Die Insel des Vergessens

Das Gleitboot überquerte die Palkstraße bei starkem Gegenwind. Vor knapp tausend Jahren hatte hier noch eine Kette von Sandbänken und Korallenriffen zum Festland geführt, die Adamsbrücke genannt wurde. In jüngster Zeit war durch geologische Veränderungen eine tiefe Rinne entstanden. Dunkel lag das Wasser über diesem Abgrund, der die rastlose Menschheit von den Ruhesuchenden trennte.

Mit gespreizten Beinen stand Mwen Mass an der Reling und schaute unverwandt auf die sich am Horizont abzeichnende Insel des Vergessens. Sie war ein Naturparadies mitten in dem warmen Ozean, ein Zufluchtsort für diejenigen, die die angepannte Aktivität der Großen Welt nicht mehr in ihren Bann zog, die nicht mehr so wie alle anderen arbeiten wollten.

Hier verbrachten sie ruhige Jahre bei der einfachen monotonen Arbeit früherer Zeiten: bei Ackerbau, Fischfang und Viehzucht.

Obgleich die Menschheit ihren schwachen Brüdern ein großes Stück fruchtbarer Erde überlassen hatte, konnte die primitive Wirtschaftsweise der Insel die Ernährung nicht vollauf sichern, schon gar nicht, wenn eine Mißernte eintrat. Deshalb gab die Große Welt ständig einen Teil ihrer Vorräte an die Insel des Vergessens ab.

In die drei Häfen, im Norden, im Süden und Osten der Insel, wurden konservierte Lebensmittel, Medikamente, biologische Abwehrmittel und andere lebensnotwendige Dinge gebracht. Die drei Verwalter der Insel lebten ebenfalls im Norden, im Osten und im Süden und nannten sich Leiter für Viehzucht, Ackerbau und Fischfang.

Beim Anblick der blauen Berge in der Ferne überkam Mwen Mass plötzlich das bittere Gefühl, er gehöre vielleicht zur Kategorie der „Stiere“, zu den Menschen, die aller Welt immer nur Schwierigkeiten bereiteten. Ein „Stier“ ist ein starker und energischer, aber egoistischer Mensch, dem das Leid und die Gefühle anderer gleichgültig sind. Solche Menschen haben in ferner Vergangenheit Leid und Unglück über die Menschheit gebracht, weil sie ihre Ansichten als alleinige Wahrheit proklamierten und sich berechtigt fühlten, alle anderen Meinungen zu unterdrücken, jede andere Denk- und Lebensweise auszurotten. Seitdem beugt die Menschheit solchen Totalitätsansprüchen schon beim geringsten Anzeichen vor und begegnet den „Stieren“ mit besonderem Mißtrauen. Diese Egoisten denken nicht an die unverletzlichen ökonomischen Gesetze, nicht an die Zukunft, sie leben nur dem Augenblick.

Auch er, Leiter der Außenstationen, hatte, nach knapp zwei Jahren verantwortungsvoller Tätigkeit, einen künstlichen Satelliten vernichtet, der durch die Anstrengungen Tausender Menschen und mit Hilfe größter technischer Raffinessen gebaut worden war. Vier befähigte Wissenschaftler waren umgekommen, von denen jeder ein Physiker wie Ren Boos hätte werden können. Ren Boos selbst war nur mit Mühe gerettet worden. In Gedanken sah der Afrikaner Bet Lon, der sich irgendwo auf der Insel des Vergessens verkrochen hatte. Vor der Abreise hatte er sich Aufnahmen von dem Mathematiker angesehen. Das energische Gesicht mit den kräftigen Kiefern und den dicht beieinanderliegenden, stechenden Augen hatte sich ihm nachhaltig eingeprägt.


Der Maschinist des Gleitbootes trat zu dem Afrikaner. „Die Brandung ist heute zu stark, wir werden kaum ans Ufer kommen; die Wellen schlagen hoch über die Mole. Es bleibt nichts anderes übrig, als den Südhafen anzusteuern.“

„Aber warum denn! Haben Sie ein kleines Rettungsfloß an Bord? Darauf verstaue ich meine Sachen und schwimme an Land.“

Steuermann und Maschinist sahen Mwen Mass voller Hochachtung an. Trübe, weißliche Wellen schlugen mit voller Wucht auf eine Sandbank auf und fielen tosend in sich zusammen. In Ufernähe wühlte die Brandung den Meeresgrund auf, Sand und Schaum quirlten wild durcheinander, weit rollte das Wasser über den flachen Strand hin. Tief hingen die Wolken über dem Meer, ein leichter Sprühregen fiel, schräg abgetrieben vom Wind. Durch den Regenschleier konnte man verschwommen am Ufer graue Gestalten wahrnehmen.

Maschinist und Steuermann sahen sich bedeutungsvoll an, während Mwen Mass sich auszog und die Kleider verstaute. Diejenigen, die sich auf die Insel des Vergessens zurückzogen, konnten nicht mehr mit der schützenden Besorgtheit der Gesellschaft rechnen. Der Steuermann fühlte sich verpflichtet, Mwen Mass zu warnen. Doch der Afrikaner winkte unbekümmert ab. Der Maschinist brachte ihm ein hermetisch abgeschlossenes Päckchen.

„Hier, nehmen Sie wenigstens diese konzentrierte Nahrung. Sie reicht ungefähr für einen Monat.“

Zusammen mit der Kleidung verstaute Mwen Mass das kleine Paket in einer wasserdichten Kammer des Floßes. Sorgfältig schloß er das Ventil und kletterte über die Reling, das Floß hinter sich herziehend.

„Wenden!“ rief er.

Hart legte sich das Gleitboot auf die Seite. Mwen Mass wurde hinuntergeschleudert und kämpfte verbissen mit den Wellen. Er wurde emporgehoben, stürzte in die Tiefe und tauchte etwas weiter entfernt wieder auf.

„Er schafft es!“ sagte der Maschinist erleichtert. „Doch wir müssen sehen, daß wir wegkommen, der Wind treibt uns ab.“

Die Schiffsschraube heulte auf, und das Schiff schoß, von einer riesigen Welle hochgehoben, mit einem Sprung vorwärts. Mwen Mass’ Gestalt war jetzt in voller Größe am Ufer zu sehen und verschwand in den Regenschleiern.

Über den festen feuchten Sand näherten sich langsam einige Menschen, die nur mit Lendenschurzen bekleidet waren. Triumphierend schleppten sie einen sich heftig windenden großen Fisch. Als sie Mwen Mass erblickten, blieben sie stehen und begrüßten ihn freundschaftlich.

„Ein Neuer aus der anderen Welt!“ sagte lächelnd einer der Fischer. „Und wie gut er schwimmt! Komm zu uns!“

Mwen Mass schüttelte den Kopf.

„Ich könnte hier an der Küste nicht leben. Das Meer würde in mir ständig Sehnsucht nach meiner verlorenen schönen Welt wecken.“

Einer der Fischer legte dem Ankömmling die Hand auf die Schulter. Er hatte einen stark ergrauten Bart, was hier offensichtlich als Attribut der Männlichkeit galt.

„Hat man dich etwa hierher verbannt?“

Mwen Mass lächelte traurig und versuchte zu erklären, was ihn hierhergeführt hatte.

Schmerzlich und mitfühlend betrachtete der Fischer den Afrikaner.

„Wir würden einander nicht verstehen. Geh dorthin!“ Der Fischer wies nach Südosten, wo durch die aufgerissenen Wolken einzelne Bergkuppen schwach zu erkennen waren. „Der Weg ist weit, aber bei uns gibt es keine anderen Verkehrsmittel als die hier.“ Der Inselbewohner klopfte sich auf die kräftigen Beinmuskeln.

Mwen Mass war froh, weitergehen zu können, und stieg mit großen Schritten leichtfüßig den sanft ansteigenden Bergpfad hinauf.

Der Weg bis ins Innere der Insel betrug etwa zweihundert Kilometer, aber Mwen Mass hatte es nicht eilig. Warum auch? Ohne eine nutzbringende Tätigkeit schlichen die Tage doch nur dahin. Anfangs, als er sich von der Katastrophe noch nicht völlig erholt hatte, sehnte er sich nach der Ruhe ausstrahlenden Natur. Würde ihn nicht ständig die ungeheure Vergeudung bedrücken, könnte er sich jetzt dem Genuß der Stille einsamer Hochebenen, der heißen, dunklen Tropennächte hingeben.

Ein Tag nach dem anderen verging. Der Afrikaner durchstreifte die Insel auf der Suche nach einer seinem Geschmack entsprechenden Arbeit. Seine Sehnsucht nach der Großen Welt wurde immer stärker. Der Anblick friedlicher Täler mit manuell bearbeiteten Obstplantagen erfreute ihn nicht. Das gleichförmige Plätschern der klaren Bergbäche, an denen er um die heiße Mittagszeit oder in hellen Mondnächten ungezählte Stunden sitzen konnte, beruhigte ihn nicht.

Ja, ungezählte Stunden. Und warum sollte man auch etwas zählen, was es hier im Überfluß gab: Zeit? Zeit soviel man wollte. Wie unbedeutend war dagegen die Lebensdauer eines einzelnen. Ein schnell vergessener Augenblick!

Jetzt erst verstand Mwen Mass den eigentlichen Sinn der Bezeichnung: Insel des Vergessens — das war die dumpfe Anonymität des alten Lebens, der egoistischen Handlungen und Gefühle, die vergessen wurden von den Nachfahren, weil sie nur persönlichen Zwecken dienten, nicht aber das Leben der Gesellschaft erleichterten und verschönten.

Große Taten verschwanden spurlos im Nichts.


Der Afrikaner war in die Gemeinschaft der Viehzüchter aufgenommen worden und hütete bereits zwei Monate eine große Gaurherde am Fuße eines Berges.

Längere Zeit schon ernährte er sich von einem dunklen Brei, den er sich selbst in einem verrußten Tontopf über einem Kohlenfeuer zubereitete. Noch vor einem Monat hatte er sich Früchte und Nüsse im Wald suchen müssen und war dabei den gefräßigen Affen ins Gehege gekommen, die ihn mit Abfällen bewarfen. Er hatte nämlich seine Ration einem alten kranken Mann gegeben, der in einem abgelegenen Tal wohnte. Noch immer war er gewohnt, nach der Devise der Großen Welt zu handeln: den anderen Menschen Freude bereiten. Doch dann war ihm klargeworden, was Nahrungssuche in einer öden Gegend bedeutet.

Mwen Mass stand von seinem Stein auf und hielt Umschau. Einen halben Tagesmarsch von hier entfernt lagen die jahrtausendealten, mit dichtem Strauchwerk bewachsenen Ruinen der einstigen Inselhauptstadt. Es gab noch andere Städte auf der Insel, größere und besser erhaltene, die jedoch ebenfalls verlassen waren. Aber dorthin war Mwen Mass noch nicht gekommen.

Der Afrikaner schichtete das Reisig auf, das er gesammelt hatte. Ein Gegenstand war ihm unentbehrlich — das kleine Feuerzeug. Vielleicht würde auch er bald wie manche der Einheimischen Rauschgift rauchen, um die öde Langeweile zu vertreiben.

Die Flammen züngelten empor und erhellten die Finsternis. In der Nähe grunzten friedlich die Gaure. Nachdenklich starrte Mwen Mass ins Feuer.

War der helle Planet für ihn nicht ein finsteres Asyl geworden?

Nein, seine stolze Selbstverleugnung war im Grunde Überheblichkeit aus Unkenntnis, der Unkenntnis seiner selbst, war Unterschätzung seines schöpferisch erfüllten Lebens; auch begriff er nicht, wie stark seine Liebe zu Tschara war. Lieber wollte er sein Leben hingeben, um nur eine Stunde der großen Sache zu dienen, als hier noch ein Jahrhundert zu leben!

Auf der Insel des Vergessens gab es etwa zweihundert medizinische Stationen, wo Ärzte aus der Großen Welt freiwillig Dienst taten. Auch Jugendliche aus der Großen Welt arbeiteten bei den Vernichtungstrupps, damit die Insel nicht zur Brutstätte von Krankheitserregern oder schädlichen Tieren wurde. Mwen Mass vermied eine Begegnung mit diesen Menschen, um sich nicht als Ausgestoßener aus der Welt der Schönheit und des Wissens zu fühlen.

Bei Sonnenaufgang wurde Mwen Mass von einem anderen Hirten abgelöst. Der Afrikaner machte sich für zwei Tage frei, um sich aus einer nahe gelegenen kleinen Stadt einen Umhang zu holen, denn die Nächte in den Bergen wurden zunehmend kühler.

Heiß und still war es, als Mwen Mass in die weite Ebene kam. Ein Meer von blaßlila und goldgelben Blumen wogte um ihn herum, bunte Insekten flogen darüber hin. Sanft berührten die Blüten seine Knie. Mwen Mass blieb stehen, bezaubert von der Schönheit und dem betäubenden Duft dieses wildwachsenden Gartens. Versonnen bückte er sich und strich mit den Händen über die Blüten.

Plötzlich drang gedämpft ein Geräusch an sein Ohr. Als er den Kopf hob, sah er ein Mädchen durch die Blumen eilen. Wenige Meter vor ihm bog sie zur Seite ab. Mwen Mass betrachtete versonnen ihre schlanke Gestalt. Schmerz durchzuckte ihn — wenn dieses Mädchen Tschara wäre, wenn…

Das geschulte Auge des Wissenschaftlers nahm wahr, daß das Mädchen Angst hatte. Sie sah sich des öfteren um und beschleunigte ihre Schritte, als liefe sie vor etwas davon. Mwen Mass richtete sich auf und eilte auf das Mädchen zu.

Die Unbekannte blieb stehen. Ein buntes Tuch war über Kreuz um ihren Oberkörper gewickelt, der rote Rock endete eine Handbreit unter dem Knie. Die dünnen Armreifen an ihren nackten Armen klirrten laut, wenn sie sich das windzerzauste dunkle Haar aus dem Gesicht strich. Die kurzen Locken hingen unordentlich in die Stirn. Traurig schaute sie Mwen Mass an; ihr Atem ging stoßweise. Auf ihrem hübschen dunkelhäutigen Gesicht standen kleine Schweißtropfen. Unsicheren Schritts ging sie auf den Afrikaner zu.

„Wer sind Sie, und wohin wollen Sie so eilig?“ erkundigte sich Mwen Mass. „Brauchen Sie vielleicht Hilfe?“

Das Mädchen musterte ihn aufmerksam und sagte, noch ganz außer Atem: „Ich bin Onar aus der fünften Siedlung. Nein, ich brauche keine Hilfe.“

„Das kann ich Ihnen nicht glauben, Sie sehen so erschöpft aus. Wovor haben Sie Angst? Warum lehnen Sie meine Hilfe ab?“

Das unbekannte Mädchen schaute ihn forschend an.

„Ich weiß, wer Sie sind. Ein großer Mann, von dort“, sie zeigte in die Richtung, in der man Afrika vermuten konnte. „Sie sind gut, und zu Ihnen kann man Vertrauen haben.“

„Warum haben Sie es dann nicht? Sie werden von jemand verfolgt?“

„Ja!“ stieß sie verzweifelt hervor. „Er ist hinter mir her.“

„Wer? Wie kann es jemand wagen, Sie zu verfolgen und Ihnen Angst einzuflößen?“

Das Mädchen wurde rot und schlug die Augen nieder.

„Ein Mann. Er will, daß ich seine…“

„Aber Sie können doch frei wählen und selbst bestimmen, ob Sie ihn wollen oder nicht! Wie kann man jemand zur Liebe zwingen? Wenn er hierherkommt, werde ich ihm sagen…“

„Nein, bitte nicht! Er ist ebenfalls aus der Großen Welt gekommen, aber schon vor langer Zeit. Auch er ist mächtig, doch nicht so wie Sie. Er kann furchtbar sein!“

Mwen Mass lachte unbekümmert.

„Wohin wollen Sie?“

„In die fünfte Siedlung. Ich war in der Stadt, und auf dem Rückweg begegnete mir…“

Mwen Mass nickte und nahm das Mädchen bei der Hand. Sie schlugen einen Seitenpfad ein, der zur Siedlung führte.

Hin und wieder sah, sich Onar ängstlich um und erzählte Mwen Mass, daß ihr der Mann überall nachstelle.

Der Afrikaner war empört über diese Einschüchterungsversuche.

„Warum unternehmen Ihre Leute nichts dagegen?“ fragte er. „Weiß die Ehren- und Rechtskontrolle davon? Lehrt man denn an Ihren Schulen nicht Geschichte, ist nicht bekannt, wohin Gewalttätigkeit führen kann?“

„Doch, man lehrt es. Und wir wissen es auch“, antwortete Onar, vor sich hin starrend.

Der Pfad machte eine scharfe Biegung und verlor sich im Gestrüpp. Hinter der Biegung tauchte ein großer, finsterer Mann auf. Er war nackt bis zum Gürtel, graues Haar bedeckte seine athletische Brust. Das Mädchen riß sich von Mwen Mass’ Hand los und flüsterte: „Ich habe Angst um Sie. Gehen Sie fort, Mann aus der Großen Welt!“

„Halt, stehenbleiben!“ dröhnte eine gebieterische Stimme.

In einem so rauhen Ton sprach niemand mehr in der Epoche des Großen Rings. Instinktiv stellte sich Mwen Mass schützend vor das Mädchen.

Der Fremde kam näher und versuchte, ihn wegzustoßen, doch Mwen Mass blieb stehen, ohne zu wanken.

Da traf ihn ein Fausthieb ins Gesicht. Mwen Mass taumelte. Noch nie in seinem Leben hatte er einen so harten Schlag hinnehmen müssen, der nicht nur Schmerz hervorrief, sondern auch demütigte.

Benommen hörte Mwen Mass Onar aufschreien. Er stürzte sich auf den Gegner, doch zwei betäubende Faustschläge streckten ihn zu Boden. Onar warf sich über ihn, um ihn mit ihrem Körper zu decken, aber der Fremde packte sie und drehte ihr die Arme auf den Rücken, daß sie vor Schmerz und Zorn in Tränen ausbrach.

Mwen Mass war wieder zu sich gekommen. In der Jugend, bei seinen Herkulestaten, hatte er weit schwierigere Kämpfe zu bestehen gehabt, und ihm fielen plötzlich alle Einzelheiten wieder ein, die man ihn für den Nahkampf mit Raubtieren gelehrt hatte.

Langsam erhob er sich und fixierte das wutverzerrte Gesicht des Gegners, um den Zielpunkt für den vernichtenden Schlag auszumachen. Plötzlich wich er zurück. Dieses energische Gesicht hatte ihn die ganze Zeit über verfolgt, als er vor dem Experiment ständig von Zweifeln gequält wurde.

„Bet Lon!“

Der andere ließ das Mädchen los und starrte den dunkelhäutigen Mann an, der jetzt alles andere als gutmütig aussah.

„Bet Lon, oft habe ich an eine Begegnung mit Ihnen gedacht, da ich Sie für einen Gefährten im Unglück hielt“, rief Mwen Mass, „doch so habe ich Sie mir nie vorgestellt!“

„Wie denn?“ fragte Bet Lon herausfordernd.

Der Afrikaner winkte ungeduldig ab.

„Wozu die leeren Worte? In der Großen Welt haben Sie gehandelt, statt zu reden, vielleicht verbrecherisch, jedoch um einer großen Idee willen. Wer aber gibt Ihnen hier das Recht?“

„Ich allein, ich nehme es mir!“ zischte Bet Lon verächtlich. „Mein Leben lang habe ich genügend Rücksicht auf andere, auf das allgemeine Wohl genommen. Jetzt habe ich begriffen, daß der Mensch das nicht braucht.“

„Sie haben nie an andere gedacht, Bet Lon“, fiel ihm der Afrikaner ins Wort. „In allem haben Sie sich nachgegeben, bis Sie zu dem wurden, was Sie heute sind, ein Gewaltmensch, ja fast ein Tier!“

Es schien, als wollte sich der Mathematiker auf Mwen Mass stürzen, doch er beherrschte sich.

„Genug jetzt, Sie reden mir zuviel!“

„Ich sehe, daß Sie viel verloren haben, und will…“

„Aber ich will nicht! Gehen Sie mir aus dem Weg!“

Mwen Mass rührte sich nicht. Drohend stand er vor Bet Lon. Zitternd drängte sich das Mädchen an ihn. Und dieses Zittern erbitterte ihn weit mehr als Bet Lons Fausthiebe.

Unbeweglich sah der Mathematiker in die zornfunkelnden Augen des Afrikaners.

„Gehen Sie!“ sagte er und gab den Weg frei.

Mwen Mass nahm Onar an die Hand und führte sie zwischen den Sträuchern hindurch. Er fühlte Bet Lons haßerfüllten Blick. An der Wegbiegung blieb er so ruckartig stehen, daß Onar gegen ihn prallte.

„Bet Lon, lassen Sie uns gemeinsam in die Große Welt zurückkehren!“

Der Mathematiker lachte höhnisch, doch Mwen Mass’ feines Ohr vernahm die Bitterkeit in diesem Lachen.

„Wer sind Sie, daß Sie mir so etwas vorschlagen? Wissen Sie, was Sie sind?“

„Ich habe ebenfalls einen verbotenen Versuch durchgeführt und Menschen, die mir anvertraut waren, umgebracht. In der Forschung bin ich ähnliche Wege gegangen wie Sie. Sie, ich und die anderen sind dem Sieg bereits nahe! Die Menschen brauchen Sie!“

Den Blick zu Boden gerichtet, ging der Mathematiker auf Mwen Mass zu, doch plötzlich drehte er sich um und entfernte sich, unflätig schimpfend. Mwen Mass und das Mädchen gingen wortlos weiter.

Bis zur fünften Siedlung waren es noch ungefähr zehn Kilometer. Als der Afrikaner hörte, das Mädchen lebe allein, riet er ihr, in eine der Ufersiedlungen an der Ostküste umzuziehen, damit sie dem grausamen, groben Mann nicht mehr begegne. Der einst bekannte Gelehrte war zum Schrecken der abgeschiedenen kleinen Bergsiedlung geworden. Um weiteren Zwischenfällen vorzubeugen, wollte Mwen Mass sofort in die Siedlung gehen und bitten, diesen Mann zu beobachten. Kurz vor der Siedlung verabschiedete sich Mwen Mass von Onar. Das Mädchen warnte ihren Begleiter; unlängst seien in den Wäldern des kuppelförmigen Berges Tiger aufgetaucht. Man wisse nicht, ob sie aus dem Naturschutzgebiet ausgebrochen seien oder sich bis jetzt in dem undurchdringlichen Dickicht versteckt gehalten hätten. Sie bat ihn, vorsichtig zu sein und unter keinen Umständen nachts über den Berg zurückzugeben. Zum Abschied drückte sie ihm herzlich die Hand. Mwen Mass trat den Rückweg an.

Hinter der Bergkuppe färbte die untergehende Sonne den Wolkenschleier rosa. Von des Tages Hitze erschöpft, badete Mwen Mass in dem klaren Wasser eines Gebirgsflüßchens.

Dann setzte er sich auf einen flachen Stein am Rande des Baches, um sich trocknen zu lassen und sich ein wenig auszuruhen. Vor Einbruch der Dunkelheit würde er die Stadt nicht mehr erreichen, und so beschloß er, bei Mondaufgang den kürzeren Weg über den Berg zu nehmen. Nachdenklich starrte er in das quirlende Wasser. Plötzlich war ihm, als beobachte ihn jemand, doch er konnte keinen Menschen weit und breit entdecken. Das unheimliche Gefühl, von einem Unsichtbaren mit Blicken verfolgt zu werden, verließ ihn auch nicht, als er den Aufstieg begann.

Der Weg zu dem tausendachthundert Meter hohen Plateau führte durch dichten Wald und war von Fuhrwerken festgefahren. Die schmale Sichel des zunehmenden Mondes würde den Weg höchstens anderthalb Stunden erhellen. In der Finsternis war der steil ansteigende Weg nur schwer zu bewältigen. Mwen Mass schritt schneller aus. Die vereinzelten niedrigen Bäume warfen Schatten, die wie schwarze Streifen auf dem mondhellen, trockenen Waldboden lagen. Der Afrikaner mußte sich ganz auf den Weg konzentrieren, um nicht über die zahllosen Wurzeln zu stolpern.

Plötzlich hörte er ein drohendes Knurren. Es schien von rechts, aus dem tiefen Dunkel des Waldes zu kommen.

Ein furchteinflößendes Brüllen gab Antwort von der anderen Seite. Diese urgewaltigen Laute gingen durch Mark und Bein und riefen das längst vergessene Gefühl der Angst wieder wach, das Opfer eines unbezwingbaren Raubtieres zu werden. Doch dieses Gefühl aus einer längst vergangenen Zeit rief die gleiche Reaktion wie früher hervor: Kampfeswut. Sie war das Erbe unzähliger Generationen namenloser Helden, die das Recht des Menschengeschlechts auf ein Leben unter Mammuten, Löwen, Bären, Stieren und Wolfsrudeln hartnäckig behauptet hatten.

Mwen Mass blieb stehen und lauschte mit angehaltenem Atem. Nichts regte sich in der nächtlichen Stille, doch schon nach wenigen Schritten merkte er, daß er verfolgt wurde. Tiger? Sollte Onar recht gehabt haben?

Mwen Mass begann zu laufen und überlegte fieberhaft, wie er sich der Raubtiere erwehren könnte.

Sich auf einen der niedrigen Bäume zu flüchten war sinnlos. Ein Tiger konnte besser klettern als ein Mensch. Den Kampf aufnehmen? Aber womit? Nicht einmal ein Ast ließ sich von den knorrigen Bäumen brechen. Als Mwen Mass das Brüllen ganz nah hinter sich hörte, fürchtete er, daß es um ihn geschehen sei. Mit einigen riesigen Sätzen stürzte er auf eine Lichtung zu. Dort sah er einen großen Haufen Steine liegen. Er wuchtete einen schweren, scharfkantigen Brocken hoch und drehte sich dem Wald zu. Auf den schwarzen Schatten zweier Bäume schlichen wie auf dunklen Pfaden zwei riesige Katzen auf Mwen Mass zu. Er spürte das Nahen des Todes, ähnlich wie damals in der unterirdischen Kammer des tibetanischen Observatoriums. Die grünen Flammen in den phosphoreszierenden Augen der Raubtiere kündigten es an. Tief atmete Mwen Mass die kühle Nachtluft ein und hob den Stein hoch über den Kopf.

„Ich helf dir, Freund!“

Eine große dunkle Gestalt stürmte auf die Lichtung, einen knorrigen Ast drohend zum Schlag erhoben. Mwen Mass erkannte den Mathematiker und war so verblüfft, daß er für einen Augenblick die Tiger vergaß. Völlig außer Atem, stellte sich Bet Lon schützend neben Mwen Mass. Die Riesenkatzen schlichen unerbittlich näher. Die eine war schon auf dreißig Schritt herangekommen und setzte zum Sprung an, da…

„Schnell!“ tönte ein gellender Schrei über die Lichtung.

Hinter Mwen Mass, der vor Überraschung den Felsbrocken fallen ließ, flammten die Mündungsfeuer von drei Granatwerfern auf. Der zunächst stehende Tiger bäumte sich auf, als die lähmenden Granaten kurz nacheinander explodierten, und fiel ausgestreckt auf den Boden. Der andere jagte mit riesigen Sätzen dem Wald zu. Da tauchten die Umrisse dreier Berittener auf. Eine Glasgranate mit einer starken elektrischen Ladung zerschellte am Kopf des Tigers; er sackte in sich zusammen und blieb bewegungslos am Boden liegen.

„Ich habe gefühlt, daß Sie in Gefahr sind, Mwen Mass!“

Diese hohe, besorgt klingende Stimme kannte er doch! Tschara Nandi!

Vor Überraschung brachte er kein Wort hervor. Regungslos blieb er stehen, bis das Mädchen absaß und auf ihn zueilte. Fünf Berittene folgten ihr. Mwen Mass konnte ihre Gesichter nicht erkennen, da die Mondsichel bereits hinter dem Wald verschwunden war und die Dunkelheit der Nacht Wald und Lichtung einhüllte. Tschara berührte Mwen Mass’ Arm. Er nahm die schmale Hand des Mädchens und legte sie auf sein Herz.

„Tschara, das hier ist Bet Lon, ein neuer Freund… “

Doch der Mathematiker war bereits verschwunden. Mit lauter Stimme rief der Afrikaner in die Dunkelheit: „Bet Lon! Gehen Sie nicht fort!“

„Sie werden mich wiedersehen!“ ertönte es aus der Ferne.

Einer von Tscharas Begleitern, anscheinend der Leiter der Abteilung, löste eine Signallampe vom Sattel. Ihren schwachen Lichtstrahl, kombiniert mit unsichtbaren Funkwellen, richtete er gen Himmel, Mwen Mass begriff, daß die Ankömmlinge auf einen Flugschrauber warteten. Alle fünf waren Jugendliche, Mitglieder eines Schädlingsbekämpfungstrupps, bei dem sie eine ihrer Herkulestaten ablegten. Tschara Nandi hatte sich auf der Suche nach Mwen Mass dem Trupp angeschlossen.

„Sie irren sich, wenn Sie uns für so scharfsinnig halten“, sagte der Leiter der Abteilung, als alle um die Lampe saßen und Mwen Mass Frage auf Frage stellte. „Das Mädchen mit dem altgriechischen Namen hat uns geholfen.“

„Onar!“ rief Mwen Mass.

„Ja, Onar. Als unsere Abteilung sich der fünften Siedlung näherte, kam ein völlig erschöpftes Mädchen angelaufen. Wir waren auf der Suche nach Tigern, die dieser Gegend aufgetaucht sein sollten. Das Mädchen bestätigte die Gerüchte und überredete uns, Ihnen unverzüglich nachzugehen. Sie befürchtete, die Tiger könnten Sie auf dem Rückweg anfallen. Da sind wir gerade noch zur rechten Zeit gekommen. Jeden Augenblick muß ein Flugschrauber eintreffen, mit dem schicken wir Ihre vorübergehend gelähmten Feinde ins Naturschutzgebiet. Wenn sie sich tatsächlich als unbezähmbar erweisen, werden sie erschossen. Doch ohne den Versuch darf eine so große Rarität nicht getötet werden.“

„Was für einen Versuch?“

Der Junge zog die Brauen hoch.

„Das liegt nicht in unserer Kompetenz. Wahrscheinlich wird man sie vor allem beruhigen — sie bekommen eine Infusion, die zeitweilig ihre Lebensaktivität herabsetzt. Während der Zeit lernt der Tiger vielerlei.“

Ein lautes, vibrierendes Geräusch unterbrach den jungen Mann. Ein dunkles Etwas senkte sich herab. Blendendes Licht überflutete die Lichtung. Die Raubtiere wurden in weichen Behältern für empfindliche Lasten untergebracht, und der Flugschrauber stieg wieder auf. Das Pferd des einen Jungen, der mit den Tigern weggeflogen war, gab man dem Afrikaner.

Tscharas und Mwen Mass’ Pferde gingen nebeneinander. Der Weg führte in das Tal des Flusses Galle, an dessen Mündung, nahe dem Meeresufer, sich eine medizinische Station und der Stützpunkt der Vernichtungstrupps befanden.

„Zum erstenmal, seitdem ich hier bin, sehe ich heute das Meer wieder“, brach Mwen Mass das Schweigen. „Bis jetzt glaubte ich, das Meer sei eine Absperrung, die für immer meine Welt begrenzt.“

„Die Insel war also eine Art Schule für Sie?“ stellte Tschara erfreut fest.

„Ja. In der kurzen Zeit habe ich viel erlebt und über vieles nachgedacht. All diese Gedanken haben mich schon lange bewegt.“

Mwen Mass erzählte, daß er früher befürchtet hatte, die Menschheit entwickle sich zu rational-technisch und wiederhole, freilich bei weitem nicht mehr so abstoßend, die Fehler der Vergangenheit. Er habe geglaubt, daß sich auf dem Planeten des Epsilon Tucanae eine der unseren sehr ähnliche Menschheit stark mit der Vervollkommnung der emotionalen Seite der Psyche beschäftigt.

„Die Harmonie mit dem Leben schien mir stets unvollkommen, und das bedrückte mich“, antwortete das Mädchen nach kurzem Überlegen. „Mich zog das Vergangene mehr an als das, was uns täglich umgibt. Ich träumte von einer Epoche unverbrauchter Gefühle und Kräfte. Immer wollte ich das Gefühl in meinen Zuschauern ansprechen. Wohl nur Ewda Nal hat mich völlig verstanden.“

„Und Mwen Mass“, fügte der Afrikaner ernst hinzu. Und er erzählte Tschara, wie sie ihm eines Tages als kupferhäutige Tochter des Tukan erschienen war.

„Unsere Vorfahren stellten uns in ihren Zukunftsromanen als halbe Rachitiker mit überentwickeltem Schädel dar. Trotz Millionen sezierter und zu Tode gequälter Tiere begriffen sie lange Zeit nicht den Gehirnmechanismus des Menschen, denn sie drangen dort mit dem Messer ein, wo die feinsten Meßgeräte molekularen und atomaren Maßstabes am Platze gewesen wären. Heute wissen wir, daß eine intensive Verstandestätigkeit einen kräftigen Körper voller Lebensenergie voraussetzt, aber solch ein Körper bringt auch starke Emotionen hervor.“

„Wir aber sind nach wie vor durch den Verstand gefesselt“, warf Tschara ein.

„Zwar wurde schon viel erreicht, doch die emotionale Seite ist hinter der intellektuellen zurückgeblieben. Man muß aufpassen, daß sie nicht gänzlich dem Verstand unterworfen wird, dagegen wäre es nicht schlimm, wenn der Verstand ihr zuweilen unterliegt. Mir erscheint diese Wechselbeziehung so wichtig, daß ich ein Buch darüber schreiben werde.“

„Großartig!“ rief Tschara temperamentvoll und fuhr dann verlegen fort: „Nur wenige große Wissenschaftler haben bisher die Gesetze des Schönen und der Vollkommenheit der Gefühle erforscht. Ich spreche in dem Fall nicht von den Psychologen.“

„Ich verstehe, was Sie meinen!“ antwortete der Afrikaner und betrachtete das Mädchen mit Wohlgefallen.

Leicht und ungezwungen saß Tschara auf dem hochbeinigen Rappen, der mit Mwen Mass’ Fuchs im gleichen Schritt ging.

„Wir sind zurückgeblieben!“ rief das Mädchen, ließ die Zügel locker, und sofort sprengte ihr Pferd davon.

Der Afrikaner holte sie schnell ein. Nachdem sie wieder Anschluß an ihre jungen Freunde gefunden hatten, zügelten sie die Pferde, und Tschara fragte Mwen Mass: „Und dieses Mädchen, Onar?“

„Sie muß in die Große Welt. Sie haben selbst gesagt, daß sie nur aus Anhänglichkeit an ihre kürzlich verstorbene Mutter auf der Insel geblieben ist. Onar könnte doch gut bei Weda arbeiten — bei den Ausgrabungen werden feinfühlige Frauenhände gebraucht. Und es gibt noch tausend andere Dinge, wo sie notwendig sind. Und Bet Lon, der in die Große Welt zurückkehrt, wird zu ihr auf ganz neue Weise finden!“

Tschara zog die Brauen zusammen und sah Mwen Mass aufmerksam an.

„Und Sie wollen nicht von Ihren Sternen lassen?“

„Wie auch immer der Beschluß des Rates ausfallen mag, ich werde beim Kosmos bleiben. Doch zuerst schreibe ich über…“

„… die Sterne der menschlichen Seele?“

„Ganz recht, Tschara! Sind Sie damit nicht einverstanden?“

„Natürlich bin ich einverstanden! Ich mußte nur an Ihr Experiment denken. Eine leidenschaftliche Ungeduld hat Sie dazu getrieben; Sie wollten den Menschen die Welt vollständig schenken. In dem Fall sind auch Sie ein Künstler und kein Wissenschaftler.“

„Und Ren Boos?“

„Für ihn ist ein Versuch jeweils die nächste Etappe seiner Forschungen.“

„Sie rechtfertigen mein Verhalten, Tschara?“

„Völlig! Und ich bin überzeugt, außer mir noch viele andere.“

Mwen Mass nahm die Zügel in die linke Hand und streckte die rechte Tschara hin. Sie hatten die kleine Siedlung der Station erreicht.


Gleichmäßig schlug die Brandung des Indischen Ozeans gegen das Steilufer. Aus dem Tosen glaubte Mwen Mass das rhythmische Andante von Sig Sors Sinfonie über die höchste organisierte Form der Materie im Kosmos herauszuhören. Der machtvolle Ton, der Grundton der irdischen Natur, das blaue f, schwoll an über dem Meer und zwang den Menschen, Antwort zu geben, eins zu werden mit der Natur, die ihn hervorgebracht hatte.

Das Erstaunlichste in der Menschheitsgeschichte ist der unauslöschliche Haß gegen Wissen und Schönheit, den alle Ungebildeten in sich tragen. Mißtrauen, Furcht und Haß finden sich in allen Gesellschaftsordnungen, angefangen bei der Angst vor Zauberern und Hexen in der Urgesellschaft bis zu der Vernichtung der ihrer Zeit vorauseilenden Denker in der Ära der Partikularistischen Welt. Nicht anders war es auf den Planeten mit hochentwickelten Zivilisationen, wo die Willkür kleinerer Gruppen nicht ausgeschaltet werden konnte, wo Oligarchien unterschiedlichster Formen entstanden. Mwen Mass erinnerte sich an eine Meldung des Großen Rings von bewohnten Welten. Dort wurden die Errungenschaften der Wissenschaft mißbraucht zur Einschüchterung und Folterung, zum Gedankenlesen und zur Verwandlung der Menschen in gefügige Automaten, die selbst die ungeheuerlichsten Befehle ausführten. Der Hilferuf solch eines Planeten hatte den Großen Ring erreicht, viele hundert. Jahre nachdem die Unterdrückten, die ihn aussandten, und ihre grausamen Beherrscher gestorben waren.

Die Erde hat bereits ein solches Entwicklungsstadium erreicht, daß derartige Grausamkeiten für alle Zeiten unmöglich sind.

Trotzdem ist der geistige Entwicklungsstand des Menschen, um den Persönlichkeiten wie Ewda Nal unermüdlich besorgt sind, immer noch ungenügend.

„Kart San hat gesagt, Weisheit sei eine Mischung aus Wissen und Gefühl. Werden wir weise!“ ertönte hinter Mwen Mass die Stimme Tscharas.

Und an dem Afrikaner vorbei sprang sie hinab in die tosende Tiefe. Sie machte in der Luft einen Salto, breitete die Arme aus und tauchte in die Wellen. Die Jungen des Schädlingsbekämpfungstrupps, die im Meer badeten, starrten wie gebannt auf das Mädchen. Schreck und Begeisterung jagten Mwen Mass einen Kälteschauer über den Rücken. Noch nie war er aus so großer Höhe gesprungen, doch furchtlos trat er an den Rand des Steilufers und warf seine Kleidung ab.

Das Mädchen rief ihm etwas zu, aber Mwen Mass stürzte bereits in die Tiefe und hörte nichts mehr. Der Flug erschien ihm herrlich und unendlich. Er tauchte vorbildlich ins Wasser ein, schoß nach wenigen Sekunden wieder an die Oberfläche, legte sich auf den Rücken und ließ sich von den Wellen treiben. Während er sich noch von dem Sprung erholte, sah er Tschara Nandi heranschwimmen. Angst hatte die leuchtende Bronzefarbe ihrer Haut in Blässe verwandelt; Vorwurf und Bewunderung sprachen aus ihrem Blick.

„Warum haben Sie das getan?“ flüsterte sie.

„Weil Sie es auch getan haben. Ich folge Ihnen überallhin.“

„Sie kehren also auch mit mir in die Große Welt zurück?“

„Ja!“

Mit einer jähen Wendung schwamm Mwen Maas auf Tschara zu, flüsterte zärtlich ihren Namen. Ein leidenschaftlicher Blick gab ihm Antwort, und ihre Lippen fanden sich.

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