Der tibetanische Versuch

Die Kor-Yull-Anlage befand sich auf dem Gipfel eines Tafelberges, der nur einen Kilometer vom tibetanischen Observatorium des Rates für Astronautik entfernt lag. Hier, in viertausend Meter Höhe wuchsen keine Pflanzen mehr, außer den vom Mars eingeführten schwarzgrünen, blattlosen Bäumen mit den zum Wipfel hin gebogenen Zweigen. Der Schnee an den Hängen und in den Gesteinsspalten glänzte in dem strahlenden Weiß, das der reine Bergschnee unter einem funkelnden Himmel annimmt.

Hinter den Mauerresten eines alten Klosters ragte ein röhrenförmiger Stahlturm empor, der von zwei durchbrochenen Bögen gekrönt war. Auf ihnen wand sich eine riesige Spirale aus Berylliumbronze, bedeckt von weißen Rheniumkontakten, dem Himmel entgegen. Dicht an die erste Spirale schloß sich eine zweite an, die mit der offenen Seite zum Boden gerichtet war. Auf ihr verteilt waren acht große Kegel aus einer grünlichen Borlegierung, von denen Rohre mit einem sechs Meter dicken Durchmesser abgingen. Zu ihnen führen Masten mit Leitringen — eine provisorische Abzweigung von der Observatoriumshauptleitung, die während einer Sendung die gesamte Energie aller Kraftwerke der Erde aufnahm. Befriedigt betrachtete Ren Boos die Veränderungen, die Freiwillige in unwahrscheinlich kurzer Zeit bewerkstelligt hatten. Am schwierigsten war es gewesen, die tiefen Gräben in dem unnachgiebigen Berggestein auszuheben. Doch jetzt war auch das geschafft. Die Freiwilligen, die natürlich als Belohnung das große Experiment miterleben durften, hatten für ihr Zeltlager einen flachen Berghang hinter dem Observatoriumsgelände gewählt. Mwen Mass, in dessen Händen alle Verbindungen mit dem Kosmos lagen, saß fröstelnd auf einem Stein Ren Boos gegenüber und erzählte ihm ausführlich die Neuigkeiten des Rings. Der Satellit 57 wurde in der letzten Zeit zur Aufrechterhaltung der Verbindung mit den Stern- und Planetenschiffen verwendet und arbeitete nicht für den Ring. Mwen Mass berichtete vom Tod Vlih os Dhis’ auf dem E-Stern, und der Physiker sagte lebhaft: „Eine so große Schwerkraft in einem E-Stern führt bei einer weiteren Evolution des Sterns zu einem starken Erglühen. Es entsteht ein violetter Überriese von erstaunlicher Energie, die die kolossale Gravitation überwindet. Er besitzt bereits keinen roten Spektralteil mehr; ungeachtet der riesigen Kraft des Gravitationsfeldes werden die Lichtwellen nicht verlängert, sondern sie verkürzen sich.“

„Die Lichtwellen werden violett und ultraviolett“, ergänzte Mwen Mass.

„Nicht allein das. Der Prozeß geht weiter. Die Quanten werden immer mächtiger, es entstehen ein Antigravitationsfeld und der Bereich eines Antiraums — die zweite Bewegungsform der Materie, die uns auf der Erde wegen der Winzigkeit unserer Maßstäbe unbekannt ist. Wir könnten hier nichts Ähnliches erreichen, selbst wenn wir den gesamten Wasserstoff aus allen Ozeanen des Planeten verbrennen würden.“

Mwen Mass rechnete im Kopf blitzschnell aus: „Fünfzehntausend Trillionen Tonnen Wasser müßten in Energie des Wasserstoffzyklus umgesetzt werden; nach dem Relativitätsprinzip sind das rund eine Trillion Tonnen Energie. Die Sonne liefert in einer Minute zweihundertvierzig Millionen Tonnen — wäre das also die gesamte Strahlung der Sonne im Laufe von zehn Jahren!“

Ren Boos lachte zufrieden.

„Und wieviel wird der blaue Überriese liefern?“

„Ich wage nicht nachzurechnen. Aber urteilen Sie selbst: In der großen Magellan-Wolke gibt es den Sternhaufen NGK 1910 nahe dem Tarantelnebel… Entschuldigen Sie bitte, ich bin gewohnt, mit den alten Bezeichnungen der Sterne zu operieren.“

„Das ist völlig unwichtig.“

„Der Tarantelnebel ist übrigens so hell, daß er an Leuchtkraft mit dem Vollmond wetteifern könnte, befände er sich an der Stelle des bekannten Orionnebels. Im Sternhaufen 1910, der einen Durchmesser von nur siebzig Parsek hat, gibt es nicht weniger als einhundert Überriesen. Dort liegt auch der blaue Überriese ES Doradus mit den hellen Wasserstofflinien im Spektrum und den dunklen am violetten Rand. Sein Umfang ist größer als die Umlaufbahn der Erde — ein Doppelstern mit fünfhunderttausendfacher Sonnenleuchtkraft! Hatten Sie einen solchen Stern im Auge? In dem Sternhaufen gibt es auch noch größere, mit einem Umfang gleich der Umlaufbahn des Jupiters, aber sie befinden sich noch im Stadium der Erwärmung nach dem E-Zustand.“

„Lassen wir die Überriesen in Ruhe. Die Menschen schauten jahrtausendelang zu den Ringnebeln im Wassermann, im Großen Bären und in der Leier hinauf und wußten nicht, daß sie neutrale Felder der Null-Gravitation vor sich hatten, den Übergang zwischen Gravitation und Antigravitation. Dort lag auch das Rätsel des Nullraumes versteckt.“

Ren Boos sprang von der Schwelle des Steuerungsbunkers auf, der aus großen gegossenen Silikatblöcken zusammengefügt war.

„Ich habe mich ausgeruht. Wir können beginnen!“

Mwen Mass’ Herz begann heftig zu schlagen, die Erregung schnürte ihm die Kehle zu. Ren Boos blieb ruhig, nur der fiebrige Glanz seiner Augen verriet seine starke Konzentration. Mwen Mass reichte ihm die Hand. Ein Kopfnicken — und kurze Zeit später war die hohe Gestalt des Leiters der Außenstationen bereits am Berghang zu sehen, auf dem Wege zum Observatorium. Unheildrohend heulte ein kalter Wind; er wehte herüber von den vereisten Bergriesen, die das Observatorium im Tal umgaben. Mwen Mass fröstelte und beschleunigte unwillkürlich seine Schritte, obgleich kein Grund zur Eile vorhanden war. Das Experiment sollte erst nach Sonnenuntergang beginnen.

Mwen Mass nahm über den Mondwellenbereich mit dem Satelliten 57 Verbindung auf. Die Reflektoren und Richtgeräte des Satelliten 57 würden den Epsilon Tucanae in den wenigen Minuten fixieren, da er sich vom dreiunddreißigsten Grad nördlicher Breite zum Südpol bewegte und auf seiner Umlaufbahn sichtbar wurde.

Mwen Mass nahm Platz am Pult im unterirdischen Zimmer, das dem im Mittelmeer-Observatorium außerordentlich glich. Zum tausendstenmal sah er die Angaben über den Planeten des Epsilon Tucanae durch und überprüfte Punkt für Punkt die errechnete Planetenbahn. Erneut sprach er mit dem Satelliten 57. Er legte fest, daß, sobald das Feld eingeschaltet sei, die Beobachter des Satelliten vorsichtig und langsam die Richtung auf einem Bogen, der viermal so groß war wie die Sternenparallaxe, verändern sollten.

Die Zeit kroch dahin. Mwen Mass wurde den Gedanken an Bet Lon, den verbrecherischen Mathematiker, nicht los. Doch da tauchte auf dem Bildschirm, des Televisiofons Ren Boos am Steuerpult der Versuchsanlage auf.

Die Dispatcher der Energiestationen teilten ihre Bereitschaft mit. Mwen Mass griff nach den Hebeln am Pult, doch eine Bewegung Ren Boos’ auf dem Bildschirm ließ ihn einhalten.

„Man müßte die Reserve-Q-Station in der Antarktis benachrichtigen; die vorhandene Energie reicht nicht aus.“

„Das habe ich getan, sie ist bereit.“

Der Physiker dachte einen Augenblick nach.

„Auf der Tschuktschenhalbinsel und auf Labrador sind Stationen für F-Energie gebaut. Wenn man mit ihnen vereinbaren könnte, im Moment der Inversion ihre Felder einzuschalten; ich fürchte…“

„Ist bereits geschehen.“

Ren Boos strahlte und gab ein Zeichen.

Eine riesige Energiesäule erreichte den Satelliten 57. Auf dem Hemisphärenbildschirm des Observatoriums zeigten sich die erregten Gesichter der jungen Beobachter.

Mwen Mass begrüßte die jungen Menschen und überprüfte, ob die Energiesäule genau auf den Satelliten eingestellt war und ihm folgte. Dann schaltete er die gesamte Leistung auf die Anlage von Ren Boos um. Der Kopf des Physikers verschwand vom Bildschirm.

Der Zeiger der Leistungsindikatoren bewegten sich nach rechts; sie zeigten damit die ununterbrochene Zunahme der Energiemenge an. Die Signale leuchteten heller, ihr Licht wurde immer weißer. Aber sobald Ren Boos neue Feldstrahler einschaltete, schnellten die Zeiger sprunghaft zum Nullstrich zurück. Ein alarmierendes Klingeln der Versuchsanlage. Mwen Mass zuckte zusammen. Doch er wußte, was zu tun war. Ein Hebelgriff — und die Energie der Q-Station ließ die Zeiger wieder nach rechts ausschlagen. Kaum hatte Ren Boos auf volle Inversion geschaltet, sprangen die Zeiger wieder auf Null zurück. Augenblicklich, fast instinktiv, setzte Mwen Mass beide F-Stationen zugleich ein.

Ihm war, als seien alle Geräte erloschen, ein seltsam fahles Licht erfüllte den Raum. Alle Geräusche verstummten. Noch eine Sekunde — und durch sein Bewußtsein würde der Schatten des Todes ziehen. Die Hände um das Pult gekrallt, stöhnend vor Anstrengung und furchtbaren Schmerzen im Rückgrat, kämpfte er gegen das Übelkeit erregende Schwindelgefühl an. Das fahle Licht wurde heller, doch woher es kam, vermochte Mwen Mass nicht zu bestimmen. Vielleicht vom Bildschirm, vielleicht aber auch von der Anlage Ren Boos’.

Plötzlich war ihm, als reiße ein Nebelschleier auf; deutlich nahm er ein Plätschern und einen unbestimmbaren Geruch wahr. Zu seiner Linken sah er schemenhaft hoch aufragende Kupferberge, umsäumt von türkisblauen Bäumen. Die Wellen eines violetten Meeres plätscherten zu Mwen Mass’ Füßen. Der Schleier wich immer weiter zurück, und er erblickte seinen Traum — das rothäutige Mädchen; sie saß auf dem Absatz einer breiten Treppe. Ihr Blick war in die Ferne, aufs Meer gerichtet. Plötzlich sah sie Mwen Mass an; Verwunderung und Entzücken war in ihren Augen zu lesen. Sie erhob sich und streckte Mwen Mass die Hand entgegen.

„Offa, alli kor“, erklang zärtlich ihre melodische und doch kräftige Stimme. Mwen Mass wollte antworten, aber dort, wo eben noch das Mädchen gestanden hatte, zuckte eine grüne Flamme auf, und ein entsetzliches Pfeifen erfüllte den Raum. Während ihm die Sinne schwanden, fühlte Mwen Mass noch, wie er von einer ungeheuren Kraft zusammengepreßt und herumgewirbelt und schließlich gegen etwas Hartes geschleudert wurde. Sein letzter Gedanke galt dem Schicksal des Satelliten 57, der Station und Ren Boos.


Die Mitarbeiter des Observatoriums, die etwas weiter entfernt am Hang standen, und die Erbauer der Anlage sahen nur sehr wenig. Hoch am tibetanischen Himmel blitzte etwas auf, was das Leuchten der Sterne für einen Augenblick verfinsterte. Dann stürzte etwas Unsichtbares mit riesiger Kraft auf die Versuchsanlage herab, zog sich zu einem gewaltigen Luftwirbel zusammen und riß Felsblöcke auseinander. Wie von einer gigantischen Kanone abgefeuert, schoß ein schwarzer Trichter mit einem Durchmesser von ungefähr einem Kilometer auf das Oberservatorium zu, hob sich in die Höhe, fiel wieder zurück und zertrümmerte die Anlage mit solcher Wucht daß die Bruchstücke weit durch die Luft flogen. Danach herrschte Grabesstille. In der staubgeschwängerten Luft lag der Geruch von Qualm und verbranntem Gestein, dem noch etwas Seltsames beigemengt war, was stark an den Geruch blühender Gewässer in den Tropen erinnerte.

Als die Menschen zur Unglücksstelle gerannt kamen, sahen sie, daß zwischen dem Berg und dem Observatorium eine breite Furche aufgerissen und der dem Tal zugekehrte Berghang weggerissen war. Das Observatorium selbst war verschont geblieben. Die Furche erstreckte sich bis zur Südostwand und verlief durch die zerstörte Verteilergalerie für die Gedächtnismaschinen bis hin zur Kuppel der unterirdischen Kammer, die von einer vier Meter dicken Basaltschicht bedeckt war. Der Basalt war wie von einer riesigen Maschine abgeschliffen. Ein Teil der Schicht hatte jedoch standgehalten und so Mwen Mass und den unterirdischen Raum vor der völligen Vernichtung bewahrt.

Ein Rinnsal flüssigen Silbers glitzerte in einer Bodenvertiefung — die geschmolzenen Armaturen der Energieaufnahmestation.

Bald waren die Kabel der Notbeleuchtung wieder instand gesetzt. Im Licht des Scheinwerfers auf dem Leuchtturm der Anfahrtstraße bot sich den Menschen ein erschütterndes Bild: Das Metall der technischen Anlagen bedeckte in einer dünnen Schicht die breite Furche, so daß sie wie verchromt glänzte. Dort, wo einst der Berghang gewesen war, ragte ein Stück der Bronzespirale aus dem Felsen. Das Gestein war glasig zerlaufen, wie Lack unter einem heißen Siegel. Die darin versunkenen roten Metallwindungen mit den weißen Zacken der Rheniumkontakte funkelten im elektrischen Licht wie eine Blume aus Emaille. Ein Blick auf diese Juwelierarbeit von 200 Meter Durchmesser ließ Furcht aufkommen vor der unbekannten Gewalt, die hier gehaust hatte.

Als der von Trümmern verschüttete Eingang zu der unterirdischen Kammer freigelegt war, fanden sie Mwen Mass kniend, den Kopf auf das kalte Gestein der unteren Treppenstufe gelegt. Offensichtlich hatte der Leiter der Außenstationen in einem Augenblick klaren Bewußtseins versucht, sich herauszuarbeiten. Unter den Freiwilligen fanden sich schnell einige Ärzte. Der kräftige Organismus Mwen Mass’ überwand bald mit Hilfe starker Arzneien die Folgen der Verschüttung. Schwerfällig erhob er sich, von beiden Seiten gestützt.

„Was ist mit Ren Boos?“

Die Gesichter der Umstehenden verfinsterten sich. Der Leiter des Observatoriums antwortete heiser: „Ren Boos ist grausam verstümmelt. Er wird nicht mehr lange leben.“

„Wo ist er?“

„Man hat ihn am Osthang gefunden. Er muß aus dem Versuchsraum herausgeschleudert worden sein. Auf dem Gipfel des Berges existiert nichts mehr. Selbst die Trümmer sind restlos weggefegt.“

„Und Ren Boos liegt noch dort?“

„Er ist nicht transportfähig. Die Knochen sind zerschlagen, die Rippen gebrochen…“

„Noch mehr?“

„… und sein Leib ist aufgerissen.“

Mwen Mass’ Beine versagten; krampfhaft klammerte er sich an die beiden, die ihn führten. Doch Wille und Verstand waren völlig intakt.

„Ren Boos muß um jeden Preis gerettet werden! Er ist ein hervorragender Wissenschaftler.“

„Das wissen wir. Fünf Ärzte mühen sich bereits um ihn. Man hat über ihm ein steriles Operationszelt errichtet. Zwei freiwillige Blutspender liegen neben ihm. Das künstliche Herz und die künstliche Leber arbeiten bereits.“

„Führen Sie mich zur Fernzentrale. Jemand soll mich mit dem Weltnetz verbinden und das Informationszentrum des Nordgürtels rufen. Was ist mit dem Satelliten 57?“

„Wir haben ihn gerufen. Er schweigt.“

„Suchen Sie den Satelliten mit dem Teleskop und beobachten Sie ihn unter starker Vergrößerung im Elektroneninvertor.“

„Die Maschinen sind stark beschädigt, auch der Indikator arbeitet nicht mehr.“

„Alles zum Teufel“, flüsterte Mwen Mass, und sein Kopf sank auf die Brust.

Der Diensthabende des nördlichen Informationszentrums sah auf dem Bildschirm ein von Staub und Blut verschmiertes Gesicht mit fieberglänzenden Augen. Er begriff nicht gleich, daß er den Leiter der Außenstationen — eine bekannte Persönlichkeit auf dem Planeten — vor sich hatte.

„Ich brauche den Vorsitzenden des Rates für Astronautik, Grom Orm, und die Nervenärztin Ewda Nal.“

Der Diensthabende nickte und machte sich an der Gedächtnismaschine zu schaffen. Eine Minute später war die Antwort da.

„Grom Orm bereitet Materialien vor und ist deshalb ins Wohnheim des Rates gezogen. Soll ich den Rat rufen?“

„Ja. Und Ewda Nal?“

„Die befindet sich zur Zeit in Irland, in der 410. Schule. Wenn es dringend ist, versuche ich, sie…“ — der Diensthabende schaute auf ein Schaltschema — „… zur Sprechstelle 5664 SP holen zu lassen.“

„Es ist sehr dringend! Es geht um Leben und Tod!“

Der Diensthabende blickte ruckartig von seinem Schema auf.

„Ist ein Unglück geschehen?“

„Ein großes Unglück!“

„Ich übergebe den Dienst meinem Assistenten und werde mich ausschließlich Ihrer Angelegenheit widmen. Warten Sie!“

Mwen Mass sank in einen Sessel; er mußte in Ruhe nachdenken und Kräfte sammeln. Der Leiter des Observatoriums stürzte ins Zimmer.

„Wir haben eben die Stellung des Satelliten 57 fixiert. Er ist nicht mehr da!“

Mwen Mass sprang auf, als hätte er keinerlei Verletzungen erlitten.

„Nur das Kosmodrom ist übriggeblieben“, setzte der Leiter die Hiobsbotschaft fort, „es fliegt auf der gleichen Flugbahn. Wahrscheinlich gibt es noch viele kleine Stücke.“

„Die Beobachter sind also…“

„Zweifelsohne ums Leben gekommen!“

Mwen Mass preßte seine geballten Fäuste an die Schläfen.

Einige Minuten qualvollen Schweigens vergingen.

Endlich leuchtete der Bildschirm wieder auf.

„Grom Orm ist am Apparat im Haus der Räte“, sagte der Diensthabende und betätigte einen Hebel.

Auf dem Bildschirm war ein großer, mattbeleuchteter Saal zu sehen, und wenige Sekunden später tauchte der allen bekannte chrakteristische Kopf des Vorsitzenden des Rates für Astronautik auf. Ein scharfgeschnittenes, schmales Gesicht mit großer Adlernase, tiefliegenden Augen unter skeptisch hochgezogenen Brauen, energisch zusammengepreßten Lippen.

Unter Grom Orms Blick senkte Mwen Mass schuldbewußt den Kopf.

„Soeben wurde der Satellit 57 zerstört!“ Verzweifelt schleuderte der Afrikaner das Bekenntnis heraus.

Grom Orm zuckte zusammen, und sein Gesicht wirkte noch kantiger.

„Wie konnte das geschehen?“

Knapp und exakt erzählte Mwen Mass alles, ohne das Verbot des Experiments zu verheimlichen. Die Brauen des Ratsvorsitzenden zogen sich zusammen, um den Mund kerbten sich tiefe Falten ein, doch der Blick blieb ruhig.

„Warten Sie, ich kümmere mich um Hilfe für Ren Boos! Glauben Sie, Aph Nut könnte…“

„Ja, wenn Aph Nut…!“

Der Bildschirm wurde dunkel. Das Warten war qualvoll. Unter größter Anstrengung zwang sich Mwen Mass zur Ruhe. Gewiß, bald würde… Da war auch Grom Orm wieder.

„Ich habe Aph Nut aufgespürt und ihm ein Planetenschiff geschickt. Mindestens eine Stunde braucht er, um seine Assistenten und die Apparatur vorzubereiten. In zwei Stunden wird er bei Ihnen im Observatorium sein. Doch nun zu Ihnen. Ist der Versuch gelungen?“

Die Frage traf Mwen Mass unerwartet. Zweifellos hatte er den Planeten des Epsilon Tucanae gesehen. Doch war das ein wirkliches Zusammentreffen mit der unglaublich fernen Welt gewesen? War nicht nur aus der schweren seelischen Belastung des Versuchs und dem brennenden Wunsch, den Epsilonstern zu sehen, eine Halluzination entstanden? Konnte er der Welt erklären, das Experiment sei gelungen, neue Anstrengungen, Opfer und Ausgaben seien für eine Wiederholung notwendig? Durfte er behaupten, die von Ren Boos entwickelten theoretischen Grundlagen seien erfolgversprechender als die seiner Vorgänger? Im Vertrauen auf die Gedächtnismaschinen hatten sie das Experiment nur zu zweit durchgeführt. Was hatte Ren gesehen, was würde er berichten können? Ja, wenn er überhaupt etwas gesehen hatte!

Mwen Mass richtete sich auf.

„Beweise, daß der Versuch gelungen ist, besitze ich nicht. Was Ren Boos beobachtet hat, weiß ich nicht…“

„Was schlagen Sie vor?“

Aus Grom Orms Blick sprach aufrichtiges Bedauern, doch gleich darauf nahm sein Gesicht einen strengen Ausdruck an.

„Ich bitte um die Erlaubnis, die Station unverzüglich Yuni Ant übergeben zu dürfen. Ich bin nicht würdig, die Leitung noch länger innezuhaben. Dann werde ich bei Ren Boos bis zum Schluß…“, Mwen Mass stockte und fuhr fort, „… bis zum Schluß der Operation bleiben. Danach… danach werde ich auf der Insel des Vergessens die Gerichtsverhandlung abwarten. Ich selbst habe bereits das Urteil über mich gefällt.“

„Vielleicht haben Sie recht. Aber mir ist noch vieles unklar, deshalb möchte ich mich mit meiner Schlußfolgerung noch zurückhalten. Ihre Handlungsweise wird auf der nächsten Sitzung des Rates untersucht werden. Wer ist, Ihrer Meinung nach, der geeignetste Vertreter für Sie, vor allem beim Wiederaufbau der Satellitenstation?“

„Ich kenne keinen besseren als Dar Weter.“

Der Ratsvorsitzende nickte zustimmend. Nachdenklich sah er den Afrikaner an, als habe er ihm noch etwas zu sagen, winkte dann aber nur zum Abschied. Der Schirm erlosch, gerade im rechten Augenblick, denn plötzlich verschwamm alles vor den Augen des unglücklichen Experimentators.

„Bitte, informieren Sie Ewda Nal“, konnte er noch mit Mühe dem Leiter des Observatoriums zuflüstern und stürzte zu Boden.


Hauptperson im Observatorium von Tibet war ein zierlicher gelbhäutiger Mann mit strahlendem Lächeln und gebieterischen Gesten. Seine Assistenten fügten sich ihm mit freudiger Ehrerbietung. Doch die Autorität des Lehrers begrenzte keineswegs ihre eigenen Ideen und Unternehmungen. Dieses aufeinander eingespielte Team tüchtiger Männer war würdig, den schlimmsten und unüberwindlichen Feind des Menschen, den Tod, zu bekämpfen.

Als Aph Nut hörte, daß Ren Boos’ Abstammungskarte noch nicht eingetroffen war, brauste er auf. Doch als er erfuhr, Ewda Nal selbst werde sie zusammenstellen und mitbringen, beruhigte er sich ebenso schnell wieder.

Der Leiter des Observatoriums fragte vorsichtig, wozu die Karte gebraucht werde und was Ren Boos seine fernen Vorfahren noch nützen könnten.

„Wir müssen die Erbstruktur eines jeden genau kennen, um seine psychische Konstitution entschlüsseln und Prognosen stellen zu können“, erklärte Aph Nut. „Nicht weniger wichtig sind die Angaben über die neurophysiologischen Besonderheiten, die Widerstandsfähigkeit des Organismus, die Immunität, die spezifische Empfindlichkeit für Traumata und die Allergie gegen Arzneimittel. Die Behandlungsmethode kann nicht präzise sein, wenn wir nicht die Erbstruktur und die Bedingungen kennen, unter denen die Vorfahren lebten.“

Der Leiter wollte noch etwas fragen, doch Aph Nut schnitt ihm das Wort ab: „Denken Sie über meine Antwort nach. Ich habe jetzt keine Zeit mehr!“

Der Astronom murmelte eine Entschuldigung, die der Chirurg nicht mehr hörte.

Auf einem kleinen Platz am Fuß des Berges war ein transportables Operationsgebäude entstanden und mit Wasser-, Elektrizitäts- und Preßluftanschlüssen versehen worden. Viele Hilfskräfte hatten sich zur Verfügung gestellt, innerhalb von drei Stunden war alles fertig. Unter den Ärzten, die ebenfalls bei dem Bau geholfen hatten, wählten Aph Nuts Assistenten fünfzehn Männer für den Dienst in dieser chirurgischen Klinik aus. Ren Boos wurde unter eine absolut sterile durchsichtige Plasthaube gelegt und durch Spezialfilter mit steriler Luft versorgt. Aph Nut und vier seiner Assistenten verbrachten mehrere Stunden in einem Vorraum des Operationssaals, wo bakterientötende Schwingungen und mit sterilisierendem Gas gesättigte Luft auf sie einwirkten, bis sogar ihr Atem keimfrei war. Währenddessen wurde Ren Boos’ Körper stark unterkühlt. Dann begannen die Ärzte schnell und sicher ihre Arbeit.

Die zerschmetterten Knochen und die auseinandergerissenen Gefäße des Physikers wurden mit Klammern und Haken aus Tantal wieder zusammengefügt. Aph Nut untersuchte die Verletzungen der inneren Organe. Die aufgerissenen Därme und der Magen wurden, nachdem die abgestorbenen Zellen entfernt wurden, zusammengenäht und in ein Gefäß mit der schnell heilenden Flüssigkeit B 314 gelegt, die den somatischen Besonderheiten des Organismus entsprach. Dann wandte sich Aph Nut dem Schwierigsten zu. Unterhalb der Rippen löste er die schwarz gewordene, von Rippensplittern durchbohrte Leber und zog mit erstaunlicher Sicherheit die dünnen Fäden der autonomen Nerven des sympathischen und parasympathischen Systems heraus. Die kleinste Verletzung des feinsten Nervenstranges konnte zu schweren, unheilbaren Störungen führen. Blitzschnell schnitt der Chirurg die Pfortader durch und schloß an ihre beiden Enden künstliche Blutgefäße an. Nachdem Aph Nut mit den Arterien das gleiche getan hatte, legte er die Leber, die nur noch durch die Nerven mit dem Körper verbunden war, in ein besonderes Gefäß mit der Flüssigkeit B 3. Nach fünfstündiger Operation pumpten das Herz des Verletzten und ein künstliches Herz durch die Gefäße künstliches Blut. Jetzt konnte man in Ruhe abwarten, bis die herausgelösten Organe geheilt waren. Aph Nut durfte die verletzte Leber nicht ohne weiteres durch eine andere aus dem chirurgischen Fonds des Planeten ersetzen, denn das Anwachsen der Nerven hätte zusätzliche Beobachtungen erfordert. Bei dem Zustand des Kranken aber mußte mit jeder Minute gerechnet werden. Einer der Chirurgen wartete neben dem starren, zerschnittenen Körper, bis die ablösende Gruppe die Desinfektion durchlaufen hatte.

Die Türen der Schutzwand um den Operationsraum öffneten sich geräuschvoll. Blinzelnd vor Müdigkeit und sich dehnend wie ein eben erwachtes Raubtier, erschien Aph Nut in Begleitung seiner blutbesudelten Assistenten. Überanstrengt und blaß trat ihm Ewda Nal entgegen und überreichte ihm die Abstammungskarte. Hastig griff Aph Nut danach, warf einen Blick hinein und atmete auf.

„Es scheint alles gut verlaufen zu sein, Gehen wir uns ausruhen!“

„Aber… wenn er nun aufwacht?“

„Keine Sorge! Er kann nicht aufwachen; Sehen wir so aus, als hätten wir nicht daran gedacht?“

„Wie lange müssen wir warten?“

„Vier, fünf Tage. Wenn die biologischen Bestimmungen präzise und die Berechnungen richtig sind, können wir nochmal operieren, um die Organe wieder in den Körper einzusetzen. Und dann das Bewußtsein…“

„Wie lange können Sie hierbleiben?“

„Zehn Tage etwa. Die Katastrophe fiel glücklicherweise gerade in meine Freizeit. Ich werde die Gelegenheit benutzen, mir Tibet anzusehen — ich war noch nie hier. Meist muß ich mich ja dort aufhalten, wo die meisten Menschen leben: im Wohngürtel!“

Begeistert blickte Ewda Nal den Chirurgen an. Aph Nut verzog spöttisch das Gesicht.

„Sie sehen mich an, wie man früher ein Götzenbild angeschaut hat. Das paßt nicht zu meiner intelligentesten Schülerin!“

„Ich sehe Sie tatsächlich jetzt mit ganz anderen Augen. Zum erstenmal liegt das Leben eines mir teuren Menschen in den Händen eines Chirurgen. Ich verstehe nur zu gut die Begeisterung all derer, die mit Ihrer Kunst in Berührung gekommen sind. Bei Ihnen vereinen sich Kenntnisse mit einmaliger Meisterschaft!“

„Schon gut! Schwärmen Sie nur, wenn es Ihnen Spaß macht. Ich werde Ihren Physiker nicht nur ein zweitesmal, sondern auch ein drittesmal operieren.“

Ewda Nal horchte auf.

„Wieso ein drittesmal?“

Doch Aph Nut zwinkerte ihr verschmitzt zu und wies auf den Pfad, der vom Observatorium aus aufwärts führte. Gesenkten Hauptes kam Mwen Mass angehumpelt.

„Da kommt noch ein Verehrer meiner Kunst. Ein unfreiwilliger. Unterhalten Sie sich mit ihm, wenn Sie nicht das Bedürfnis haben, sich auszuruhen.“

Der Chirurg verschwand hinter dem Hügel, wo das provisorische Haus für die Ärzte stand. Schon von ferne bemerkte Ewda Nal, wie eingefallen und gealtert der Leiter der Außenstationen aussah. Sie berichtete dem Afrikaner von ihrem Gespräch mit Aph Nut; er atmete erleichtert auf.

„Dann reise auch ich in zehn Tagen ab!“

„Ob Sie richtig handeln, Mwen? Ich stehe noch zu sehr unter dem Eindruck des Geschehens, um mir ein klares Bild von dem Vorgefallenen machen zu können. Mir scheint aber, Ihre Schuld ist nicht so groß, daß Sie so entschieden zu verurteilen wären.“

Mwen Mass verzog schmerzlich das Gesicht.

„Ich hatte mich in die Theorie von Ren Boos regelrecht verliebt. Das gab mir aber nicht das Recht, gleich beim ersten Versuch die gesamte Energie der Erde aufzubieten.“

„Ren Boos hat aber doch bewiesen, daß mit einem geringeren Energieaufwand das Experiment zwecklos gewesen wäre“, wandte Ewda ein.

„Sicher, aber wir hätten erst einmal indirekte Experimente durchführen müssen. Ich war jedoch ungeduldig und wollte kein Jahr länger warten. Sparen Sie sich Ihre gutgemeinten Worte — der Rat wird meinen Entschluß bestätigen, und die Ehren- und Rechtskontrolle wird ihn nicht aufheben.“

„Ich bin selbst Mitglied der Ehren- und Rechtskontrolle!“

„Außer Ihnen gibt es noch zehn Mitglieder. Und da mein Fall gesamtplanetar ist, müssen die vereinigten Kontrollen des Südens und des Nordens darüber entscheiden — also insgesamt einundzwanzig Leute außer Ihnen.“

Ewda Nal legte dem Afrikaner die Hand auf die Schulter.

„Setzen wir uns, Mwen, Sie sind noch schwach. Wissen Sie, daß die ersten Ärzte, die Ren untersucht hatten, das Todeskonsilium einberufen wollten?“

„Ich weiß. Aber zwei allein sind dazu nicht befugt. Die Ärzte sind konservativ, und nach den alten noch bestehenden Vorschriften können nur zweiundzwanzig Menschen den leichten Tod eines Kranken beschließen.“

„Vor nicht allzulanger Zeit bestand das Todeskonsilium noch aus sechzig Ärzten!“

„Ja, weil die Angst vor Mißbrauch fortlebte, aus der die Ärzte im Altertum die Kranken zu langen, unnötigen Qualen verdammten und deren Angehörige schweren moralischen Konflikten aussetzten, wenn es keine Rettung mehr gab und das Ende leicht und schnell sein konnte. Aber wie Sie sehen, hat manchmal auch Konservatismus sein Gutes: Die beiden Ärzte allein waren nicht berechtigt, darüber zu entscheiden, und so konnte ich Aph Nut rufen… dank Grom Orm.“

„Gerade daran wollte ich Sie erinnern. Ihr Konsilium des gesellschaftlichen Todes besteht einstweilen nur aus einem Menschen!“

Mwen Mass ergriff Ewdas Hand und führte sie an seine Lippen. Sie gestattete ihm diesen intimen Ausdruck großer Freundschaft. Wenn jetzt Tschara Nandi statt ihrer hier stünde! Nein, um Tschara gegenüberzutreten, bedurfte es für den Afrikaner eines seelischen Aufschwungs, doch dazu fehlte es ihm noch an Kraft. Mochte bis zu Ren Boos’ Genesung und bis zur Sitzung des Rates für Astronautik das Schicksal seinen Lauf nehmen!

„Wissen Sie vielleicht, was für eine dritte Operation Ren bevorsteht?“ Ewda gab dem Gespräch eine Wendung.

Mwen Mass überlegte eine Weile, um sich an die Unterhaltung mit dem Chirurgen zu erinnern.

„Aph Nut will sich zunutze machen, daß der Körper Ren Boos’ geöffnet ist, und den Organismus von der angesammelten Entropie befreien. Was die physiochemische Therapie nur langsam und mit Schwierigkeiten zustande bringt, kann bei solch einer Operation schneller und gründlicher erreicht werden.“

Ewda Nal rief sich alles ins Gedächtnis zurück, was sie über die Voraussetzung für ein hohes Lebensalter wußte — die Säuberung des Organismus von der Entropie. Die fisch- und lurchartigen Vorfahren hinterließen im menschlichen Organismus Schichtungen gegensätzlicher physiologischer Strukturen, von denen jede ihre Besonderheiten bei der Bildung entropischer Rückstände der Lebenstätigkeit hatte. Diese alten, jahrtausendelang studierten Strukturen, einst Quelle des Alterns und vieler Krankheiten, ließen sich neuerdings energisch reinigen: durch chemische Säuberung, Bestrahlung und Wellenbehandlung des alternden Organismus.

In der Natur wirkt der zunehmenden Entropie entgegen, daß die Lebewesen aus der Paarung verschiedener Individuen hervorgehen, die aus verschiedenen Gegenden stammen und damit unterschiedlicher genealogischer Herkunft sind. Diese Mischung der Erbanlagen als Mittel im Kampf gegen die Entropie und das Schöpfen neuer Kräfte aus verschiedenem Milieu gaben der Wissenschaft das größte Rätsel auf, an dessen Lösung Biologen, Physiker, Paläontologen und Mathematiker seit Jahrtausenden arbeiteten. Doch es hatte sich gelohnt: Die maximale Lebenserwartung hatte fast zweihundert Jahre erreicht, und was die Hauptsache war, man hatte die zermürbende Gebrechlichkeit im Alter beseitigt.

Mwen Mass erriet die Gedanken seiner Begleiterin.

„Ich habe über den neuen großen Widerspruch in unserem Leben nachgedacht“ sagte er bedächtig. „Einerseits die hochentwickelte biologische Medizin, die dem Organismus neue Kräfte verleiht, andererseits die ständig zunehmende schöpferische Arbeit des Gehirns, die den Menschen rasch verbraucht. Wie kompliziert sind doch die Gesetze unserer Welt!“

„Das stimmt, und deshalb zögern wir die Entwicklung des dritten Signalsystems des Menschen einstweilen auch noch hinaus“, pflichtete Ewda Nal ihm bei. „Das Gedankenlesen erleichtert zwar die Verständigung der Individuen untereinander, bringt jedoch einen großen Kräfteverschleiß mit sich und schwächt die Hemmungszentren. Letzteres ist außerordentlich gefährlich.“

„Die Mehrzahl der Menschen arbeitet unermüdlich und lebt wegen der außerordentlichen Nervenanspannung nur halb so lange, wie sie leben könnte. Soviel ich davon verstehe, kann die Medizin nichts dagegen tun, es sei denn, sie verbietet die Arbeit. Aber wer wird schon die Arbeit um zusätzlicher Lebensjahre willen aufgeben?“

„Niemand, denn der Tod ist nur dann furchtbar, nur dann klammert man sich an das Leben, wenn man es untätig verbracht hat“, sagte Ewda Nal nachdenklich. Sie fragte sich unwillkürlich, ob die Menschen auf der Insel des Vergessens länger lebten.

Mwen Mass schlug vor, zum Observatorium zurückzukehren und sich auszuruhen, und Ewda war einverstanden.


Zwei Monate später traf Ewda Nal Tschara Nandi im Saal des Informationspalastes, der mit seinen hohen Pfeilern einer gotischen Kirche glich. Die schräg einfallenden Sonnenstrahlen beleuchteten nur den oberen Teil, der untere war in Dämmerung gehüllt.

Das Mädchen stand an eine Säule gelehnt, die Hände auf dem Rücken verschränkt, die Beine gekreuzt. Wie immer erregte ihre schlichte Kleidung Ewda Nals Bewunderung. Sie trug ein weit ausgeschnittenes kurzes graublaues Kleid.

Als sie Ewda erblickte, kam Leben in ihre traurigen Augen.

„Was machen Sie denn hier, Tschara? Ich dachte, Sie wollten uns bald wieder mit neuen Tänzen überraschen, und nun zieht es Sie zur Geographie!“

„Die Zeit der Tänze ist vorbei“, sagte Tschara ernst. „Ich suche eine mir vertraute Arbeit. In einem Werk für künstliche Ledererzeugung in den Binnenseen von Celebes und bei einer Station für die Züchtung lang blühender Pflanzen in der früheren Wüste Atacama sind Stellen frei. Die Arbeit im Atlantischen Ozean hat mir Spaß gemacht. So hell und klar war alles; ich habe mich damals so froh gefühlt.“

„Ich werde auch immer ganz melancholisch, wenn ich an meine Arbeit im psychologischen Sanatorium auf Neuseeland zurückdenke, wo ich als blutjunge Krankenschwester angefangen habe. Selbst Ren Boos sagt jetzt nach seiner furchtbaren Verletzung, als Regulierer von Flugschraubern sei er viel glücklicher gewesen. Das ist einfach ein Schwächezustand, Tschara, Ermüdung durch große Anspannung, um sich auf jener schöpferischen Höhe zu halten, wie Sie sie als wirkliche Künstlerin erreicht haben. Und die Ermüdung wird noch zunehmen, wenn Ihr Körper nicht mehr so elastisch und energiegeladen ist wie heute. Doch bis dahin sollten Sie uns durch Ihre Kunst und Schönheit Freude bereiten.“

„Sie wissen gar nicht, Ewda, wie mir zumute ist. Jede Einstudierung eines Tanzes ist ein freudiges Suchen. Ich möchte den Menschen etwas Schönes bieten, was ihnen Freude macht und an ihr Gefühl rührt. Dafür lebe ich. Dann kommt der Augenblick, da die Idee in die Wirklichkeit umgesetzt wird, und ich gebe mich ganz meiner Leidenschaft hin. Das überträgt sich sicherlich auf die Zuschauer, wenn mein Tanz eine so starke Wirkung auf sie ausübt. Ich möchte euch allen mein Letztes geben.“

„Ja, und da wollen Sie so plötzlich aufhören?“

„Aber ich schaffe doch nichts Bleibendes!“

„Was Sie den Menschen geben, ist weit mehr!“

„Das ist sehr wenig handgreiflich und kurzlebig — ich denke an mich selbst.“

„Haben Sie noch nie geliebt, Tschara?“

Das Mädchen senkte den Blick.

„Ist es ähnlich?“ antwortete sie mit einer Frage.

Ewda Nal schüttelte den Kopf.

„Ich meine jenes starke Gefühl, zu dem wohl Sie fähig sind, aber bei weitem nicht alle.“

„Ich verstehe: Bei der Begrenztheit meines Intellekts bleibt mir der Reichtum des Gefühlslebens.“

„Sie haben nicht ganz unrecht, doch würde ich es anders ausdrücken. Sie sind so reich an Emotionen, daß sich das auf die intellektuelle Sphäre überträgt, wenngleich sie auch nach dem Gesetz der Widersprüche schwächer entwickelt ist. Aber wir theoretisieren hier, und dabei muß ich mit Ihnen dringend über etwas sprechen, was mit unserem Gespräch unmittelbar zusammenhängt. Mwen Mass…“

Das Mädchen zuckte zusammen.

Ewda Nal hakte Tschara unter und führte sie in eine der großen Nischen des Saals.

„Mwen Mass… Sie wissen, wie es ihm ergangen ist?“

„Natürlich. Der ganze Planet verurteilt ja sein mißlungenes Experiment!“

„Und was meinen Sie dazu?“

„Daß er im Recht ist!“

„Ich auch. Deshalb muß man ihn von der Insel des Vergessens zurückholen. In einem Monat findet die Jahresversammlung des Rates für Astronautik statt. Dort wird über seine Schuld befunden. Das Ergebnis der Untersuchung wird an die Ehren- und Rechtskontrolle weitergeleitet, die dem Schicksal eines jeden nachgeht. Ich glaube sicher, daß das Urteil günstig ausfällt, aber dazu müßte Mwen Mass hier sein. Außerdem ist es nicht gut für einen so gefühlsbetonten Menschen wie Sie, lange auf der Insel zu bleiben, schon gar nicht in der Einsamkeit!“

„Glauben Sie, ich sei so altmodisch, daß ich mich den Interessen eines Mannes unterordne? Selbst wenn ich ihn sehr liebe, kann ich das nicht.“

„Mein liebes Kind, so dürfen Sie nicht reden. Ich habe Sie zusammen gesehen und weiß, daß Sie beide füreinander wie geschaffen sind. Verurteilen Sie ihn nicht, weil er Sie nicht aufgesucht hat, sich vor Ihnen versteckt hat. Begreifen Sie doch: Wie kann ein Mensch, der Ihnen ähnlich ist, als bedauernswerter, geschlagener Mann, dem Gericht und Verbannung drohen, vor Sie, die geliebte Frau, hintreten?“

„Das ist es nicht, Ewda. Ob er mich jetzt überhaupt braucht? Ich fürchte, er bringt nicht mehr genügend Kraft auf für eine Liebe, zu der wir beide meiner Meinung nach fähig wären. Er könnte ein zweitesmal den Glauben an sich selbst verlieren, und das würde er nicht mehr überstehen. Darum dachte ich, es sei besser, ich gehe in die Wüste Atacama.“

„Gewiß, Sie haben recht, Tschara, aber nur teilweise. Bedenken Sie die Einsamkeit und die quälerischen Selbstvorwürfe eines starken, leidenschaftlichen Menschen, der plötzlich jeden Halt verloren hat, da er außerhalb unserer Gemeinschaft lebt. Ich würde selbst hinfahren, aber ich muß mich in erster Linie um den noch immer sehr kranken Ren Boos kümmern. Man hat Dar Weter dazu bestimmt, einen neuen Satelliten aufzubauen, auch das bedeutet Hilfe für Mwen Mass. Doch ich rate Ihnen mit allem Nachdruck: Fahren Sie zu ihm, fordern Sie nichts von ihm — keine Zukunftspläne, keine Liebe. Zerstreuen Sie seine Zweifel, und kehren Sie dann beide in unsere Welt zurück. Sie haben die Kraft dazu, Tschara! Fahren Sie?“

Das Mädchen sah Ewda Nal kindlich vertrauensvoll an.

„Noch heute!“ sagte sie ohne Zögern.

Die Ärztin küßte sie auf die Wange.

„Je eher, desto besser. Bis Kleinasien fahren wir zusammen auf der Spiralstrecke, denn Ren Boos liegt in einem chirurgischen Sanatorium auf Rhodos. Sie schicke ich dann nach Dejr es Sor, zu dem Stützpunkt für Flugschiffe des medizinisch-technischen Dienstes, die die Routen nach Australien und Neuseeland befliegen. Dem Piloten wird es ein Vergnügen sein, die Tänzerin Tschara an jeden gewünschten Ort zu bringen.“


Der Zugführer lud Ewda Nal und ihre Begleiterin in die Steuerzentrale ein. Über die riesigen Wagen hinweg führte ein silikollüberdachter Gang, durch den die Diensthabenden ungehindert von einem Ende des Zuges zum anderen gelangen konnten, um die Geräte zu überwachen. Die beiden Frauen stiegen eine Wendeltreppe hinauf, gingen durch den oberen Gang und traten in eine große Kabine über dem stromlinienförmigen ersten Wagen. In dieser Kabine saßen, sieben Meter über dem Bahndamm, zwei Maschinisten, zwischen ihnen befand sich die hohe Pyramide der elektronischen Steuerungsautomatik. Mit Hilfe der parabolischen Bildschirme konnten sie alles sehen, was sich neben und hinter dem Zug ereignete. Die Antennenfühler der Warnanlage auf dem Dach zeigten eine Gefahrenquelle bereits fünfzig Kilometer vorher an.

Ewda und Tschara setzten sich auf die weiche Bank an der Rückwand der Kabine. Die gigantische Strecke führte durch Gebirge, über mächtige Dämme, durch Niederungen, über Meerengen und Meeresbuchten. Bei der Geschwindigkeit von zweihundert Kilometern in der Stunde glich der Wald an den Abhängen und zu beiden Seiten der Dämme einem dichten rötlichen, malachitfarbenen oder dunkelgrünen Teppich.

Die beiden Frauen hingen ihren Gedanken nach. So vergingen vier Stunden. Die restlichen vier Stunden verbrachten sie in den weichen Sesseln des Salons der zweiten Etage. Auf einer Station unweit der Westküste Kleinasiens trennten sie sich. Ewda stieg in einen Elektrobus um, der sie zum nächsten Hafen brachte, Tschara fuhr weiter bis zur Station Ost-Taurus auf dem ersten Meridian-Zweig. Noch zwei Stunden Fahrt, und Tschara befand sich in dem trockenen, heißen Flachland. Hier, am Rande der früheren Syrischen Wüste, lag Dejr es Sor, Start- und Landeplatz der Flugschiffe.

Für immer prägten sich Tschara Nandi die qualvollen Stunden ein, in denen sie in Dejr es Sor auf das nächste Flugschiff wartete. Unentwegt überlegte das Mädchen, wie sie sich Mwen Mass gegenüber verhalten sollte, versuchte, sich das Wiedersehen mit ihm auszumalen, und schmiedete Pläne für die Nachforschungen auf der Insel des Vergessens, wo alles im ewigen Gleichlauf der Tage unterging.

Endlich zeigten sich am Boden die endlosen Felder der Thermoelemente in den Wüsten Nefud und Rub-el-Chali. Diese gewaltigen Kraftwerke wandelten Sonnenwärme in Elektroenergie um. Durch Vorhänge gegen Nachtfeuchtigkeit und Staub geschützt, standen sie in regemäßigen Reihen auf den befestigten, geebneten Wanderdünen. Seitdem die Menschen die Kernenergien P, Q und F nutzen gelernt hatten, war die Zeit strenger Bewirtschaftung vorüber. Längs der Südküste der arabischen Halbinsel standen viele Windkraftmaschinen still; auch sie bildeten eine Reserve des nördlichen Wohngürtels. Im Nu hatte das Flugschiff den kaum sichtbaren Uferstreifen überflogen und jagte über dem Indischen Ozean dahin. Fünftausend Kilometer waren für diese schnelle Maschine eine geringe Entfernung. Bald schon kletterte Tschara Nandi — noch etwas unsicher auf den Beinen — aus dem Flugschiff; zum Abschied wünschte man ihr eine schnelle Rückkehr.

Der Leiter des Landeplatzes beauftragte seine Tochter, Tschara mit einem kleinen Lat, einem flachen Gleitboot, zur Insel des Vergessens überzusetzen. Die beiden Mädchen genossen die schnelle Fahrt auf dem bewegten offenen Meer. Der Lat steuerte auf eine große Bucht am Ostufer der Insel des Vergessens zu, wo sich eine der medizinischen Stationen der Großen Welt befand.

Kokospalmen säumten das Ufer, ihre gefiederten Blätter berührten fast die Wasserfläche. Die Station war menschenleer. Alle Mitarbeiter hatten sich aufgemacht, um die Zecken vernichten zu helfen, die man bei den Nagetieren des Waldes gefunden hatte.

Neben der Station befanden sich Pferdeställe. Pferde wurden noch überall dort gehalten, wo Flugschrauber wegen ihres Lärms störten und Elektrofahrzeuge nicht benutzt werden konnten, weil es keine Wege gab. Nachdem Tschara sich ausgeruht hatte, zog sie sich um und ging in den Stall, um sich die seltenen schönen Tiere anzusehen. Dort traf sie eine Frau, die die automatischen Fütterungs- und Säuberungsanlagen bediente. Tschara bot ihre Hilfe an und kam mit ihr ins Gespräch. Sie erkundigte sich, wie man auf der Insel jemand schnell finden könne, und erhielt den Rat, sich einem der Schädlingsbekämpfungstrupps anzuschließen. Da sie die ganze Insel durchkämmten, kannten sie sich besser aus als die Einheimischen.

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