Der Rat für Astronautik

Ebenso wie der Wirtschaftsrat, das Gehirn des Planeten, besaß auch der Rat für Astronautik ein besonderes Gebäude für wissenschaftliche Konferenzen. Die Räume waren so eingerichtet und ausgestaltet, daß sie es den Versammelten erleichterten, von irdischen auf kosmische Probleme umzuschalten.

Tschara Nandi war noch nie im Hauptsaal gewesen. Aufgeregt betrat sie mit Ewda Nal diesen seltsamen ovalen Raum mit der gewölbten Decke und den ellipsenförmig angeordneten Sitzreihen. Der ganze Raum war in rosigviolettes Licht getaucht, das von einem anderen Stern zu stammen schien. Alle Linien der Wände, der Decke und der Sitzreihen liefen in einem Punkt am Ende des Saales zusammen und bildeten gleichsam den Scheitelpunkt. Dort befanden sich etwas erhöht die Bildschirme, die Tribüne und die Plätze für die Mitglieder des Rates, die abwechselnd die Versammlung leiteten.

Die mattgoldene Täfelung der Wände wurde von Reliefkarten unterbrochen. Auf der einen Seite stellten sie Planeten des irdischen Sonnensystems dar, auf der anderen Seite bereits erforschte der nächst gelegenen Sterne. Unterhalb der hellblauen Decke zog sich eine zweite Reihe entlang, auf der in leuchtenden Farben Schemata bewohnter Sternsysteme abgebildet waren, die der Rat von den Nachbarn im Großen Ring erhalten hatte.

Ein altertümliches, vergilbtes und offensichtlich des öfteren restauriertes Gemälde über der Tribüne fesselte Tscharas Aufmerksamkeit. Ein schwarzvioletter Himmel nahm den ganzen oberen Teil des Bildes ein. Die kleine Sichel eines fremden Mondes warf ein fahles Licht auf das gespenstisch aufragende Heck eines alten Sternschiffes. Reihen häßlicher blauer Pflanzen, so trocken und hart, als wären sie aus Metall, verloren sich in der Ferne. Über den Sand schleppte sich ein Mann in leichtem Schutzanzug. Er blickte auf das zerschellte Schiff und auf seine toten Gefährten am Boden. In dem Glas seines Schutzhelms spiegelte sich der letzte Schein der Abendröte. Hervorragend war es dem Künstler gelungen, Verzweiflung und Einsamkeit in einer fremden Welt darzustellen. Auf einem niedrigen Hügel zur Rechten kroch etwas Unförmiges, Widerwärtiges durch den Sand. Die Bildunterschrift „Allein übriggeblieben“ war kurz und prägnant.

Von dem Bild ganz gefesselt, bemerkte das Mädchen nicht sofort die kunstvolle architektonische Gestaltung des Saales: Die Anordnung der Sitze war fächerförmig, in parallelen ansteigenden Reihen, so daß von verdeckten Zwischenreihen zu jedem einzelnen Platz Zugang war. Jede Reihe war isoliert von der benachbarten, der oberen oder der unteren. Nachdem Tschara neben Ewda Platz genommen hatte, betrachtete sie die altertümlichen Verzierungen an den Sesseln, Pulten und Barrieren, die aus echtem perlmuttgrauem afrikanischem Holz gefertigt waren. Heutzutage würde niemand mehr soviel Arbeit aufwenden für etwas, was innerhalb von wenigen Minuten gegossen und poliert werden konnte. Doch Tschara erschien das Holz wärmer und lebendiger als der Kunststoff — vielleicht aus Ehrfurcht vor dem Alten, die jedem Menschen eigen ist. Sie strich mit der Hand über die geschwungene Sessellehne, während sie ihre Augen durch den Saal schweifen ließ.

Wie immer waren viele Menschen versammelt, obgleich starke Fernsehsender die Sitzung auf dem ganzen Planeten ausstrahlten. Mir Om, der Sekretär des Rates, gab wie üblich einen kurzen Bericht über die Mitteilungen, die seit der letzten Ratssitzung eingegangen waren. Von den vielen hundert Menschen im Saal war nicht ein einziger unaufmerksam. Doch Tschara verpaßte die erste Mitteilung, denn sie war damit beschäftigt, die Aussprüche berühmter Wissenschaftler unter den Planetenkarten zu lesen. Besonders gefiel ihr der Aufruf unter der Jupiterkarte: „Habt einen Blick für die unverständlichen Dinge, die uns umgeben. Sie drängen sich Auge und Ohr geradezu auf, wir aber hören und sehen nicht, welche großen Entdeckungen hinter ihren verschwommenen Konturen verborgen sind.“ An einer anderen Stelle hieß es: „Es ist nicht einfach, den Vorhang vor dem Unbekannten zu lüften — erst nach unendlichen Mühen, Abweichungen und Irrwegen beginnen wir, den wahren Sinn zu erkennen, und neue, ungeahnte Perspektiven eröffnen sich uns. Weicht niemals Dingen aus, die zu Anfang nutzlos und unerklärlich erscheinen.“

Eine Bewegung auf der Tribüne, und im Saal erlosch das Licht. Die ruhige, kräftige Stimme des Sekretärs zitterte vor Erregung.

„Jetzt werden Sie etwas sehen, was noch unlängst völlig unmöglich erschien: eine Aufnahme unseres Milchstraßensystems von der Seite. Vor über 150000 Jahren oder anderthalb galaktischen Minuten haben sich die Bewohner des Planetensystems…“ — es folgten mehrere Zahlen, die Tschara nicht behielt, da sie ihr nichts sagten — „… im Sternbild Centaurus an Bewohner der Großen Magellanschen Wolke gewandt. Sie ist das einzige extragalaktische Sternsystem in unserer Nähe, auf dem es unseres Wissens denkende Wesen gibt, die imstande sind, sich über den Großen Ring mit unserer Galaxis in Verbindung zu setzen. Noch haben wir nicht exakt bestimmen können, wo dieses Magellansche Planetensystem liegt, seine Sendung aber — eine Aufnahme von unserer Galaxis — haben wir empfangen. Hier ist sie!“

Auf dem riesigen Bildschirm leuchtete, in silbriges Licht gehüllt, ein länglicher Sternhaufen, der sich zu den Enden hin verjüngte. Rund um das Planetensystem war nachtschwarze Finsternis. Die gleiche schwarze Leere gähnte zwischen den Spiralarmen. Ein bleiches Leuchten lag über dem Ring der Kugelsternhaufen. Flache Sternfelder wechselten mit Wolken und Streifen erkalteter schwarzer Materie. Die Aufnahme unseres Milchstraßensystems war von einem ungünstigen Standort aus gemacht worden: Sein zentraler Kern ragte als gewölbte leuchtende Masse nur wenig über die schmale Linse. Um eine richtige Vorstellung von unserem Sternsystem zu erhalten, hätte man es von entfernteren Galaxien aufnehmen müssen, die auf einer höheren galaktischen Breite lagen. Aber seit Bestehen des Großen Rings gab es keine Anzeichen, daß noch auf einer anderen Galaxis vernunftbegabte Wesen lebten.

Wie gebannt starrten die Menschen auf den Bildschirm, zum erstenmal konnten sie ihre Sternenwelt als Außenstehende, gleichsam aus dem Weltraum, betrachten.

„Damit sind die Nachrichten beendet, die unser Observatorium über den Großen Ring erhielt. Sie wurden dem Weltinformationsdienst noch nicht zugeleitet.“ Der Sekretär hatte wieder das Wort ergriffen. „Und nun kommen wir zu den Projekten, die auf breiter Basis erörtert werden sollen.

Juta Gai hatte vorgeschlagen, auf dem Mars eine künstliche, zur Atmung geeignete Atmosphäre zu schaffen, indem man leichte Gase aus Tiefengesteinen ausscheidet. Sein Projekt wurde als erfolgversprechend anerkannt, da es auf genauen Berechnungen basiert. Die Menschen unserer Marssiedlungen werden dadurch ausreichend mit Luft zur Atmung und Wärmeisolierung versorgt sein, so daß sie die Treibhausanlagen verlassen können. Vor vielen Jahren, nach der Entdeckung von Erdölozeanen und Bergen aus festen Kohlenwasserstoffen auf der Venus, wurde automatisch eine künstliche Atmosphäre unter gigantischen Glocken aus durchsichtigen Plasten geschaffen. So konnte man dort Pflanzen züchten und Fabriken errichten, die die Menschheit mit allen möglichen Erzeugnissen der organischen Chemie in gewaltigen Mengen versorgen.“

Der Sekretär legte eine Metallfolie zur Seite und lächelte freundlich. An den Sitzreihen nahe der Tribüne erschien Mwen Mass in dunkelroter Kleidung, gesammelt, feierlich, ruhig. Er hob die gefalteten Hände über den Kopf als Zeichen seiner Hochachtung vor den Versammelten und setzte sich.

Der Sekretär verließ die Tribüne. Eine junge Frau mit kurzem goldblondem Haar und staunenden grünen Augen nahm seinen Platz ein. Grom Orm, der Vorsitzende des Rates, trat neben sie.

„Für gewöhnlich geben wir neue Vorschläge bekannt. In diesem Fall aber handelt es sich um eine fast abgeschlossene Untersuchung. Die Verfasserin, Iwa Dshan, wird Ihnen selbst das Material zu einer gründlichen Prüfung unterbreiten.“

Die junge Frau begann ihre Ausführungen mit leiser, gepreßter Stimme. Ihr Ausgangspunkt war die allgemein bekannte Tatsache, daß sich die Pflanzenwelt der südlichen Kontinente durch einen bläulichen Farbton der Blätter auszeichnete, wie er für die archaischen Formen der irdischen Flora charakteristisch war. Die Untersuchung der Pflanzenwelt anderer Planeten hatte ergeben, daß bläuliches Blattlaub in lichtdurchlässigeren Atmosphären oder bei härterer ultravioletter Strahlung der betreffenden Sonne wuchs.

„Während die rote Strahlung unserer Sonne konstant geblieben ist, ist ihre blaue und ultraviolette Strahlung instabil, und vor etwa zwei Millionen Jahren hat sich ihre violette Strahlung stark und anhaltend verändert.

Damals entwickelten sich bläuliche Pflanzen; Vögel und andere Tiere, die unter freiem Himmel lebten, nahmen eine schwarze Färbung an; Vögel, die an schattenlosen Stellen nisteten, legten schwarze Eier. Zu dieser Zeit wurde die Achse unseres Planeten infolge einer Änderung der elektromagnetischen Verhältnisse unseres Sonnensystems instabil. Schon vor längerer Zeit wollte man Meere in die Senken des Festlandes leiten, um das bestehende Gleichgewicht zu stören und die Lage der Erdachse zu verändern. Damals stützten sich die Astronomen lediglich auf die elementare Mechanik der Gravitation und ließen das elektromagnetische Gleichgewicht des Systems völlig außer acht, wo es doch weit größeren Schwankungen unterworfen war als die Gravitation. Und nur von dieser Seite aus müssen wir an die Lösung des Problems herangehen. Es ist einfacher, billiger und führt schneller zum Ziel. Erinnern wir uns: Zu Beginn der Raumfahrt mußte man riesige Energiemengen aufwenden, wollte man künstliche Schwerkraft erzeugen. Praktisch war das also unmöglich. Heute, nach der Entdeckung des Mesonenzerfalls, sind unsere Raumschiffe mit einfachen und zuverlässigen Aggregaten zur Erzeugung künstlicher Gravitation ausgestattet. So bedeutet auch Ren Boos’ Experiment einen Umweg zur wirksamen und raschen Veränderung der Erdrotation.“

Iwa Dshan verstummte. Eine Gruppe von sechs Männern, die Helden der Pluto-Expedition, grüßten sie von der Mitte des Saales, indem sie ihr die gefalteten Hände entgegenstreckten. Die Wangen der jungen Frau röteten sich. Auf dem Bildschirm waren die Konturen stereometrischer Zeichnungen zu sehen.

„Man kann sogar noch weiter gehen und die Umlaufbahnen der Planeten verändern, insbesondere den Pluto näher an die Sonne heranbringen, um auf diesem einst bewohnten Planeten wieder Leben ansiedeln zu können. Doch vorerst denke ich nur an eine Verschiebung der Erdachse, um die klimatischen Bedingungen der kontinentalen Hemisphäre zu verbessern.

Ren Boos’ Experiment hat gezeigt, daß eine Inversion des Gravitationsfeldes in seinen zweiten Aspekt, das Magnetfeld, mit anschließender vektorieller Polarisation in folgenden Richtungen möglich ist…“

Die Figuren auf dem Bildschirm zogen sich in die Länge und drehten sich. Iwa Dshan fuhr fort: „Daraufhin verliert die Erddrehung ihre Stabilität, und unser Planet kann in jede gewünschte Lage gebracht werden, die die günstigste und längste Sonnenbestrahlung gewährleistet.“

Auf einer langen Glasscheibe unterhalb des Bildschirms waren maschinell berechnete Parameter aneinandergereiht. Jeder, der diese Symbole verstand, konnte sich davon überzeugen, daß Iwa Dshans Projekt theoretisch fundiert war.

Iwa Dshan schaltete die Zeichnungen und Symbole aus und verließ mit gesenktem Blick die Tribüne. Die Zuhörer flüsterten lebhaft miteinander. Der junge Leiter der Pluto-Expedition schritt zur Tribüne, nachdem er sich durch Gesten mit Grom Orm verständigt hatte.

„Zweifellos führt Ren Boos’ Experiment zu einer Kettenreaktion — einer Folge wichtiger Entdeckungen. Meiner Meinung nach wird es der Wissenschaft ungeahnte Perspektiven eröffnen. Genauso war es mit der Quantentheorie, dem ersten Schritt auf dem Wege zum Verständnis des Repagulums, und der anschließenden Entdeckung der Antiteilchen und der Antifelder. Dann folgte die Repagularrechnung, die ein Sieg über die Unschärferelation in der klassischen Physik Heisenbergs war. Und schließlich hat Ren Boos den nächsten Schritt zur Analyse des Raum-Feld-Systems getan, wobei er hinter das Geheimnis der Antigravitation und des Antiraums oder, nach dem Gesetz des Repagulums, des Nullraums kam. Auch alle nicht anerkannten Theorien haben letzten Endes am Fundament der Wissenschaft mitgebaut!

Ich bin von der Pluto-Forschergruppe beauftragt, das Problem durch den Welt-Informationsdienst zur Diskussion zu stellen. Eine Verschiebung der Erdachse würde den Energieaufwand für die Erwärmung der Polargebiete verringern, die Polarfronten noch mehr abschwächen und den Wasserhaushalt der Kontinente verbessern.“

„Ist die Frage so weit klar, daß wir zur Abstimmung kommen können?“ fragte Grom Orm.

Als Antwort flammten unzählige grüne Lämpchen auf.

„Also stimmen wir ab!“ sagte der Vorsitzende und fuhr mit der Hand unter das Pult.

Er drückte auf einen der drei Signalknöpfe, die an die Rechenmaschine „Ja“, „Nein“ oder „Stimmenthaltung“ weitergaben. Ihm gleich taten es alle Ratsmitglieder in geheimer Abstimmung. So auch Ewda Nal und Tschara. Eine zweite Maschine registrierte die Meinungen der übrigen Zuhörer; gleichsam die Kontrolle für die Richtigkeit des Ratsbeschlusses.

Wenige Augenblicke später leuchteten auf den Vorführbildschirmen große Zeichen auf: Das Problem war zur Diskussion angenommen.

Nun betrat Grom Orm die Tribüne.

„Aus einem Grunde, den zu verschweigen mir bis zum Abschluß der Angelegenheit; erlaubt sei, muß erst die Handlungsweise des ehemaligen Leiters der Außenstationen, Mwen Mass, untersucht und danach die Frage nach der achtunddreißigsten Sternenexpedition entschieden werden. Ist der Rat einverstanden?“

Grüne Lichter waren die einmütige Antwort.

„Sind allen die Vorfälle im einzelnen bekannt?“

Wieder eine Flut von grünen Lichtern.

„Das beschleunigt die Sache! Ich bitte Mwen Mass, die Motive seiner Handlungsweise, die solche furchtbaren Folgen hatte darzulegen. Da sich der Physiker Ren Boos noch nicht von seinen Verletzungen erholt hat, konnte er nicht als Zeuge geladen werden. Er unterliegt keiner Verantwortung.“

Grom Orm sah das rote Licht an Ewda Nals Platz.

„Dem Rat zur Kenntnisnahme! Ewda Nal möchte der Mitteilung über Ren Boos etwas hinzufügen.“

„Nur, daß ich statt seiner zu sprechen wünsche.“

„Aus welchen Motiven?“

„Ich liebe ihn!“

„Sie können sich nach Mwen Mass äußern.“

Mwen Mass ging auf die Tribüne.

Ruhig, ohne etwas zu beschönigen, berichtete er über die unerwarteten Resultate des Experiments und über die frappierende Begebenheit, deren Realität er nicht beweisen konnte. Da sie den Versuch heimlich durchführen wollten und daher zu großer Hast gezwungen waren, hatten sie keine Spezialgeräte zur Aufzeichnung konstruieren können und sich auf die normalen Gedächtnismaschinen verlassen müssen, deren Empfänger dann restlos zerstört wurden. Falsch war es auch, den Versuch auf dem Satelliten durchzuführen. Man hätte an den Satelliten 57 ein altes Planetenschiff hängen und dort die Geräte zur Orientierung des Vektors unterbringen müssen. An allem sei allein er, Mwen Mass, schuld. Ren Boos habe sich nur mit der Anlage befaßt, die Durchführung des Versuches im Kosmos lag ausschließlich in der Kompetenz des Leiters der Außenstationen.

Tschara preßte die Hände zusammen. Schwerwiegend waren die Argumente gegen Mwen Mass.

„Wußten die Beobachter des explodierten Satelliten, daß das Experiment möglicherweise zu einer Katastrophe führen konnte?“ fragte Grom Orm.

„Ja, sie wurden darauf aufmerksam gemacht und hatten keinerlei Einwände.“

„Das wundert mich nicht“, warf Grom Orm finster ein. „Tausende junger Menschen nehmen alljährlich an gefährlichen Versuchen auf unserem Planeten teil, bisweilen unter Einsatz ihres Lebens. Und wieder andere treten mit unvermindertem Mut den Kampf gegen das Unbekannte an. Da Sie die jungen Menschen warnten, befürchteten Sie selbst einen derartigen Ausgang, trotzdem aber haben Sie den Versuch durchgeführt.“

Mwen Mass senkte schweigend den Kopf. Tschara seufzte tief auf.

„Legen Sie Ihre Gründe dar, die Sie das Risiko eingehen ließen“, sagte der Vorsitzende des Rates nach einer Pause.

Und wieder ergriff Mwen Mass das Wort, doch diesmal sprach er leidenschaftlich und erregt. Er erzählte, daß ihn von Kindheit an die Millionen Namenloser quälten, die von der unerbittlichen Zeit besiegt worden waren; wie brennend, es ihn danach verlangte, zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit Raum und Zeit zu überwinden, den ersten Schritt auf einem Weg zu gehen, den unverzüglich Hunderttausende beschreiten würden. Er hielt sich nicht für berechtigt, den Versuch vielleicht für ein Jahrhundert hinauszuschieben, nur um nicht einige Menschen dem Risiko und sich der Verantwortung auszusetzen.

Während Mwen Mass sprach, schlug Tscharas Herz schneller vor Stolz auf ihren Geliebten. Seine Schuld schien ihr nicht mehr so groß. Mwen Mass kehrte an seinen Platz zurück und wartete auf die Entscheidung.

Ewda Nal übergab das Magnetofonband mit Ren Boos’ Erklärung. Seine schwache, keuchende Stimme war durch die Verstärker im ganzen Saal deutlich zu hören.

Der Physiker rechtfertigte Mwen Mass’ Verhalten. Da dem Leiter der Außenstationen nicht die volle Tragweite des Problems bekannt war, mußte er sich völlig auf ihn — Ren Boos — verlassen, und er seinerseits habe ihn vom unbedingten Erfolg zu überzeugen gewußt. Doch auch in seinem Verhalten sah der Physiker keine Schuld. Es werden, sagte er, jährlich weniger wichtige Versuche durchgeführt, die nicht selten tragisch enden. Die Wissenschaft — der Kampf um das Glück der Menschheit — fordere ebenso Opfer wie jeder andere Kampf. Menschen, die nichts wagen, kennen nicht die Fülle und Freude des Lebens. Solche Wissenschaftler werden nie Erfolg haben.

Ren Boos schloß mit einer kurzen Einschätzung des Versuches und der Fehler, war jedoch von einem künftigen Erfolg fest überzeugt.

„Ren Boos hat nichts über seine Beobachtungen während des Versuches gesagt.“ Grom Orm sah Ewda Nal fragend an. „Sie wollten für ihn sprechen.“

„Ja, ich habe diese Frage vorausgesehen und deshalb ums Wort gebeten“, antwortete Ewda. „Wenige Sekunden nach dem Einschalten der F-Stationen hat Ren Boos das Bewußtsein verloren und nichts weiter gesehen. Vorher aber hatte er die Stellung der Gerätezeiger gesehen und im Gedächtnis behalten; sie läßt eindeutig auf den Nullraum schließen. Hier sind seine Aufzeichnungen nach dem Gedächtnis.“

Auf dem Bildschirm erschienen einige Zahlen, die von den meisten sofort abgeschrieben wurden.

„Gestatten Sie mir, noch etwas von der ›Akademie des Leides und der Freude‹ hinzuzufügen“, fuhr Ewda fort. „Die Auswertung von Meinungsäußerungen zur Katastrophe ergibt folgendes…“

Auf dem, Schirm reihten sich achtstellige Zahlen aneinander, unterteilt in die Spalten: Verurteilung, Rechtfertigung, Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Durchführung, Vorwurf der Übereilung. Doch das Ergebnis fiel ohne Zweifel zugunsten von Mwen Mass und Ren Boos aus.

Auf der anderen Seite des Saals flammte ein rotes Signal auf, und Grom Orm erteilte dem Astronomen der siebenunddreißigsten Sternenexpedition, Pur Hiss, das Wort. Der sprach laut und temperamentvoll mit weit ausholenden Gesten seiner langen Arme. Sein Adamsapfel bewegte sich dabei schnell auf und ab.

„Die Gruppe der Astronomen verurteilt Mwen Mass. Seine Handlungsweise — die Durchführung des Versuches ohne Wissen des Rates — war feige und erweckt den Verdacht, daß Mwen Mass nicht so uneigennützige Ziele verfolgt hat, wie es die Diskussionsredner hier darzulegen versuchten!“

Tschara wurde flammendrot vor Empörung, lediglich der kalte Blick Ewda Nals hielt sie an ihrem Platz.

„Ihre Beschuldigungen sind schwerwiegend, aber nicht exakt formuliert“, erwiderte Mwen Mass mit Erlaubnis des Vorsitzenden. „Was verstehen Sie unter Feigheit und was — unter Eigennutz?“

„Unsterblicher Ruhm, wenn der Versuch gelingt — eigennütziges Bestreben also. Und Ihre Feigheit — Sie haben befürchtet, man erlaube Ihnen den Versuch nicht, deshalb haben Sie ihn heimlich und übereilt durchgeführt!“

Mwen Mass lächelte, winkte ab und, setzte sich schweigend. Triumphierender Haß funkelte in Pur Hiss’ Augen.

Die berühmte Nervenärztin meldete sich noch einmal zu Wort.

„Ich halte die Verdächtigungen von Pur Hiss für unbegründet. Seine Äußerung ist übereilt gewesen und für die Lösung dieser ernsthaften Frage zu gehässig vorgetragen. Wahrscheinlich hatte Hiss eine mangelhafte Erziehung, seine Ansichten über hinterhältige Motive führen uns in das finstere Zeitalter zurück. Nur Menschen der fernen Vergangenheit konnten so über unsterblichen Ruhm sprechen. Da sie keine Freude und Erfüllung im Leben fanden, da sie sich nicht als Teil der gesamten schöpferischen Menschheit fühlten, hatten sie Angst vor der Unvermeidlichkeit des Todes und klammerten sich an die geringste Hoffnung auf ein ewiges Weiterleben. Der Astronom Pur Hiss begreift nicht, daß nur die im Gedächtnis der Menschen weiterleben, deren Denken und Wollen und deren Erfolge fortwirken. Eine so primitive Auffassung über Unsterblichkeit und Ruhm habe ich schon lange nicht mehr gehört; mich wundert, daß sie ein Kosmonaut vertritt.“

Hochaufgerichtet blickte Ewda Nal zu Pur Hiss hinüber. Der Astronom kroch in dem Sessel in sich zusammen.

„Aber vergeuden wir nicht länger unsere Zeit mit diesem Unsinn“, fuhr Ewda fort, „untersuchen wir die Handlungsweise von Mwen Mass und Ren Boos, wobei Hauptkriterium das Glück der Menschheit sein soll. Früher waren die Menschen oft nicht imstande, den Vorzug einer Handlung ihrer negativen Auswirkung gegenüberzustellen, die nun mal jede Maßnahme mit sich bringt. Darüber sind wir längst hinaus, wir können die eigentliche Bedeutung einer Handlung erkennen.

Wie eh und je tastet der einzelne nach neuen Wegen; denn nur nach langer Ausbildung und bei besonderer Disponiertheit des Gehirns läßt sich in den widersprüchlichen Tatsachen Neues aufspüren. Im Gegensatz zu früher aber folgen heute Zehntausende dem neuentdeckten Weg und erforschen ihn, so daß eine Lawine von Erfindungen ausgelöst wird. Ren Boos und Mwen Mass sind den schwersten Weg gegangen. Ich verfüge zwar nicht über genügend Kenntnisse, aber auch mir ist klar, daß sie ihr Experiment zu früh unternommen haben. Darin besteht die Schuld der beiden, und sie tragen die Verantwortung für den gewaltigen materiellen Schaden und vier Menschenleben. Nach den Gesetzen der Erde liegt ein Verbrechen vor, das aber nicht zu eigennützigen Zwecken begangen wurde und demnach auch nicht der schwersten Bestrafung unterliegt.“

Ewda Nal kehrte langsam an ihren Platz zurück. Niemand meldete sich mehr zu Wort. Die Ratsmitglieder verlangten von Grom Orm den abschließenden Vorschlag.

„Der Sachverhalt für das abschließende Urteil ist einfach. Ren Boos spreche ich von jeder Verantwortung frei. Welcher wirkliche Wissenschaftler nutzt nicht die ihm gebotene Möglichkeit, besonders wenn er vom Erfolg überzeugt ist! Der vernichtende Mißerfolg des Versuchs möge als Lehre dienen. Doch auch der Nutzen des Versuchs steht außer Zweifel. Er kompensiert zum Teil den materiellen Schaden, da jetzt das Experiment zur Lösung vieler Fragen beitragen wird, über die man in der ›Akademie der Grenzen des Wissens‹ eben erst nachzudenken begonnen hat. Die Klugheit eines verantwortungsbewußten Leiters jedoch besteht darin, daß er das für den gegenwärtigen Zeitpunkt Erreichbare zur rechten Zeit erkennt, einhält und abwartet oder einen anderen Weg einschlägt. Solch ein Leiter kann Mwen Mass an höchst verantwortlicher Stelle nicht sein. Die Wahl des Rates hat sich als falsch erwiesen. Der Rat trägt die gleiche Verantwortung wie der von ihm Erwählte, und in erster Linie trage ich sie, denn ich habe die Initiative zweier Ratsmitglieder, Mwen Mass zu berufen, unterstützt.

Ich schlage dem Rat vor, Mwen Mass von der Beschuldigung, nach persönlichen Motiven gehandelt zu haben, freizusprechen, ihm jedoch keinen leitenden Posten in verantwortungsvollen Organisationen des Planeten zu übertragen. Auch mich sollte man von meiner Funktion entbinden und zum Bau des Satelliten schicken.“

Grom Orm las auf vielen Gesichtern Mitgefühl und aufrichtiges Bedauern. Doch in der Epoche des Rings unterließen die Menschen jeden Überredungsversuch, da sie die Entscheidung des anderen achteten und von deren Richtigkeit überzeugt waren.

Mir Om beriet sich mit den Ratsmitgliedern, und die Rechenmaschine teilte das Abstimmungsergebnis des Rates mit. Grom Orms Vorschlag war einstimmig angenommen worden, jedoch mit der Einschränkung, daß er erst nach Abschluß der Sitzung seinen Posten niederlege.

Er verneigte sich mit unbeweglichem Gesicht.

„Jetzt bin ich Ihnen noch eine Erklärung schuldig“, fuhr der Vorsitzende ruhig fort. „Ich hatte gebeten, die Sternenexpedition als zweiten Tagesordnungspunkt zu behandeln, denn daß das Urteil für Mwen Mass günstig ausfallen würde, war vorauszusehen. Ich nehme an, daß auch die Ehren- und Rechtskontrolle mit uns einer Meinung sein wird. Jetzt darf ich Mwen Mass bitten, seinen Platz im Rat einzunehmen. Bei dieser außerordentlich wichtigen Entscheidung können wir auf seine Kenntnisse keinesfalls verzichten, zumal das Ratsmitglied Erg Noor an der heutigen Beratung nicht teilnehmen kann.“

Mwen Mass ging zu den Sesseln der Ratsmitglieder. Geräuschlos rückten an die Stelle der Planetenkarten schwarze Tafeln mit den verschiedenfarbigen Lichtern der Sterne. Der Vorsitzende des Rates war wie umgewandelt. Die kühle Zurückhaltung war verschwunden. Rasch bestieg er die Tribüne.

„Jede Sternenexpedition ist die Verwirklichung eines lang gehegten Traumes, sie stellt eine neue Sprosse dar auf der Leiter des großen Aufstiegs. Andererseits konnte sie nur durch die Arbeit von Millionen möglich werden, so daß sie nicht ohne Erfolg, ohne wissenschaftlichen oder ökonomischen Nutzen bleiben darf, sollen nicht unsere Entwicklung und die weitere Bezwingung der Natur zum Stillstand kommen. Darum diskutieren, überlegen und rechnen wir so sorgfältig, bevor wir ein neues Sternschiff in den Kosmos schicken.

Wir waren dem Großen Ring verpflichtet, die siebenunddreißigste Expedition für seine Interessen einzusetzen. Um so sorgfältiger haben wir die Vorbereitung für die achtunddreißigste Expedition erörtert. Verschiedene Ereignisse des letzten Jahres haben jedoch die Lage verändert und verpflichten, Wege und Aufgaben der Expeditionen zu überprüfen, die von den früheren Räten und durch weltweite Diskussionen festgelegt wurden. Inzwischen hat man Verfahren entdeckt, mit deren Hilfe man Legierungen unter hohem Druck bei absoluter Nulltemperatur herstellen kann, die die Rumpffestigkeit der Sternschiffe verbessern. Die vervollkommneten und rationeller arbeitenden Anameson-Triebwerke ermöglichen es, die Flugweite eines Schiffes zu vergrößern. Die für die achtunddreißigste Expedition vorgesehenen Sternschiffe ›Aella‹ und ›Tintaschel‹ sind im Vergleich zu der eben fertiggestellten ›Lebed‹ veraltet. Wir sind zu ausgedehnteren Flügen in der Lage.

Erg Noor, der mit der ›Tantra‹ von der siebenunddreißigsten Expedition zurückgekehrt ist, berichtete von der Entdeckung eines schwarzen Sterns der T-Klasse, auf dessen Planeten ein Sternschiff unbekannter Konstruktion aufgefunden wurde. Ein Versuch, in das Innere des Schiffes zu gelangen, hätte beinahe allen, die in der Nähe waren, den Tod gebracht. Durch Zufall gelang es, ein Stück Metall vom Schiffskörper mitzubringen. Es ist ein bei uns nicht bekanntes Material, obgleich es dem vierzehnten Silberisotop ähnlich ist, das auf den Planeten eines außerordentlich heißen Sterns der 08-Klasse, dem Zeta Puppis, bekannt ist. Die Form des Sternschiffs — eine bikonvexe Scheibe mit einem riesigen Spiralrohr — wurde in der ›Akademie der Grenzen des Wissens‹ bereits erörtert.

Yuni Ant hat die Informationsbänder des Rings von vierhundert Jahren, seit wir dem Ring angehören, geprüft. Dieser Konstruktionstyp von Sternschiffen ist bei der Ausrichtung unserer Wissenschaft und bei unserem Wissensniveau undenkbar. Er ist auf allen Planeten der Galaxis, mit denen wir Informationen ausgetauscht haben, unbekannt. Ein Schiff von so kolossalen Ausmaßen stammt zweifellos von einem unvorstellbar fernen Planeten, vielleicht aus dem Zentrum der Galaxis, vielleicht auch von extragalaktischen Welten. Möglicherweise flog es Millionen Jahre durch den Raum und landete schließlich auf dem Planeten des Eisensterns am Rande der Galaxis.

Wie wichtig die Erforschung dieses Schiffes durch eine Sonderexpedition ist, brauche ich wohl nicht zu erläutern.“

Grom Orm schaltete den Hemisphärenbildschirm ein, der Saal wurde dunkel. Vor den Zuschauern zogen langsam die Aufzeichnungen der Gedächtnismaschine vorüber.

„Diese Information traf vor kurzem vom Planeten ZR 519 ein — der Kürze halber lasse ich die genauen Koordinaten weg. Es sind Aufnahmen von der Expedition des Planeten zum System des Sterns Achernar!“

Die Anordnung der Sterne wirkte seltsam: Flecke eines matt leuchtenden Gases, dunkle Wolken und schließlich große erkaltete Planeten, die das Licht eines erstaunlich hellen Sternes reflektierten. Der Achernar, mit einem Durchmesser dreieinhalbmal so groß wie die Sonne und mit deren zweihundertundachtzigfacher Leuchtkraft, war also ein unbeschreiblich heller blauer Stern der Spektralklasse B 5. Das Weltraumschiff, von dem aus die Aufnahmen gemacht worden waren, flog seitwärts davon. Wahrscheinlich waren Jahrzehnte seitdem vergangen. Auf dem Bildschirm tauchte ein anderer Himmelskörper auf: ein heller grüner Stern der S-Klasse. Er nahm an Größe und Helligkeit immer mehr zu, je näher das Sternschiff der fremden Welt kam. Durch eine Atmosphäre hindurch müßte die grünliche Färbung noch viel schöner aussehen, dachte Mwen Mass. Und schon tauchte auf dem Bildschirm die Oberfläche eines neuen Planeten auf. Vor den Augen der Zuschauer zog ein Land hoher Berge vorüber, in alle denkbaren Schattierungen grünen Lichts getaucht. Schwarzgrüne Schatten in den tiefen Schluchten und an den steilen Hängen, blaugrüne Felsen und Täler, meergrüner Schnee auf den Gipfeln und Hochebenen, gelblichgrüne Landstriche, versengt von der Hitze des Gestirns. Malachitfarbene Bäche stürzten bergab zu unsichtbaren Seen und Meeren.

Eine hügelige Ebene erstreckte sich bis ans Ufer des Meeres, das aus der Ferne wie glänzendes grünes Blech wirkte. Die blauen Bäume waren dicht belaubt, auf den Waldwiesen schimmerten Flecken unbekannter purpurroter Sträucher und Gräser. Die Menschen der Erde blickten gebannt auf dieses gespenstische Bild. Mwen Mass durchforschte sein Gedächtnis, um die Lage des grünen Sterns genau zu bestimmen.

Achernar — Alpha Eridani, hoch am südlichen Himmel, ganz nahe dem Tukan. Entfernung: einundzwanzig Parsek. Rückkehr des Sternschiffes mit derselben Besatzung unmöglich, ging es ihm durch den Kopf.

Der Bildschirm erlosch.

„Dieser grüne Stern“, fuhr der Vorsitzende fort, „mit übermäßig viel Zirkonium in den Spektrallinien, ist etwas größer als unsere Sonne.“ Grom Orm nannte die Koordinaten des Zirkoniumsterns. „In seinem System liegen zwei Planeten, Zwillinge, die in solch einer Entfernung um den Stern kreisen, daß sie ebensoviel Energie von ihm erhalten wie die Erde von der Sonne.

Die Dichte der Atmosphäre, ihre Zusammensetzung und die Wassermenge gleichen den Bedingungen auf der Erde. Das sind die vorläufigen Angaben der Expedition. Von höheren Formen des Lebens auf den Zwillingsplaneten ist in der Information nichts gesagt. Vernunftbegabte Wesen hätten die Natur so umgestaltet, daß man es selbst bei oberflächlicher Betrachtung vom fliegenden Sternschiff aus wahrnehmen könnte. Man muß annehmen, daß sich eine höhere Form des Lebens noch nicht entwickeln konnte oder sich noch nicht entwickelt hat. Wenn sie bereits existierte, wäre uns die Welt des grünen Sterns verschlossen. Schon im Jahre zweiundsiebzig der Epoche des Ringes, vor drei Jahrhunderten also, wurde bei uns die Besiedlung anderer Planeten mit höher entwickeltem, denkendem Leben, auch wenn es noch nicht den Stand unserer Zivilisation erreicht hat, erörtert. Damals entschied man, daß jedes Eindringen in solche Planeten zu unvermeidlicher Gewaltanwendung führen würde.

Wir wissen jetzt, wie groß die Vielfalt der Welten in unserer Galaxis ist. Es gibt blaue, gelbe, grüne, weiße, rote, orangefarbene Sterne, sie alle sind Wasserstoff-Helium-Sterne, nur nach den verschiedenen Zusammensetzungen ihrer Oberfläche und ihres Kerns werden sie Kohlenstoff-, Zyan-, Titan-, Zirkoniumsterne genannt, mit verschiedenem Strahlungscharakter, mit hohen und niedrigen Temperaturen, mit verschiedener Zusammensetzung ihrer Atmosphären und Kerne. Wir kennen sehr unterschiedliche große Planeten, die sich in ihrer Dichte, in der Zusammensetzung und Dichte ihrer Atmosphäre und Hydrosphäre, in der Entfernung von ihrer Sonne und in ihren Rotationsbedingungen stark voneinander unterscheiden. Unser Planet stellt einen selten günstigen Nährboden für pflanzliches und tierisches Leben dar, reich an Biomasse und an ununterbrochenen mannigfaltigen Veränderungen, denn seine Oberfläche ist zu siebzig Prozent von Wasser bedeckt, und durch seine verhältnismäßig geringe Entfernung zur Sonne wird er mit einem gewaltigen Energiestrom versorgt.

Deshalb hat sich das Leben bei uns schneller entwickelt als auf anderen Planeten, wo es durch Mangel an Wasser oder Sonnenenergie in seiner Entfaltung gehemmt war. Und auch schneller als auf Planeten, auf denen zuviel Wasser vorhanden ist. In Sendungen über den Großen Ring konnten wir die Entwicklung des Lebens auf stark überfluteten Planeten beobachten, eines Lebens, das sich verzweifelt an den Stengeln der Wasserpflanzen emporwand.

Auch unser wasserreicher Planet besitzt verhältnismäßig wenig Festland, auf dem mit Hilfe von Nutzpflanzen für Ernährungszwecke oder einfach durch thermoelektrische Anlagen Sonnenenergie aufgefangen werden kann.

In den ältesten Perioden der Erdgeschichte entwickelte sich das Leben in den Sumpfgebieten der flachen Kontinente des Paläozoikums langsamer als auf den hohen Festlandflächen des Känozoikums, wo der Kampf nicht nur um Nahrung, sondern auch um Wasser ging.

Wir wissen, daß für die üppige Entfaltung des Lebens ein bestimmtes Verhältnis zwischen Wasser und Land notwendig ist. Unser Planet kommt diesem optimalen Koeffizienten nahe. Es gibt wenige solcher Planeten im Kosmos, und jeder ist als Siedlungs- und Entwicklungsgebiet für die Menschheit von unschätzbarem Wert.

Schon längst fürchtet die Menschheit nicht mehr eine Übervölkerung, das einstige Schreckgespenst unserer fernen Vorfahren. Dennoch streben wir unaufhaltsam in den Kosmos, um das Siedlungsgebiet der Menschen immer weiter auszudehnen. Auch das ist Vorwärtsbewegung, ist ein unausweichliches Entwicklungsgesetz. Es war sehr schwierig, neue Planeten zu erschließen, denn sie unterschieden sich in ihren physikalischen Bedingungen weitgehend von der Erde. So befaßte man sich bereits vor langer Zeit mit dem Projekt, Menschen auf speziell gebauten gigantischen Stationen ähnlich den künstlichen Satelliten im Kosmos anzusiedeln. Wie Sie wissen, entstand solch eine Weltrauminsel kurz vor der Epoche des Großen Rings — ich spreche vom ›Nadir‹, der achtzehn Millionen Kilometer von der Erde entfernt ist. Dort leben noch heute einige Menschen. Doch der Mißerfolg dieser künstlichen Raumstationen, die die Entfaltung des menschlichen Lebens hemmten, war so offensichtlich, daß man sich über unsere Vorfahren nur wundern kann, ungeachtet der Kühnheit ihrer Idee.

Die Zwillingsplaneten des grünen Zirkoniumsterns sind unserem Planetentyp sehr ähnlich. Sie sind für die zartgliedrigen Bewohner des Planeten ZR 5 19, die Entdecker, kaum geeignet, deshalb gaben sie unverzüglich diese Informationen an uns weiter, wie auch wir ihnen sofort unsere Entdeckungen mitteilen.

Der grüne Stern befindet sich so weit entfernt von uns, wie bisher noch keines unserer Sternschiffe geflogen ist. Wenn wir seine Planeten erreichen, sind wir weit in den Kosmos vorgedrungen. Nicht die kleine Welt eines künstlichen Satelliten haben wir erschlossen, sondern eine starke Basis auf großen Planeten, die Raum genug für ein angenehmes Leben und eine starke Technik bieten.

Deshalb habe ich Ihre Aufmerksamkeit so lange für die Planeten des grünen Sterns in Anspruch genommen — ich halte es für außerordentlich wichtig, sie zu erforschen. Die Entfernung von siebzig Lichtjahren kann heutzutage ein Sternschiff vom Typ ›Lebed‹ ohne weiteres zurücklegen. Des halb sollten wir die achtunddreißigste Sternenexpedition vielleicht zum Achernar schicken!“

Grom Orm betätigte einen kleinen Hebel am Rednerpult und kehrte an seinen Platz zurück.

Dort, wo eben noch der Ratsvorsitzende gestanden hatte, tauchte ein kleiner Bildschirm aus der Versenkung auf, und die Zuschauer sahen die kräftige Gestalt Dar Weters. Der ehemalige Leiter der Außenstationen lächelte, lautlos begrüßten ihn die vielen grünen Lämpchen.

„Dar Weter befindet sich gegenwärtig in der radioaktiven Wüste von Arizona; von dort aus werden die Raketenserien für den Bau des neuen Satelliten 750000 Kilometer hochgeschossen“, erklärte Grom Orm. „Er möchte Ihnen seine Meinung als Ratsmitglied darlegen.“

„Ich schlage die einfachste Lösung vor“, begann Dar Weter mit fröhlicher Stimme, „nicht eine, sondern drei Expeditionen zu entsenden!“

Die Mitglieder des Rates und die übrigen Versammelten waren starr vor Überraschung.

„Der ursprüngliche Plan, zwei Sternschiffe als achtunddreißigste Expedition zu dem dreifachen Stern JE 7725 zu entsenden…“

Mwen Mass stellte sich diesen Dreierstern vor, dessen alte Bezeichnung Omikron 2 Eridani war. Dieses mindestens fünf Parsek von der Sonne entfernte Sternsystem, bestehend aus einem gelben, einem blauen und einem roten Stern, besaß zwei völlig unbewohnte Planeten. Doch das Interesse der Forschung galt nicht ihnen. Der blaue Stern in diesem System, ein weißer Zwerg, hatte zwar die Ausmaße eines großen Planeten, seine Masse aber war nur etwa halb so groß wie die der Sonne. Das mittlere spezifische Gewicht der Materie dieses Sterns betrug das Zweitausendfünfhundertfache der Dichte des schwersten irdischen Metalls, des Iridiums. Die Erforschung seiner Gravitation, seiner elektromagnetischen Felder und der Entstehungsprozesse schwerer chemischer Elemente aus möglichst geringer Entfernung war von großem Interesse, um so mehr, als die zehnte Sternenexpedition zum Sirius zugrunde gegangen war. Noch kurz vor ihrem Untergang hatte sie vor der Gefahr warnen können. Der unweit der Sonne gelegene blaue Doppelstern Sirius verfügte gleichfalls über einen weißen Zwerg mit niedrigerer Temperatur und größeren Ausmaßen als Omikron Eridani sowie einer fünfundzwanzigtausendmal größeren Dichte als Wasser. Es hatte sich jedoch als unmöglich erwiesen, diesen nahe gelegenen Stern zu erreichen, denn rings um ihn kreuzten ausgedehnte Meteoritenströme die Flugbahn. Damals, vor dreihundertundfünfzehn Jahren, hatte man schon einmal eine Expedition nach Omikron 2 Eridani erwogen.

„… ist jetzt“ — Dar Weter hatte inzwischen weitergesprochen — „nach dem Versuch von Mwen Mass und Ren Boos von so eminenter Bedeutung, daß wir ihn nicht aufgeben können. Andererseits könnte uns die Erforschung des fremden Sternschiffes, das von der siebenunddreißigsten Expedition gefunden wurde, zu Erkenntnissen verhelfen, welche die Entdeckung der ersten Untersuchung weit übertreffen. Wir sollten uns über die früheren Sicherheitsregeln hinwegsetzen und es wagen, die Sternschiffe aufzuteilen. Die ›Aella‹ wird zum Omikron 2 Eridani geschickt und die ›Tintaschel‹ zum T-Stern. Beide sind Sternschiffe erster Klasse, wie die ›Tantra‹, die allein mit ungeheuren Schwierigkeiten fertig wurde…“

„Romantik!“ rief Pur Hiss laut und verächtlich dazwischen, duckte sich aber sofort, als er die allgemeine Mißbilligung bemerkte.

„Ja, natürlich, wirkliche Romantik!“ gab Dar Weter belustigt zurück. „Romantik ist notwendig in einer wohlgeordneten Gesellschaft. Bei einem Überschuß an physischen und psychischen Kräften entsteht im Menschen schneller der Drang nach Neuem, nach Veränderungen. Daraus resultiert eine besondere Einstellung zu den Erscheinungen des Lebens — das Bestreben, mehr als nur die gleichmäßige Alltäglichkeit zu fordern, vom Leben ein höheres Maß an Prüfungen und Eindrücken zu erwarten.“

„Ich sehe Ewda Nal im Saal“, fuhr Dar Weter fort. „Sie wird Ihnen bestätigen, daß Romantik nicht nur etwas mit Psychologie zu tun hat, sondern auch mit Physiologie! Ich schlage vor, das neue Sternschiff ›Lebed‹ zu dem grünen Stern Achernar zu schicken, denn erst nach einhundertundsiebzig Jahren wird man auf unserem Planeten das Resultat erfahren. Grom Orm hat völlig recht: Wir sind den Nachkommen gegenüber verpflichtet, unserer Erde ähnliche Planeten zu erforschen und die Basis für ein weiteres Vordringen in den Kosmos zu schaffen.“

„Der Anamesonvorrat reicht nur für zwei Sternschiffe“, wandte der Sekretär Mir Om ein. „Wenn wir nicht der Wirtschaft ernsthaft Schaden zufügen wollen, kann erst in zehn Jahren ein weiteres Schiff startklar sein. Ich erinnere, daß der Wiederaufbau des Satelliten gegenwärtig viele Produktivkräfte in Anspruch nimmt.“

„Das habe ich vorausgesehen“, erwiderte Dar Weter.

„Wenden wir uns doch an die Bevölkerung unseres Planeten, wenn der Wirtschaftsrat nichts dagegen hat. Soll ein jeder seine Vergnügungsfahrten und Reisen um ein Jahr verschieben, soll man die Fernsehkameras unserer Aquarien in den Tiefen des Ozeans ausschalten undvorläufig keine Edelsteine und seltenen Gewächse von Mars und Venus holen, soll man die Bekleidungs- und Schmuckindustrie vorübergehend stillegen. Der Wirtschaftsrat wird besser wissen als ich, was zu tun ist, um Energie für die Herstellung von Anameson einzusparen. Wer von uns wird nicht gern seine Bedürfnisse ein einziges Jahr lang einschränken, damit er seinen Kindern ein großes Geschenk darbringen kann: zwei neue Planeten unter den belebenden Strahlen einer grünen Sonne!“

Dar Weter streckte die Arme aus und wandte sich mit dieser Geste an die ganze Welt, denn er wußte, daß ihm Milliarden an den Fernsehgeräten zuschauten. Er nickte noch einmal und verschwand vom Bildschirm. Im Saal standen alle Anwesenden auf und hoben die linke Hand zum Zeichen, daß sie mit dem Vorschlag einverstanden waren.

Noch einmal ergriff Grom Orm das Wort.

„Die Entscheidung des Rates ist gefallen. Wir werden also die Menschheit bitten, ihre Bedürfnisse für das Jahr vierhundertundneun der Ära des Großen Rings einzuschränken. Dar Weter hat nicht erwähnt, daß Historiker ein goldenes Pferd aus der Ära der Partikularistischen Welt entdeckt haben. Diese Hunderte Tonnen reinen Goldes können wir für die Anamesonherstellung zusätzlich verwenden. Erstmalig in der Geschichte der Erde werden wir zu drei Sternsystemen gleichzeitig Expeditionen entsenden und versuchen, Welten zu erreichen, die siebzig Lichtjahre entfernt sind!“

Der Vorsitzende schloß die Versammlung, und bat die Mitglieder des Rates, noch zu bleiben. Die Forderungen an den Wirtschaftsrat und die Anfragen an die „Akademie für Stochastik und Vorhersage der Zukunft“ wegen möglicher Zwischenfälle auf dem weiten Weg zum Achernar mußten sofort zusammengestellt werden.

Müde ging Tschara hinter Ewda her und wunderte sich, daß die Ärztin noch so frisch aussah. Sie wollte so schnell wie möglich allein sein, um in aller Stille über Mwen Mass’ Rechtfertigung nachzudenken. Heute war ein denkwürdiger Tag! Freilich, zum Helden war Mwen Mass nicht erklärt worden, wie Tschara insgeheim gehofft hatte. Für lange, wenn nicht für immer, war er von der wichtigen Arbeit ausgeschlossen. Aber hatte man ihn nicht in der Gesellschaft belassen! War ihm nicht der breite, wenn auch beschwerliche Weg der Forschung, Arbeit und Liebe offen!

Ewda Nal überredete das Mädchen, in das nächste Haus für Ernährung mitzukommen. Tschara starrte jedoch so lange auf die Auswahltafel, daß Ewda für beide wählte und die Chiffren der gewünschten Gerichte sowie die Tischnummer in den Bestelltrichter des Automaten hineinrief. Kaum hatten sie an einem kleinen ovalen Tisch Platz genommen, als sich in der Platte eine Klappe öffnete und ein kleiner Behälter mit dem Bestellten zum Vorschein kam. Ewda Nal reichte Tschara einen Becher mit dem schillernden Erfrischungsgetränk „Lio“, sie selbst trank mit Behagen ein Glas kühles Wasser und begnügte sich mit einem Auflauf aus Kastanien, Nüssen, Bananen und Schlagsahne. Tschara aß ein Gericht aus geriebenem Raptenfleisch — einem Geflügel, das man in jüngster Zeit Huhn und Wild vorzog. Dann war sie entlassen. Ewda Nal blickte ihr nach, als sie mit einer Grazie, die sogar im Zeitalter des Großen Rings auffiel, zwischen schwarzen Metallstatuen und bizarr geformten Kandelabern die Treppe hinuntereilte.

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