einen Arm um die hübsche Historikerin.

Dann warf sie einen Blick auf die Uhr in der Kuppel des Saales und erhob sich.

Die Kleidung Tscharas verblüffte Mwen Mass. Auf den braunen Schultern des Mädchens lag eine Platinkette, die den Hals frei ließ. Der Anhänger war ein leuchtend roter Turmalin.

Die feste Brust war fast unbedeckt. Von dem Anhänger bis zum Gürtel zog sich ein Streifen dunkelvioletten Stoffs. Ebensolche Streifen verliefen mitten über jede Brust. Der Rücken war tief ausgeschnitten. Die schmale Taille umgab ein weißer Gürtel mit schwarzen Sternen und einer Platinschnalle in Halbmondform. Auf dem Rücken war an dem Gürtel ein langer Überwurf aus schwerer weißer Seide befestigt, der ebenfalls mit schwarzen Sternen verziert war. Bis auf die Kette und die blitzenden Schnallen an den schwarzen Schuhen trug die Tänzerin keinen Schmuck.

„Gleich bin ich an der Reihe“, sagte Tschara ruhig und ging zum Durchgang. Sie warf noch einen Blick auf Mwen Mass und verschwand, von tausend Blicken begleitet.

Auf der Bühne erschien eine Turnerin, ein anmutiges junges Mädchen von höchstens achtzehn Jahren. Von goldenem Licht überflutet, vollführte sie eine wirbelnde Kaskade von Sprüngen, Drehungen und Radschlägen, wobei sie beim Rhythmuswechsel der Musik in ausgefeiltem Gleichgewicht verharrte. Die Zuschauer billigten die Darbietungen durch eine Unzahl goldener Lichter, und Mwen Mass überlegte, daß es für Tschara Nandi nicht leicht war, gleich nach der erfolgreichen Turnerin aufzutreten. Ein wenig beunruhigt ließ er seine Blicke durch den gefüllten Saal schweifen und bemerkte plötzlich im dritten Sektor den Künstler Kart San. Der begrüßte ihn mit fröhlichem Kopfnicken.

Dann erlosch das Licht. Der durchsichtige Boden aus organischem Glas erstrahlte in Karmesinrot. Von der Rampe ergoß sich purpurnes Licht, flutete hin und her im Einklang mit dem Rhythmus der Musik, den hellen Tönen der Geigen und dem tiefen Klang der Baßsaiten. Von der Dynamik und dem Tempo der Musik ein wenig benommen, bemerkte Mwen Mass nicht sofort, daß in der Mitte der Bühne Tschara stand.

Sie begann den Tanz mit einer solchen Schnelligkeit, daß die Zuschauer den Atem anhielten. Nicht nur Beine und Arme bewegten sich, der ganze Körper des Mädchens schien von der feurigen Musik erfaßt. In den Lichtreflexen der Bühne nahm Tscharas rötliche Hauttönung eine kupferne Schattierung an. Mwen Mass’ Herz schlug schneller. Diese Hautfarbe erinnerte ihn an die Menschen auf dem märchenhaften Planeten des Epsilon Tucanae. Damals hatte er erfahren, daß es eine Vergeistigung des Körpers gibt, der durch Bewegungen die feinsten Nuancen des Gefühls und der Phantasie, der Leidenschaft und der Suche nach Glück zum Ausdruck bringen kann.

Mwen Mass erkannte, daß bei der irdischen Menschheit ebenfalls vielfältige Formen, reich an Schönheit, existieren, die den in seinem Innersten bewahrten Erscheinungen auf dem fernen Planeten glichen. Doch sein Traum konnte nicht so einfach ausgelöscht werden. Tschara, die das Antlitz der rothäutigen Tochter des Planeten des Epsilonsterns annahm, bestärkte den Leiter der Außenstationen in seinem früheren Entschluß.

Ewda Nal und Weda Kong, beide selbst ausgezeichnete Tänzerinnen, sahen zum erstenmal Tschara tanzen und waren begeistert. Weda, in der die Anthropologin und Historikerin erwacht war, stellte die These auf, in ferner Vergangenheit habe es in Gondwana, in den südlichen Ländern, stets mehr Frauen gegeben als Männer. Im Kampf mit den vielen Raubtieren wurden die Männer dezimiert. Später, als sich in diesen Ländern die altorientalischen Despotien herausbildeten, fanden viele der Männer den Tod in grausamen Kriegen, deren Ursache oft religiöser Fanatismus oder die Laune eines Gewaltherrschers war. Die Töchter des Südens führten ein schweres Leben, wodurch sie immer größere Vollkommenheit erreichten. Der Norden mit seiner geringen Bevölkerung und seiner kargen Natur kannte den Despotismus des Dunklen Zeitalters nicht. Dort blieben mehr Männer am Leben, war die Frau geachteter und geschätzter.

Weda verfolgte jede Geste Tscharas und stellte in den Bewegungen eine erstaunliche Zwiespältigkeit fest: Sanftheit und Gier zugleich. Sanft waren die gleitenden Bewegungen und die Biegsamkeit ihres Körpers, die Gier hingegen drückte sich in den schroffen Übergängen aus, in den Wendungen, die mit raubtierhafter Schnelligkeit erfolgten. Das war die Geschmeidigkeit, die die dunkelhäutigen Töchter Gondwanas in ihrem Jahrtausende währenden Existenzkampf erworben hatten. Wie gut paßte sie zu Tscharas feinen, aber markanten kretisch-griechischen Gesichtszügen!

Die Wellen des roten Lichts überfluteten Tscharas kupferfarbenen Körper, verloren sich in den dunklen Falten des glänzenden Stoffes, färbten die weiße Seide rosa.

Plötzlich, ohne jedes Finale, brachen die stürmischen Klänge ab, erlosch das rote Licht. An der hohen Kuppel des Saals flammte die Beleuchtung auf. Das ermattete Mädchen neigte den Kopf, ihr dichtes Haar fiel über ihr Gesicht. Den Tausenden goldenen Lichtern folgte ein dumpfer Lärm: Die Besucher erwiesen Tschara die höchste Ehre — sie dankten ihr, indem sie sich erhoben und die gefalteten Hände zur Bühne streckten. Tschara wurde verwirrt, strich die Haare zurück und lief, den Blick auf die oberen Galerien gerichtet, von der Bühne.

Die Festordner gaben eine Pause bekannt. Mwen Mass versuchte, Tschara in der Menge zu finden. Weda Kong und Ewda Nal indessen traten auf die riesige, einen Kilometer breite Freitreppe aus taubenblauem Glas hinaus, die vom Stadion direkt ins Meer führte. Der klare und kühle Abend lockte die beiden Frauen zum Baden.

„Nicht umsonst ist mir Tschara Nandi sogleich aufgefallen“, begann Ewda Nal. „Sie ist eine hervorragende Künstlerin. Heute hat sie uns einen Tanz der Lebenskraft gezeigt. Genau das scheint mir Ausdruck für den Eros der Alten zu sein.“

„Jetzt verstehe ich die Worte Kart Sans, daß die Schönheit wichtiger sei, als wir glaubten. Er hat das damals gut formuliert: ›Sie ist das Glück und der Sinn des Lebens!‹ Auch Ihre Formulierung ist zutreffend“, sagte Weda zustimmend. Sie zog die Schuhe aus und tauchte die Füße in das laue Wasser, das an die unteren Stufen klatschte.

Ewda Nal warf die Kleider ab und stürzte sich in die Wellen. Weda hatte sie bald eingeholt, und beide schwammen der großen Insel zu, die anderthalb Kilometer von der Uferstraße des Stadions entfernt glitzerte. Die flache, nur wenig über den Wasserspiegel ragende Insel säumten mehrere Reihen von muschelförmigen Gebilden aus perlmuttfarbenem Kunststoff, groß genug, drei oder vier Personen vor Sonne und Wind zu schützen und gegen die Nachbarn abzuschirmen.

Die beiden Frauen legten sich auf den weichen, federnden Boden einer solchen Muschel und genossen den frischen Geruch des Meeres.

„Sie sind schön braun geworden, seit wir uns das letztemal getroffen haben“, sagte Weda zu der Freundin. „Waren Sie viel am Strand, oder haben Sie Pigmenttabletten eingenommen?“

„Tabletten“, bekannte Ewda. „Ich habe nur gestern und heute in der Sonne gelegen.“

„Wissen Sie wirklich nicht, wo Ren Boos ist?“ fragte Weda.

„Ich ahne es, und das genügt, um beunruhigt zu sein“, antwortete Ewda Nal leise.

„Wollen Sie etwa…“ Weda verstummte, ohne ihren Gedanken auszusprechen. Doch Ewda schaute sie mit offenem Blick an.

„Für mich ist Ren Boos ein… hilfloser, noch unreifer Junge“, fuhr Weda zögernd fort. „Sie dagegen sind so zielsicher und willensstark.“

„Dasselbe hat mir auch Ren Boos gesagt, aber Sie haben genausowenig recht wie Ren. Er ist ein Mensch mit ausgeprägtem Intellekt, erfüllt von großer Schaffenskraft. Sogar in unserer Zeit findet man nur wenige Menschen, die ihm gleichkommen. Sie haben mit Recht Ren einen Jungen genannt, aber gleichzeitig ist er im wahrsten Sinne des Wortes ein Held. Nehmen Sie Dar Weter. Auch in ihm steckt etwas Jungenhaftes, nur entspringt es bei ihm einem Übermaß an physischer Kraft, während es sich bei Ren aus deren Fehlen ergibt.“

„Wie beurteilen Sie Mwen Mass?“ fragte Weda interessiert. „Sie haben ihn doch jetzt besser kennengelernt.“

„In Mwen Mass sind kalter Verstand und das archaische Gefühl zügellosen Verlangens wunderbar kombiniert.“

Weda Kong lachte auf.

„Wenn ich doch Ihre Exaktheit in der Charakterisierung erlernen könnte!“

„Es ist nun mal mein Fachgebiet, die Psychologie.“ Ewda zuckte mit den Schultern. „Aber darf ich Sie jetzt etwas fragen: Sie wissen, daß Dar Weter ein Mensch ist, der mich außerordentlich fesselt…“

„Sie befürchten halbe Entscheidungen?“ sagte Weda errötend. „Nein, hier wird es weder Halbheiten noch Unaufrichtigkeiten geben.“

Unter dem prüfenden Blick der Ärztin fuhr Weda ruhig fort: „Erg Noor… Unsere Wege haben sich seit langem getrennt. Doch konnte ich mich nicht ganz und gar von Erg entfernen, solange er im Kosmos war, und dadurch die Hoffnung und den Glauben an seine Rückkehr schwächen.“

Ewda Nal legte ihre schmale Hand auf Wedas Schulter.

„Das heißt also — Dar Weter?“

„Ja!“ antwortete Weda fest.

„Weiß er es?“

„Nein. Er wird es später erfahren, wenn die Expedition zurück ist. Wollen wir jetzt nicht zurückschwimmen?“ fragte Weda.

„Für mich wird es Zeit, das Fest zu verlassen“, sagte Ewda Nal, „mein Urlaub geht zu Ende. Vor mir liegt eine große neue Arbeit in der › Akademie des Leides und der Freude‹, aber vorher will ich noch meine Tochter besuchen.“

„Ist sie schon groß?“

„Sie ist siebzehn. Mein Sohn ist schon bedeutend älter. Ich habe die Pflicht jeder normal entwickelten Frau, mindestens zwei Kinder zur Welt zu bringen, erfüllt. Und jetzt möchte ich ein drittes haben — aber ein erwachsenes!“ Ewda lächelte, ihr Gesicht drückte zärtliche Liebe aus.

„Ich habe, mir immer einen hübschen kleinen Jungen mit großen Augen und einem niedlichen, staunenden Mund gewünscht. Aber mit Sommersprossen und Stupsnase“, sagte Weda, verschmitzt lächelnd.

„Haben Sie noch keine neue Arbeit?“ erkundigte sich Ewda Nal nach kurzem Schweigen.

„Nein. Ich warte auf die ›Tantra‹. Dann folgt eine lange Expedition.“

„Kommen Sie doch mit zu meiner Tochter“, schlug Ewda vor, und Weda willigte gern ein.


Über die ganze Wand des Observatoriums erstreckte sich der hemisphärische Siebenmeterbildschirm zur Vorführung von Bildern und Filmen, die mit starken Teleskopen aufgenommen worden waren. Mwen Mass schaltete die Übersichtsaufnahme des Himmelsabschnitts in der Nähe des Nordpols der Milchstraße ein — den Meridianstreifen der Sternbilder vom Großen Bären bis zum Raben und Centaurus. Dort, in den Jagdhunden, dem Haar der Berenike und der Jungfrau, befanden sich zahlreiche Galaxien — Sterneninseln des Weltalls in Form flacher Räder oder Scheiben. Besonders viele wurden im Haar der Berenike entdeckt: regelmäßige und unregelmäßige, mit unterschiedlicher Rotation und Projektion, solche, die unvorstellbar weit, oft Milliarden Parsek, entfernt waren, und solche, die ganze „Wolken“ aus Zehntausenden von Galaxien bildeten. Die größten erreichten einen Durchmesser von 20000 bis 50000 Parsek wie die Galaxis NN 89105 + SB 23, im Altertum auch als M 31 oder Andromedanebel bekannt. Von der Erde aus war sie als schwach leuchtende Sternwolke mit bloßem Auge zu erkennen. Schon vor langer Zeit waren die Menschen hinter das Geheimnis dieses Nebelflecks gekommen. Er erwies sich als ein riesiges spiralförmiges Sternsystem, das anderthalbmal so groß ist wie das Milchstraßensystem. Trotz der Entfernung von achthundertdreißigtausend Parsek führte die Erforschung des Andromedanebels zu wichtigen Erkenntnissen über unsere eigene Galaxis.

Aus seiner Kindheit erinnerte sich Mwen Mass an die großartigen Fotografien verschiedener Galaxien, die mit Hilfe der Elektroneninversion optischer Bilder oder von Radioteleskopen gemacht wurden. Diese Art Teleskope drangen noch weiter in den Kosmos als zum Beispiel die beiden Riesenteleskope im Pamir und in Patagonien, von denen jedes einen Durchmesser von vierhundert Kilometern hatte. Die Galaxien hatten schon immer in ihm den Wunsch wachgerufen, die Gesetze ihres Aufbaus, ihre Entstehungsgeschichte und ihr weiteres Schicksal zu erfahren. Vor allem aber wollte er wissen — und das bewegte jetzt jeden Bewohner der Erde —, ob auf den zahllosen Planetensystemen dieser Sterneninseln Leben existierte, ob es in dem fernen Raum eine Zivilisation gäbe. Der Bildschirm zeigte drei Sterne, die bei den alten Arabern Sirrah, Mirach und Alamak genannt wurden — Alpha, Beta und Gamma Andromedae — und in einer aufsteigenden Geraden lagen. Auf beiden Seiten dieser Linie waren zwei nahe Sternsysteme gelegen — der Andromedanebel und die Spirale M 33 im Sternbild Dreieck. Mwen Mass kannte die Aufnahmen zur Genüge und nahm einen anderen Film.

Er zeigte den seit langem bekannten Spiralnebel mit der alten Bezeichnung NGK 5194 oder M 51 im Sternbild Jagdhunde, Millionen von Parsek entfernt. Das war eine der wenigen Sterneninseln, die von der Erde aus als Scheiben, das heißt senkrecht zu ihrem Äquator, zu sehen sind. Ein hell leuchtender dichter Kern aus Millionen Sternen, von dem zwei Spiralarme ausgehen. Nach außen zu werden die Arme immer schwächer und nebelhafter, bis sie im Dunkel des Raumes verschwinden. Zwischen den Armen oder Hauptzweigen erstrecken sich, von schwarzen „Löchern“ — Wolken aus dunkler Materie — unterbrochen, kleinere Sternhaufen und Wolken leuchtenden Gases, haargenau gekrümmt wie Turbinenschaufeln.

Dann betrachtete Mwen Mass den kolossalen Spiralnebel NGK 4565 im Sternbild Haar der Berenike. Aus einer Entfernung von sieben Millionen Parsek zeigte er sich dem Betrachter auf eine Seite geneigt wie ein schwebender Vogel. Der glühende Kern. einer stark abgeplatteten Kugel ähnelnd, schien eine dichte, leuchtende Masse zu sein. Es war deutlich zu erkennen, wie flach die Sterneninseln waren; die Galaxis konnte man mit dem Rädchen eines Uhrwerks vergleichen. Der Rand des Rädchens ist unscharf, als löste er sich in der bodenlosen Finsternis des Raumes auf. An solch einem Rand unserer Galaxis befand sich die Sonne mit dem winzigen Staubkörnchen — der Erde, die durch die Kraft des Wissens mit vielen bewohnten Welten verbunden war.

Mwen Mass schaltete auf den ihn am meisten interessierenden Spiralnebel um, auf NGK 4594 im Sternbild der Jungfrau. Auch er war schräg geneigt mit seinem Äquator sichtbar. Diese rätselhafte Sterneninsel in einer Entfernung von zehn Millionen Parsek ähnelte einer dicken glühenden Linse, die von einer Schicht leuchtenden Gases umgeben ist. Am Äquator wurde die Linse von einem breiten schwarzen Streifen durchschnitten — einer Anhäufung dunkler Materie. Dieser Spiralnebel wirkte wie eine geheimnisvolle Laterne, die aus unvorstellbarer Ferne leuchtet.

Welche Welten mochten sich in seinen Strahlen, die heller sind als die der anderen Spiralnebel und im Durchschnitt die Spektralklasse F erreichen, verbergen? Sind seine riesigen Planeten bewohnt, müht sich dort ebenso wie bei uns der Geist um die Erkenntnis der Naturgeheimnisse?

Das Schweigen der Sterneninseln rief in Mwen Mass ohnmächtigen Zorn hervor. Bis zu dieser Galaxis brauchte das Licht zweiunddreißig Millionen Jahre! Für den Austausch von Informationen sind also vierundsechzig Millionen Jahre erforderlich.

Mwen Mass sah die Filmspulen durch. Bald darauf war auf dem Bildschirm inmitten vereinzelter mattschimmernder Sterne ein großer, runder heller Lichtfleck zu sehen. Ein ungleichmäßiger schwarzer Streifen verlief mitten durch den Fleck und ließ die grell leuchtenden Partien zu beiden Seiten noch stärker hervortreten. Der Streifen wurde zu den Enden hin breiter und verdeckte den weiten Hof glühenden Gases, der den hellen Fleck ringförmig umgab. Hier hatte man mit technischer Raffinesse zusammentreffende Galaxien im Sternbild Schwan aufgenommen. Dieses Zusammenprallen gigantischer Sternsysteme von der Größenordnung unserer Milchstraße oder des Andromedanebels war schon seit langem als Quelle einer Radiofrequenzstrahlung bekannt, wohl der stärksten in dem uns zugänglichen Teil des Weltalls. Die sich schnell bewegenden Gasströme erzeugten Magnetfelder von unvorstellbarer Stärke, die in alle Richtungen des Kosmos Nachricht von der gigantischen Katastrophe sandten. Die Materie selbst strahlte dieses Notsignal aus — eine Funkstation mit der Leistung von einer Quintilliarde oder tausend Quintillionen Kilowatt. Aber die Entfernung bis zu den Galaxien war so groß, daß die Aufnahme auf dem Bildschirm den Zustand vor vielen hundert Millionen Jahren zeigte. Wie die einander durchdringenden Sternsysteme jetzt aussahen, würde man auf der Erde erst zu einer Zeit wissen, in der die Menschheit vielleicht gar nicht mehr existierte.

Mwen Mass sprang auf und preßte die Hände um die Tischkante, daß die Gelenke knackten.

Millionen Jahre würden vergehen, Zehntausende von Generationen hinwegsterben, bis diese Signale die Erde erreichten. Das bedeutete selbst für die fernsten Nachkommen „niemals“. Die gewaltige Zeitspanne aber ließ sich zusammendrängen dank Ren Boos’ Entdeckung, die sie beide experimentell erproben wollten.

Die Astronomen der Vorzeit glaubten, die Spiralnebel strebten nach verschiedenen Seiten auseinander. Das Licht, das von den fernen Sterneninseln in die irdischen Teleskope drang, war aber trügerisch: Die Lichtschwingungen verlängerten sich und verwandelten sich in rote Wellen. Diese Rotverschiebung im Spektrum schien ein Beweis dafür, daß sich die Spiralnebel vom Beobachter entfernten. Die Menschen der Vergangenheit waren gewohnt, die Erscheinungen einseitig und geradlinig zu deuten. So stellten sie die Theorie vom auseinanderstrebenden oder explodierenden Weltall auf, sie hatten noch nicht begriffen, daß das nur eine Seite des gewaltigen Prozesses des Werdens und Vergehens war. Eben nur eine Seite — die der Auflösung und Zerstörung —, das heißt der Übergang der Energie in niedere Formen nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, wurde mit den menschlichen Sinnen und den zu ihrer Verstärkung konstruierten Geräten erfaßt. Die andere Seite aber — die des Werdens, der Integration und der Schöpfung — wurde von den Menschen nicht wahrgenommen, weil das Leben seine Kraft aus der Sonnenenergie schöpft und sich das Wahrnehmungsvermögen entsprechend herausbildet. Der menschliche Verstand erforschte jedoch auch die lange Zeit verborgen gebliebenen Vorgänge bei der Entstehung der Welten. In jenen weit zurückliegenden Zeiten aber glaubte man, daß sich die Sterneninseln um so schneller von der Erde fortbewegten, je weiter sie von ihr entfernt waren. Man errechnete sogar Geschwindigkeiten der Spiralnebel, die der des Lichts nahekamen, und einige Wissenschaftler erklärten jenen Abstand zur Grenze des sichtbaren Weltalls, in dem die Spiralnebel Lichtgeschwindigkeit erreicht zu haben schienen. Tatsächlich hätte man dann von ihnen kein Licht empfangen und sie nie sehen können. Jetzt aber kennen wir die Ursache für die Rotverschiebung ihres Lichts. Und es gibt nicht nur eine dafür. Von den fernen Sterneninseln dringt nur das von den hellen Zentren ausgestrahlte Licht zur Erde. Diese riesigen Materieanhäufungen sind von ringförmigen Gravitationsfeldern umgeben, die die Lichtstrahlen durch ihre Stärke und durch ihre Ausdehnung stark beeinflussen. Die Lichtschwingungen werden allmählich verlangsamt, werden zu längeren, roten Wellen. Schon lange wissen die Astronomen, daß das Licht sehr dichter Sterne rot erscheint, daß sich die Linien ihres Spektrums nach Rot hin verschieben und der betreffende Stern sich zu entfernen scheint, wie zum Beispiel der zweite Stern des Sirius — der weiße Zwerg Sirius B. Je weiter ein Sternsystem entfernt ist, um so konzentrischer ist die Strahlung, um so stärker ist die Rotverschiebung seines Spektrums.

Andererseits werden die Lichtwellen bei einem sehr langen Weg durch den Weltraum „unstet“, und die Lichtquanten verlieren einen Teil ihrer Energie. Heutzutage ist diese Erscheinung geklärt: Bei den roten Wellen kann es sich auch um „gealterte“ Wellen gewöhnlichen Lichts handeln. Selbst die Lichtwellen können „altern“, wenn sie unermeßliche Entfernungen zurücklegen. Welche Hoffnung blieb dem Menschen, Raum und Zeit zu überwinden, wenn er nicht die Schwerkraft selbst durch ihre Gegensätzlichkeit angriff, wie in den Berechnungen von Ren Boos?

Warum also Skrupel! Er hatte das Recht, diesen gewagten Versuch durchzuführen.

Mwen Mass trat auf den Balkon des Observatoriums hinaus und ging hastig auf und ab. Vor seinen ermüdeten Augen schimmerten noch die fernen Galaxien, die ihre roten Lichtwellen zur Erde sandten als Hilferufe, mit denen sie an den menschlichen Verstand appellierten. Mwen Mass lachte leise und selbstsicher. Diese roten Wellen würden dem Menschen ebenso vertraut werden wie jene, die Tschara Nandi beim Fest der Flammenschalen umflutet hatten — jenes Mädchen, das ihn so stark an die kupferfarbene Tochter des Sterns Epsilon Tucanae erinnerte.

Nicht nur um eine fremde schöne Welt zu entdecken, wollte er Ren Boos’ Vektor auf Epsilon Tucanae richten, sondern auch der irdischen Repräsentantin dieses Sterns zu Ehren.

Загрузка...