Vierunddreißigstes Kapitel


Wieder im Blauen Express

Der «Zug der Millionäre», wie er manchmal genannt wird, raste in scheinbar riskantem Tempo durch eine Kurve. Van Aldin, Knighton und Poirot saßen schweigend beieinander. Knighton und Van Aldin hatten zwei miteinander verbundene Abteile, wie Ruth Kettering und ihre Zofe auf der verhängnisvollen Fahrt. Poirots Abteil lag am andern Ende des Wagens.

Die Fahrt war schmerzlich für Van Aldin, da sie in ihm die schlimmsten Erinnerungen weckte. Poirot und Knighton unterhielten sich bisweilen leise, um ihn nicht zu stören.

Als der Zug jedoch seine langsame Fahrt um die ceinture beendet hatte und den Gare de Lyon erreichte, wurde Poirot plötzlich überaus lebendig. Van Aldin begriff, dass es ein Teilziel der Zugreise gewesen war, das Verbrechen rekonstruieren zu können. Poirot selbst spielte sämtliche Rollen. Er war abwechselnd die Zofe, eilig in ihr Abteil geschickt, dann Mrs Kettering, die überrascht und ein wenig besorgt ihren Gatten erkennt, und Derek Kettering, der entdeckt, dass seine Frau mit dem gleichen Zug reist. Er probierte verschiedene Dinge aus, suchte etwa nach der besten Möglichkeit, sich im zweiten Abteil zu verstecken.

Plötzlich schien ihm eine Idee zu kommen. Er packte Van Aldin bei der Hand.

«Mon Dieu, daran habe ich ja gar nicht gedacht! Wir müssen die Reise in Paris unterbrechen. Schnell, schnell, steigen wir sofort aus.»

Er schnappte sich seinen Koffer und sprang aus dem Zug. Verstört, aber gehorsam folgten ihm Van Aldin und Knighton. Van Aldin, dessen Meinung über Poirots Fähigkeiten gerade erst bestärkt worden war, beschlichen Zweifel. An der Bahnsteigsperre hielt man sie auf. Sie hatten ihre Fahrkarten der Obhut des Schaffners überlassen, daran hatte in der Eile keiner von ihnen gedacht.

Poirots Erklärungen kamen schnell, flüssig und leidenschaftlich, bewirkten aber nichts bei dem Beamten.

«Schluss mit dem Unfug», sagte Van Aldin brüsk. «Ich nehme an, Sie haben es eilig, Monsieur Poirot. Zahlen Sie doch um Gottes willen die Karten für die Fahrt von Calais hierher und lassen Sie uns weitermachen mit dem, was Sie sich in den Kopf gesetzt haben.»

Aber Poirots Redestrom war plötzlich versiegt, und er blieb wie versteinert stehen. Sein Arm, in einer leidenschaftlichen Gebärde gereckt, wirkte plötzlich wie gelähmt.

«Ich bin ein Trottel», sagte er schlicht. «Ma foi, ich fange an, den Kopf zu verlieren. Kommen Sie, meine Herren, wir setzen unsere Reise ruhig fort. Wenn wir Glück haben, ist der Zug noch nicht weg.»

Sie kamen gerade noch rechtzeitig; der Zug fuhr an, als Knighton, als Letzter der drei, sich mit seinem Koffer gerade noch auf die Plattform schwingen konnte.

Der Schaffner machte ihnen eindringliche Vorhaltungen, half ihnen aber dann, das Gepäck in die Abteile zurückzuschleppen. Van Aldin sagte nichts, war aber sichtlich verärgert über Poirots ausgefallenes Benehmen. Als er ein paar Augenblicke mit Knighton allein war, bemerkte er: «Das ist ein hirnrissiges Unternehmen. Der Mensch weiß doch nicht mehr, was er tut. Bis zu einem gewissen Grad hat er Grips, aber einer, der den Kopf verliert und herumsaust wie ein verschrecktes Kaninchen, kann nichts mehr zuwege bringen.»

Bald darauf kam Poirot zu ihnen, voller kniefälliger Entschuldigungen und offenbar derart niedergeschlagen, dass harte Worte nicht am Platz schienen. Van Aldin nahm die Entschuldigungen ernst an; es kostete ihn allerdings Mühe, bissige Bemerkungen zu unterdrücken.

Sie aßen im Speisewagen, und danach schlug Poirot zur Überraschung der anderen vor, die Nacht sitzend in Van Aldins Abteil zu verbringen.

Der Millionär sah ihn neugierig an.

«Verheimlichen Sie uns irgendetwas, Monsieur Poirot?»

«Ich?» Poirot riss in unschuldigem Staunen die Augen auf. «Aber keine Spur!»

Van Aldin antwortete nicht, aber er war alles andere als zufrieden. Dem Schaffner sagte man, er brauche die Betten nicht herzurichten. Das großzügige Trinkgeld, das ihm Van Aldin gab, machte jede Verblüffung wett, die er empfinden mochte. Die drei saßen schweigend da. Poirot zappelte herum und schien rastlos. Schließlich wandte er sich an den Sekretär.

«Major Knighton, ist die Tür Ihres Abteils verschlossen? Ich meine die Tür zum Gang?»

«Ja, ich habe sie eben selbst abgeschlossen.»

«Sind Sie sicher?», fragte Poirot.

«Wenn Sie wollen, sehe ich noch einmal nach.» Knigh-ton lächelte.

«Nein, nein, bemühen Sie sich nicht. Ich werde selbst nachsehen.»

Er nahm die Verbindungstür, kehrte nach wenigen Sekunden zurück und nickte.

«Ja, ja, Sie haben Recht. Bitte entschuldigen Sie das Gezappel eines alten Mannes.» Er schloss die Verbindungstür und setzte sich wieder auf seinen Platz in die rechte Ecke.

Die Stunden verstrichen. Die Männer schlummerten unruhig und fuhren immer wieder auf. Wahrscheinlich hatten noch nie zuvor drei Fahrgäste Betten im luxuriösesten Zug gebucht und sich dann geweigert, die bezahlten Annehmlichkeiten auch zu nutzen. Von Zeit zu Zeit warf Poirot einen Blick auf seine Uhr, nickte und setzte sich dann wieder bequem hin, um ein wenig zu schlummern. Einmal sprang er auf, öffnete die Verbindungstür, warf einen raschen Blick in das Nebenabteil und setzte sich kopfschüttelnd wieder auf seinen Platz.

«Was ist denn los?», flüsterte Knighton. «Erwarten Sie, dass etwas passiert?»

«Meine Nerven!», gestand Poirot. «Ich bin wie die Katze auf dem heißen Dach. Das kleinste Geräusch lässt mich auffahren.»

Knighton gähnte.

«Verdammt unbehagliche Reise», murmelte er. «Ich hoffe, Sie wissen, was das Ganze soll, Monsieur Poirot.»

Er versuchte, so gut es ging, zu schlafen. Er und Van Aldin waren eingeschlummert, als Poirot zum vierzehnten Mal auf die Uhr schaute, sich vorbeugte und dem Millionär leicht auf die Schulter klopfte.

«Eh? Was gibt es?»

«In fünf bis zehn Minuten, Monsieur, sind wir in Lyon.»

«Mein Gott!» Van Aldins Antlitz wirkte weiß und eingefallen in der matten Beleuchtung. «Ungefähr um diese Zeit muss also die arme Ruth ermordet worden sein.»

Er sah starr vor sich hin. Seine Lippen zuckten ein wenig, und seine Gedanken befassten sich mit der furchtbaren Tragödie, die sein Leben verdüstert hatte.

Das übliche lange kreischende Seufzen der Bremsen war zu hören, der Zug verminderte seine Geschwindigkeit und fuhr in den Bahnhof von Lyon ein. Van Aldin öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus.

«Wenn es nicht Derek war — wenn Ihre neue Theorie stimmt, hat der Mann also hier den Zug verlassen?», fragte er über die Schulter.

Zu seinem Erstaunen schüttelte Poirot den Kopf.

«Nein», sagte er nachdenklich, «kein Mann hat hier den Zug verlassen, aber ich glaube — ja, ich glaube, vielleicht eine Frau.»

Knighton ächzte.

«Eine Frau?», fragte Van Aldin scharf.

«Ja, eine Frau.» Poirot nickte. «Sie erinnern sich vielleicht nicht daran, Monsieur Van Aldin, aber Miss Grey hat in ihrer Aussage erwähnt, dass ein junger Mann mit Mütze und Mantel aus dem Zug gestiegen ist, offenbar um sich auf dem Bahnsteig die Beine zu vertreten. Meiner Ansicht nach war dieser junge Mann wahrscheinlich eine Frau.»

«Aber wer war sie?»

Van Aldins Gesicht drückte Unglauben aus, aber Poirot erwiderte ernst und kategorisch:

«Ihr Name — oder besser gesagt der Name, unter dem sie viele Jahre lang bekannt war — ist Kitty Kidd, aber Sie, Monsieur Van Aldin, kennen sie unter einem anderen Namen — Ada Mason.»

Knighton sprang auf.

«Was?», rief er.

Poirot wandte sich rasch zu ihm um.

«Ah! — ehe ich es vergesse.» Er zog blitzschnell etwas aus der Tasche und hielt es hoch.

«Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten — aus Ihrem eigenen Zigarettenetui? Es war achtlos von Ihnen, es fallen zu lassen, als Sie auf der ceinture von Paris auf den Zug gesprungen sind.»

Knighton starrte ihn fassungslos an. Dann machte er eine schnelle Bewegung, aber Poirot hob warnend die Hand.

«Nein, bitte nicht bewegen», sagte er mit samtiger Stimme, «die Tür zum Nachbarabteil ist offen, und unsere Freunde von der Polizei, die sich darin befinden, haben die Waffen auf Sie gerichtet. Ich habe die Tür zum Korridor geöffnet, als wir Paris verließen, und unsere Freunde haben sich dort niedergelassen. Es wird Ihnen ja nicht unbekannt sein, dass die französische Polizei Sie ziemlich dringend sucht, Major Knighton — oder sagen wir lieber — Monsieur le Marquis?»

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