Zweiunddreißigstes Kapitel


Katherine und Poirot vergleichen ihre Notizen

«Sie haben sich verändert, Mademoiselle», sagte Poirot plötzlich. Er und Katherine saßen sich an einem Tischchen im Savoy gegenüber.

«Ja, Sie haben sich verändert», fuhr er fort.

«In welcher Hinsicht?»

«Mademoiselle, diese Nuancen sind schwer auszudrücken.»

«Ich bin älter geworden.»

«Ja, Sie sind älter geworden. Und damit meine ich nicht, dass bei Ihnen Runzeln und Krähenfüße kommen. Als ich Sie das erste Mal sah, Mademoiselle, standen Sie dem Leben als Zuschauerin gegenüber. Sie hatten den ruhigbelustigten Ausdruck eines Menschen, der sich in einem Sitz zurücklehnt und der Komödie zuschaut.»

«Und jetzt?»

«Jetzt schauen Sie nicht mehr zu. Es ist vielleicht absurd, was ich sage, aber Sie wirken wie ein misstrauischer Kämpfer in einer schwierigen Partie.»

«Meine alte Dame ist manchmal schwierig», sagte Ka-therine lächelnd, «aber ich kann Ihnen versichern, dass ich mit ihr kein Duell auf Leben und Tod austrage. Sie müssen sie übrigens einmal besuchen, Monsieur Poirot. Sie dürften zu denen gehören, die ihren Mumm und ihren Geist zu schätzen wissen.»

Sie schwiegen, während der Kellner ihnen geschickt das Huhn en casserole servierte. Als er gegangen war, sagte Poi-rot: «Habe ich Ihnen je von meinem Freund Hastings erzählt? Der gesagt hat, ich sei eine menschliche Auster? Eh bien, Mademoiselle, ich habe meine Meisterin gefunden. Sie spielen ganz für sich, weit mehr als ich.»

«Unsinn», sagte Katherine leichthin.

«Hercule Poirot redet niemals Unsinn. Es ist so, wie ich sagte.»

Wieder herrschte Schweigen. Poirot beendete es, indem er fragte:

«Haben Sie jemanden von unseren Riviera-Bekannten gesehen, Mademoiselle, seit Sie wieder in England sind?»

«Ich habe Major Knighton getroffen.»

«Aha, tatsächlich?»

Etwas in Poirots zwinkernden Augen ließ Katherine die ihren senken.

«Also ist Monsieur Van Aldin noch immer in London?»

«Ja.»

«Dann muss ich versuchen, ihn morgen oder übermorgen zu sehen.»

«Haben Sie Neuigkeiten für ihn?»

«Warum glauben Sie das?»

«Ach, ich frage nur so.»

Poirot schaute sie mit seinen Augen zwinkernd über den Tisch hinweg an.

«Und nun, Mademoiselle, sehe ich, dass Sie mich vielerlei fragen wollen. Warum auch nicht? Ist nicht die Affäre um den Blauen Express unser romanpolicier?»

«Ich möchte Sie wirklich einiges fragen.»

«Eh bien?»

Katherine blickte auf, plötzlich wirkte sie sehr entschlossen.

«Was haben Sie in Paris gemacht, Monsieur Poirot?»

Poirot lächelte flüchtig.

«Ich habe der russischen Botschaft einen Besuch abgestattet.»

«Oh.»

«Ich sehe, das sagt Ihnen nichts. Aber ich will nicht die menschliche Auster spielen. Nein, ich lege meine Karten auf den Tisch, was Austern sicher niemals tun. Sie nehmen wohl an, nicht wahr, dass mich der Fall Derek Kettering nicht befriedigt?»

«Das hatte ich mich eben gefragt. In Nizza dachte ich, Sie hätten den Fall für sich abgeschlossen.»

«Sie sagen nicht alles, was Sie meinen, Mademoiselle. Aber ich gebe alles zu. Ich — meine Ermittlungen — haben Derek Kettering dorthin gebracht, wo er jetzt ist. Ohne mich würde der Untersuchungsrichter noch immer vergeblich versuchen, das Verbrechen dem Comte de la Roche zuzuschreiben. Eh bien, Mademoiselle, ich bereue nicht, was ich getan habe. Ich habe nur eine Pflicht — die Wahrheit herauszufinden, und dieser Weg führte geradewegs zu Monsieur Kettering. Aber endet er auch dort? Die Polizei sagt ja, aber ich, Hercule Poirot, bin nicht zufrieden.»

Er brach plötzlich ab. «Sagen Sie, Mademoiselle, haben Sie in der letzten Zeit etwas von Mademoiselle Lenox gehört?»

«Ein sehr kurzer, zusammenhangloser Brief. Ich glaube, sie ist böse auf mich, weil ich nach England zurückgegangen bin.»

Poirot nickte.

«Am Abend, an dem Monsieur Kettering verhaftet wurde, hatte ich ein Gespräch mit ihr. Es war ein in mehrfacher Hinsicht interessantes Gespräch.»

Wieder verfiel er in Schweigen, und Katherine unterbrach sein Nachdenken nicht. «Mademoiselle», sagte er schließlich, «ich betrete jetzt heikles Gelände, aber eines will ich Ihnen doch sagen. Ich glaube, es gibt eine Person, die Monsieur Kettering liebt — korrigieren Sie mich, wenn ich etwas Falsches sage —, und für diese Person — nun ja — um dieser Person willen hoffe ich, dass ich Recht habe und die Polizei Unrecht. Sie wissen, wer diese Person ist?»

Nach einer Pause sagte Katherine leise:

«Ja — ich glaube, ich weiß es.»

Poirot beugte sich über den Tisch zu ihr.

«Ich bin nicht zufrieden, Mademoiselle; nein, ich bin nicht zufrieden. Die Fakten, die wichtigsten Fakten, führen unmittelbar zu Monsieur Kettering. Aber es gibt etwas, das man übersehen hat.»

«Und das wäre?»

«Das verstümmelte Gesicht des Opfers. Hundertmal, Mademoiselle, habe ich mich gefragt: Ist Derek Kettering der Mensch, der so einen Hieb versetzen würde, nachdem er den Mord begangen hat? Was hätte das für einen Sinn? Wozu könnte es dienen? Ist es eine Handlungsweise, die zu einem mit Monsieur Ketterings Temperament passt? Und, Mademoiselle, die Antwort auf diese Fragen ist zutiefst unbefriedigend. Immer und immer wieder komme ich zurück auf diesen einen Punkt — Und alles, was ich habe, um zu einer Lösung des Problems zu gelangen, ist das hier.»

Er zog sein Notizbuch hervor, entnahm ihm etwas und hielt es ihr zwischen Daumen und Zeigefinger hin.

«Erinnern Sie sich, Mademoiselle? Sie waren dabei, als ich diese Haare von der Decke im Abteil entfernte.»

Katherine beugte sich vor und musterte die Haare aufmerksam.

Poirot nickte mehrmals langsam.

«Die Haare sagen Ihnen nichts, das sehe ich, Mademoiselle. Und dennoch — irgendwie glaube ich, dass Sie einiges sehen.»

«Man hat so seine Ideen», sagte Katherine langsam, «seltsame Ideen. Und deshalb frage ich Sie, was Sie in Paris gemacht haben, Monsieur Poirot.»

«Als ich Ihnen schrieb.»

«Aus dem Ritz?»

Ein eigentümliches Lächeln glitt über Poirots Gesicht.

«Ja, wie Sie sagen, aus dem Rit%. Manchmal führe ich ein Luxusleben — wenn ein Millionär es bezahlt.»

«Die russische Botschaft», sagte Katherine mit gerunzelter Stirn. «Ich verstehe nicht, wie die ins Spiel kommt.»

«Sie kommt nicht direkt ins Spiel. Ich bin hingegangen, um eine bestimmte Auskunft zu erhalten. Ich habe mit einem bestimmten Mann gesprochen und ihm gedroht — ja, Mademoiselle, ich, Hercule Poirot, habe ihm gedroht.»

«Mit der Polizei?»

«Nein», sagte Poirot trocken. «Mit der Presse — einer weit tödlicheren Waffe.»

Er sah Katherine an, und sie lächelte; dabei schüttelte sie leicht den Kopf.

«Werden Sie nicht gerade wieder zur Auster, Monsieur Poirot?»

«Nein, nein, ich will Ihnen keine Rätsel aufgeben. Sehen Sie, ich werde Ihnen alles sagen. Ich habe diesen Mann im Verdacht, am Verkauf der Juwelen an Monsieur Van Aldin aktiv teilgenommen zu haben. Ich sage es ihm auf den Kopf zu, und am Ende kriege ich die ganze Geschichte aus ihm heraus. Ich erfahre, wo der Schmuck übergeben wurde, und ich höre auch einiges über den Mann, der draußen auf der Straße auf und ab gegangen ist — ein Mann mit einem ehrwürdigen weißen Schopf, aber mit dem leichten, elastischen Gang eines Jünglings —, und in Gedanken gebe ich diesem Mann einen Namen — den Namen Monsieur le Marquis.»

«Und jetzt sind Sie nach London gekommen, um mit Mr Van Aldin zu sprechen?»

«Nicht nur deswegen. Ich hatte noch anderes zu tun. Seit ich nach London gekommen bin, habe ich mich mit zwei Leuten unterhalten, einem Theateragenten und einem Arzt aus der Harley Street. Von beiden habe ich gewisse Informationen erhalten. Fügen Sie diese Dinge zusammen, Mademoiselle, und sehen Sie zu, ob Sie dieselben Schlüsse daraus ziehen wie ich.»

«Ich?»

«Ja, Sie. Ich will Ihnen eines sagen, Mademoiselle. Die ganze Zeit hatte ich meine Zweifel daran, dass der Raub und der Mord von derselben Person begangen wurden. Lange Zeit war ich nicht sicher.»

«Und jetzt?»

«Und jetzt weiß ich.»

Wieder trat Schweigen ein. Dann hob Katherine den Kopf, ihre Augen leuchteten.

«Ich bin nicht so scharfsinnig wie Sie, Monsieur Poirot. Die Hälfte dessen, was Sie mir erzählt haben, scheint mir nirgendwohin zu führen. Die Ideen, die mir gekommen sind, kommen aus einem völlig anderen Blickwinkel.»

«Ah, aber das ist immer so», sagte Poirot ruhig. «Ein Spiegel zeigt die Wahrheit, aber jeder steht anders davor, um hineinzuschauen.»

«Meine Idee von der Sache mag absurd sein — sie ist sicherlich von der Ihren ganz verschieden, aber.»

«Nun?»

«Sagen Sie, könnte Ihnen das hier helfen?»

Ihrer ausgestreckten Hand entnahm er einen Zeitungsausschnitt. Er las ihn, blickte auf und nickte ernst.

«Wie ich Ihnen sagte, Mademoiselle, jeder schaut aus einem anderen Blickwinkel in den Spiegel, aber der Spiegel ist der gleiche, und die gleichen Dinge spiegeln sich darin.»

Katherine stand auf. «Ich muss mich beeilen», sagte sie. «Sonst verpasse ich meinen Zug. Monsieur Poirot.»

«Ja, Mademoiselle!»

«Es — es darf nicht mehr lange dauern, verstehen Sie. Ich — ich kann nicht mehr lange so weitermachen.»

Ihre Stimme klang brüchig.

Er tätschelte ihr beruhigend die Hand.

«Courage, Mademoiselle, Sie dürfen jetzt nicht schwach werden, das Ende steht nahe bevor.»

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