Zwanzigstes Kapitel


Katherine schließt Freundschaft

Am nächsten Morgen saßen Katherine und Lenox auf der Terrasse der Villa Marguerite. Trotz des Altersunterschieds schien eine Art Freundschaft zwischen ihnen zu entstehen. Ohne Lenox hätte Katherine das Leben in der Villa ganz unerträglich gefunden. Der Kettering-Fall war zurzeit das einzige Thema. Lady Tamplin beutete die Verbindung ihres Gastes mit der Affäre übergründlich aus. Die beharrlichsten Zurückweisungen, deren Katherine fähig war, prallten an Lady Tamplins Selbstbewusstsein ab. Lenox wahrte Distanz, amüsierte sich offenbar über die Machenschaften ihrer Mutter, hatte aber doch auch mitfühlendes Verständnis für Katherine. Die Lage wurde durch Chubby keineswegs verbessert, dessen naiver Eifer nicht zu unterdrücken war und der Katherine Gott und der Welt so vorstellte:

«Das ist Miss Grey. Haben Sie von der Sache mit dem Blauen Express gehört? Sie hat da bis zum Hals dringesteckt. Hat sich mit Ruth Kettering ein paar Stunden vor dem Mord noch ganz lange unterhalten! Ziemlich viel Schwein für sie, was?»

Ein paar Bemerkungen dieser Art hatten Katherine morgens zu einer ungewöhnlich scharfen Zurechtweisung bewogen, und als sie allein waren, bemerkte Lenox in ihrer üblichen trägen Redeweise:

«Nicht daran gewöhnt, so benutzt zu werden, wie? Du hast noch einiges zu lernen, Katherine.» «Tut mir Leid, dass ich die Beherrschung verloren habe. Das passiert mir sonst nicht.»

«War höchste Zeit, dass du mal lernst, Dampf abzulassen. Chubby ist bloß ein Esel, der meint’s nicht böse. Mutter dagegen geht einem auf die Nerven, aber bei der kannst du die Beherrschung verlieren, bis du platzt, ohne dass es auf sie einen Eindruck macht. Die sieht dich dann bloß mit großen, traurigen blauen Augen an und schert sich den Teufel darum.»

Katherine antwortete nicht auf diese wenig respektvolle Bemerkung der Tochter, und Lenox fuhr fort:

«Ich bin da eher wie Chubby. Ich habe Spaß an so einem schönen Mord, und außerdem — na ja, Derek zu kennen macht schon was aus.»

Katherine nickte.

«Du hast also gestern mit ihm gegessen», sagte Lenox versonnen. «Gefällt er dir, Katherine?»

Katherine dachte ein paar Momente nach.

«Ich weiß nicht», sagte sie sehr langsam.

«Er ist sehr attraktiv.»

«Ja, er ist attraktiv.»

«Was gefällt dir nicht an ihm?»

Katherine beantwortete die Frage nicht oder wenigstens nicht direkt. «Er hat über den Tod seiner Frau gesprochen», sagte sie. «Er sagte, er wolle nicht so tun, als ob das für ihn etwas anderes als ein ganz außerordentlicher Glücksfall wäre.»

«Und darüber warst du vermutlich entsetzt», sagte Lenox. Sie hielt inne, und dann setzte sie in einem seltsamen Tonfall hinzu: «Er mag dich, Katherine.»

«Er hat mich zu einem sehr guten Essen eingeladen», sagte Katherine lächelnd.

Lenox ließ sich nicht ablenken.

«Das habe ich an dem Abend gesehen, als er hergekommen ist», sagte sie nachdenklich. «Wie er dich angeschaut hat, und dabei bist du eigentlich gar nicht sein Typ — ganz im Gegenteil. Na ja, wahrscheinlich ist das so was wie Religion — in einem bestimmten Alter erwischt es einen.»

«Mademoiselle wird am Telefon verlangt», sagte Marie, sie erschien am Salonfenster. «Monsieur Hercule Poirot wünscht Sie zu sprechen.»

«Noch mehr Blut und Büchsenknall. Na los, Katherine, geh ein bisschen mit deinem Detektiv schmusen.»

Hercule Poirots betonte, präzise Intonation kam durch den Telefonhörer.

«Ist dort Mademoiselle Grey? Bon. Mademoiselle, ich habe eine Nachricht für Sie von Monsieur Van Aldin, Madame Ketterings Vater. Er würde sehr gern mit Ihnen sprechen, Mademoiselle; entweder in der Villa Marguerite oder in seinem Hotel, was immer Sie bevorzugen.»

Katherine dachte einen Augenblick nach, beschloss dann aber, dass es für Van Aldin unangenehm und auch unnötig wäre, zur Villa Marguerite zu kommen. Lady Tamplin würde seine Ankunft mit viel zu viel Trara bejubeln. Sie ließ nie eine Chance aus, Millionäre anzuhimmeln. Deshalb sagte sie Poirot, sie zöge es vor, nach Nizza zu kommen.

«Ausgezeichnet, Mademoiselle. Ich werde Sie selbst mit einem Wagen abholen. Sagen wir, in etwa einer Dreiviertelstunde?»

Poirot erschien pünktlich auf die Minute. Katherine erwartete ihn bereits, und sie fuhren sofort los.

«Nun, Mademoiselle, wie geht es?»

Sie schaute in seine zwinkernden Augen und wurde in ihrem ersten Eindruck bestätigt, dass Monsieur Poirot etwas sehr Anziehendes hatte.

«Das ist unser privater roman poliäer, nicht wahr?», sagte Poirot. «Ich habe Ihnen versprochen, dass wir ihn zusammen untersuchen. Und ich halte meine Versprechen immer.»

«Sie sind zu freundlich», murmelte Katherine.

«Ah, Sie spotten über mich; aber Sie möchten sicher etwas über die weitere Entwicklung des Falles hören, oder nicht?»

Katherine gab zu, dass sie gern etwas hören würde, und Poirot entwarf ihr ein knappes Porträt des Comte de la Roche.

«Sie glauben also, er hat sie getötet», sagte Katherine nachdenklich.

«Das ist die Theorie», sagte Poirot zurückhaltend.

«Glauben Sie selbst es auch?»

«Das habe ich nicht gesagt. Und Sie, Mademoiselle, was meinen Sie dazu?»

Katherine schüttelte den Kopf.

«Wie soll ich das wissen? Ich verstehe doch nichts von solchen Sachen, aber ich finde, dass.»

«Ja?», sagte Poirot ermutigend.

«Also — nach allem, was Sie mir über den Comte erzählt haben, klingt er nicht wie die Art Mann, die wirklich jemanden umbringen würde.»

«Ah! Sehr gut», rief Poirot. «Sie stimmen mir zu, das ist genau das, was ich gesagt habe.» Er sah sie scharf an. «Aber sagen Sie mir, haben Sie Mr Derek Kettering kennen gelernt?»

«Ich bin ihm bei Lady Tamplin begegnet, und gestern habe ich mit ihm gegessen.»

«Un mauvais sujet», sagte Poirot kopfschüttelnd. «Aber les femmes — sie mögen das, wie?»

Er zwinkerte Katherine zu, und sie lachte.

«Er ist die Sorte Mann, die man überall bemerken würde», fuhr Poirot fort. «Zweifellos haben Sie ihn doch im Blauen Express bemerkt?»

«Ja, ich habe ihn bemerkt.»

«Im Speisewagen?»

«Nein. Bei den Mahlzeiten habe ich ihn nicht bemerkt. Gesehen habe ich ihn nur ein einziges Mal — als er ins Abteil seiner Frau gegangen ist.»

Poirot nickte. «Eine merkwürdige Geschichte», murmelte er. «Ich glaube, Mademoiselle, Sie haben gesagt, Sie seien in Lyon aufgewacht und hätten aus dem Fenster geschaut? Sie haben nicht zufällig einen großen, dunkelhaarigen Mann wie den Comte de la Roche den Zug verlassen sehen?»

Katherine schüttelte den Kopf. «Nein, ich glaube nicht», sagte sie. «Es gab da einen jungen Burschen mit Kappe und Mantel, der ausgestiegen ist, aber ich glaube, er hat gar nicht den Zug verlassen, sondern ist nur ein wenig auf dem Bahnsteig hin und her gegangen. Dann war da noch ein dicker Franzose mit Bart, in Pyjama und Mantel, der wollte eine Tasse Kaffee. Ich glaube, außer diesen beiden war da nur noch das Zugpersonal.»

Poirot nickte mehrmals. «Es ist nämlich so, wissen Sie», sagte er vertraulich. «Der Comte de la Roche hat ein Alibi. Ein Alibi, das hat immer etwas Pestilenzialisches, und es lädt immer zu schlimmstem Argwohn ein. Aber wir sind da!»

Sie fuhren sofort hinauf zu Van Aldins Suite, wo sie Knighton fanden. Poirot machte ihn mit Katherine bekannt. Nachdem sie ein paar Höflichkeiten ausgetauscht hatten, sagte Knighton: «Ich lasse Mr Van Aldin wissen, dass Miss Grey da ist.»

Er ging durch eine zweite Tür in einen Nebenraum. Sie hörten ein leises Stimmengemurmel, und dann kam Van Aldin ins Zimmer, ging mit ausgestreckter Hand auf Ka-therine zu und musterte sie dabei aufmerksam und durchdringend.

«Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Grey», sagte er einfach. «Ich wollte sehr gern hören, was Sie mir über Ruth erzählen können.»

Die ruhige Art des Millionärs beeindruckte Katherine. Sie fühlte seinen echten Schmerz umso stärker, weil er ihn nicht zur Schau trug.

Er holte einen Sessel für sie herbei.

«Setzen Sie sich doch bitte hierhin und erzählen Sie einfach.»

Poirot und Knighton zogen sich diskret ins Nebenzimmer zurück, und Katherine und Van Aldin blieben allein zurück. Ganz schlicht und natürlich gab sie, so genau sie konnte, ihre Unterhaltung mit Ruth Kettering wieder. Er hörte, im Sessel zurückgelehnt, schweigend zu, mit einer Hand beschirmte er seine Augen. Als sie geendet hatte, sagte er ruhig:

«Ich danke Ihnen, meine Liebe.»

Dann schwiegen beide. Katherine fühlte, dass Worte des Mitgefühls fehl am Platze wären. Als der Millionär zu sprechen begann, war sein Tonfall verändert:

«Ich bin Ihnen sehr dankbar, Miss Grey. Ich glaube, Sie haben etwas getan, um meiner armen Ruth in den letzten Stunden ihres Lebens das Herz zu erleichtern. Jetzt möchte ich Sie etwas fragen. Sie wissen — Monsieur Poirot wird es Ihnen erzählt haben — von dem Halunken, mit dem sich mein armes Mädchen eingelassen hatte. Er ist der Mann, von dem sie Ihnen erzählt hat — der Mann, den sie treffen wollte. Halten Sie es für möglich, dass sie nach dem Gespräch mit Ihnen ihre Meinung geändert haben könnte?»

«Ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen. Offensichtlich war sie zu einem Entschluss gelangt. Sie wirkte später fröhlicher.»

«Sie haben aber keine Ahnung, wo sie diesen Fiesling treffen wollte — in Paris oder in Hyeres?»

Katherine schüttelte den Kopf.

«Darüber hat sie nichts gesagt.»

«Ah!», sagte Van Aldin nachdenklich, «und das ist der springende Punkt. Tja, die Zeit wird es an den Tag bringen.»

Er stand auf und öffnete die Tür zum Nebenraum. Poi-rot und Knighton traten wieder ein.

Katherine lehnte die Einladung des Millionärs zum Essen ab, und Knighton begleitete sie nach unten und half ihr in den wartenden Wagen. Als er zurückkehrte, fand er Poirot und Van Aldin ins Gespräch vertieft.

«Wenn wir nur wüssten», sagte der Millionär nachdenklich, «zu welchem Entschluss Ruth gekommen ist. Es gibt ein halbes Dutzend Möglichkeiten. Vielleicht wollte sie den Zug in Paris verlassen und mir telegrafieren. Oder sie hatte die Absicht, weiter nach Südfrankreich zu fahren, um hier eine Aussprache mit dem Grafen herbeizuführen. Wir tappen vollkommen im Dunkeln — absolut im Dunkeln. Durch die Zofe wissen wir, dass sie von seinem plötzlichen Auftauchen auf dem Bahnhof in Paris überrascht und sogar betroffen war. Dieses Zusammentreffen war also offenbar nicht im Programm vorgesehen. Stimmen Sie mir zu, Knighton?»

Der Sekretär fuhr auf. «Ich bitte um Entschuldigung, Mr Van Aldin! Ich habe nicht zugehört.»

«Sie träumen wohl, was?», sagte Van Aldin. «Ist doch sonst nicht Ihre Art. Ich glaube, das Mädchen hat Sie umgehauen.»

Knighton wurde rot.

«Ein bemerkenswert nettes Mädchen», sagte Van Aldin versonnen, «sehr nett. Haben Sie zufällig ihre Augen bemerkt?»

«Ihre Augen», antwortete Knighton, «muss wohl jeder Mann bemerken.»

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