Elftes Kapitel


Mord

Am nächsten Morgen erwachte Katherine bei strahlendem Sonnenschein. Sie begab sich zeitig zum Frühstück, traf aber keine ihrer Bekanntschaften vom Vortag. Als sie in ihr Abteil zurückkehrte, hatte der Schaffner, ein Mann mit herabhängendem Schnurrbart und melancholischem Gesicht, es gerade für den Tag hergerichtet.

«Madame hat Glück», sagte er, «die Sonne scheint. Es ist immer eine große Enttäuschung für die Passagiere, wenn sie an einem grauen Morgen ankommen.»

«Ich wäre sicherlich enttäuscht gewesen», sagte Katherine.

Der Mann wandte sich zum Gehen.

«Wir haben einige Verspätung, Madame», fuhr der Mann fort. «Kurz bevor wir in Nizza sind, sage ich Ihnen Bescheid.»

Katherine nickte. Sie saß am Fenster, bezaubert vom sonnigen Panorama. Die Palmen, das tiefe Blau des Meeres, die goldgelben Mimosen wirkten mit dem vollen Reiz der Neuheit auf die Frau, die vierzehn Jahre lang nur Englands trübselige Winter gekannt hatte.

Als sie Cannes erreichten, stieg Katherine aus und ging den Bahnsteig auf und ab. Sie war neugierig hinsichtlich der Dame im Nerzmantel und sah zu den Fenstern ihres Abteils hoch. Die Blenden waren noch heruntergelassen — die einzigen im ganzen Zug. Katherine wunderte sich ein wenig, und als sie wieder in den Zug stieg, ging sie den Korridor entlang und bemerkte, dass die beiden Abteile auch zum Gang hin noch verhängt und geschlossen waren. Die Dame mit dem Nerzmantel war offensichtlich keine Frühaufsteherin.

Bald kam der Schaffner zu ihr und sagte, der Zug werde in wenigen Minuten Nizza erreichen. Katherine gab ihm ein Trinkgeld; der Mann dankte ihr, ging aber nicht weiter. Sein Benehmen kam ihr seltsam vor. Katherine glaubte zuerst, ihm sei das Trinkgeld nicht hoch genug gewesen, merkte dann aber, dass es sich um etwas viel Ernsteres handeln musste. Sein Gesicht war fahl, er zitterte am ganzen Leib und schien zu Tode erschrocken. Er sah sie ganz merkwürdig an. Plötzlich sagte er abrupt: «Madame werden entschuldigen, aber erwartet sie, von Freunden in Nizza abgeholt zu werden?»

«Wahrscheinlich», sagte Katherine. «Warum?»

Aber der Mann schüttelte nur den Kopf, murmelte etwas, was Katherine nicht verstand, und entfernte sich, um erst wieder zu erscheinen, als der Zug im Bahnhof stand; er begann, ihr Handgepäck durch das Fenster hinauszureichen.

Katherine stand einen oder zwei Momente etwas ratlos auf dem Bahnsteig, aber dann näherte sich ein junger blonder Mann mit offenem Gesicht und sagte zögernd:

«Miss Grey, nicht wahr?»

Katherine nickte; der junge Mann strahlte sie engelhaft an und murmelte: «Ich bin Chubby, wissen Sie — Lady Tamplins Mann. Ich nehme an, sie hat mich erwähnt, vielleicht hat sie es aber vergessen. Haben Sie Ihr bittet de bagages? Als ich dieses Jahr hier angekommen bin, hatte ich meines nämlich verloren, und Sie glauben gar nicht, was die deshalb für einen Zirkus gemacht haben. Französische Bürokratie!»

Katherine gab ihm den Schein und wollte eben mit ihm aufbrechen, als eine sehr höfliche und eindringliche Stimme ihr ins Ohr murmelte:

«Einen Augenblick bitte, Madame.»

Katherine drehte sich um und sah ein Individuum, das die Unscheinbarkeit seiner Gestalt durch eine Uniform und reichlich goldene Litzen wettmachte. Das Individuum erklärte: «Es handelt sich um gewisse Formalitäten. Madame wird vielleicht so liebenswürdig sein, mich zu begleiten. Die Polizeivorschriften.» Er hob die Arme. «Absurd, ohne Zweifel, aber so ist es nun einmal.»

Mr Chubby Evans lauschte, ohne viel zu verstehen, da sein Französisch recht beschränkt war.

«Sieht den Franzosen ähnlich», murmelte Mr Evans. Er gehörte zu jenen stramm patriotischen Briten, die, sobald sie sich einen Teil eines fremden Landes zu Eigen gemacht haben, die ursprünglichen Bewohner zu schmähen belieben. «Immer neue dusselige Schikanen. Aber im Bahnhof haben sie sich bisher nie über Leute hergemacht. Das ist was ganz Neues. Ich schätze mal, Sie werden mitgehen müssen.»

Katherine entfernte sich mit ihrem Führer. Sie war ein wenig verblüfft, als er sie zu einem Nebengleis brachte, auf das ein Wagen des bereits abgefahrenen Zuges geschoben worden war. Er bat sie einzusteigen, ging durch den Korridor voraus und öffnete die Tür eines Abteils. Darin saß ein pompös dreinblickender Beamter und neben ihm ein unscheinbares Geschöpf, das ein Schreiber zu sein schien. Der Pompöse erhob sich höflich, verbeugte sich vor Katherine und sagte:

«Sie werden entschuldigen, Madame; aber es gibt gewisse Formalitäten, die einzuhalten sind. Madame spricht Französisch, nicht wahr?»

«Einigermaßen, glaube ich, Monsieur», antwortete Ka-therine auf Französisch.

«Das ist gut. Bitte setzen Sie sich, Madame. Mein Name ist Caux, Kommissar der hiesigen Polizei.» Er wölbte bedeutsam die Brust, und Katherine versuchte, angemessen beeindruckt dreinzuschauen.

«Möchten Sie meinen Pass sehen?», fragte sie. «Hier ist er.»

Der Kommissar musterte sie aufmerksam und knurrte leise.

«Danke, Madame», sagte er und nahm den Pass entgegen. Er räusperte sich. «Aber was ich wirklich möchte, sind ein paar Auskünfte.»

«Auskünfte?»

Der Kommissar nickte langsam.

«Über eine Dame, eine Mitreisende. Sie haben gestern mit ihr gegessen.»

«Ich fürchte, ich kann Ihnen nichts über sie sagen. Wir haben uns beim Essen unterhalten, aber im Übrigen kenne ich sie gar nicht. Ich habe sie vorher nie gesehen.»

«Und trotzdem», sagte der Kommissar scharf, «haben Sie sie nach dem Essen in ihr Abteil begleitet und mit ihr dort eine Weile gesessen und geredet?»

«Ja», sagte Katherine, «das stimmt.»

Der Kommissar schien mehr zu erwarten. Er sah sie aufmunternd an.

«Ja, Madame?»

«Nun, Monsieur?», sagte Katherine.

«Sie könnten mir vielleicht etwas über dieses Gespräch erzählen?»

«Das könnte ich», sagte Katherine, «aber im Augenblick sehe ich keinen Grund dazu.»

Auf eine eher britische Weise fühlte sie sich behelligt. Dieser ausländische Beamte kam ihr unverschämt vor.

«Keinen Grund?», rief der Kommissar. «O doch, Madame, ich kann Ihnen versichern, dass es durchaus einen Grund gibt.»

«Dann könnten Sie ihn mir vielleicht nennen.»

Der Kommissar rieb sich nachdenklich einige Momente das Kinn.

«Madame», sagte er schließlich, «der Grund ist sehr einfach. Die fragliche Dame wurde heute Morgen in ihrem Abteil tot aufgefunden.»

«Tot!», stieß Katherine hervor. «Was war es — Herzversagen?»

«Nein», sagte der Kommissar mit versonnener, verträumter Stimme. «Nein — sie ist ermordet worden.»

«Ermordet?», rief Katherine.

«Sie sehen also, Madame, warum wir versuchen, uns jede verfügbare Information zu verschaffen.»

«Aber ihre Zofe wird doch sicher.»

«Die Zofe ist verschwunden.»

«Oh!» Katherine hielt inne, um ihre Gedanken zu sammeln.

«Da der Schaffner Sie mit der Dame in ihrem Abteil hat reden sehen, hat er diese Tatsache natürlich der Polizei mitgeteilt, und deshalb, Madame, haben wir Sie aufgehalten, in der Hoffnung, einige Auskünfte zu erhalten.»

«Es tut mir sehr Leid», sagte Katherine, «ich weiß nicht einmal ihren Namen.»

«Ihr Name ist Kettering. Das wissen wir durch ihren Pass und die Gepäckaufkleber. Wenn wir.»

Es klopfte an die Tür des Abteils. Monsieur Caux runzelte die Stirn. Er öffnete die Tür eine Handbreit.

«Was ist los?», sagte er im Befehlston. «Ich will jetzt nicht gestört werden.»

Der eiförmige Schädel von Katherines Dinnerbekanntschaft tauchte in der Öffnung auf. Ein wohlwollendes Lächeln lag auf seinem Gesicht.

«Mein Name», sagte er, «ist Hercule Poirot.»

«Doch nicht.», stammelte der Kommissar, «nicht der Hercule Poirot?»

«Ebendieser», sagte Monsieur Poirot. «Ich erinnere mich, Ihnen einmal begegnet zu sein, Monsieur Caux, und zwar bei der Surete in Paris, obwohl Sie mich zweifellos vergessen haben?»

«Keineswegs, Monsieur, keineswegs», erklärte der Kommissar herzlich. «Aber kommen Sie doch bitte herein. Sie wissen von dieser.?»

«Ja, ich weiß», sagte Hercule Poirot. «Ich wollte sehen, ob ich irgendwie behilflich sein kann?»

«Wir würden uns geschmeichelt fühlen», antwortete der Kommissar sofort. «Monsieur Poirot, ich möchte Sie bekannt machen mit» — er konsultierte den Pass, den er immer noch in der Hand hielt — «Madame — eh — Mademoiselle Grey.»

Poirot lächelte Katherine an.

«Es ist seltsam, nicht wahr», murmelte er, «wie schnell meine Worte in Erfüllung gegangen sind?»

«Mademoiselle kann uns, helasl, sehr wenig erzählen», sagte der Kommissar.

«Ich habe eben erklärt», sagte Katherine, «dass mir diese arme Dame vollkommen fremd war.»

Poirot nickte.

«Aber sie hat mit Ihnen gesprochen, nicht wahr?», sagte er sanft. «Sie haben einen Eindruck gewonnen — oder nicht?»

«Ja», sagte Katherine nachdenklich. «Das kann man sagen.» «Und dieser Eindruck war.?»

«Ja, Mademoiselle» — der Kommissar beugte sich abrupt vor — «lassen Sie uns unbedingt Ihre Eindrücke wissen.»

Katherine saß da und überlegte hin und her. In gewisser Weise hatte sie das Gefühl, einen Vertrauensbruch zu begehen, aber da ihr das hässliche Wort «Mord» noch in den Ohren klang, wagte sie nicht, etwas zu verheimlichen. Zu viel konnte davon abhängen. Sie wiederholte deshalb so wörtlich wie möglich das Gespräch, das sie mit der Toten geführt hatte.

«Das ist interessant», sagte der Kommissar; er blickte den anderen an. «Eh, Monsieur Poirot, das ist interessant? Ob es etwas mit dem Verbrechen zu tun hat.» Er ließ den Satz unbeendet.

«Es kann wohl kein Selbstmord sein?», sagte Katherine zweifelnd.

«Nein», sagte der Kommissar, «Selbstmord kann es nicht sein. Sie wurde mit einem Stück schwarzer Schnur erdrosselt.»

«Oh!» Katherine schauderte.

Monsieur Caux spreizte entschuldigend die Arme. «Es ist nicht nett — nein. Ich glaube, unsere Eisenbahnräuber sind brutaler als die in Ihrem Land.»

«Es ist schrecklich.»

«Ja, ja» — er klang beschwichtigend und so, als wolle er um Entschuldigung bitten — «aber Sie haben viel Mut, Mademoiselle. Als ich Sie gesehen habe, da habe ich mir sofort gesagt: Deshalb will ich Sie um noch etwas bitten — etwas Betrübliches, aber es ist sehr notwendig, versichere ich Ihnen.»

Katherine schaute ihn beklommen an.

Wieder breitete er bedauernd die Arme aus.

«Ich möchte Sie bitten, Mademoiselle, mich freundlicherweise ins Nachbarabteil zu begleiten.»

«Muss das sein?», fragte Katherine leise.

«Jemand muss sie identifizieren», sagte der Kommissar, «und da die Zofe verschwunden ist» — er hustete bedeutungsvoll — «scheinen Sie diejenige zu sein, die während der Fahrt am meisten mit ihr beisammen war.»

«Nun gut», sagte Katherine ruhig, «wenn es notwendig ist.»

Sie stand auf. Poirot nickte ihr beifällig zu.

«Mademoiselle ist vernünftig», sagte er. «Darf ich Sie begleiten, Monsieur Caux?»

«Es ist mir ein Vergnügen, mein lieber Poirot.»

Sie traten auf den Gang hinaus, und Monsieur Caux schloss die Tür des Abteils der Toten auf. Die Blenden am Fenster waren halb aufgezogen worden, um Licht hereinzulassen. Die Tote lag auf dem linken Bett, in einer so natürlichen Stellung, dass man hätte meinen können, sie schliefe. Das Bettzeug war über sie gebreitet und der Kopf zur Wand gedreht, so dass man nur die rotbraunen Locken sah. Sehr sanft legte Monsieur Caux ihr die Hand auf die Schulter und drehte die Leiche um, bis das Gesicht zu sehen war. Katherine zuckte ein wenig zurück und bohrte ihre Fingernägel in die Handflächen. Ein schwerer Hieb hatte die Züge fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Poirot stieß einen scharfen Laut aus.

«Wann ist das geschehen, wüsste ich gern», sagte er. «Vor oder nach dem Tod?»

«Der Doktor sagt, nachher», sagte Monsieur Caux.

«Seltsam», sagte Poirot; er kniff die Brauen zusammen und wandte sich an Katherine. «Seien Sie tapfer, Mademoiselle. Schauen Sie sie gut an. Sind Sie sicher, dass das die Frau ist, mit der Sie gestern im Zug gesprochen haben?»

Katherine hatte gute Nerven. Sie wappnete sich, um die liegende Gestalt lang und genau zu betrachten. Dann beugte sie sich vor und nahm die Hand der Toten.

«Ich bin ziemlich sicher», antwortete sie schließlich. «Das Gesicht ist zu sehr entstellt, um es zu erkennen, aber Gestalt und Größe und Haar stimmen, und außerdem habe ich das bemerkt» — sie zeigte auf ein kleines Muttermal am Handgelenk der Toten — «als ich mich mit ihr unterhalten habe.»

«Bon», sagte Poirot anerkennend. «Sie sind eine ausgezeichnete Zeugin, Mademoiselle. Es besteht also kein Zweifel bezüglich der Identität, aber trotzdem ist das Ganze seltsam.» Ratlos starrte er auf die Tote.

Caux zuckte mit den Schultern.

«Offenbar hat sich der Mörder von Wut hinreißen lassen», schlug er vor.

«Wenn sie niedergeschlagen worden wäre, könnte man es verstehen», murmelte Poirot, «aber der Mann, der sie erwürgt hat, ist von hinten herangeschlichen und hat sie überrascht. Ein kurzes Würgen — ein leises Gurgeln — mehr hätte man nicht gehört, und danach dann dieser schlimme Hieb ins Gesicht. Nur: warum? Hat er gehofft, wenn das Gesicht nicht zu erkennen ist, würde sie nicht identifiziert? Oder hat er sie so sehr gehasst, dass er es nicht unterlassen konnte, diesen Hieb auszuführen, obwohl sie schon tot war?»

Katherine schauderte, und sogleich wandte er sich ihr freundlich zu.

«Lassen Sie sich von mir nicht deprimieren, Mademoiselle», sagte er. «Für Sie ist das alles sehr neu und schrecklich. Für mich, helas!, ist es eine alte Geschichte. Ich darf Sie beide um einen Moment Geduld bitten.»

Sie standen an der Tür und sahen zu, wie er schnell das Abteil untersuchte. Er registrierte die Kleider der Toten, säuberlich am Fußende des Betts gefaltet, den langen Pelzmantel, der an einem Haken hing, und das rote Lackhütchen auf einem Bord. Dann ging er in das Nebenabteil, in dem Katherine die Zofe hatte sitzen sehen. Dort war das Bett nicht hergerichtet. Drei oder vier Decken lagen locker auf dem Sitz; man sah eine Hutschachtel und einige Reisetaschen. Plötzlich wandte er sich zu Katherine um.

«Sie waren gestern hier drin», sagte er. «Fällt Ihnen eine Veränderung auf? Fehlt etwas?»

Katherine sah sich in beiden Abteilen sorgfältig um.

«Ja», sagte sie, «etwas fehlt — ein kleiner dunkelroter Lederkoffer mit den Initialen R.V.K. darauf. Es könnte eine kleine Toilettentasche oder eine große Schmuckschatulle gewesen sein. Als ich sie gesehen habe, hatte die Zofe sie in der Hand.»

«Ah!», sagte Poirot.

«Aber das ist doch», sagte Katherine, «ich — ich verstehe natürlich nichts von so etwas, aber das ist doch ziemlich eindeutig, wenn die Zofe und die Schmuckschatulle fehlen?»

«Sie meinen, die Zofe war die Diebin? Nein, Mademoiselle, dagegen spricht ein sehr gewichtiger Grund», sagte Caux.

«Und zwar?»

«Die Zofe ist in Paris zurückgeblieben.»

Er wandte sich an Poirot. «Sie sollten sich am besten selbst die Geschichte des Schaffners anhören», murmelte er vertraulich. «Sie ist sehr aufschlussreich.»

«Mademoiselle würde sie sicher auch gern hören», sagte Poirot. «Sie haben doch nichts dagegen, Monsieur le Commissaire?» «Nein», sagte der Kommissar, der offensichtlich sehr viel dagegen hatte. «Nein, natürlich nicht, Monsieur Poirot, wenn Sie es sagen. Sind Sie hier fertig?»

«Ich glaube schon. Einen Augenblick noch.»

Er hatte sich über die Decken gebeugt; nun trug er eine davon zum Fenster und las etwas mit spitzen Fingern auf.

«Was ist das?», fragte Caux scharf.

«Vier rotbraune Haare.» Er beugte sich über die Tote. «Ja, sie stammen von Madames Kopf.»

«Na und? Messen Sie dem irgendeine Bedeutung bei?»

Poirot ließ die Decke wieder auf den Sitz fallen.

«Was ist wichtig? Was ist unwichtig? In diesem Stadium lässt sich das nicht sagen. Aber wir müssen jedes kleine Faktum sorgfältig registrieren.»

Sie kehrten in das erste Abteil zurück und nach ein paar Minuten erschien der Schaffner zur Befragung.

«Sie heißen Pierre Michel?», sagte der Kommissar.

«Ja, Monsieur le Commissaire.»

«Ich möchte, dass Sie diesem Herrn», er wies auf Poirot, «die Geschichte wiederholen, die Sie mir über die Vorgänge in Paris erzählt haben.»

«Sehr wohl, Monsieur le Commissaire. Nachdem wir den Gare de Lyon verlassen hatten, bin ich hergekommen, um die Betten zu machen; ich hatte nämlich angenommen, Madame wäre im Speisewagen, aber sie hatte einen Dinnerkorb im Abteil. Sie sagte mir, sie hätte ihre Zofe in Paris zurücklassen müssen, deshalb brauchte ich nur ein Bett zu machen. Sie ist mit dem Korb ins Nebenabteil gegangen und hat da gesessen, während ich das Bett hergerichtet habe. Danach hat sie mir gesagt, sie will nicht früh geweckt werden, da sie ausschlafen möchte. Ich habe geantwortet, dass ich verstanden hätte, und sie hat mir eine gute Nacht gewünscht.» «Sie sind selbst nicht ins Nebenabteil gegangen?»

«Nein, Monsieur.»

«Dann haben Sie auch nicht zufällig gesehen, ob dort beim Gepäck eine rote Ledertasche war?»

«Nein, Monsieur, habe ich nicht.»

«Könnte möglicherweise im Nebenabteil ein Mann verborgen gewesen sein?»

Der Schaffner überlegte.

«Die Tür war halb offen», sagte er. «Wenn ein Mann hinter der Tür gestanden hätte, dann hätte ich ihn nicht sehen können, er wäre aber für Madame natürlich deutlich sichtbar gewesen, als sie da hineingegangen ist.»

«Ganz richtig», sagte Poirot. «Können Sie uns sonst noch etwas erzählen?»

«Ich glaube, das ist alles, Monsieur. An mehr kann ich mich nicht erinnern.»

«Und was war heute Morgen?», bohrte Poirot.

«Wie Madame angeordnet hatte, habe ich sie nicht gestört. Erst kurz vor der Ankunft habe ich an die Tür geklopft. Als sie keine Antwort gab, habe ich die Tür aufgemacht. Die Dame lag im Bett und schien noch zu schlafen. Ich habe ihre Schulter berührt, um sie zu wecken, und dann.»

«Und dann haben Sie gesehen, was geschehen war», ergänzte Poirot. «Tres bien. Ich glaube, ich weiß nun alles, was ich wissen wollte.»

«Ich hoffe, Monsieur le Commissaire, ich habe mich keiner Nachlässigkeit schuldig gemacht», sagte der Mann kläglich. «Dass so etwas im Blauen Express geschieht! Es ist schrecklich.»

«Trösten Sie sich», sagte der Kommissar. «Man wird alles tun, um die Sache so diskret wie möglich zu behandeln, und sei es auch nur im Interesse der Justiz. Ich glaube nicht, dass Sie in irgendeiner Weise nachlässig waren.»

«Und wird Monsieur le Commissaire das auch der Gesellschaft berichten?»

«Aber sicher, aber sicher», sagte Monsieur Caux unwirsch. «Das genügt für den Moment.»

Der Schaffner verzog sich.

«Der Arzt ist der Ansicht», sagte der Kommissar, «dass die Dame wahrscheinlich tot war, bevor der Zug Lyon erreicht hatte. Wer also war der Mörder? Aus Mademoi-selles Erzählung scheint klar hervorzugehen, dass sie während der Fahrt irgendwo diesen Mann treffen wollte, von dem sie gesprochen hat. Dass sie ihre Zofe loswerden wollte, ist doch bezeichnend. Ist der Mann in Paris zugestiegen, und hat sie ihn im Nebenabteil versteckt? Und wenn ja, dann haben sie sich vielleicht gestritten, und er könnte sie in einem Wutanfall getötet haben. Das ist eine Möglichkeit. Die andere, für mich die wahrscheinlichere, ist die, dass der Mörder ein Bahnräuber war, der mit dem Zug gereist ist. Er könnte, vom Schaffner nicht bemerkt, durch den Gang geschlichen sein, sie getötet und sich mit dem roten Lederkoffer, der zweifellos ziemlich wertvolle Juwelen enthielt, davongemacht haben. Höchstwahrscheinlich hat er den Zug in Lyon verlassen. Wir haben schon an den Bahnhof dort telegrafiert, wegen der genauen Beschreibung aller, die beim Verlassen des Zugs gesehen wurden.»

«Er könnte auch bis Nizza mitgefahren sein», warf Poi-rot ein.

«Könnte er», stimmte der Kommissar zu, «aber das wäre sehr riskant gewesen.»

Poirot ließ eine oder zwei Minuten verstreichen, ehe er sagte: «Im zweiten Fall meinen Sie, der Mann sei ein gewöhnlicher Bahnräuber gewesen?»

Der Kommissar zuckte mit den Schultern.

«Das kommt darauf an. Wir müssen die Zofe finden. Möglicherweise hat sie den roten Lederkoffer bei sich. In diesem Fall könnte der Mann, über den Madame mit Mademoiselle gesprochen hat, in die Sache verwickelt sein, und dann wäre es wohl ein Verbrechen aus Leidenschaft. Ich persönlich halte die Lösung mit dem Bahnräuber für plausibler. Diese Banditen werden in letzter Zeit immer dreister.»

Poirot blickte plötzlich Katherine an.

«Und Sie, Mademoiselle», sagte er, «haben Sie in der Nacht nichts gehört und gesehen?»

«Nichts», sagte Katherine.

Poirot wandte sich an den Kommissar.

«Ich glaube, wir brauchen Mademoiselle nicht länger aufzuhalten», sagte er.

Der Kommissar nickte.

«Sie hinterlassen uns bitte Ihre Adresse?», sagte er.

Katherine nannte ihm Lady Tamplins Villa. Poirot machte eine leichte Verbeugung.

«Gestatten Sie, dass ich Sie wieder sehe, Mademoiselle?», sagte er. «Oder haben Sie so viele Freunde, dass all Ihre Zeit schon vergeben ist?»

«Im Gegenteil», sagte Katherine. «Ich werde genug Muße haben und mich sehr freuen, Sie wieder zu sehen.»

«Ausgezeichnet», sagte Poirot und nickte ihr freundlich zu. «Dies wird ein roman policier a nous. Wir werden in dieser Affäre gemeinsam ermitteln.»

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