Boten des Himmels

Mit angehaltenem Atem verfolgte Erg Noor die Handgriffe der geschickten Laboranten. Die zahlreichen Instrumente erinnerten an die Steuerzentrale eines Sternschiffes, doch die Größe des Raumes und die breiten blauschimmernden Fenster hoben den Eindruck wieder auf.

Auf einem Metalltisch in der Mitte des Zimmers stand eine Kammer aus dicken Rupholuzitplatten, einem Material, das infrarote und sichtbare Lichtstrahlen durchließ. Ein Gewirr von Rohren und Leitungen wand sich um die braune Emaille des Sternschiff-Wassertanks, der die beiden schwarzen Medusen vom Planeten des Eisensterns enthielt.

Eon Tal, der seinen Arm nach wie vor in der Binde tragen mußte, blickte aus einiger Entfernung angespannt auf die sich langsam drehende Trommel des Registriergerätes. Dem Biologen standen Schweißtropfen auf der Stirn.

Erg Noor fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

„Nichts. Nach den fünf Jahren Flug ist nur noch Staub übriggeblieben“, sagte der Astronaut, heiser vor Erregung.

„Wenn das stimmt, welch Unglück… für Nisa und für mich!“ meinte der Biologe. „Jahrelang wird man eventuell experimentieren müssen, um die Art der Verletzung festzustellen.“

„Sie glauben nach wie vor, daß die Organe, mit denen die Beute getötet wird, bei den Medusen und dem Kreuz gleich sind?“

„Nicht nur ich. Auch Grim Schar und die anderen sind zu dieser Überzeugung gelangt. Anfangs allerdings gab es die verschiedensten Mutmaßungen. Ich dachte, das schwarze Kreuz habe mit dem Planeten überhaupt nichts zu tun.“

„Das war auch meine Überlegung, wie Sie sich sicherlich erinnern können. Ich nahm an, dieses Wesen gehöre zum Tellerschiff und bewache es. Aber wenn man bedenkt: Welchen Sinn sollte es haben, diese unüberwindliche Festung zu bewachen? Schon der Versuch, die Spiralscheibe zu öffnen, hat die Unsinnigkeit solcher Mutmaßungen bewiesen.“

„Ich hielt das Kreuz für gar kein Lebewesen“, erwiderte Eon Tal.

„Für einen Roboter, der zum Schutz des Raumschiffes aufgestellt war?“

„Ja. Jetzt bin ich natürlich anderer Meinung. Das schwarze Kreuz ist ein Lebewesen, eine Ausgeburt jener Welt der Finsternis. Wahrscheinlich hausen diese Kreaturen unten, in der Ebene. Die Medusen hingegen, leichter und beweglicher, leben auf dem Hochplateau, dort, wo wir gelandet sind. Die Verbindung zwischen dem schwarzen Kreuz und der Spiralscheibe ist rein zufällig — unsere Schutzvorrichtungen wirkten einfach nicht bis zu jenem entfernten Winkel der Ebene, der hinter der gigantischen Scheibe immer im Dunkeln blieb.“

„Sie halten also die todbringenden Organe von Kreuz und Medusen für gleich?“

„Ja. Bei diesen Tieren, die unter den gleichen Bedingungen leben, mußten sich auch gleiche Organe entwickeln. Der Eisenstern ist eine warme elektrische Sonne. Die dichte Atmosphäre des Planeten ist stark mit Elektrizität geladen. Grim Schar meint, daß die Tiere der Atmosphäre Energie entnehmen und sie komprimieren, so daß etwas Ähnliches wie unser Kugelblitz entsteht. Denken Sie nur an das blitzartige Auftauchen der bräunlichen Sternchen auf den Fühlern der Medusen.“

„Auch das Kreuz hatte Fühler, aber…“

„Das hat in der Aufregung keiner bemerkt. In einem aber sind wir uns einig — die Art der Verletzung der Nervenstränge verbunden mit einer Lähmung des entsprechenden Nervenzentrums ist bei Nisa und mir die gleiche! Das ist der eindeutige Beweis und auch unsere ganze Hoffnung!“

„Hoffnung?“ Erg Noor horchte auf.

„Selbstverständlich! Schauen Sie her“, der Biologe wies auf die gerade Linie des Diagramms. „Die empfindlichen Elektroden, die wir in die Medusenfalle versenkt haben, zeigen nichts an. Als die Tiere hineinkrochen, hatten sie aber noch ihre volle Energieladung; sie konnte nicht mehr entweichen, nachdem der Tank verschlossen war. Die Isolationsschicht der kosmischen Lebensmittelbehälter ist wohl kaum durchlässig, anders hingegen unsere leichten biologischen Raumanzüge. Überlegen Sie einmal: Das Kreuz, das Nisa zum Verderben wurde, hat Ihnen keinerlei Schaden zugefügt. Sein Ultraschall ist zwar auch durch Ihren Sicherheitsschutzanzug gedrungen und hat Ihren Willen gelähmt, aber die gefährlichen Entladungen erwiesen sich als machtlos. Sie durchschlugen nur Nisas Raumanzug, wie die Energieladung der Medusen meinen durchschlug.“

„Folglich muß sich die Ladung der Kugelblitze, oder was es sonst sein mag, noch in dem Tank befinden. Die Instrumente zeigen aber nichts an.“

„Eben darauf beruht unsere Hoffnung. Denn es bedeutet, daß die Medusen nicht zu Staub zerfallen, sind. Sie…“

„Ich verstehe. Sie haben sich eingekapselt, sich mit einer Art Kokon umgeben.“

„Ja. Diese Form der Anpassung ist unter den Organismen, die für ihre Lebensweise ungünstige Perioden überdauern müssen, weit verbreitet. Die langen eisigen Nächte des schwarzen Planeten, seine schrecklichen Orkane bei ›Sonnenaufgang und — untergang‹ — das sind solche Zeiträume. Da sie aber verhältnismäßig schnell vorübergehen, bin ich überzeugt, daß sich die Medusen ebensoschnell den veränderten Gegebenheiten anpassen. Wenn meine Überlegung richtig ist, werden wir die schwarzen Medusen wieder zu neuem todbringendem Leben erwecken können.“

„Indem wir hier die Temperatur, die Atmosphäre, die Lichtverhältnisse und die sonstigen Bedingungen des schwarzem Planeten reproduzieren?“

„Ja. Alles ist berechnet und vorbereitet. Grim Schar wird bald hier sein. Dann blasen wir ein Neon-Sauerstoff-Stickstoff-Gemisch bei einem Druck von drei Atmosphären in den Tank. Zuvor aber wollen wir uns überzeugen.“

Eine Weile beriet sich Eon Tal mit den beiden Assistenten. Langsam wurde ein Aggregat an den braunen Tank herangeschoben, die vordere Rupholuzitplatte rückte zur Seite und gab den Zugang zu der gefährlichen Falle frei.

Die Elektroden im Tank wurden durch Mikrospiegel mit zylindrischen Leuchten ersetzt. Einer der Assistenten trat an das Fernsehsteuerpult, und auf dem Bildschirm erschien eine gewölbte Oberfläche, die mit einem körnigen Belag bedeckt war und die Lichtstrahlen matt zurückwarf — die Wandung des Tanks. Der Spiegel wanderte weiter.

„Mit Röntgenstrahlen kommen wir schlecht durch“, erklärte Eon Tal. „Die Isolierung ist zu stark. Da müssen wir eben dieses komplizierte Verfahren anwenden.“

Der kreisende Spiegel zeigte den Boden des Tanks; dort lagen zwei kugelartige weiße Gebilde mit einer porösen, faserigen Oberfläche.

„Stellen Sie eine Verbindung zu Grim Schars Vektor her!“ wandte sich der Biologe aufgeregt an den Assistenten.

Als der Wissenschaftler seine Mutmaßungen bestätigt fand, kam er sofort ins Laboratorium gelaufen. Die Augen wie immer leicht zusammenkneifend, betrachtete er die vorbereiteten Apparate. Grim Schar hatte nichts von einem berühmten Wissenschaftler mit imponierendem Äußeren und herrischem Wesen an sich. Erg Noor fühlte sich an Ren Boos und sein schüchternes, jungenhaftes Gebaren erinnert, das so gar nicht der Größe seines Geistes entsprach.

„Öffnen Sie die zugeschweißte Fuge!“ wies Grim Schar an.

Der mechanische Arm durchschnitt die harte Emailleschicht, ohne den schweren Deckel von der Stelle zu rücken. Die Schläuche mit dem Gasgemisch wurden an die Ventile angeschlossen. Ein starker Infrarotscheinwerfer ersetzte den Eisenstern.

„Temperatur…, Schwerkraft…, Druck…, elektrische Ladung…“, der Assistent las die Angaben der Geräte ab.

Nach einer halben Stunde wandte Grim Schar sich an den Astronauten.

„Gehen wir in den Ruheraum. Es läßt sich nicht voraussagen, wann sich die Kapseln beleben. Hat Eon Tal recht, wird das bald geschehen. Die Diensthabenden werden uns rechtzeitig informieren.“

Das Institut für Nervenströme lag am Rande des Steppenreservats, fernab von der bewohnten Zone. Gegen Ende des Sommers war der Boden ausgedörrt. Mit leichtem Rauschen ging der Wind über die Steppe und trug den Duft des sonnengetrockneten Grases in die weit geöffneten Fenster.

Die drei Forscher versanken in den bequemen Sesseln. Schweigend blickten sie durch die Fenster über die ausladenden Bäume hinweg auf den Dunstschleier am fernen Horizont. Hin und wieder schloß einer von ihnen die ermüdeten Augen, doch die Erwartung war zu groß, als daß er hätte einschlummern können. Noch keine drei Stunden waren vergangen, als der Bildschirm der Direktverbindung aufflammte. Der diensthabende Assistent war ganz außer sich.

„Der Deckel bewegt sich!“ Sekunden später befanden sich alle drei im Laboratorium.

„Dichten Sie die Rupholuzitkammer ab und prüfen Sie, ob sie hermetisch abgeschlossen ist!“ ordnete Grim Schar an. „Schaffen Sie im Innern Bedingungen wie auf dem Planeten!“

Ein leises Zischen der starken Pumpen, ein Pfeifen der Druckregler, und in dem Behälter herrschte die Atmosphäre des nachtschwarzen Reiches.

„Erhöhen Sie den Feuchtigkeitsgehalt und die elektrische Spannung“, fuhr Grim Schar fort.

Ein scharfer Ozongeruch ging durch das Laboratorium.

Nichts rührte sich. Der Wissenschaftler runzelte die Stirn, warf einen Blick auf die Instrumente und überlegte, was er wohl außer acht gelassen habe.

„Die Dunkelheit fehlt!“ ließ sich plötzlich Erg Noors klare Stimme vernehmen.

Eon Tal sprang auf.

„Wie konnte ich das vergessen! Grim Schar, Sie waren nicht auf dem Eisenstern, aber ich!“

„Die Polarisationsblenden!“ sagte der Wissenschaftler statt einer Antwort.

Das Licht erlosch. Nur die Lichtstreifen der Instrumente blinkten noch im Raum. Die Assistenten zogen Vorhänge vor das Schaltpult, und alles versank in Finsternis. Schwach glommen die Punkte der selbstleuchtenden Indikatoren.

Ein Hauch von dem schwarzen Planeten zog durch den Raum und weckte in den Astronauten Erinnerung an die schrecklichen, aber auch faszinierenden Tage ihres harten Kampfes.

Einige Minuten vergingen. Das tiefe Schweigen wurde nur von den vorsichtigen Bewegungen Eon Tals unterbrochen, der den Bildschirm für Infrarotstrahlung mit einem Polarisator versah, um eine Abstrahlung des Lichts zu verhindern.

Erst ein schwaches Geräusch, dann ein schwerer Schlag — der Deckel des Wassertanks war in die Rupholuzitkammer gestürzt. Wohlbekannte bräunliche Funken blitzten auf — die Fühler des einen schwarzen Scheusals erschienen am oberen Rand des Tanks. Mit einem plötzlichen Sprung flog es empor, dehnte sich im Schutz der Dunkelheit aus, bis es den ganzen Raum der Rupholuzitkammer einnahm und an die durchsichtige Decke stieß. Tausende bräunlicher Sternchen rieselten über den Körper der Meduse; er blähte sich zu einer Kuppel und stemmte sich mit den Bündeln der Fühler gegen den Boden der Kammer. Das zweite Scheusal kroch aus dem Tank und flößte mit seinen schnellen und lautlosen Bewegungen unwillkürlich Furcht ein. Aber hier, hinter, den stabilen Wänden der Versuchskammer und umgeben von ferngesteuerten Instrumenten, waren die schrecklichen Geschöpfe machtlos.

Die Instrumente maßen, fotografierten, berechneten, zeichneten komplizierte Kurven und analysierten die Struktur dieser Wesen nach den verschiedensten physikalischen, chemischen und biologischen Gesichtspunkten. Der menschliche Verstand faßte die Resultate zusammen, erforschte die Struktur der Ungeheuer und unterwarf sie sich.

Wie im Fluge vergingen die Stunden, und Erg Noor war immer mehr vom Sieg überzeugt.

Immer froher wurde Eon Tal, immer mehr Leben kam in Grim Schar und seine jungen Assistenten.

Schließlich trat der Wissenschaftler auf Erg Noor zu. „Sie können ruhig nach Hause gehen. Wir wollen noch das Ende der Untersuchung abwarten. Ich möchte noch nicht das sichtbare Licht einschalten, denn hier können ihm die schwarzen Medusen nicht ausweichen wie auf ihrem Planeten. Erst müssen sie uns alles verraten, was wir wissen wollen.“

„Und Sie werden es erfahren?“

„In drei, vier Tagen werden wir alles wissen, was beim gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse möglich ist. Aber schon jetzt kann man sich ungefähr vorstellen, wie der Lähmungsmechanismus funktioniert.“

„Und Nisa wird geheilt?“

„Ja.“

Erst jetzt spürte Erg Noor, wie schwer ihm jener schwarze Tag — jene Nacht — auf der Seele gelegen hatte. Was galt nun alles andere? Wilde Freude überkam den sonst so zurückhaltenden Astronauten, am liebsten hätte er Grim Schar in die Luft geworfen, den kleinen Wissenschaftler geschüttelt und umarmt. Erg Noor war über sich selbst verwundert. Doch er nahm sich zusammen, und kaum eine Minute später war er so konzentriert wie immer.

„Bei einer künftigen Expedition werden Ihre Untersuchungsergebnisse von unschätzbarem Wert im Kampf gegen Medusen und Kreuze sein!“

„Natürlich, denn jetzt kennen wir den Feind. Aber wird denn nochmals eine Expedition in diese Welt der Finsternis statt finden?“

„Ich zweifle nicht daran.“


Ein warmer nördlicher Herbsttag dämmerte herauf.

Erg Noor ging ohne die gewohnte Eile mit nackten Füßen über das weiche, feuchte Gras. Vor ihm, am Rand des Waldes, stand eine dichte grüne Mauer von Zirbelkiefern, hin und wieder durchsetzt von entlaubten Ahornbäumen. Hier im Naturschutzgebiet griff der Mensch nicht in die Natur ein.

Erg Noor ging durch den harzduftenden dämmrigen Wald und stieg einen Hügel hinan. Der Ring des Naturschutzparkes um die Nervenklinik war nicht breit, und Erg Noor hatte bald den Hauptweg erreicht. Ganz nahe vor sich sah er einige Bassins aus Milchglas. Zwischen Blumenbeeten hindurch kamen einige Männer und Frauen gerannt. Lachend und scherzend ermutigten sie einander und stürzten sich in das herbstlich kühle Wasser. Irgendwo in einer nahe gelegenen Fabrik oder Farm war Mittagspause. Erg Noor mußte unwillkürlich lächeln. Noch nie war ihm, der einen Großteil seines Lebens in engen Sternschiffen verbracht hatten, der heimatliche Planet so herrlich erschienen. Den Menschen, der Natur, allem, was zu Nisas Rettung beigetragen hatte, fühlte er sich zu Dank verpflichtet. Heute war ihm das Mädchen im Garten der Klinik zum erstenmal entgegengekommen.

Nach einer Beratung mit den Ärzten hatten sie sich entschlossen, gemeinsam in ein Neurosanatorium im Polargebiet zu fahren. Es war gelungen, die paralytische Kette zu sprengen, die ständige Hemmung also zu beseitigen, die sich in der Gehirnrinde durch eine Entladung des schwarzen Kreuzes entwickelt hatte. Nun war Nisa wieder völlig gesund. Sie mußte nur ihre einstige Energie wiedergewinnen nach diesem langen kataleptischen Schlaf.

Aus einem Seitenweg sah Erg Noor eine Frauengestalt schnell auf sich zukommen. Unter Tausenden hätte er sie erkannt! Es war Weda Kong. Weda, die ihn früher so stark beschäftigt hatte, bis sich herausstellte, wie verschieden ihre Wege waren.

Erg Noor fiel plötzlich auf, wie sehr sich Nisa und Weda ähnelten. Das gleiche schmale Gesicht mit den weit auseinanderstehenden Augen und der hohen Stirn, mit den geschwungenen Brauen, mit dem zärtlich-spöttischen Ausdruck in den Mundwinkeln. Nur blickte Weda immer beherrscht und nachdenklich, während Nisa den eigenwilligen Kopf des öfteren in jugendlichem Ungestüm zurückwarf oder ihn stirnrunzelnd senkte.

„Warum sehen Sie mich so forschend an?“ fragte Weda erstaunt.

Sie reichte Erg Noor beide Hände. Er ergriff sie und zog sie an seine Wangen. Weda fuhr zusammen und machte sich frei. Der Astronaut lächelte schwach.

„Ich wollte diesen Händen, die Nisa gerettet haben, danken… Ich weiß alles! Ständig mußte jemand bei ihr wachen und… Sie haben auf eine interessante Expedition verzichtet. Zwei Monate…“

„Ich habe nicht verzichtet, sondern auf die ›Tantra‹ gewartet. Und dann war es sowieso zu spät. Außerdem ist sie ein prächtiges Mädchen. Wir sind einander äußerlich zwar sehr ähnlich, doch ist sie dem Bezwinger des Kosmos und der Eisensterne die wirkliche Gefährtin.“

„Weda!“

„Ich scherze nicht, Erg. Noch ist keine Zeit zum Scherzen. Erst muß alles klar sein.“

Sie gingen nebeneinanderher auf dem einsamen Weg und schwiegen, bis Erg Noor wieder begann: „Und wer ist der Richtige?“

„Dar Weter.“

„Der frühere Leiter der Außenstationen! Ich kann mir Dar Weter nur bei seiner Arbeit vorstellen und hielt auch ihn für einen Träumer des Kosmos.“

„Das stimmt. Doch seine Träume von den Sternen sind verbunden mit der Liebe zur Erde. Ein kluger Mensch mit den kräftigen Händen eines geschickten Meisters.“

Erg Noor sah unwillkürlich auf seine schmale Hand mit den langen festen Fingern.

„Wenn Sie wüßten, Weda, wie sehr ich jetzt an der Erde hänge!“

„Nach der Welt der Finsternis und der langen Reise mit der todkranken Nisa. Natürlich! Aber…“

„Gibt mir das nicht eine neue Lebensgrundlage?“

„Kaum. Sie sind ein echter Held und dürsten darum nach Heldentaten. Sie werden Ihre ganze überströmende Liebe ausschließlich dem Kosmos opfern. Aber Sie tun es einzig und allein für die Erde.“

„Weda, im Dunklen Zeitalter hätte man Sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“

„Das habe ich schon öfter gehört. — Da ist ja schon die Gabelung! Wo haben Sie Ihre Schuhe, Erg?“

„Im Garten. Ich muß jetzt wohl umkehren.“

„Auf Wiedersehen, Erg! Meine Aufgabe hier ist beendet, jetzt beginnt Ihre. Wo werden wir uns wiedersehen? Etwa erst beim Start des neuen Sternschiffs?“

„Aber nein, Weda! Ich fahre jetzt mit Nisa für drei Monate in ein Polarsanatorium. Besuchen Sie uns und bringen Sie Dar Weter mit.“

„In welches Sanatorium? Ins ›Steinerne Herz‹ an der Nordküste Sibiriens? Oder nach Island ins Herbstlaub?“

„Für den nördlichen Polarkreis ist es schon zu spät. Man schickt uns auf die südliche Halbkugel, wo bald der Sommer beginnt, ins Sanatorium ›Weißer Morgen‹ auf Graham-Land.“

„Gut, Erg. Vorausgesetzt, daß Dar Weter nicht sofort zum Bau des neuen Satelliten 57 abreist. Wahrscheinlich muß erst noch das Material bereitgestellt werden.“

„Ein schöner Erdenmensch! Bringt fast ein Jahr am Himmel zu!“

„Bitte keine Ironie! Immerhin ist diese Entfernung gar nichts im Vergleich zu der, die uns beide getrennt hat.“

„Bedauern Sie es, Weda?“

„Warum fragen Sie, Erg? Jeder von uns hat zwei Seelen in seiner Brust: Die eine drängt nach dem Neuen, die andere bewahrt das Alte und ist froh, wenn sie zu ihm zurückkehren kann. Und doch hält eine Rückkehr nie das, was man sich von ihr verspricht. Sie wissen es so gut wie ich.“

Leichtfüßig eilte die junge Frau zu dem Weg, wo die Elektrobusse fuhren. Ein automatisch betriebener Wagen hielt vor ihr, und noch längere Zeit sah Erg Noor das rote Kleid hinter der durchsichtigen Wagenwand.

Auch Weda blickte vom Wagen aus zu Erg Noor zurück. Dabei ging ihr der Kehrreim eines Gedichts aus der Ära der Partikularistischen Welt nicht aus dem Sinn. Es war unlängst übersetzt und von dem Komponisten Ark Gir vertont worden. Dar Weter hatte ihr die Worte einmal als Antwort auf einen sanften Vorwurf zitiert:

Weder Engel des Himmels noch Geister im Grund,

uns zu trennen vermögen sie nie.

Nicht brechen können sie meinen Bund

mit der reizenden Annabell Li!

So forderte der Mann von einst die Kräfte der Natur heraus, die ihm seine Geliebte genommen hatte, der Mann, der sich mit dem Verlust nicht abfinden konnte und der dem Schicksal nicht Tribut zollen wollte.

Der Elektrobus näherte sich bereits einer Abzweigung der Spiralstrecke. Weda Kong aber stand noch am Fenster.

Engel, so hießen in früheren Zeiten die vermeintlichen Himmelsgeister und Verkünder des göttlichen Willens. Das Wort „angelos“ bedeutete im Altgriechischen aber auch „Bote“.

Boten des Himmels, des Kosmos — so könnte man Erg Noor, Mwen Mass und Dar Weter nennen. Besonders aber Dar Weter wenn er am nahen Erdenhimmel den Satelliten 57 neu aufbaut. — Weda mußte unwillkürlich lächeln. „Aber dann sind wir Historiker die Geister im Grund“, sagte sie laut und lachte fröhlich auf. „Jawohl — Engel des Himmels und Geister im Grund! Nur wird das Dar Weter kaum gefallen.“


Die niedrigen Zirbelkiefern mit den schwarzen Nadeln — besonders kältebeständige Bäume, die für die Antarktis gezüchtet worden waren — rauschten feierlich unter dem gleichmäßigen Wind. Die kalte Luft brachte jene Reinheit und Frische mit sich, wie man sie nur am offenen Meer oder auf hohen Bergen findet.

Das Gebäude des Sanatoriums „Weißer Morgen“ reichte bis zum Meer hinab. Durch die stromlinienförmig geschweiften gläsernen Wände erinnerte das Haus an einen Ozeanriesen der Vergangenheit. Die blaßrosa Färbung der Fensterrahmen, Treppen und Säulen stand bei Tag in scharfem Kontrast zu den braun-violetten Andesitfelsen. Jetzt aber, im späten Frühjahr, tauchte der Polartag alle Farben in eigenartiges weißliches Licht und glich sie einander an. Nur für eine Stunde verbarg sich die Sonne hinter dem Hochplateau im Süden. Dann dehnte sich in weitem Bogen über den ganzen südlichen Teil des Himmels ein herrliches Leuchten aus, der Widerschein mächtiger Gletschermassen des antarktischen Festlandes. Die Menschen hatten sie so eingeschränkt, daß nur noch ein Viertel der früheren Eisberge übriggeblieben war. Der eisige weiße Morgen, nach dem auch das Sanatorium benannt war, verwandelte die Umgebung in eine gespenstisch blasse, schattenlose Welt.

Vier Personen gingen langsam den gewundenen Weg zum Ozean hinunter. Die zwei Männer blieben einige Schritte hinter den beiden Frauen zurück. Ihre Gesichter wirkten wie aus Granit gehauen, die Augen der Frauen schienen tief und rätselhaft.

Nisa Krit, das Gesicht an den flauschigen Jackenkragen Weda Kongs geschmiegt, widersprach lebhaft der Historikerin. Weda musterte mit leichter Verwunderung das ihr äußerlich so ähnliche Mädchen.

„Mir scheint, das beste Geschenk, das eine Frau ihrem Geliebten machen kann, ist, ihn noch einmal zu schaffen und dadurch seine Existenz zu verlängern. Das kommt fast einer Unsterblichkeit gleich!“

„Was uns betrifft, sind die Männer da anderer Meinung“, antwortete Weda. „Mir sagte einmal Dar Weter, er möchte keine Tochter haben, die der Geliebten ähnlich sei — ihm falle der Gedanke schwer, aus der Welt zu gehen und sie allein zu lassen, ohne seine Liebe und Zärtlichkeit. Das sind Rudimente der Eifersucht und des Beschützenwollens!“

„Auch für mich ist der Gedanke an eine Trennung von diesem kleinen Wesen, das mein Fleisch und Blut ist, unerträglich“, fuhr Nisa unbeirrt fort. „Es fast von der Brust weg zur Erziehung zu geben…“

„Ich verstehe Sie, bin aber nicht Ihrer Meinung“, antwortete Weda finster, als habe das Mädchen eine empfindliche Stelle berührt. „Eine der größten Aufgaben der Menschheit ist der Sieg über den blinden mütterlichen Instinkt. Nur eine kollektive Erziehung der Kinder durch besonders vorgebildete und ausgewählte Personen kann den Menschen unserer Gesellschaft formen. In unserer Epoche gibt es nicht mehr die frühere, beinahe unvernünftige Mutterliebe. Jede Mutter weiß, daß alle Menschen zu ihrem Kind zärtlich sind, daß ihm keine Gefahr droht wie früher. Die instinktive Liebe, aus der animalischen Angst um das Kind geboren, existiert heute nicht mehr.“

„Ich begreife das alles“, sagte Nisa; „aber nur verstandesmäßig.“

„Ich sehe das größte Glück darin, einem anderen Wesen Freude zu bereiten. Das ist heute jedem Menschen jeden Alters möglich, nicht nur den Eltern, Großeltern und besonders den Müttern, wie es in früheren Gesellschaftsordnungen war. Weshalb unbedingt bei dem Kleinen sein? Auch das ist ein Überbleibsel jener Zeiten, als die Frauen gezwungenermaßen nicht immer mit dem geliebten Menschen zusammen sein konnten. In unserer Ära werden sie zusammen sein, solange sie einander lieben.“

„Aber sicherlich hätte ich oft den Wunsch, das ihm ähnelnde, winzige Wesen neben mir zu haben, die Hände zusammenzupressen und… Ach, ich weiß gar nichts…“

„Es gibt die Insel der Mütter — Java. Dort leben die, die ihr Kind selbst erziehen wollen.“

„O nein! Ich könnte auch nicht Erzieherin werden wie manche, die besonders kinderlieb sind. Ich fühle soviel Kraft in mir, und außerdem war ich schon einmal im Kosmos.“

Weda wurde weicher gestimmt.

„Sie sind die personifizierte Jugend, Nisa, nicht nur äußerlich. Wenn Sie im Leben auf Widersprüche stoßen, verstehen Sie nicht — wie alle jungen Menschen —, daß eben diese Widersprüche das wahre Leben ausmachen. Liebe bringt zwangsläufig Aufregungen, Kummer und Sorgen mit sich, und zwar um so mehr, je größer sie ist. Sie aber meinen, wenn das Leben einmal hart zuschlägt, sei gleich alles verloren.“

Bei den letzten Worten kam Weda plötzlich ein neuer Gedanke. Nein, Nisas Jugend war nicht der einzige Grund für ihre Unruhe.

Weda hatte wie viele Menschen angenommen, die psychischen Verletzungen heilten gleichzeitig mit den körperlichen. Aber weit gefehlt! Noch lange Zeit können die seelischen Wunden in dem gesunden Körper unbemerkt fortdauern. Und plötzlich, mitunter aus einem ganz unbedeutenden Anlaß, brechen sie wieder auf. So war es auch bei Nisa: fünf Jahre Lähmung, die sie bewußtlos gemacht, sich aber allen Zellen ihres Körpers eingeprägt hatte, ebenso wie das Entsetzen über die Begegnung mit dem schrecklichen Kreuz, das Erg Noor fast getötet hätte.

Nisa ahnte Wedas Gedanken und sagte dumpf: „Seit den Ereignissen auf dem Eisenstern werde ich ein eigenartiges Gefühl nicht mehr los. Ich spüre in mir eine beängstigende Leere. Sie existiert unabhängig von meiner selbstbewußten Freude und Kraft, schließt sie nicht aus, aber weicht auch nicht. Und ich kann diese Leere nur überwinden, wenn ich mich zusammennehme und mich ihr nicht überlasse. Jetzt weiß ich, wie einem einsamen Menschen im Kosmos zumute ist, und empfinde noch größere Achtung vor den ersten Helden der Astronautik.“

„Ich glaube, ich verstehe Sie“, antwortete Weda. „Für kurze Zeit lebte ich auf einer der winzigen Inseln Polynesiens mitten im Ozean. Da überfällt einen in Stunden der Einsamkeit angesichts des Meeres unendliche Melancholie. Und wenn man dann ein Schiff entdeckt, fern am Horizont, erscheint einem die unermeßliche Weite des Ozeans völlig verändert. Ein paar Kameraden und ein Schiff — das ist bereits eine Welt für sich, die erreichbaren und ihr botmäßigen Fernen zustrebt. Genauso ist es mit dem Schiff des Kosmos, dem Sternschiff. Dort sind Sie mit starken und kühnen Kameraden zusammen. Aber das Einsamkeitsgefühl…“ Weda schauderte. „Kaum ein Mensch ist imstande, es zu ertragen.“

„Wie recht Sie haben, Weda! Darum will ich ja auch alles auf einmal!“

„Sie, sind mir lieb geworden, Nisa. Jetzt kommt mir Ihr Entschluß verständlicher vor, erst hielt ich ihn für sehr unvernünftig.“

Nisa drückte Weda stumm die Hand.

„Aber werden Sie das auch durchhalten, Nisa? Es ist ja so unvorstellbar schwer.“

„Was ist denn so schwer, Weda?“ fragte Erg Noor, der die letzten Worte gehört hatte. „Haben Sie sich mit Dar Weter abgesprochen? Seit einer halben Stunde schon versucht er mich zu überzeugen, daß ich lieber der Jugend meine Erfahrungen als Astronaut vermitteln und nicht eine Reise antreten soll, von der man nicht zurückkehrt.“

„Hat er Sie überzeugen können?“

„Nein. Meine Erfahrungen in der Astronautik sind jetzt notwendiger, um die ›Lebed‹ zum Ziel zu führen, dorthin“ — Erg Noor wies zum sternenlosen Himmel, wo sich der Achernar befinden mußte —, „auf einer Bahn, die noch von keinem anderen Sternschiff beflogen wurde.“

Die vier hatten den Ozean erreicht. Ein kalter Strom ging von ihm aus. In breiten Wellen wälzte sich die schwere Dünung auf das sanft ansteigende Ufer. Weda Kong blickte neugierig auf das stahlgraue Wasser, das mit zunehmender Tiefe dunkler wurde und unter den Strahlen der nur wenig über dem Horizont aufsteigenden Sonne wie Eis aussah.

Nisa stand neben ihr in einem hellblauen Pelzmantel und gleichfarbener Kappe, unter der das dichte tizianrote Haar hervorquoll. Dar Weter genoß unwillkürlich dieses Bild.

„Gefällt Ihnen Nisa?“ fragte Weda fröhlich.

„Wem könnte sie nicht gefallen?“

„Je besser ich Sie kennenlerne“, flüsterte Weda Nisa zu, „um so mehr bin ich davon überzeugt, daß sich Erg Noor in seiner Wahl nicht geirrt hat. Sie werden ihn wie keine andere in schweren Stunden aufmuntern, erfreuen, umsorgen können.“

Nisas blasse Wangen röteten sich.

Beim Frühstück auf der hohen windumtosten Kristallterrasse begegnete Weda mehrmals dem nachdenklichen und zärtlichen Blick des Mädchens. Alle vier schwiegen.

„Es ist bitter, wenn man sich von Menschen gleich wieder trennen muß, denen man gerade erst begegnet ist“, meinte plötzlich Dar Weter.

„Vielleicht können Sie…“, begann Erg Noor.

„Mein Urlaub ist zu Ende. Grom Orm erwartet mich.“

„Auch ich muß fort“, fügte Weda hinzu. „Ich werde tief unter die Erdoberfläche hinuntersteigen — in eine kürzlich entdeckte Höhle, die in der Ära der Partikularistischen Welt zu einer Art Schatzkammer ausgebaut wurde.“

„Die ›Lebed‹ wird Mitte nächsten Jahres fertig sein, in sechs Wochen beginnen wir mit den Vorbereitungen“, sagte Erg Noor leise. „Wer leitet jetzt die Außenstationen?“

„Zur Zeit Yuni Ant, doch er will sich nicht für immer von seinen Gedächtnismaschinen trennen. Der Rat hat aber die Kandidatur von Emb Ong, dem Physiker und Ingenieur von der F-Station auf Labrador, noch nicht bestätigt.“

„Ihn kenne ich nicht.“

„An der ›Akademie der Grenzen des Wissens‹ beschäftigt er sich mit Fragen der Megawellenmechanik und ist daher in der Öffentlichkeit wenig bekannt.“

„Was ist das?“

„Das sind die mächtigen Rhythmen des Kosmos, gigantische Wellen, die sich nur langsam im Weltraum ausbreiten. Sie sind zum Beispiel Ausdruck der bei Lichtgeschwindigkeiten entgegengesetzter Richtung auftretenden Widersprüche, die relative Werte jenseits der absoluten Einheit ergeben. Aber das ist noch ein weites Feld.“

„Und Mwen Mass?“

„Schreibt ein Buch über die Emotionen. Auch er hat wenig Zeit für seine persönlichen Belange — die ›Akademie für Stochastik und Vorhersage der Zukunft‹ hat ihn zum Konsultanten für den Flug Ihrer ›Lebed‹ ernannt. Sobald das Material beisammen ist, wird er sich erst einmal von seinem Buch trennen müssen.“

„Schade! So ein wichtiges Thema. Es wird Zeit, daß wir die Emotionen in ihrer ganzen Realität und Bedeutung erkennen“, meinte Erg Noor.

„Ob Mwen Mass der Richtige für eine nüchterne Analyse ist?“ warf Weda ein.

„Aber bestimmt! Wäre er anders, würde nichts Gescheites dabei herauskommen“, hielt ihr Dar Weter entgegen und stand auf, um sich zu verabschieden.

„Auf Wiedersehen! Führen Sie Ihre Arbeit schnell zu Ende, sonst sehen wir uns nicht mehr!“ meinten Nisa und Erg, als sie ihm die Hand reichten.

„Wir werden uns bestimmt noch einmal sehen!“ erwiderte Dar Weter überzeugt. „Spätestens in der Wüste El Homra vor dem Start.“

„Kommen Sie, Bote des Himmels.“ Weda schob ihre Hand unter Dar Weters Ellbogen und tat, als bemerke sie die Falte zwischen seinen Brauen nicht. „Sie haben die Erde bestimmt schon satt!“


Breitbeinig stand Dar Weter auf dem schwankenden Gerüst und blickte nach unten, in die abgrundtiefe Schlucht zwischen der zerrissenen Wolkendecke. Dort lag der Planet, dessen riesenhafte Ausdehnung noch aus einer Entfernung, fünfmal so groß wie sein Durchmesser, spürbar war. Dar Weter versuchte die ihm seit seiner Kindheit bekannten Umrisse zu erkennen.

Über der beleuchteten Seite des Planeten hing ein blauer Wolkenschleier, der das starke Licht der Sonne reflektierte. Jeder, der ohne Dunkelfilter auf die Wolken blickte, würde das Augenlicht verlieren, wie auch derjenige, der außerhalb der schützenden achthundert Kilometer starken Erdatmosphäre in die Sonne schaute. Die harten Ultraviolett- und Röntgenstrahlen töteten alles Lebende. Hinzu kamen noch die dichten Schauer kosmischer Teilchen und die intensive Strahlung des Van-Allen-Gürtels. Auch aufflammende Novae schickten tödliche Strahlungen in den Weltraum. Nur die zuverlässigen Schutzanzüge bewahrten die hier Arbeitenden vor dem Tod.

Dar Weter warf sein Sicherungsseil, das an einer Rolle des Leitseils befestigt war, auf die andere Seite des Gürtels und schritt vorsichtig auf einem Trägerbalken entlang. In voller Länge des künftigen Satelliten war ein überdimensionales Rohr zusammengeschraubt. An beiden Enden waren spitze Dreiecke befestigt, die die gewaltigen, leicht gewölbten Scheiben der Magnetfeldausstrahler trugen. Wenn erst die Batterien eingebaut waren, die die blaue Strahlung der Sonne in elektrischen Strom verwandelten, konnte man auf das Halteseil verzichten und sich mit Hilfe der auf Brust und Rücken befestigten Richtlamellen entlang den Magnetkraftlinien bewegen.

„Wir wollen auch nachts arbeiten“, vernahm Dar Weter plötzlich in seinem Kopfhörer die Stimme des jungen Ingenieurs Kad Lait. „Der Kommandant der ›Altai‹ hat versprochen, Licht zu geben.“

Dar Weter blickte nach links und nach unten, wo Dutzende Lastraketen wie aneinandergebundene regungslose Fische hingen. Etwas höher, unter dem flachen Meteoriten- und Sonnenschutzschirm, schwebte die provisorisch zusammengesetzte Plattform, wo die von den Raketen gebrachten Teile gelagert und montiert wurden. Dort wimmelten die dunklen Gestalten der Monteure, die wie Glühwürmchen aufleuchteten, wenn sie in ihren reflektierenden Raumanzügen aus dem Schatten des Schutzschirms heraustraten. Ein Spinnennetz von Trossen führte zu den schwarz gähnenden Öffnungen der Raketen, aus denen große Einzelteile ausgeladen wurden. Weiter oben, direkt über dem montierten Gerüst, mühte sich eine Gruppe Menschen mit einer sperrigen Maschine ab. Allein der Ring aus Berylliumbronze mit einem Borasonüberzug würde auf der Erde gut seine hundert Tonnen wiegen. Hier aber hing die ganze Last neben dem Metallskelett des Satelliten lediglich an einem dünnen Tau, dessen Aufgabe es war, die Integralgeschwindigkeiten der Erdrotation aller noch nicht montierten Teile auszugleichen.

Die Menschen arbeiteten geschickt und sicher: Sie hatten sich an die fehlende, besser gesagt, an die geringfügige Schwerkraft gewöhnt. Doch sie mußten nach kurzer Zeit abgelöst werden. Lang andauernde körperliche Arbeit ohne Schwerkraft führte zu einer Störung der normalen Blutzirkulation, die chronisch werden und den Menschen bei der Rückkehr auf die Erde zum Vollinvaliden machen konnte. Deshalb arbeitete niemand auf dem Satelliten länger als einhundertfünfzig Arbeitsstunden und kehrte erst dann zur Erde zurück, wenn er sich auf der Zwischenstation in neunhundert Kilometer Höhe über dem Planeten wieder an die Schwerkraft gewöhnt hatte.

Dar Weter, der die Montage leitete, durfte sich keiner physischen Anstrengung aussetzen, wie gern er auch bisweilen diese oder jene Arbeit beschleunigt hätte. Er mußte hier, in einer Höhe von siebenundfünfzigtausend Kilometern, mehrere Monate aushalten.

Wenn er sein Einverständnis zur Nachtarbeit gäbe, würde die Rückkehr seiner jungen Freunde zum Heimatplaneten vorverlegt, und die Ablösung müßte eher als geplant herbeigerufen werden. Das zweite Planetenschiff „Barion“, das die Ablösung bringen würde, befand sich in der Arizonaebene, wo Grom Orm vor den Fernsehbildschirmen und Pulten der Registriermaschinen saß.

Wenn sie die ganze eisige kosmische Nacht hindurch arbeiteten, könnte die Montagezeit des Satelliten erheblich verkürzt werden. Diese Chance durfte Dar Weter nicht vergeben. Als sein Einverständnis vorlag, zerstreuten sich die Menschen von der Montageplattform in alle Richtungen und begannen ein noch verwickelteres Netz von Seilen zu ziehen. Das Planetenschiff „Altai“, das den Arbeitern des Baus als Quartier diente und unbeweglich am Ende des Trägerbalkens hing, klinkte die Seile aus, die seine Einstiegluke mit dem Gerüst des Satelliten verbanden. Lange grelle Feuerschweife schossen aus seinen Triebwerken, lautlos und schnell drehte sich der riesige Rumpf. Nicht das geringste Geräusch durchdrang die Leere des interplanetaren Raums. Der erfahrene Kommandant der „Altai“ bugsierte mit wenigen Feuerstößen der Triebwerke das Planetenschiff vierzig Meter über den Bauplatz, so daß seine Landescheinwerfer die Montageplattform beleuchten konnten. Zwischen dem Schiff und dem Gerüst wurden erneut Leitseile gezogen, und die verschiedenen Gegenstände, die im Raum hingen, gewannen wieder eine relative Stabilität, ohne daß sie aufhörten, sich mit einer Geschwindigkeit von rund zehntausend Kilometern in der Stunde um die Erde zu drehen.

Die Verteilung der Wolkenmassen zeigte Dar Weter, daß der Bauplatz jetzt über das antarktische Gebiet des Planeten hinwegflog und folglich bald in den Erdschatten eintreten würde. In der eisigen Leere des kosmischen Raumes konnten die Heizkörper der Skaphander die Wärmestrahlung der Sonne nicht auf lange Zeit ersetzen, und wehe dem Weltraumfahrer, der unüberlegt die Energie seiner Batterien verausgabte. So war vor einem Monat der Montagearchitekt ums Leben gekommen, als er sich vor einem plötzlichen Meteoritenregen in den kalten Rumpf einer offenen Rakete geflüchtet und die Drehung zur Sonnenseite nicht abgewartet hatte. Ein anderer Ingenieur war von einem Meteorit erschlagen worden. Solche Unglücksfälle ließen sich nicht immer voraussehen und verhüten. Der Bau von Satelliten forderte stets seine Opfer. Nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit könnte er, Dar Weter, das nächste sein, denn er befand sich am längsten von allen hier in dieser Höhe, die den Zufälligkeiten des Kosmos ausgesetzt war. Doch eine innere Stimme sagte Dar Weter, daß ihm nichts geschehen konnte. Wie unsinnig auch diese Überzeugung für einen mathematisch denkenden Menschen war, sie verließ Dar Weter nicht, so daß er seelenruhig auf den Trägern und Gittern des ungeschützten Gerüstes herumspazierte.

Auf der Erde wurde die Montage der Konstruktionen von besonderen Maschinen vorgenommen, die Embryotekte genannt wurden, weil sie nach dem Wachstumsprinzip des lebenden Organismus arbeiteten. Die molekulare Struktur der Lebewesen, die durch den kybernetischen Erbmechanismus erzeugt wird, war natürlich unvorstellbar kompliziert und nicht nur einem physikalisch-chemischen Ausleseprinzip unterworfen, sondern auch der noch nicht erforschten Wellenrhythmik. Die lebenden Organismen wuchsen jedoch nur in warmen Lösungen ionisierter Moleküle, die Embryotekte hingegen arbeiteten gewöhnlich in polarisierten Strömen, im Licht oder im Magnetfeld. Die Markierungen und Chiffren wurden mit einer winzigen Menge von radioaktivem Strontium 90 auf die für die Montage bestimmten Teile aufgetragen. Dadurch konnten die Maschinen die zusammengehörigen Teile besser ordnen, und die Montage ging mit einer für den Uneingeweihten verblüffenden Exaktheit und Schnelligkeit vor sich. Hier in der Höhe konnte man solche Maschinen nicht einsetzen. Der Satellit wurde nach altertümlicher Methode gebaut, mit der Hände Arbeit Tausender Menschen. Ungeachtet aller Gefahren war die Arbeit derart interessant, daß sie Freiwillige von überall anzog. Die psychologischen Prüfstellen vermochten kaum alle zu untersuchen, die dem Rat ihre Bereitschaft mitgeteilt hatten.

Dar Weter ging zu den Fundamenten der Sonnenmaschinen, die fächerförmig rings um die Riesenbuchse mit dem Apparat für künstliche Schwerkraft gelagert waren, und schaltete sich in die Prüfkette ein. In seinem Helmtelefon erklang eine einfache Melodie. Dann schloß er parallel eine Glasplatte mit einem in feinen goldenen Linien aufgezeichneten Schema an. Die gleiche Melodie erklang. Dar Weter drehte zwei Knöpfe und brachte beide Weisen in Übereinstimmung. Er überzeugte sich, daß weder in der Melodie noch in der Tonalität der Abstimmung Differenzen vorhanden waren. Ein wichtiger Teil der künftigen Maschine war tadellos montiert worden. Man konnte jetzt mit der Anlage der Radiations-Elektromotoren beginnen. Dar Weter reckte sich, denn seine Schultern schmerzten vom langen Tragen des Skaphanders. Er bewegte den Kopf nach links und rechts, bei jeder Bewegung knirschten die Halswirbel. Nur gut, daß er so widerstandsfähig gegen Psychosen war, wie sie bei vielen auftraten, die außerhalb der Erdatmosphäre arbeiteten — die Ultraviolett-Schlafkrankheit und die Infrarot-Tollwut —, sonst hätte er die ehrenvolle Mission nicht zu Ende führen können.

Bald würde die erste Verschalung den Mitarbeitern Schutz bieten und ihnen das Gefühl der niederdrückenden Einsamkeit im freien Raum nehmen.

Von der „Altai“ löste sich ein kleines Geschoß, das pfeilschnell an dem Gerüst vorbeisauste. Das war eine Bugsierrakete für die neu eingetroffenen automatischen Raketen, die lediglich Fracht heranbrachten und auf einer eingestellten Höhe stoppten. Gerade zur rechten Zeit! Die im Weltraum schwebenden Raketen, Menschen, Maschinen und Baumaterialien wechselten auf die Nachtseite der Erde. Das Bugsiergeschoß kehrte zurück und schleppte hinter sich drei lange blauglänzende fischförmige Raketen her, von denen auf der Erde jede, ohne Treibstoff, 150 Tonnen wog.

Die Raketen wurden neben den anderen befestigt, die bereits um die Montageplattform hingen. Dar Weter stieß sich ab und gelangte auf die andere Seite des Gerüstes hinüber, wo mehrere Techniker das Entladen leiteten. Sie sprachen gerade über die Nachtarbeit. Dar Weter war mit dem Vorschlag einverstanden, verlangte jedoch, daß man in allen Skaphandern die Batterien auswechselte. Immerhin hatten sie nicht nur dreißig Stunden lang Wärme zu spenden, sondern auch noch die Lampen, Luftfilter und Radiotelefone mit Strom zu versorgen.

Alles versank im nächtlichen Dunkel. Noch eine Zeitlang beleuchtete das milde aschgraue Zodiakallicht — die von den Gasen der oberen Atmosphärenzone zerstreuten Sonnenstrahlen — das Skelett des künftigen Satelliten. 180 Grad Frost — die Supraleitung wirkte sich noch störender aus als bei Tage. Hatte sich die Isolation der Instrumente, Batterien oder Akkumulatoren nur im geringsten abgenutzt, so überzogen sich die benachbarten Gegenstände sofort mit dem blauen Schein des direkt über die Oberfläche zerfließenden Stroms, den man nicht lenken konnte.

Das tiefe Dunkel des Kosmos brach an, und der Frost verstärkte sich. Die Sterne leuchteten wie strahlendhelle bläuliche Nadeln. Das unsichtbare und lautlose Flirren der Meteorite wirkte nachts besonders gespenstisch. An der Oberfläche der dunklen Kugel dort unten, in den Strömungen der Erdatmosphäre, flackerten verschiedenfarbene Wolken elektrischen Lichtes auf, Funkenentladungen von gigantischem Ausmaß oder Streifen zerstreuten Lichts von Tausenden Kilometer Länge. In den oberen Schichten der Lufthülle tobten Orkane, stärker als jeder Sturm auf der Erde.

Plötzlich veränderte sich etwas in der kleinen, von Finsternis umgebenen Welt. Dar Weter nahm nicht sogleich wahr, daß die Scheinwerfer des Planetenschiffes eingeschaltet worden waren. Das Dunkel ringsum wirkte tiefer, die strahlenden Sterne verblaßten, die Plattform und das Gerüst dagegen hoben sich im weißen Licht scharf ab. Wenige Minuten später verminderte die „Altai“ die Spannung, und das Licht wurde gelblich. Das Planetenschiff ging mit der Energie seiner Akkumulatoren sparsam um. Wie am Tage begannen sich die Quadrate und Ellipsen der Verkleidungsplatten, die Gitter der Stützträger, die Zylinder und Rohre der Reservoire zu bewegen und nahmen allmählich ihren Platz an dem Gerüst des Satelliten ein.

Dar Weter befestigte sein Sicherungsseil an der Rolle eines Leitseils zur „Altai“, stieß sich mit den Füßen von einem Querbalken ab und schwebte nach oben. Kurz vor der Luke des Planetenschiffes drückte er auf die in der Rolle eingebaute Bremse und stoppte gerade im rechten Augenblick, sonst wäre er gegen die geschlossene Tür gestoßen.

In der Luftschleuse unterhielt man keinen normalen Erddruck, um den Luftverlust bei dem ständigen Aus-und-ein-Gehen der vielen Mitarbeiter zu verringern. Deshalb ging Dar Weter, ohne den Schutzanzug auszuziehen, in die kleine provisorisch eingerichtete Nebenkammer und legte erst hier Helm und Batterien ab.

Um den ermüdeten Körper zu entspannen, trat Dar Weter fest auf dem inneren Deck auf. Er genoß das Gefühl, wieder fast erdenähnliche Schwerkraft zu spüren. Die künstliche Gravitation des Planetenschiffes arbeitete ohne Unterbrechung. Wie ungemein wohl tat es, wieder fest auf dem Boden zu stehen und nicht wie eine Fliege in schwankender und unsicherer Leere zu torkeln. Das milde Licht, die warme Luft und die bequemen Sessel verlockten dazu, sich auszustrecken und sich voll und ganz der Erholung hinzugeben.

Doch Dar Weter widerstand der Verlockung. Er mußte Verbindung mit der Erde herstellen. Die nächtliche Beleuchtung könnte bei den Beobachtern des kalifornischen Observatoriums, das den Bau überwachte, Unruhe hervorrufen. Außerdem mußte er mitteilen, daß eine Ablösung vor dem festgesetzten Termin notwendig sei.

Die Verbindung war diesmal ausgezeichnet, und Dar Weter benutzte für das Gespräch mit Grom Orm nicht verschlüsselte Signale, sondern das Televisiofon. Der frühere Vorsitzende war einverstanden und kümmerte sich unverzüglich um die Auswahl der neuen Besatzung und eine verstärkte Lieferung von Einzelteilen.

Als Dar Weter die Steuerzentrale der „Altai“ verließ, ging er durch die Bibliothek, die mit Hilfe von zweistöckigen Betten längs der Wände in einen Schlafsaal umgebaut worden war. Die Kajüten, der Speiseraum, die Küche, die Korridore und der vordere Saal für die Triebwerke waren ebenfalls zusätzlich mit Betten ausgestattet. Das Planetenschiff, in eine stationäre Basis verwandelt, war überfüllt. Dar Weter ging den Korridor entlang, der mit braunen Kunststoffplatten verkleidet war; träge öffnete und schloß er die hermetischen Türen.

Er dachte an die Astronauten, die Jahrzehnte in einem solchen Schiff verbrachten ohne die geringste Hoffnung, es vor Ende des Fluges verlassen und in die Außenwelt gelangen zu können. Er lebte hier erst den fünften Monat, verließ jeden Tag die engen Räume, arbeitete in der Weite des interplanetaren Raumes — und schon sehnte er sich nach der Erde, nach den Steppen, dem Meer und den lebenerfüllten Zentren der Wohnzone. Aber Erg Noor, Nisa und die anderen zwanzig Besatzungsmitglieder der „Lebed“ mußten im Sternschiff zweiundneunzig abhängige Jahre oder hundertvierzig Erdenjahre verbringen. Keiner von ihnen würde überleben! Ihre Körper würden auf den Planeten des grünen Zirkoniumsterns verbrannt und beerdigt werden. Vielleicht ging auch ihr Leben schon während des Fluges zu Ende; dann würden sie, in die Totenrakete eingeschlossen, in den Kosmos fliegen. So waren die Totenschiffe der Ahnen mit den toten Kriegern aufs Meer hinausgefahren. Doch solche Helden hatte es in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben! Helden, die eine lebenslängliche Einkerkerung auf sich nahmen, ohne jede Hoffnung auf Rückkehr.

Nein, so ganz recht hatte er nicht, Weda würde ihn tadeln. Wie konnte er die namenlosen Kämpfer für Würde und Freiheit des Menschen vergessen, deren Los weit schlimmer gewesen war — hoffnungslose Einkerkerung in feuchten Kellern, qualvolle Folterungen! Ja, sie hatten sich mehr verdient gemacht als seine Zeitgenossen, die sich auf einen großartigen Flug in den Kosmos vorbereiteten.

Und er, Dar Weter, der den Heimatplaneten noch nie für längere Zeit verlassen hatte, war nur ein einfacher und unbedeutender Mensch im Vergleich zu ihnen.

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