Das dritte Kapitel

Es ist von Geschäften die Rede /Auch Rechnen gehört zu Leben / Das geheimnisvolle Kuvert / Herr von Goethe als Lehrmeister / Das zweite versiegelte Kuvert / Der Handel ist perfekt.


Die geschäftlichen Verhandlungen begannen gleich nach dem Frühstück. Wieder bewachte ein Hoteldetektiv den Blauen Salon, aber es war ein anderer Mann. Denn der Detektiv, der am Abend vorher und während der ganzen Nacht aufgepasst hatte, war natürlich müde und musste schlafen. Sie lösten einander alle zwölf Stunden ab.

Von den Geschäften will ich nur das Notwendigste erzählen, weil ich weiß, dass sich Kinder dafür nicht sonderlich interessieren. Es ist ihnen tausendmal lieber, wenn ein einäugiger Pferdedieb mit dem Lasso eingefangen wird oder wenn der beschwipste Bürgermeister beim Dirigieren der Feuerwehrkapelle in die Pauke fällt. Damit verglichen sind geschäftliche Verhandlungen langweilig.

Trotzdem darf ich um die Konferenz im Blauen Salon keinen Bogen machen. Erstens ist sie für unsere Geschichte wichtig. Und zweitens lernt ihr das Zusammenzählen, Abziehen, Malnehmen und Teilen in der Schule ja nicht nur, um den Lehrern und dem Rektor einen Gefallen zu tun. Wer nicht rechnen kann, wird eines Tages große Augen machen. Man wird ihn manchmal hineinlegen, dass es nur so qualmt. Denn nicht alle guten Rechner, mit denen man im Leben zu tun hat, sind gute Menschen.

»Was ich kaufen will und zu welchem Zweck, habe ich dargelegt«, sagte Mister John F. Drinkwater. »Nun sind Sie an der Reihe, Professor. Nennen Sie mir den Preis.«

»Zeig ihm doch das Kuvert«, riet Mäxchen. Er saß wieder an dem kleinen Tisch oben auf dem großen Tisch und löffelte an einem Ananastörtchen.

»Was für ein Kuvert?«, fragte Drinkwater verwundert.

Rosa Marzipan lächelte spitzbübisch. »Wir Zirkusleute sind ein raffiniertes Völkchen, mein lieber John.«

»Unser Preis steht auf einem Zettel«, erklärte Mäxchen. »Der Zettel steckt in einem Kuvert. Das Kuvert ist versiegelt. Und das versiegelte Kuvert steckt in der Brusttasche meines Vormunds und Partners Jokus von Pokus.«

Direktor Brausewetter war überrascht und gekränkt. »Davon weiß ich ja gar nichts!« Er zog die grauen Handschuhe aus und saß, ganz gegen seine Gewohnheit, etwa eine halbe Stunde mit völlig nackten Händen da. Weil er noch nicht wusste, ob er die weißen oder die schwarzen Handschuhe anziehen solle.

»Lieber Brausewetter«, sagte der Jokus, »der Vertrag zwischen Mister Drinkwater und Ihrem Zirkus ist eine Sache für sich. Damit haben wir nichts zu tun. Auf dem Zettel im Kuvert steht nur der Preis, den Mäxchen, Fräulein Marzipan und ich verlangen.«

»Ihr versiegeltes Kuvert macht mich nervös«, erklärte Mister Drinkwater. »Ich will einen Film in Breitwand und Farbe drehen. Ich will außerdem Mäxchens Geschichte in sechs Fortsetzungen fürs Fernsehen produzieren. Das wird ein teurer Spaß. Deshalb brauche ich die Weltrechte für zehn Jahre. Und deshalb brauche ich Ihr Mäxchen, Sie selber und Ihr Fräulein Braut als Hauptdarsteller für die Monate Oktober und November im Kronebau in München. Das ist doch alles sonnenklar.«

»Der Film wird ja gar kein teurer Spaß«, rief Mäxchen.

»Mein Partner hat Recht«, sagte der Jokus liebenswürdig. »Ihr Film wird, samt der Fernsehserie, keinen Dollar teurer als jeder andere Zirkusfilm. Aber er wird mindestens zehnmal so viel Geld einspielen wie jeder andere. Weil noch nie vorher der Star nur fünf Zentimeter groß war. So etwas hat die Welt noch nicht gesehen, und jeder Erdbewohner wird ins nächste Kino rennen.«

»Sie werden sich dumm und dämlich verdienen!«, rief Mäx-chen begeistert.

Die anderen blickten ihn missbilligend an.

»Schon gut«, brummte Drinkwater. »Also, vielleicht wird unser Film wirklich ein großes Geschäft. Aber was soll das versiegelte Kuvert? Und wo ist es?«

Der Jokus holte einen Briefumschlag aus der Tasche, legte ihn auf den Tisch und sagte: »Hier.« Doch als der Amerikaner danach greifen wollte, hielt er dessen Hand fest. »Das Kuvert wird erst geöffnet, nachdem Sie den Betrag, den Sie uns freiwillig zahlen wollen, Ihrerseits auf einen Zettel geschrieben haben.«

»Ein bisschen umständlich«, meinte Drinkwater. »Dann öffnen wir Ihr komisches Kuvert, vergleichen die beiden Summen und beginnen zu handeln. Wozu also das ganze Brieftheater?«

»Warten Sie nur ab«, rief Mäxchen. »Das Schönste kommt ja erst.« Er rieb sich vor Vergnügen die Hände.

»Wir werden nicht miteinander handeln«, erklärte der Jokus. »Die Beträge auf Ihrem und auf unserem Zettel sind endgültig. Wenn Ihre Summe höher ist als unsere, ist der Vertrag perfekt.«

»Und wenn ich weniger geboten habe, als in Ihrem verrückten Kuvert verlangt wird?«

»Dann«, sagte Rosa lächelnd, »ist das Geschäft leider geplatzt.«

Mister Drinkwater machte, was er sehr selten tat, ein verblüfftes Gesicht. Er schwieg. Und Direktor Brausewetter zog einen schwarzen und einen weißen Handschuh über. Nun konnte kommen, was wollte.

Nach einer Weile zündete sich Mister Drinkwater eine seiner schwarzen Zigarren an, blickte den Rauchwölkchen nach, starrte bekümmert auf das geheimnisvolle Kuvert und sagte: »Die Methode ist neu. Sie sind sehr raffiniert.«

»Beides stimmt nicht«, erwiderte der Jokus. »Wir verstehen nichts von Geschäften. Und die Methode ist fast hundertfünfzig Jahre alt.«

»Sie stammt vom alten Goethe«, rief Mäxchen. »Vom größten deutschen Dichter.«

»Kenne ich«, bemerkte Drinkwater. »Und derselbe Goethe hat den Trick mit dem Kuvert erfunden? Damals gab es doch noch gar keine Filmproduzenten!«

Rosa lachte. »Aber Buchverleger gab es schon, und die waren auch nicht von schlechten Eltern.«

»Geschäftsleute sind auf der Welt, um Geschäfte zu machen«, sagte Drinkwater. »Wo sollen wir hinkommen, wenn uns die Dichter und Zauberer versiegelte Kuverts auf den Tisch legen?«

»Geschehen ist geschehen«, bemerkte der Jokus. »Ein Verleger, ich glaube, er hieß Göschen, wollte Goethes nächstes Buch herausbringen und erkundigte sich, was das Manuskript koste. Daraufhin schickte der Dichter einen guten Bekannten zu dem Verleger und ließ ihm das bewusste Kuvert vorlegen. Wenn der Verleger weniger böte, als im Brief verlangt werde, sei das Geschäft .«

». geplatzt«, rief Mäxchen vergnügt.

»Und wie ging die Sache aus?«, fragte Drinkwater.

»Der Verleger dachte ziemlich lange nach.«

»Das kann ich gut verstehen«, meinte der Amerikaner. Er trocknete sich mit dem Taschentuch die Stirn. Ihm war heiß geworden. »Und dann?«

»Dann nannte er einen hohen Betrag. Es war der höchste, den er bieten konnte. Nun öffneten sie das Kuvert und verglichen die beiden Summen. Das Angebot des Verlegers lag höher als Goethes Forderung. Und damit war der Handel abgeschlossen.«

»Ihr großer Goethe war ein großer Halsabschneider«, erklärte Drinkwater grimmig. »Schade, dass Sie nicht nur seine Bücher gelesen haben, sondern auch noch seine Geschäftsbücher.«

»Wir wollen Sie nicht zwingen«, sagte der Jokus ruhig. »Sie können unseren Vorschlag ablehnen.«

»Nein, das kann ich eben nicht. Ich will und ich werde den Film vom kleinen Mann drehen. Deshalb muss ich die Weltrechte kaufen.«

»Nun gut«, sagte der Jokus. »Dann erwarten wir Ihr Angebot. Wenn der Betrag unsere Summe im Kuvert übertrifft, ist alles in Ordnung. Denken Sie in Ruhe darüber nach. Es eilt nicht.«

»Ich brauche keine Bedenkzeit«, knurrte Drinkwater. »Ich weiß, was ich Ihnen äußerstens zahlen kann, ohne mich zu ruinieren.« Er stand auf, ging rasch zu dem Schreibtisch an der Wand, schrieb kurz entschlossen etwas auf einen Zettel, kam zurück, schob Jokus den Zettel hin, sagte: »Da!« und sank in seinen Stuhl.

Der Jokus las die Summe und schwieg. Rosa schaute auf den Zettel und machte »Oh!«. Direktor Brausewetter blickte dem Jokus über die Schulter und murmelte: »Donnerwetter noch mal!« Und Mäxchen, der an den Zettelrand gelaufen war, um die Summe lesen zu können, sprang von der Tischkante zum Jokus hinüber, kletterte wie ein Wiesel an ihm hoch, gab ihm einen Kuss auf die Nasenspitze und landete, nach eleganter Schussfahrt, in der altgewohnten, gemütlichen Brusttasche.

»Wir gratulieren Ihnen«, erklärte Professor Jokus von Pokus feierlich. »Sie haben gewonnen.«

Mister Drinkwater seufzte erleichtert auf.

»Wir werden uns bei den Filmaufnahmen große Mühe geben«, rief Mäxchen. »Und wenn der Film fertig ist, setzen wir uns zur Ruhe.«

Direktor Brausewetter erschrak bis in die Schnurrbartspitzen. »Sie wollen meinen Zirkus im Stich lassen?«

»Der Junge übertreibt«, meinte der Jokus. »Aber zwei Monate Ferien machen wir bestimmt.«

Nun werdet ihr wahrscheinlich wissen wollen, was auf dem Zettel stand. Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen. Der Professor zeigte ihn mir in Lugano, während wir auf der Terrasse Bowle tranken und auf das große Feuerwerk warteten. Also, auf dem Zettel stand:

2000000 Dollar! In DM umgerechnet sind das ... Doch das kriegt ihr auch ohne mich heraus. Jedenfalls, eine so große Menge Geld verdient man nicht alle Tage. Auch nicht als Zauberkünstler und als kleiner Mann. Von Luftspringerinnen ganz zu schweigen.

»Dass mir die Filmrechte gehören, weiß ich nun«, sagte Mister Drinkwater. »Und was ich Ihnen zahlen muss, weiß ich leider auch. Doch was in Ihrem verflixten Kuvert steht, das weiß ich noch nicht. Darf ich nachsehen?«

»Selbstverständlich«, erwiderte der Jokus.

»Au Backe!«, meinte Mäxchen.

Das Marzipanfräulein lächelte geheimnisvoll wie eine blonde Sphinx. Direktor Brausewetter hüpfte hoch und trabte hinter Drinkwaters Stuhl. Diesmal zitterte er nicht vor Schreck, sondern vor lauter Neugierde. Er zitterte oft und gern.

Der Amerikaner riss das Kuvert auf, holte einen Zettel heraus, faltete ihn auseinander und erstarrte.

Direktor Brausewetter, der ihm über die Schulter sah, verdrehte die Augäpfel und flüsterte: »Ich falle um.« Aber dann fiel er doch nicht um, weil er sich rechtzeitig an Mister Drinkwaters Lehnstuhl, nein, an dessen Stuhllehne festhielt. Er ging nur ein bisschen in die Knie.

Der Filmgewaltige aus den USA merkte das gar nicht. Er saß noch immer starr im Stuhl wie eine Wachsfigur in einem Wachsfigurenkabinett.

Und nun werdet ihr wissen wollen, was auf diesem zweiten Zettel stand. Auch ihn habe ich in Lugano mit eignen Augen gesehen. Mister Drinkwater hatte ihn nicht behalten wollen. Eine solche Blamage, hatte er geäußert, müsse man sich nicht auch noch einrahmen und übers Sofa hängen. Na ja, ich kann ihn verstehen. Denn der Zettel, den er aus dem versiegelten Kuvert herausgefingert hatte, sah folgendermaßen aus:

Mit anderen Worten: Der Zettel war leer! Es stand keine Zahl darauf. Es stand keine Unterschrift unter der Zahl, die nicht daraufstand. Nichts. Es war der leerste Zettel, der jemals in ein Kuvert gesteckt wurde.

Und es dauerte etwa fünf Minuten, bis sich die Wachsfigur namens John F. Drinkwater bewegte. Sie klapperte mit den Augendeckeln. Das war das erste Lebenszeichen.

»Er wird wieder«, stellte Mäxchen fest.

Nach weiteren zwei Minuten war der Amerikaner endlich sprechbereit. »Ich bin ein Esel«, sagte er zornig. »Ich hätte mir eine der zwei Millionen sparen können, und dann wären Sie immer noch gut weggekommen. Ein leerer Zettel! Ihr Mister Goethe war ein gescheiter Teufel, wie der Mephisto in seinem >Faust<.«

Der Jokus lächelte. »Ein gescheiter Teufel war unser Mister Goethe nur zur Hälfte. Außerdem: Das Kuvert und der Zettel stammen zwar von ihm, aber der Einfall, auf den Zettel überhaupt nichts zu schreiben, der stammt von mir selber.«

»Meinen Respekt«, sagte Drinkwater verärgert. »Aber wenn ich nun auf meinen eigenen Zettel, beispielsweise, nur zehn- oder zwanzigtausend Dollar geschrieben hätte?«

»Das hätten Sie nie getan«, meinte Rosa Marzipan. »Sie wollten ja unbedingt die Filmrechte haben.«

Drinkwater nickte. »Das ist richtig, Rosie. Trotzdem. Nehmen wir an, ich hätte es riskiert. Ich bin ein ziemlich guter Pokerspieler.«

»Und ich bin ein ziemlich guter Zauberkünstler«, stellte der ’ Jokus fest. »Wir wussten natürlich nicht, wie hoch Sie bieten würden. Denn wir sind Laien. Wenn Sie uns aber nur ein Trinkgeld geboten hätten, dann hätte ein anderes Kuvert auf dem Tisch gelegen.«

»Ein anderes Kuvert? Wo hätten Sie das denn so schnell hergenommen?«

»Ach sind Sie komisch«, rief Mäxchen und zog sich vor Vergnügen an den Haaren. »Es liegt doch längst vor Ihrer Nase!«

Mister Drinkwater blickte auf den Tisch. Tatsächlich. Vor seiner Nase lag ein zweites versiegeltes Kuvert. Er bückte es an, als sei er, trotz seiner Körperlänge (1,90 m), ein Kaninchen und das Kuvert eine Klapperschlange.

»Schauen Sie nach«, schlug der Jokus vor. »Lassen Sie sich nicht stören.«

Mister Drinkwater riss das zweite Kuvert auf, zog den Zettel heraus und wurde weiß wie die Wand. »Da ... das ist doch unmöglich! So viel Geld gibt’s ja gar nicht!«

Der Professor nickte. »Wenn ich gemerkt hätte, dass Sie viel zu wenig böten, hätte ich viel zu viel verlangt. Damit wären unsere Verhandlungen .«

». geplatzt!«, rief Mäxchen fröhlich.

»Und wir hätten auf einen solideren Käufer gewartet«, fügte Rosa Marzipan hinzu.

»Sie sind ein raffiniertes Trio«, sagte Drinkwater. »Und wenn Sie während der Filmaufnahmen nur halb so gut sein sollten wie heute, wird der Film ein Meisterwerk.«

»Er wird eines. Wollen wir wetten?«, fragte Mäxchen.

Drinkwater hob abwehrend die Hände. »Wetten? Mit einem so gerissenen Kerlchen wie dir? Ich werde mich hüten. So reich bin ich nicht.«

»Aber ich bin jetzt reich«, sagte Mäxchen stolz. »Darf ich Sie zu einem Ananastörtchen einladen?«

»Pfui Spinne! Ananastörtchen! Ein doppelter Whisky wäre mir wesentlich lieber.«

»Geht in Ordnung«, meinte Mäxchen. »Nur eines verstehe ich nicht: wieso ein Mann, der so gerne Whisky trinkt, ausgerechnet Drinkwater heißt.«

Eigentlich wollte ich ja im dritten Kapitel noch über das Unternehmen Dornröschen< berichten. Doch die Affäre mit den drei Zetteln und den zwei Kuverts hat mich länger aufgehalten, als ich dachte. Und allzu lange Kapitel mag ich nicht. Deshalb beginnt nun .

Загрузка...