Das Pferd auf dem Meeresgrund

Sanft wiegte sich das leuchtend blaugrüne warme Meer. Dar Weter ging langsam hinein und breitete dabei die Arme aus, um auf dem abfallenden Grund nicht den Halt zu verlieren. Während er über die Wellen hinweg in die glitzernde Ferne blickte, fühlte er sich eins mit dem Meer, wurde er zu einem Teil des grenzenlosen Elements. Hierher, ans Meer, hatte ihn ein lang betäubter Schmerz getrieben, der Schmerz um die Trennung vom Kosmos, von dem unermeßlichen Reichtum an Wissen und Denken. Sein Leben hatte sich verändert. Seine wachsende Liebe zu Weda verschönte die ungewohnte Arbeit und erfüllte die Überlegungen seines vortrefflichen Gehirns, denen er sich jetzt in wehmütiger Muße überlassen konnte. Mit großer Begeisterung vertiefte er sich in historische Forschungen. Die Zeit half ihm, mit den Veränderungen in seinem Leben fertig zu werden. Er war Weda Kong dankbar, daß sie die Flugschrauberreise in ein Land arrangiert hatte, das durch Menschenhand umgestaltet worden war. Angesichts der Großartigkeit dieser landschaftlichen Umgestaltung und der Unermeßlichkeit des Meeres erschienen einem die eigenen Kümmernisse nichtig. Dar Weter fand sich mit dem Unabänderlichen ab, auch wenn es ihm nicht leichtfiel.

Eine leise kindliche Stimme rief ihn an. Es war Miiko. Er winkte und legte sich auf den Rücken, um auf das zierliche Mädchen zu warten, das sich ungestüm in die Fluten, stürzte. Von ihrem storren pechschwarzen Haar perlten große Tropfen, und ihr gelblichbrauner Körper sah im Wasser grün aus. Nebeneinander schwammen sie der Sonne entgegen, auf eine einsame, unbewohnte Insel zu, die sich einen Kilometer vom Ufer entfernt dunkel abzeichnete. In der Ära des Großen Rings konnten alle Menschen gut schwimmen, Dar Weter aber war ein Meister darin. Zunächst schwamm er langsam, damit Miiko nicht so schnell ermüdete, aber das Mädchen glitt leicht und gewandt neben ihm durchs Wasser, Dar Weter legte an Tempo zu. Aber selbst als er alles aus sich herausholte, blieb Miiko nicht zurück; ihrem lächelnden Gesicht war keinerlei Anstrengung anzusehen. Vom Ufer der Insel klang undeutlich das Anschlagen der Wellen herüber. Dar Weter drehte sich auf den Rücken. Das Mädchen, das ihn überholt hatte, kehrte im Bogen zu ihm zurück.

„Sie schwimmen prachtvoll, Miiko!“ rief Dar Weter begeistert. Er pumpte die Lungen voll Luft und ließ sich treiben.

„Tauchen kann ich noch besser“, erwiderte das Mädchen. Dar Weter blickte sie verwundert an. „Meine Vorfahren waren Japaner“, fuhr Miiko fort. „Damals gab es einen ganzen Volksstamm, dessen Frauen alle Taucherinnen waren. Sie fischten Perlen und sammelten eßbare Algen. Dieser Beruf ging von einer Generation auf die andere über, und im Laufe eines Jahrtausends erwarben die Frauen große Fertigkeit im Tauchen. Zufällig bin auch ich so eine gute Taucherin.“

„Ich hätte nie vermutet…“

„Daß eine Ururenkelin dieser Frauen Historikerin wird? In unserer Familie erzählt man sich eine Legende. Vor mehr als tausend Jahren lebte ein japanischer Maler namens Yanagichara Eygoro.“

„Eygoro? Das ist doch auch Ihr Name!“

„Es ist heutzutage sehr selten, daß man sich bei der Wahl des Vornamens allein vom Klang leiten läßt. Im allgemeinen wählt man doch Lautverbindungen oder Wörter aus der Sprache des Volkes, von dem man abstammt. Ihre Namen sind, wenn mich nicht alles täuscht, aus dem Russischen abgeleitet?“

„Ganz recht! Es sind regelrechte russische Wörter. Das eine bedeutet ›Geschenk‹, das andere ›Wind‹.“

„Was mein Name bedeutet, weiß ich nicht. Aber den Maler hat es gegeben. Mein Urgroßvater fand eines seiner Bilder, ein riesiges Gemälde. Sie können es sich bei mir ansehen. Für den Historiker ist es recht interessant. Es zeigt deutlich, wie hart das Dasein des Volkes war, wie arm und anspruchslos, wie tapfer aber auch die Menschen lebten. Schwimmen wir weiter?“

„Einen Augenblick, Miiko! Was hat es mit den Taucherinnen auf sich?“

„Der Maler fand großen Gefallen am Tauchen und siedelte sich für immer bei dem Volksstamm an. Seine Töchter wurden ebenfalls Taucherinnen und verdienten sich ein Leben lang ihr Brot im Meer. — Sehen Sie doch nur, was für eine merkwürdige Insel das ist: ein runder Kanister oder ein niedriger Turm, wie zur Zuckergewinnung.“

„Zucker!“ Dar Weter mußte unwillkürlich lachen. „Als kleinen Jungen haben mich abgelegene Inseln immer sehr angezogen. Einsam, liegen sie mitten im Meer, und zwischen den Felsen oder im Dickicht sind dunkle Geheimnisse verborgen. Alles, was man sonst nur im Traum erlebt, kann einem hier widerfahren.“

Miiko lachte hell auf. Das sonst schweigsame und immer etwas traurige Mädchen war jetzt wie verwandelt. Fröhlich und unerschrocken schwamm sie gegen die träge heranrollenden Wellen an. Trotz ihrer Ausgelassenheit blieb sie Dar Weter rätselhaft. Sie war so ganz anders als die unkomplizierte Weda, deren Furchtlosigkeit eher übergroßer Vertrauensseligkeit entsprang als wirklicher Beharrlichkeit.

Unmittelbar am Ufer zogen sich zwischen den großen Felsen unter Wasser sonnendurchflutete Korridore entlang. Von dunklen Schwammanhäufungen hin und wieder bedeckt, eingerahmt vom Fransengewirr des Tangs, führten diese Gänge zur Ostseite der Insel, wo die unbekannte dunkle Tiefe begann. Dar Weter bedauerte, daß er sich bei Weda keine Karte vom Ufer ausgeliehen hatte.

Weniger als fünfhundert Meter von der westlichen Landzunge entfernt leuchteten die Flöße der Meeresexpedition in der Sonne. Nicht weit davon lag der sanft ansteigende Sandstrand, auf dem sich zur Zeit die gesamte Expedition sonnte, da an diesem Tage in den Maschinen die Akkumulatoren ausgewechselt wurden.

Drohend hingen die steil aufragenden Andesitfelsen über den Schwimmern. Hier und da schimmerten frische Bruchstellen, ein Erdbeben hatte jüngst den mürbe gewordenen Teil des Ufers losgebrochen. Lange mußten Miiko und Dar Weter durch das dunkle Wasser am Ostufer schwimmen, bis sie einen ebenen Felsvorsprung fanden, Dar Weter half dem Mädchen hinauf.

Die aufgestörten Möwen segelten hin und her, die Brandung hallte in dem Andesitgestein wider. Keine Spuren von Mensch oder Tier. Nichts als nackter Fels und hartes Gestrüpp.

Die beiden Schwimmer kletterten auf den höchstgelegenen Punkt der Insel, sahen eine Weile dem Spiel der Wellen zu und kehrten zu dem Felsvorsprung zurück. Die Sträucher zwischen den Gesteinsspalten strömten einen herben Geruch aus. Dar Weter streckte sich der Länge nach auf dem sonnendurchglühten Felsen aus und starrte träge ins Wasser.

Miiko kauerte sich unmittelbar am Rand des Vorsprungs nieder und versuchte in der Tiefe etwas zu erkennen. Sandbänke oder Geröll gab es in der Nähe des Ufers nicht. Steil ragte die Felswand aus dem Wasser. Blendend leuchtete die Sonne über dem Felsgrat hervor. Ihre Strahlen brachen sich an der Felswand, und der sandige Meeresgrund schimmerte schwach herauf.

„Was gibt’s da zu sehen, Miiko?“

Das Mädchen war in Gedanken versunken. Erst nach einer Weile drehte sie sich um.

„Nichts. Sie werden von unbewohnten Inseln angezogen, und mich lockt eben der Meeresgrund. Auch dort kann man, scheint mir, interessante Dinge finden und Entdeckungen machen.“

„Warum arbeiten Sie dann in der Steppe?“

„Ja, sehen Sie, für mich ist das Meer etwas so Herrliches, daß ich nicht fortwährend in seiner Nähe sein kann. Man kann auch nicht ununterbrochen seine Lieblingsmelodie hören. Dafür freue ich mich immer wieder über ein Wiedersehen mit dem Meer.“

Dar Weter nickte verständnisvoll.

„Also tauchen wir?“ Er zeigte auf den hellschimmernden Fleck in der Tiefe.

Miiko zog ihre von Natur aus gewölbten Augenbraunen noch mehr in die Höhe.

„Können Sie das denn? Das Wasser ist hier mindestens fünfundzwanzig Meter tief — nur erfahrene Taucher kommen da hinunter.“

„Ich werde es versuchen. Und Sie?“

Statt einer Antwort stand Miiko auf, sah sich suchend um, fand schließlich einen großen Stein, den sie zum Rand des Felsvorsprungs schleppte.

„Lassen Sie es mich erst einmal probieren, mit einem Stein. Das ist zwar gegen meine Grundsätze, aber wie mir scheint, hat das Wasser hier keine Strömung. Der Grund ist so klar.“

Das Mädchen hob die Arme, beugte den Rumpf und richtete sich wieder auf, wobei sich sich weit nach hinten bog. Aufmerksam verfolgte Dar Weter diese Atemübungen, um sie sich einzuprägen. Miiko sprach kein Wort mehr. Nach mehrmaligem Beugen und Aufrichten nahm sie den Stein und stürzte sich in die dunkle Tiefe.

Nachdem über eine Minute vergangen war und das mutige Mädchen nicht wieder auftauchte, verspürte Dar Weter bange Unruhe. Er suchte sich ebenfalls einen Stein als Ballast, meinte jedoch, einen größeren als Miiko zu brauchen. Gerade hatte er einen riesigen Andesitklumpen gefunden, als Miiko an der Oberfläche erschien. Das Mädchen atmete schwer und machte einen erschöpften Eindruck.

„Da… Da unten… ist ein… Pferd“, brachte sie mühsam hervor.

„Was für ein Pferd?“

— „Eine große Pferdestatue… da unten, in einer richtigen Nische. Ich tauche gleich noch mal hinab.“

„Aber das schaffen Sie doch nicht, Miiko! Lassen Sie uns zurückschwimmen und Tauchgeräte und ein Boot holen.“

„Nein! Ich will es ganz allein schaffen, und zwar jetzt gleich, ohne Geräte. Später können wir die anderen holen.“

„Dann komme ich mit!“ Dar Weter wollte seinen Stein aufheben. Miiko lächelte.

„Nehmen Sie den kleineren dort. Und wie steht’s mit der Atmung?“

Gehorsam machte Dar Weter ein paar Atemübungen und sprang dann mit dem Stein kopfüber ins Meer. Das Wasser klatschte ihm ins Gesicht, drehte ihn mit dem Rücken zu Miiko, preßte ihm die Brust zusammen und verursachte in den Ohren einen dumpfen Schmerz. Er biß die Zähne zusammen. Das kalte graue Halbdunkel wurde immer dichter, das Tageslicht verblaßte rasch. Die kalte, feindselige Macht der Tiefe bekam Gewalt über ihn, ihm schwindelte, die Augen schmerzten. Plötzlich legte sich Miikos feste Hand auf seine Schulter, und seine Füße berührten den silbern schimmernden festen Sandboden. Als er mühsam den Kopf in die von Miiko gewiesene Richtung drehte, wich er vor Überraschung zurück und ließ den Stein fallen — sofort wurde er nach oben gedrückt. Er wußte nicht, wie er an die Oberfläche gelangt war. Vor seinen Augen wogte ein roter Nebel. Krampfhaft schnappte er nach Luft.

Erst nach einer geraumen Zeit hatte er sich von dem starken Wasserdruck erholt und erinnerte sich, was er gesehen hatte. Nur ein Augenblick war es gewesen, aber wie viele Einzelheiten hatte das Auge wahrgenommen und das Gehirn sich eingeprägt!

Die dunklen Felsen unter Wasser bildeten einen gigantischen Spitzbogen, unter dem eine riesige Pferdestatue stand. Keine einzige Alge oder Muschel haftete an der glattpolierten Oberfläche der Statue. Der unbekannte Bildhauer hatte vor allem die Kraft des Tieres zum Ausdruck bringen wollen. Der vordere Teil des Rumpfes war stark vergrößert, die Brust übermäßig verbreitert und der vorgereckte Hals langgezogen. Das linke Vorderbein war angehoben, sein mächtiger Huf drohend auf die Brust des Betrachters gerichtet. Die Mähne war durch eine gezackte Kurve angedeutet, der Kopf bohrte sich fast in den Bug, die Augen unter der gesenkten Stirn hatten etwas Unheimliches, und auch die angelegten kleinen Ohren unterstrichen den bösartigen Ausdruck des steinernen Ungeheuers.

Nachdem Miiko nach Dar Weter gesehen hatte, der ausgestreckt auf dem flachen Felsvorsprung lag, tauchte sie nochmals. Schließlich war das Mädchen vom tiefen Tauchen erschöpft und hatte sich an ihrem Fund satt gesehen. Sie setzte sich neben Dar Weter und schwieg lange, bis sie wieder normal atmen konnte.

„Ich möchte wissen, wie alt diese Statue ist“, sagte Miiko nachdenklich.

Dar Weter zuckte mit den Achseln. Er erinnerte sich, was ihn am meisten verwundert hatte.

„Warum war an der Statue keine einzige Alge oder Muschel zu sehen?“

Ruckartig wandte sich ihm Miiko zu.

„Das ist nichts Neues. So etwas habe ich schon öfter gesehen. Die Fundstücke waren mit einer besonderen Schutzschicht überzogen; sie verhindert, daß Lebewesen anhaften. Danach zu urteilen, stammt diese Statue aus dem letzten Jahrhundert der Ära der Partikularistischen Welt.“

Im Meer tauchte ein Schwimmer auf. Er kam rasch näher, richtete sich etwas aus dem Wasser auf und winkte den beiden grüßend zu. Dar Weter erkannte die breiten Schultern und die glänzende dunkle Haut Mwen Mass’. Bald darauf zog er sich an dem Felsvorsprung hoch, auf seinem nassen Gesicht lag ein gutmütiges Lächeln. Er verbeugte sich knapp vor der zierlichen Miiko und begrüßte Dar Weter herzlich und unbefangen.

„Ich bin mit Ren Boos auf einen Tag hergekommen, um Ihren Rat zu erbitten.“

„Mit Ren Boos?“

„Dem Physiker von der ›Akademie der Grenzen des Wissens‹.“

„Ich kenne ihn flüchtig. Er arbeitet über die Probleme der Wechselbeziehungen zwischen Raum und Feld. Wo haben Sie ihn gelassen?“

„Am Ufer. Er schwimmt nicht so gut wie…“

Ein leises Aufklatschen unterbrach Mwen Mass.

„Ich schwimme ans Ufer zurück, zu Weda!“ rief ihnen Miiko aus dem Wasser zu.

Dar Weter sah dem Mädchen lächelnd nach.

„Sie hat eine Entdeckung gemacht“, erklärte er Mwen Mass und erzählte ihm von dem Unterwasserfund.

Der Afrikaner hörte ohne Interesse zu. Mit seinen langen Fingern strich er sich übers Kinn. In seinen Augen las Dar Weter Unruhe und Hoffnung.

„Sie haben doch etwas auf dem Herzen? Also, heraus mit der Sprache!“

Nur zu gern kam Mwen Mass der Aufforderung nach. Er hatte sich am Rand des Felsvorsprungs niedergelassen und sprach von seinen quälenden Gedanken. Sein Zusammentreffen mit Ren Boos war nicht zufällig. Die Vision von der herrlichen Welt des Sterns Epsilon Tucanae hatte ihn nicht wieder losgelassen. Seit jener Nacht träumte er davon, dieser Welt näher zu kommen, den unermeßlichen Raum zu überwinden, ganz gleich wie, damit zwischen Sendung und Empfang der Botschaft, des Signals oder des Bildes nicht mehr sechshundert Jahre lagen, die für ein Menschenleben unüberbrückbar waren. Mwen Mass hatte, sich ganz darauf konzentriert, die ungelösten Fragen und die noch unvollendeten Versuche kennenzulernen, die bereits seit einem Jahrtausend zur Erforschung des Raumes als Funktion der Materie angestellt wurden.

In der „Akademie der Grenzen des Wissens“ leitete Ren Boos, ein junger Mathematiker und Physiker, gleichgerichtete Forschungen. Seine Begegnung mit Mwen Mass und ihre beginnende Freundschaft resultierten aus ihrem gemeinsamen Ziel.

Nunmehr hielt Ren Boos das Problem für so weit gelöst, daß ein Experiment durchgeführt werden könnte. Wie alle Experimente mit kosmischer Ausdehnung konnte auch dieses nicht im Laboratorium vorgenommen werden. Ren Boos wollte den Versuch über die Außenstationen unter Verwendung der gesamten Erdenergie ausführen, einschließlich der Reservestation der Q-Energie in der Antarktis.

Dar Weter ahnte dunkel die drohende Gefahr, als er Mwen Mass’ funkelnde Augen und bebende Nasenflügel sah.

„Sie wollen wissen, wie ich in diesem Falle handeln würde?“ fragte er ruhig.

Mwen Mass nickte und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

„Ich würde das Experiment nicht wagen“, sagte Dar Weter klar und deutlich. Die Enttäuschung, die sich für einen Moment auf dem Gesicht des Afrikaners widerspiegelte und einem weniger aufmerksamen Beobachter entgangen wäre, übersah Dar Weter.

„Das habe ich erwartet!“ brachte Mwen Mass mühsam hervor.

„Warum haben Sie mich dann um Rat gefragt?“

„Ich glaubte, wir könnten Sie überzeugen.“

„Na schön, versuchen Sie es mal! Schwimmen wir zurück. Unsere Freunde bereiten sicherlich schon die Tauchgeräte vor, um sich das Pferd anzusehen.“

Am Ufer sang Weda, begleitet von zwei Frauenstimmen, die Dar Weter nicht kannte. Als sie die Schwimmenden sah, rief sie sie winkend herbei. Das Lied verstummte. In einer der Frauen erkannte Dar Weter Ewda Nal. Zum erstenmal sah er sie ohne den weißen Arztkittel. Ihre hochgewachsene, geschmeidige Gestalt hob sich von den anderen beiden durch ihre noch ungebräunte Haut ab. Augenscheinlich war die berühmte Nervenärztin in letzter Zeit sehr beschäftigt gewesen. Das in der Mitte gescheitelte blauschwarze Haar trug sie an den Schläfen hochgesteckt. Die hervortretenden Backenknochen über den etwas eingefallenen Wangen unterstrichen noch den schrägen Schnitt der schwarzen Augen. Das Gesicht erinnerte an die berühmte ägyptische Sphinx, die einst am Rande einer Wüste stand. Heute, ein Jahrtausend später, waren an Stelle der Wüste blühende Haine getreten, und die Sphinx wurde von einer Glashaube geschützt, die die Sprünge ihres von der Zeit zerfurchten Antlitzes nicht verbarg.

Dar Weter erinnerte sich, daß Ewda Nals Vorfahren Peruaner oder Chilenen waren. Er begrüßte sie nach der Sitte der alten südamerikanischen Sonnenanbeter.

„Ich sehe, Ihre Arbeit bei den Historikern war von Nutzen“, sagte Ewda. „Sie sollten Weda dankbar sein.“

Dar Weter sah sich suchend nach der vertrauten Gestalt um, und Weda nahm ihn bei der Hand und stellte ihn der unbekannten Frau vor.

„Das ist Tschara Nandi. Wir alle hier sind eigentlich zu Gast bei ihr und dem Maler Kart San, denn sie leben schon einen Monat an dieser Küste. Ihr transportables Atelier steht am Ende der Bucht.“

Dar Weter streckte der jungen Frau, die ihn aus großen blauen Augen ansah, die Hand entgegen. Für einen Augenblick stockte ihm der Atem — diese Frau hatte etwas an sich, was sie von allen anderen unterschied. Sie stand zwischen Weda Kong und Ewda Nal, aber die durchgeistigte und strenge Schönheit der beiden Forscherinnen verblaßte vor der ungewöhnlichen Faszination der Unbekannten.

„Ihr Name hat eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem“, sagte Dar Weter.

Die Mundwinkel der Unbekannten zuckten vor verhaltenem Spott.

„Ebenso wie Sie selbst eine gewisse Ähnlichkeit mit mir haben.“

Dar Weter blickte über den dichten, glänzenden Schopf ihres schwach gekräuselten schwarzen Haares hinweg und lächelte Weda zu.

„Dar, Sie verstehen es nicht, den Frauen Komplimente zu machen“, sagte Weda, den Kopf leicht zur Seite geneigt.

„Ist das denn heutzutage noch nötig, da wir uns gegenseitig nichts mehr vorzutäuschen brauchen?“

„Auch heute noch“, mischte sich Ewda Nal ein. „Und es wird immer nötig sein.“

„Ich würde mich freuen, wenn man mir das erklärte.“ Dar Weters Gesicht hatte sich ein wenig verfinstert.

„In einem Monat halte ich an der ›Akademie des Leides und der Freude‹ meine Herbstvorlesung“, entgegnete Ewda. „Darin wird viel von der Bedeutung der unmittelbaren Emotionen die Rede sein.“ Sie nickte dem herangekommenen Mwen Mass zu.

Der Afrikaner ging wie immer gemessen und lautlos. Dar Weter bemerkte, wie sich Tscharas braune Wangen mit flammender Röte überzogen. Mwen Mass verbeugte sich gleichmütig.

„Ich habe Ren Boos mitgebracht. Er sitzt dort auf dem Stein.“

„Gehen wir zu ihm“, schlug Weda vor. „Wir begegnen dann sicherlich auch Miiko. Sie holt die Tauchgeräte. Kommen Sie mit, Tschara?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

„Ich warte auf den Meister. Die Sonne steht schon tief, und bald beginnt unsere Arbeit.“

„Es ist doch bestimmt nicht leicht, Modell zu stehen, nicht wahr?“ erkundigte sich Weda. „Ich bewundere Sie. Ich könnte es nicht.“

„Das habe ich auch immer geglaubt. Aber wenn den Künstler eine Idee gepackt hat, dann wird man von ihr mitgerissen. Man sucht selbst nach der idealen Verkörperung seiner Vorstellungen. Jede Bewegung, jede Linie besitzt Tausende von Nuancen. Man muß sie erhaschen wie flüchtige Töne.“

„Sie sind für den Maler einfach eine großartige Entdeckung, Tschara!“

„Ja, das ist sie!“ unterbrach Weda eine laute Baßstimme. „Und was meinen Sie, wie ich sie entdeckt habe! Es hört sich sehr unwahrscheinlich an.“ Kart San, der Maler, schüttelte die hocherhobene Faust. Sein helles Haar flatterte im Wind, sein wettergegerbtes Gesicht war gerötet.

„Begleiten Sie uns, wenn Sie Zeit haben, und erzählen Sie es“, bat Weda.

„Ich bin zwar ein schlechter Erzähler, aber es ist an sich schon interessant. Ich beschäftigte mich damals mit der Rekonstruktion der verschiedenen Rassentypen, die es einst, bis zur Ära der Partikularistischen Welt, gab. Nach dem Erfolg, den mein Bild ›Die Tochter Gondwanas‹ hatte, wollte ich unbedingt den Typ einer anderen Rasse rekonstruieren. Ich wollte ein Bild malen ›Die Tochter der Thetis‹, des Mittelmeeres. Mich beeindruckte, daß in den Sagen des alten Griechenlands, Kretas, des Zweistromlandes, Amerikas und Polynesiens die Götter dem Meer entstammten. Was gibt es Wunderbareres als die altgriechische Sage von Aphrodite, der Göttin der Liebe und der Schönheit! Allein schon der Name: Aphrodite Anadiomene — die Schaumgeborene. Eine Göttin, hervorgegangen aus Schaum und dem Licht der Sterne über nächtlichem Meer. Welch Volk hat je etwas Poetischeres ersonnen!“

„Aus Sternenlicht und Meeresschaum“, hörte Weda Kong Tschara flüstern und blickte das Mädchen verstohlen an.

Das strenge, wie aus Holz geschnitzte Profil Tscharas rief die Erinnerung an längst vergangene Zeiten wach. Die kleine, gerade, ein wenig abgerundete Nase, die leicht fliehende breite Stirn, das energische Kinn und vor allem der große Abstand zwischen Nase und Ohren — all das waren typische Züge der Völker des antiken Mittelmeergebiets.

Weda musterte sie unauffällig von Kopf bis Fuß und fand, daß alles an ihr ein wenig übers rechte Maß hinausging. Die Haut war zu glatt, die Taille zu schmal, und die Hüften waren zu breit. Da sie sich betont gerade hielt, wirkte ihre straffe Brust zu üppig. Aber vielleicht brauchte der Maler gerade diese stark ausgeprägten Formen.

Als der Weg von einem Steinwall gekreuzt wurde, war Weda erstaunt, wie leichtfüßig Tschara Nandi von Stein zu Stein sprang.

Sie hat zweifellos indisches Blut in den Adern, schlußfolgerte Weda. Bei Gelegenheit werde ich sie danach fragen.

„Um ›Die Tochter der Thetis‹ malen zu können“, fuhr der Maler fort, „mußte ich das Meer kennenlernen, es ganz in mich aufnehmen, sollte doch meine Kreterin wie Aphrodite aus dem Meer steigen, und jeder sollte dieses Bild verstehen. Bevor ich ›Die Tochter Gondwanas‹ malte, arbeitete ich drei Jahre in einem Forstbetrieb in Äquatorialafrika. Nachdem das Bild fertig war, ging ich als Mechaniker auf ein Postgleitboot und fuhr zwei Jahre lang auf dem Atlantischen Ozean die Post aus — wissen Sie, für all die Fischfang-, Eiweiß- und Salzfabriken, die dort auf gigantischen Metallflößen herumschwimmen.

Eines Abends befand ich mich mit meinem Boot im mittleren Atlantik, westlich der Azoren, wo zwei Strömungen aufeinandertreffen. Dort herrscht stets starker Wellengang. Bald wurde das Boot hoch emporgehoben, den tiefhängenden Wolken entgegen, bald schoß es ungestüm in ein Wellental. Die Luftschraube heulte. Ich stand neben dem Steuermann auf der hohen Brücke. Und plötzlich — ich werde es nie vergessen. Stellen Sie sich vor, da wälzt sich uns eine Welle entgegen, höher als alle anderen. Auf dem Kamm dieser riesigen Welle, dicht unter den niedrigen, zusammengeballten, perlmuttfarbenen Wolken, steht ein junges Mädchen, bronzefarben ihre Haut. Lautlos nähert sich die Welle. Das Mädchen scheint zu fliegen, sie wirkt unvorstellbar stolz in ihrer Einsamkeit inmitten des Ozeans. Unser Gleitboot wird emporgerissen und schießt an dem Mädchen vorbei, das uns freundlich zuwinkt. Da sah ich, daß sie auf einem Brett stand, wissen Sie, auf so einer Tafel mit Elektromotor und Akku, die man mit den Füßen steuert.“

„Ich weiß“, warf Dar Weter ein, „wie man sie zum Wellenreiten benutzt.“

„Am meisten beeindruckte mich, daß sie mutterseelenallein war inmitten der Wolken, der unermeßlichen Weite des Ozeans und in dem Licht des späten Tages. Dieses Mädchen war…“

„Tschara Nandi!“ fiel ihm Ewda Nal ins Wort. „Soviel ist klar, aber woher kam sie?“

„Keineswegs aus Schaum und Sternenlicht!“ Tschara brach in ein unerwartet helles Lachen aus. „Lediglich von dem Floß einer Eiweißfabrik. Wir lagen damals in unmittelbarer Nähe des Sargassomeeres, wo wir Chlorellaalgen züchteten. Ich arbeitete dort als Biologin.“

„Mag sein“, räumte Kart San ein. „Aber von dem Augenblick an waren Sie für mich eine Tochter des Mittelmeers, die Schaumgeborene, die ich als Modell für mein künftiges Bild gewinnen mußte. Ich wartete ein ganzes Jahr.“

„Kann man es sich mal ansehen?“ fragte Weda Kong.

„Bitte sehr. Aber nur nicht, während ich male. Am besten abends. Ich arbeite sehr langsam und vertrage es nicht, wenn mir jemand dabei zusieht.“

„Malen Sie mit Ölfarben?“

„Unsere Arbeitsweise hat sich im Laufe der Jahrtausende kaum verändert. Die optischen Gesetze und das Auge des Menschen sind dieselben geblieben. Verschärft hat sich die Wahrnehmung einiger Schattierungen, neue chromkatoptrische Farben mit Reflexen innerhalb der Farbschicht und verschiedene Methoden der Farbenharmonisierung wurden erfunden. Aber im großen und ganzen hat der Maler im grauen Altertum genauso gearbeitet wie ich heute. Und in gewisser Beziehung noch besser. Glaube und Ausdauer — wir sind zu ungeduldig geworden und nicht mehr von unserer Rechtlichkeit überzeugt. Doch der Kunst tut Naivität manchmal ganz gut. Aber ich schweife schon wieder ab! Für mich, für uns wird’s Zeit. Gehen wir, Tschara.“

Alle blieben stehen und blickten dem Maler und seinem Modell nach.

„Jetzt weiß ich genau, wer er ist“, sagte Weda. „Ich habe ›Die Tochter Gondwanas‹ gesehen.“

„Ich auch“, sagten Ewda Nal und Mwen Mass wie aus einem Munde.

„Gondwana — ist damit das Land der Gonds in Indien gemeint?“ fragte Dar Weter.

„Nein. Es ist eine Sammelbezeichnung für die Länder der südlichen Halbkugel. insbesondere für das Land der früheren schwarzen Rasse.“

„Und wie sieht die Tochter der Schwarzen aus?“

„Das Bild ist sehr schlicht. Vor einem Steppenplateau am Rande eines tropischen Waldes steht im grellen Sonnenlicht ein schwarzhäutiges junges Mädchen. Die eine Hälfte ihres Gesichts und ihres plastischen, wie aus Metall gegossenen Körpers liegt in gleißendem Licht, die andere im Halbschatten. Um den schlanken Hals trägt sie eine Kette aus weißen Raubtierzähnen, das Haar ist über dem Scheitel zusammengebunden und von einem Kranz feuerroter Blüten bedeckt. Mit der rechten Hand schiebt sie den Zweig eines Baums vor ihrem Gesicht beiseite, mit der linken einen Dornenzweig vor ihren Knien. In der gespannten Haltung ihres Körpers und dem kraftvollen Schwung ihrer Hände liegt etwas von der Unbekümmertheit der Jugend, die sich eins fühlt mit der sich ewig verändernden Natur. Dieses Einssein ist gleichbedeutend mit Wissen, mit intuitivem Erfassen der Welt. In den dunklen Augen, die über das bläuliche Gras hinweg in die Ferne, auf die kaum erkennbaren Konturen der Berge blicken, ist deutlich Unruhe zu lesen, die Erwartung der großen Prüfungen in der neuen, eben erst erschlossenen Welt.“

Ewda Nal verstummte.

„Aber wie konnte Kart San diesen Ausdruck erreichen?“ fragte Weda Kong. „Vielleicht durch die zusammengezogenen schmalen Augenbrauen, den ein wenig vorgeneigten Hals und den unbedeckten Nacken. Ganz erstaunlich sind die Augen, erfüllt von der dunklen Weisheit der uralten Natur. Und das Merkwürdigste ist die Harmonie zwischen der unbekümmerten graziösen Kraft und dem beunruhigenden Wissen.“

„Schade, daß ich es nicht gesehen habe!“ sagte Dar Weter. „Ich muß wirklich einmal in den Palast der Geschichte gehen. Die Farben des Bildes sehe ich deutlich vor mir, aber die Haltung des Mädchens kann ich mir nicht vorstellen.“

„Die Haltung?“ Ewda Nal blieb stehen. „Hier haben Sie die ›Tochter Gondwanas‹.“ Sie nahm das Handtuch von den Schultern, hob den angewinkelten rechten Arm hoch und beugte sich, Dar Weter halb zugewandt, ein wenig zurück. Eines ihrer langen Beine stellte sie einen Schritt vor und blieb bewegungslos stehen.

Alle schauten sie voller Bewunderung an.

„Das habe ich Ihnen gar nicht zugetraut, Ewda!“ rief Dar Weter aus. „Sie sind ja gefährlich wie ein halb gezückter Dolch!“

„Schon wieder ein mißglücktes Kompliment, Dar!“ sagte Weda lachend. „Warum nur ›halb‹ und nicht ›ganz‹?“

„Er hat völlig recht“, meinte lächelnd Ewda Nal, die wieder sie selbst war. „Eben doch nicht ganz. Unsere neue Bekannte, die bezaubernde Tschara Nandi, gleicht einem gezückten, blitzenden Dolch, um mit den poetischen Worten Dar Weters zu sprechen.“

„Ich kann nicht glauben, daß Ihnen jemand vergleichbar ist“, ertönte hinter einem Felsen eine etwas heisere Stimme.

Ewda Nal entdeckte als erste das kurzgeschnittene rotblonde Haar und die blaßblauen Augen, die mit einem solchen Entzücken auf sie blickten, wie sie es noch bei keinem anderen wahrgenommen hatte.

„Ich bin Ren Boos“, sagte der Rotblonde verlegen und trat hinter dem großen Felsen hervor. Er war von kleiner, zierlicher Statur.

„Wir haben Sie gesucht.“ Weda nahm den Physiker bei der Hand. „Hier, das ist Dar Weter.“

Ren Boos errötete, wodurch seine Sommersprossen sichtbar wurden, die sein Gesicht und sogar seinen Hals über und über bedeckten.

„Ich habe mich da oben zu lange aufgehalten.“ Ren Boos zeigte auf einen steinigen Abhang. „Bei dem alten Grabhügel.“

„Ein berühmter Dichter aus uralter Zeit liegt da begraben“, erklärte Weda.

„Ich fand eine Inschrift. Hier ist sie.“ Der Physiker zog eine Metallfolie hervor, fuhr mit einem kleinen Lineal darüber, und auf der matten Oberfläche traten vier Reihen blauer, Zeichen hervor.

„Oh, europäische Buchstaben! Diese Schriftzeichen waren vor Einführung des linearen Weltalphabets in Gebrauch. Sie wirken plump und sind aus den noch älteren Piktogrammen entstanden. Ich kann diese Sprache.“

„Bitte, Weda, lesen Sie es uns vor!“

„Einen Augenblick Ruhe!“ forderte sie, und alle ließen sich gehorsam auf den Felsen nieder.

Dann las Weda vor.

„Im Raume verlöschen, versinken in Zeiten

Gedanken, Taten, Träume und Schiffe.

Ich aber trage wandernd in Weiten

der Erde schönste Lockung mit sicherem Griffe.“

„Das ist großartig!“ Ewda Nal richtete, sich kniend auf. „Ein Dichter von heute könnte die Größe der Zeit nicht treffender besingen. Ich möchte wissen, welche Lockung der Welt er für die schönste hielt und mit auf die Reise nahm.“

In der Ferne tauchte ein Boot aus durchsichtigem Kunststoff auf, in dem zwei Personen saßen.

„Das ist Miiko mit Scherlis, einem der hiesigen Mechaniker. Ach nein“, berichtigte sich Weda, „das ist ja Frit Don, der Expeditionschef selbst! Bis heute abend sind Sie drei sich selbst überlassen. Ewda nehme ich mit.“

Die beiden Frauen liefen in die langsam heranrollenden Wellen und schwammen auf die Insel zu. Das Boot nahm Kurs auf sie, doch Weda bedeutete ihm durch Zeichen, vorauszufahren. Ren Boos stand regungslos am Ufer und starrte den Schwimmerinnen nach.

„Wachen Sie auf, Ren! Ans Werk!“ rief ihm Mwen Mass zu. Der Physiker lächelte verlegen, sich gleichsam entschuldigend.


Die feste Sandfläche am Meeresufer verwandelte sich in ein wissenschaftliches Auditorium. Ren Boos, mit einer Muschelschale bewaffnet, zeichnete und schrieb fieberhaft, warf sich in der Aufregung auf den Boden, um das Geschriebene mit dem Körper wieder auszulöschen, und begann eine neue Zeichnung. Mit abgerissenen Rufen stimmte Mwen Mass dem Physiker zu oder ermunterte ihn. Die Ellbogen auf die Knie gestützt, hörte Dar Weter zu, wobei er sich hin und wieder den Schweiß von der Stirn wischte, der ihm vor Anstrengung, das Zwiegespräch zu verstehen, ausbrach. Schließlich hielt der Physiker inne und setzte sich, schwer atmend, in den Sand.

„Ja, Ren Boos“, begann Dar Weter nach längerem Schweigen. „Sie haben eine hervorragende Entdeckung gemacht!“

„Etwa ich allein? Vor langer, langer Zeit entdeckte der Physiker Heisenberg die Unschärferelation, wonach es unmöglich ist, bei Elementarteilchen die Werte für Impuls und Ort gleichzeitig zu bestimmen. In Wirklichkeit ist das Unmögliche möglich, mit dem Kennen der wechselseitigen Übergänge durch die Repagularrechnung. Etwa zur gleichen Zeit, da man das feststellte, wurden auch die Mesonenringwolke des Atomkerns und der Übergangszustand zwischen dem Nukleon und diesem Ring entdeckt, das heißt, man war der Antigravitation schon dicht auf der Spur.“

„Mag sein. Ich bin kein Kenner der bipolaren Mathematik, noch dazu auf solch einem Gebiet wie der Untersuchung der Übergangshindernisse. Aber das, was Sie in den Schattenfunktionen geschaffen haben, ist etwas prinzipiell Neues, auch wenn wir gewöhnlichen Menschen ohne mathematisches Spezialwissen es noch schlecht begreifen. Die Bedeutung der Entdeckung jedoch vermag ich zu erfassen. Eins nur…“ Dar Weter geriet ins Stocken.

„Und das wäre?“ fragte Mwen Mass aufmerksam.

„Wie soll das in ein Experiment umgesetzt werden? Mir scheint, wir verfügen über keine Möglichkeit, ein elektromagnetisches Feld solcher Spannung zu erzeugen…“

„Um das Gravitationsfeld auszugleichen und einen Übergangszustand zu erreichen?“ fragte Ren Boos.

„Ebendas. Denn dann bleibt der Raum außerhalb unseres Systems wie bisher auch außerhalb unseres Einflusses.“

„Richtig. Doch wie immer in der Dialektik, muß man den Ausweg im Entgegengesetzten suchen. Wenn man den Antigravitationsschatten nicht skalar, sondern vektoriell erhält…“

„Oho! Aber wie?“

Ren Boos zeichnete schnell drei gerade Linien, einen schmalen Sektor und schnitt alles mit einem Teil eines Bogens von großem Radius.

„Das war schon vor der bipolaren Mathematik bekannt. Vor einigen Jahrhunderten nannte man dies das Problem der vier Dimensionen. Damals waren noch die Vorstellungen über die Mehrdimensionalität des Raumes verbreitet — man kannte nicht die Schatteneigenschaften der Gravitation, man versuchte zu den elektromagnetischen Feldern Analogien herzustellen und dachte, daß singuläre Punkte entweder das Verschwinden der Materie oder ihre Verwandlung in etwas Unerklärliches bedeuten. Aber wie sollte man sich auch den Raum bei einer derartigen Kenntnis von der Natur der Erscheinungen vorstellen?“

„Dennoch kamen unsere Vorfahren auf die richtigen Gedanken. Sehen Sie, sie begriffen, daß, wenn die Entfernung, sagen wir vom Stern A bis zum Erdmittelpunkt — die Linie OA — zwanzig Quintillionen Kilometer beträgt, die Entfernung zum selben Stern auf dem Vektor OB gleich Null ist. Genaugenommen nicht gleich Null, sondern annähernd Null. Ferner sagten sie, die Zeit werde gleich Null, wenn die Bewegungsgeschwindigkeit die Lichtgeschwindigkeit erreiche. Aber auch die Kochlearrechnung ist noch gar nicht so lange bekannt.“

„Die Spiralbewegung kannte man bereits vor tausend Jahren“, warf Mwen Mass vorsichtig ein.

Ren Boos winkte geringschätzig ab. „Die Bewegung, aber nicht ihre Gesetze! Also, wenn das Gravitationsfeld und das elektromagnetische Feld zwei Seiten ein und derselben Eigenschaft der Materie sind, wenn der Raum eine Funktion der Gravitation ist, dann ist die Funktion des elektromagnetischen Feldes der Antiraum, und der Übergang zwischen beiden ergibt die vektorielle Schattenfunktion des Nullraumes, der umgangssprachlich Lichtgeschwindigkeit genannt wird. Und ich halte es für möglich, den Nullraum in jeder Richtung zu erzeugen… Mwen Mass möchte zum Epsilon Tucanae; mir ist das gleich, wenn nur der Versuch durchgeführt wird. Wenn nur der Versuch unternommen wird!“ wiederholte der Physiker und schloß abgespannt die Augen.

„Für den Versuch brauchen Sie nicht allein die Außenstationen und die Erdenergie, sondern auch eine Anlage. Die wird wohl kaum so einfach und schnell zu beschaffen sein.“

„In der Beziehung haben wir Glück. Man kann die Kor-Yull-Anlage in unmittelbarer Nähe des tibetanischen Observatoriums verwenden. Dort wurden vor hundertsiebzig Jahren die Versuche zur Untersuchung des Raumes durchgeführt. Nur ein geringfügiger Umbau ist notwendig. Freiwillige Helfer dafür kann ich jederzeit fünf-, zehn- und auch zwanzigtausend bekommen. Ich brauche sie nur zu bestellen.“

„Sie haben wirklich an alles gedacht. Doch eins bleibt noch, das Wichtigste: die Gefährlichkeit des Versuchs. Es könnten sich unerwartete Resultate ergeben. Ein Probeversuch vorher aber ist unmöglich. Man muß sofort in einer außerirdischen Ausdehnung experimentieren.“

„Welcher Wissenschaftler schreckt vor dem Risiko zurück?“ Ren Boos zuckte mit den Schultern.

„Ich meine nicht das persönliche Risiko. Ich weiß, daß sich Tausende zur Verfügung stellen, wenn es das unbekannte gefährliche Unternehmen fordert. Doch in den Versuch werden die Außenstationen des Observatoriums eingeschaltet — all die Apparaturen, die der Menschheit gigantische Arbeit gekostet haben. Apparaturen, die das Geheimnis des Kosmos enträtselt, die der Menschheit Zugang zu anderen besiedelten Welten vermittelt haben. Das ist wohl die größte menschliche Errungenschaft, und haben Sie, ich, irgendeine Gruppe von Menschen das Recht, sie aufs Spiel zu setzen, und sei es auch nur zeitweilig?“

„Ich habe es“, Mwen Mass stand auf, „und es ist begründet. Sie waren bei den Ausgrabungen. Waren die Milliarden unbekannter Gebeine in unbekannten Gräbern nicht Mahnung für Sie? Ich sehe vor mir Milliarden Menschen, deren Jugend, Schönheit und Lebensfreude im Nu zerronnen war wie Sand zwischen den Fingern. Sie fordern, das große Rätsel ›Zeit‹ zu lösen, den Kampf aufzunehmen. Ein Sieg über den Raum ist auch ein Sieg über die Zeit — deshalb bin ich von der Richtigkeit und der Bedeutung des geplanten Experiments überzeugt!“

„Mich bewegt etwas anderes“, begann Ren Boos. „Eigentlich nur eine andere Seite ein und derselben Sache. Wie früher ist der Raum im Kosmos unbezwingbar. Er trennt die Welten, trennt uns von Planeten, die, weil sie bevölkert, uns nahestehen, mit denen wir uns aber noch nicht zu einer großen Familie vereinen können. Das wäre die größte Umwälzung nach der Ära der Wiedervereinigten Welt. Damals hat die Menschheit der Erde mit dem unsinnigen Separatismus ihrer Völker endlich Schluß gemacht, und sie haben sich vereinigt; sie hat eine höhere Stufe der Macht über die Natur erreicht. Seitdem ist jeder Schritt auf diesem neuen Weg wichtiger als alles andere, als alle Untersuchungen und Erkenntnisse.“

Kaum war Ren Boos verstummt, da begann Mwen Mass wieder zu sprechen.

„Da ist noch etwas anderes, ein persönliches Erlebnis. In jungen Jahren ist mir einmal ein historischer Roman in die Hände gefallen. Von Ihren Vorfahren war darin die Rede, Dar Weter, von einem mächtigen Eroberer, der in ein fremdes Land einfiel. Der Roman erzählte von einem kühnen Jüngling, der ein junges Mädchen über alle Maßen liebte. Das Mädchen geriet in Gefangenschaft und wurde fortgeschleppt. Niemand wußte wohin. Der junge Held machte sich auf die Suche nach seinem Traum und wanderte jahrelang auf gefährlichen Wegen und halsbrecherischen Bergpfaden durch ganz Asien. Die Empfindungen des Jünglings sind schwer wiederzugeben, aber ich glaube, auch ich könnte heute trotz aller Hindernisse des Kosmos meinem großen Ziel zustreben.“

Dar Weter lächelte matt.

„Ich verstehe Ihre Gefühle, aber ich sehe keinen logischen Zusammenhang zwischen dem russischen Roman und Ihren kosmischen Plänen. Da sind mir Ren Boos’ Gedankengänge verständlicher. Doch wie Sie schon sagten, es handelt sich ja um ein rein persönliches Erlebnis.“

Dar Weter verstummte. Er schwieg so lange, daß Mwen Mass unruhig wurde.

„Jetzt verstehe ich auch“, fuhr Dar Weter endlich fort, „warum die Menschen früher bei Unsicherheit, Sorgen und Einsamkeit zu Nikotin, Alkohol und anderen Narkotika griffen. Sie wollten sich aufmuntern. Auch ich bin unsicher geworden. — Was soll ich Ihnen sagen? Wer bin ich schon, daß ich Ihnen diesen großartigen Versuch verbieten oder erlauben könnte? Sie müssen sich an den Rat wenden, dann…“

„Nein, so nicht.“ Mwen Mass stand vor Dar Weter, sein hünenhafter Körper zitterte vor Anspannung. „Antworten Sie uns: Würden Sie dieses Experiment durchführen? Als Leiter der Außenstation!“

„Nein!“ antwortete Dar Weter fest. „Ich würde noch warten.“

„Worauf?“

„Bis eine Versuchsanlage auf dem Mond gebaut ist.“

„Und die Energie?“

„Das Gravitationsfeld des Mondes ist kleiner. Man könnte mit einigen Q-Stationen auskommen.“

„Ein Jahrhundert würde dabei vergehen, und ich würde den Versuch niemals erleben.“

„Sie nicht. Doch für die Menschheit ist es nicht so wichtig, ob jetzt oder eine Generation später!“

„Aber für mich wäre es das Ende! Das Ende meines Traumes. Und für Ren…“

„Ich hätte keine Möglichkeit, durch einen Versuch alles zu überprüfen, folglich könnte ich auch nicht die Arbeit korrigieren und fortsetzen!“

„Ich sagte Ihnen schon: Wenden Sie sich an den Rat!“

„Der Rat hat bereits entschieden — durch Ihre Überlegungen und Worte. Wir haben von ihm nichts anderes zu erwarten“, erwiderte Mwen Mass leise.

„Sie haben recht. Der Rat wird auch ablehnen.“

„Ich will Sie nicht weiter fragen. Ich fühle mich schuldig: Ren Boos und ich haben Ihnen die schwere Bürde einer Entscheidung auferlegt.“

„Da ich die größere Erfahrung habe, ist es meine Pflicht, zu helfen. Es ist nicht unsere Schuld, wenn sich das Problem als zu kompliziert erwiesen hat.“

Ren Boos schlug als erster vor, in die provisorische Siedlung der Expedition zurückzukehren. Niedergeschlagen stapften die drei durch den Sand; jeder empfand auf seine Weise, wie bitter es war, auf das grandiose Experiment verzichten zu müssen.

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