Vierundzwanzigstes Kapitel


Poirot erteilt Ratschläge

Zuerst blickte der Millionär Poirot verständnislos an. Es dauerte einige Zeit, bis er alles begriff. Der kleine Belgier nickte ihm freundlich zu.

«Ja», sagte er, «das verändert die Sachlage, nicht wahr?»

«Imitation!»

Der Millionär beugte sich vor.

«Hatten Sie von Anfang an diese Idee, Monsieur Poi-rot? Wollten Sie die ganze Zeit darauf hinaus? Haben Sie nie geglaubt, dass der Comte de la Roche der Mörder ist?»

«Ich hatte meine Zweifel», sagte Poirot ruhig. «Das habe ich Ihnen auch gesagt. Raubmord» — er schüttelte energisch den Kopf — «nein, das ist kaum vorstellbar. Es passt nicht zur Persönlichkeit des Comte de la Roche.»

«Aber Sie glauben, dass er die Rubine stehlen wollte?»

«Selbstverständlich. Daran gibt es keinen Zweifel. Hören Sie, ich werde Ihnen sagen, wie ich die Sache sehe. Der Comte wusste von den Rubinen und hat entsprechende Pläne gemacht. Er heckt diese romantische Geschichte aus, über ein Buch, an dem er schreibt, um Ihre Tochter zu veranlassen, den Schmuck mitzubringen. Und er verschafft sich eine genaue Kopie der Juwelen. Es ist doch ganz klar, nicht wahr, dass er sie austauschen wollte. Madame Tochter war keine Expertin für Juwelen. Sie hätte alles sicher erst viel später bemerkt, und dann — ich glaube nicht, dass sie den Comte verklagt hätte. Es wäre zu viel herausgekommen. Er hatte sicher etliche Briefe von ihr. O ja — vom Standpunkt des Comte aus war das ein ganz sicherer Plan — ein Gaunertrick, den er wahrscheinlich schon einmal versucht hat.»

«Ja, das klingt plausibel», sagte Van Aldin nachdenklich.

«Es passt zur Persönlichkeit des Comte de la Roche», sagte Poirot.

«Ja, aber.» Van Aldin blickte den anderen fragend an. «Was ist wirklich geschehen? Sagen Sie mir das, Monsieur Poirot.»

Poirot zuckte die Schultern.

«Ganz einfach», sagte er, «jemand ist dem Comte zuvorgekommen.»

Eine lange Pause trat ein.

Van Aldin schien gründlich zu überlegen. Als er weitersprach, kam er direkt zur Sache.

«Seit wann verdächtigen Sie meinen Schwiegersohn, Monsieur Poirot?»

«Von Anfang an. Er hatte Motiv und Gelegenheit. Alle sind davon ausgegangen, dass der Mann in Madames Abteil in Paris der Comte de la Roche war. Ich habe das auch angenommen. Dann haben Sie zufällig erwähnt, dass Sie den Comte einmal fast mit Ihrem Schwiegersohn verwechselt hatten. Dem entnahm ich, dass die beiden einander in Größe, Körperbau und Haarfarbe einigermaßen ähneln. Das hat mir ein paar seltsame Ideen eingeflößt. Die Zofe war erst seit kurzem bei Ihrer Tochter. Es war nicht wahrscheinlich, dass sie Mr Kettering gut vom Sehen kennt, da er ja nicht in der Curzon Street wohnt; außerdem hatte der Mann sorgsam das Gesicht abgewandt.»

«Sie meinen, er — hat sie ermordet?», sagte Van Aldin heiser.

Poirot hob schnell die Hand.

«Nein, nein, das habe ich nicht gesagt — aber es ist eine Möglichkeit — eine sehr plausible Möglichkeit. Er saß in der Klemme, einer bösen Klemme, vom Ruin bedroht. Hier gab es einen Ausweg.»

«Aber warum sollte er die Juwelen mitnehmen?»

«Damit es so aussieht, als wäre es ein gewöhnliches Verbrechen von Bahnräubern. Sonst wäre der Verdacht sofort auf ihn gefallen.»

«Wenn das so ist, was hat er dann mit den Rubinen gemacht?»

«Das müssen wir noch herausfinden. Es gibt mehrere Möglichkeiten. In Nizza gibt es einen Mann, der uns vielleicht helfen kann, der, den ich Ihnen beim Tennis gezeigt habe.»

Er stand auf. Auch Van Aldin erhob sich und legte dem kleinen Mann die Hand auf die Schulter. Als er sprach, war seine Stimme sehr rau.

«Finden Sie Ruths Mörder für mich», sagte er, «mehr verlange ich nicht.»

Poirot richtete sich auf.

«Überlassen Sie alles Hercule Poirot», sagte er mit großer Geste. «Keine Angst, ich werde die Wahrheit finden.»

Er bürstete ein Stäubchen von seinem Hut, lächelte dem Millionär beruhigend zu und verließ das Zimmer. Als er aber die Treppe hinabging, schwand einiges von der Zuversicht aus seinen Zügen.

«Alles schön und gut», murmelte er vor sich hin, «aber es gibt Probleme. Ja, es gibt große Probleme.» Als er das Hotel verließ, blieb er plötzlich stehen. Vor der Hoteltür war ein Auto vorgefahren. Katherine Grey saß darin, und Derek Kettering stand daneben und redete ernsthaft auf sie ein. Ein paar Minuten später fuhr der Wagen ab, und Derek blieb auf dem Pflaster stehen und sah hinterher. Er machte eine sehr seltsame Miene. Plötzlich hob er in einer unwirschen Geste die Schultern, seufzte tief, drehte sich um und sah Hercule Poirot unmittelbar vor sich. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Die beiden Männer schauten einander an, Poirot ruhig und sicher, Derek mit einer Art lässiger Herausforderung. Als er sprach, hob er kaum merklich die Brauen, und unter dem lockeren Spott seines Tonfalls lag einiges an Schärfe.

«Reizendes Mädchen, nicht?», fragte er leichthin.

Sein Benehmen war ganz ungezwungen.

«Ja», sagte Poirot nachdenklich. «Das beschreibt Mademoiselle Katherine sehr treffend. Sehr englisch, Ihr Satz, und Mademoiselle Katherine selbst ist auch sehr englisch.»

Derek blieb völlig regungslos stehen, ohne zu antworten.

«Und dabei ist sie sympathique, nicht wahr?»

«Ja», sagte Derek, «von der Art gibt es nicht viele.»

Er sagte das ganz leise, wie zu sich selbst. Poirot nickte bedeutungsvoll. Dann beugte er sich zu Derek vor und sagte in einem anderen, einem ruhigen, ernsten Ton, der für Derek Kettering neu war:

«Sie werden einem alten Mann verzeihen, Monsieur, wenn er Ihnen etwas sagt, was Sie für dreist halten könnten. Es gibt da eines Ihrer englischen Sprichworte, das ich Ihnen gern zitieren möchte. Es lautet:

Kettering fuhr ihn wütend an.

«Was zum Teufel meinen Sie damit?»

«Sie sind ärgerlich über mich», sagte Poirot seelenruhig. «Ich habe es erwartet. Damit Sie verstehen, was ich meine — ich meine, Monsieur, dass da ein zweiter Wagen ist, mit einer Dame darin. Wenn Sie sich umdrehen, werden Sie sie sehen.»

Derek wandte sich hastig um. Sein Gesicht wurde finster vor Zorn.

«Mirelle, zum Teufel mit ihr!», murmelte er. «Ich werde gleich.»

Poirot hielt ihn zurück.

«Ist es klug, was Sie da tun wollen?», sagte er warnend. Ein grünlicher Schimmer leuchtete in seinen Augen. Aber Derek sah keine Warnsignale mehr. In seiner Wut war er vollkommen unbeherrscht.

«Ich bin absolut fertig mit ihr, und sie weiß es», rief er verärgert.

«Sie sind fertig mit ihr, ja, aber ist sie auch fertig mit Ihnen?»

Plötzlich lachte Derek heiser.

«Sie wird sich hüten, freiwillig zwei Millionen Pfund im Stich zu lassen», murmelte er grob, «da können Sie sich auf Mirelle verlassen.»

Poirot hob die Brauen.

«Sie sind ein Zyniker», murmelte er.

«Bin ich das?» In seinem jähen breiten Lächeln lag keinerlei Freude. «Ich bin lange genug auf der Welt, Monsieur Poirot, um zu wissen, dass die Frauen alle ziemlich gleich sind.» Sein Gesichtsausdruck wurde plötzlich weich. «Alle außer einer.»

Er trotzte Poirots Blick. Etwas wie Aufmerksamkeit trat in seine Augen und schwand wieder. «Die da», sagte er; mit dem Kopf wies er in die Richtung von Cap Martin, wo Katherines Wagen verschwunden war.

«Ah!», sagte Poirot.

Seine kalkulierte Ruhe provozierte das ungestüme Temperament des anderen.

«Ich weiß, was Sie sagen wollen», sagte Derek rasch, «die Sorte Leben, die ich geführt habe, die Tatsache, dass ich ihrer nicht wert bin. Sie werden sagen, ich hätte kein Recht, an so etwas auch nur zu denken. Sie werden sagen, dass Sie mich nicht schlechtreden können, weil ich schon schlecht bin. Ich weiß, es ist nicht anständig, so zu reden, wo meine Frau gerade erst ein paar Tage tot ist, und ermordet noch dazu.»

Er hielt inne, um Luft zu holen, und Poirot nutzte die Pause, um in fast beleidigtem Ton zu bemerken:

«Aber ich habe von alldem doch gar nichts gesagt.»

«Aber Sie werden es sagen.»

«Eh?», sagte Poirot.

«Sie werden sagen, dass ich nicht die geringste Chance habe, Katherine zu heiraten.»

«Nein», sagte Poirot, «das würde ich nicht sagen. Ihr Ruf ist schlecht, ja, aber bei Frauen — das schreckt sie doch niemals ab. Wenn Sie ein Mann mit vorzüglichem Charakter wären, mit strenger Moral, einer, der nichts getan hat, was er nicht hätte tun sollen, und — vielleicht sogar alles, was er tun sollte — eh bien!, dann hätte ich große Zweifel an Ihren Erfolgsaussichten. Moralischer Wert, wissen Sie, ist nicht romantisch. Witwen wissen ihn jedoch zu schätzen.»

Derek Kettering starrte ihn an, dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging zum wartenden Wagen.

Poirot blickte interessiert hinter ihm her. Er sah, wie sich die liebliche Vision aus dem Wagen beugte und sprach.

Derek Kettering blieb nicht stehen. Er hob den Hut und ging vorbei.

«Ca y est», sagte Monsieur Hercule Poirot, «ich glaube, es ist an der Zeit, wieder chez moi zu gehen.»

Dort fand er einen unbeirrbaren George vor, der Hosen bügelte.

«Ein angenehmer Tag, Georges, ein wenig ermüdend, aber nicht uninteressant», sagte er.

George nahm diese Bemerkungen mit seiner üblichen hölzernen Miene entgegen.

«In der Tat, Sir.»

«Die Persönlichkeit eines Verbrechers, Georges, ist ein interessantes Thema. Viele Mörder sind Männer von großem persönlichem Charme.»

«Ich habe immer gehört, Sir, dass Dr. Crippen ein überaus einnehmender Gentleman war. Und trotzdem hat er seine Frau zu Ragout zerschnitten.»

«Ihre Beispiele sind immer sehr treffend, Georges.»

Der Diener antwortete nicht, und in diesem Moment läutete das Telefon. Poirot hob den Hörer ab.

«‘allo — ‘allo — ja, ja, hier spricht Hercule Poirot.»

«Hier Knighton. Bleiben Sie bitte einen Augenblick am Apparat, Monsieur Poirot. Mr Van Aldin möchte Sie sprechen.» Nach kurzer Pause war die Stimme des Millionärs zu hören. «Sind Sie es, Monsieur Poirot? Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Mason von sich aus eben zu mir gekommen ist. Sie hat noch mal darüber nachgedacht und sagt, sie ist jetzt beinahe sicher, dass der Mann in Paris Derek Kettering war. Irgendetwas ist ihr an ihm bekannt vorgekommen, sagt sie, aber zuerst wusste sie nicht, was es war. Sie scheint jetzt ziemlich sicher zu sein.»

«Ah», sagte Poirot, «danke, Monsieur Van Aldin. Das bringt uns weiter.»

Er legte den Hörer auf und blieb eine Weile mit einem sehr merkwürdigen Lächeln stehen. George musste ihn zweimal ansprechen, bevor er eine Antwort erhielt. «Eh?», sagte Poirot. «Was haben Sie gesagt?»

«Essen Sie zu Hause, Sir, oder gehen Sie aus?»

«Weder noch», sagte Poirot. «Ich werde ins Bett gehen und eine tisane zu mir nehmen. Das Erwartete ist eingetreten, und wenn das Erwartete geschieht, regt es mich immer ein bisschen auf.»

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