Sechsunddreißigstes Kapitel


Am Meer

Die Mimosenblüte war vorüber. Ihr Duft lag noch in der Luft — leicht unangenehm. Rosa Geranien rankten sich um die Balustrade von Lady Tamp-lins Villa, und von unten sandten die üppigen Nelkenbeete einen schweren, süßen Duft zum Haus empor. Das Mittelmeer war blauer denn je.

Poirot saß mit Lenox Tamplin auf der Veranda. Er hatte ihr eben die gleiche Geschichte erzählt wie zwei Tage zuvor Van Aldin. Lenox hatte mit angespannter Aufmerksamkeit, gerunzelter Stirn und düsteren Blicken zugehört.

Als er geendet hatte, sagte sie einfach:

«Und Derek?»

«Er wurde gestern freigelassen.»

«Und wo ist er hin?»

«Er hat Nizza gestern Abend verlassen.»

«Nach St. Mary Mead?»

«Ja, nach St. Mary Mead.»

Pause.

«Ich habe mich in Katherine geirrt», sagte Lenox. «Ich dachte, sie macht sich nichts aus ihm.»

«Sie ist sehr zurückhaltend. Sie traute niemandem.»

«Mir hätte sie trauen können», sagte Lenox mit einem Unterton von Bitterkeit.

«Ja», sagte Poirot ernst, «Ihnen hätte sie trauen können. Aber Mademoiselle Katherine hat einen großen Teil ihres Lebens mit Zuhören verbracht, und diejenigen, die zugehört haben, finden es nicht leicht zu sprechen; sie behalten ihre Sorgen und Freuden für sich und reden nicht darüber.»

«Ich war eine dumme Gans», sagte Lenox, «ich habe geglaubt, sie wäre in Knighton verliebt. Ich hätte es besser wissen müssen. Wahrscheinlich habe ich das geglaubt, weil — ich es gehofft habe.»

Poirot nahm ihre Hand und drückte sie freundschaftlich. «Courage, Mademoiselle», sagte er sanft.

Lenox schaute geradeaus aufs Meer, und ihr Gesicht hatte in seiner hässlichen Strenge für einen Moment etwas von tragischer Schönheit.

«Na ja», sagte sie schließlich, «es wäre nicht gut gegangen. Ich bin zu jung für Derek; er ist wie ein Junge, der nie erwachsen geworden ist. Er braucht den Madonnentyp.»

Wieder trat langes Schweigen ein. Dann wandte sich Lenox rasch und impulsiv dem Detektiv zu. «Aber ich habe Ihnen wirklich geholfen, Monsieur Poirot — jedenfalls habe ich Ihnen geholfen.»

«Ja, Mademoiselle. Sie haben mir den ersten Schimmer der Wahrheit gezeigt, als Sie sagten, dass der Mörder nicht unbedingt im Zug gewesen sein muss. Vorher hatte ich nicht gesehen, wie es gewesen sein könnte.»

Lenox holte tief Atem.

«Ich freue mich», sagte sie, «das ist wenigstens etwas.»

Aus der Ferne tönte der lang gezogene Pfiff einer Lokomotive.

«Das ist der verfluchte Blaue Express», sagte Lenox. «Züge haben etwas Gnadenloses, finden Sie nicht, Monsieur Poirot? Menschen werden ermordet und sterben, aber sie fahren einfach weiter. Ich rede Unsinn, aber Sie wissen, was ich meine.»

«Ja, ja, ich weiß. Das Leben ist wie ein Zug, Mademoiselle. Es geht weiter. Und es ist gut, dass es weitergeht.»

«Warum?»

«Weil der Zug irgendwann einmal das Ende der Reise erreicht, und dazu gibt es ein Sprichwort in Ihrer Sprache, Mademoiselle.»

«

«Doch — doch, es stimmt. Sie sind jung, jünger, als Sie selbst wissen. Vertrauen Sie dem Zug, Mademoiselle; der Lokomotivführer ist nämlich le bon Dieu.»

Wieder war das Pfeifen der Lokomotive zu hören.

«Vertrauen Sie dem Zug, Mademoiselle», murmelte Poi-rot wieder. «Und vertrauen Sie Hercule Poirot — er weiß Bescheid.»

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