Das Unternehmen Dornröschen /HauptwachtmeisterMühlen-schulte erinnert sich dunkel / Der Kahle Otto hat wieder einmal Durst / Was soll das Klavier in der Luft? / Kommissar Steinbeiß packt die Koffer / Zirkus Stilke gastiert in Glasgow und London.
In der Nacht, die diesem Tag folgte, geschah ein Aufsehen erregender Überfall. Er vollzog sich lautlos. Die Täter entkamen unerkannt. Sie raubten weder Geld noch Pelze oder Juwelen. Sie raubten zwei Gefangene. Sie überfielen kein Schmuckgeschäft und kein Bankgebäude. Sie überfielen das Untersuchungsgefängnis.
Das war natürlich eine bodenlose Frechheit. Doch außerdem war es etwas Neues. Und Presse, Funk und Tagesschau knöpften sich die Neuigkeit gründlich vor. Aber das war später und überhaupt zu spät. Man konnte nur noch lachen oder schimpfen.
Der Polizeipräsident schimpfte. Der Gefängnisdirektor trat von seinem Posten zurück. Und Kriminalkommissar Steinbeiß ließ sich beurlauben. Aber was half’s? Die Polizei fühlte sich bis auf die Knochen blamiert.
Dabei hatte der Gefängnisdirektor den Überfall immerhin als Erster entdeckt. Allerdings, schätzungsweise, sechs bis sieben Stunden danach. Aber das war nicht seine Schuld. Denn Doktor Heublein, so hieß er, wohnte ja nicht im Gefängnis, sondern in einem Vorort der Stadt.
Es wird am besten sein, wenn ich alles der Reihe nach erzähle. Das ist noch immer die richtige Methode. Neu ist sie nicht, nein. Doch wozu auch? Neues muss nicht immer richtig und Richtiges muss nicht immer neu sein.
Also: Herr Doktor Heublein fuhr, wie jeden Morgen, Punkt acht Uhr am Gefängniseingang vor und hupte dreimal, damit man ihm das Tor aufschließe. Aber es öffnete niemand. Er wartete und hupte wieder. Nichts rührte sich. Das war noch nie vorgekommen.
Wütend kletterte er aus dem Wagen, stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte durch das vergitterte Fenster in die Wachstube. Zunächst verschlug es ihm die Sprache. Dann sagte er zu sich selbst: »So etwas gibt’s doch gar nicht.« Er trommelte mit der Hand gegen die Scheibe. »Witschoreck!«, rief er. »Was fällt Ihnen eigentlich ein?«
Wachtmeister Witschoreck saß vorm Schreibtisch und schlief. Neben seinem Stuhl lag die Schäferhündin Diana und schlief. Da half kein Trommeln.
Doktor Heublein rannte zum Tor und schlug mit den Fäusten dagegen. Knarrend bewegte sich der eine eiserne Torflügel. Heublein hörte, wie drinnen der schwere Schlüsselbund klapperte. Um alles in der Welt, sein Gefängnis war nicht abgeschlossen! Er warf sich mit letzter Kraft gegen das massive Tor, bis es so weit aufging, dass er zitternd in den Hof wanken konnte. Dann schob er den Torflügel zu, drehte den Schlüssel im Schloss um und wollte gerade ein bisschen aufatmen. Doch daraus wurde nichts.
Denn er erblickte zwar den Hauptwachtmeister Mühlenschulte, der den Schäferhund Pluto an der Stahlkette hielt, aber sie erblickten ihn nicht. Sie lagen friedlich am Boden und schliefen.
Doktor Heublein ging knieweich über den Hof zum Gefängnisbau hinüber. Ihm sträubten sich die Haare. Auch diese Tür stand offen! Er schlich durch die Korridore. Er stieg von Stockwerk zu Stockwerk. Es war überall dasselbe. Die Gefangenen schliefen. Die Gefängniswärter schliefen. Die Krankenschwester in der Ambulanz schlief. Die Köchin und ihre Lehrmädchen schliefen. Der Heizer und sein Wellensittichpärchen schliefen. Und es schliefen sogar die Fliegen an der Wand.
Doktor Heublein rief in seiner Verzweiflung den Polizeipräsidenten an und berichtete stotternd die unheimliche Neuigkeit. Der Präsident brüllte in den Apparat: »Solche Märchen können Sie Ihrer Frau Großmutter unterm Christbaum erzählen!« Aber er begann nachzudenken. Vielleicht war es gar kein Märchen?
Zehn Minuten später jagte ein Dutzend Streifenwagen durch die Stadt. Die Blaulichter rotierten. Die Martinshörner jaulten. Große Dienstwagen folgten. Im ersten saßen der Polizeipräsident persönlich, Obermedizinalrat Dr. Grieneisen, Kriminalkommissar Steinbeiß und Professor Dickhut, der Direktor des Gerichtschemischen Instituts. Die Passanten blickten verdutzt hinter der wilden Jagd her.
»Warum haben die es denn so eilig?«, fragte eine Frau mit einer schweren Einkaufstasche.
»Vielleicht ist bei jemandem die Milch übergekocht«, meinte ein Schuljunge, der neben ihr stand.
»Du liebe Güte!«, rief sie entsetzt. »Da hab ich also schon wieder vergessen, das Gas abzudrehen!« Und schon machte sie kehrt und rannte um die nächste Ecke.
»Du scheinst ein rechter Lümmel zu sein«, sagte ein streng aussehender Herr.
»Ich will mich nicht loben«, entgegnete der Junge. »Aber man tut, was man kann.«
Der Polizeipräsident saß in der Wachstube und erklärte mit dumpfer Stimme: »Das ist kein Untersuchungsgefängnis, meine Herren. Das ist ein Irrenhaus.« Er betrachtete den schlafenden Wachtmeister Witschoreck und die schlafende Schäferhündin Diana. Auch den schlafenden Hauptwachtmeister Mühlenschulte und den vorjährigen Europameister Pluto musterte er finster. Man hatte die beiden hereingeschleppt. Denn man konnte sie schließlich nicht im Gefängnishof herumliegen lassen.
Obermedizinalrat Grieneisen und Professor Dickhut hatten die zwei Wachtmeister und die zwei Hunde untersucht. Grieneisen sagte: »Kein Fieber. Puls normal. Atmung in schönster Ordnung. Alle vier sind kerngesund.«
»Nur ziemlich müde«, meinte der Polizeipräsident ironisch. »Wann, glauben Sie, wird dieses verrückte Gefängnis endlich aufwachen? Ich muss doch jemanden fragen können, was gestern Nacht passiert ist!«
Doktor Heublein, der Gefängnisdirektor, starrte aus dem vergitterten Fenster und murmelte: »Im Märchen von Dornröschen hat es hundert Jahre gedauert.«
»So viel Zeit haben wir nicht!« Der Polizeipräsident krächzte vor Aufregung. »Dann sind wir längst pensioniert!«
Da ergriff Professor Dickhut das Wort. Von Märchen hielt er nichts. Er war Chemiker. »Amerikanische Kollegen«, sagte er, »haben so genannte humane Kampfstoffe entwickelt, die wir noch nicht kennen. So etwas könnte es gewesen sein. Man schießt Schlafgranaten auf die feindlichen Truppen. Im Nu sinken sie um und schlafen ...«
»Hundert Jahre lang?«
»Ach wo, ein paar Stunden.«
»Und Sie glauben im Ernst, gestern Nacht sei ein Panzer mit amerikanischen Schlafgranaten vorgefahren und habe das Gefängnis bombardiert?«
»Nicht doch, Herr Präsident«, sagte Professor Dickhut lächelnd. »Solche Schlafgifte kann man natürlich dosieren, wenn man sie erst einmal erfunden hat. In Tablettenform, in Sprühdosen, in Kanistern. Man kann damit operieren wie Gärtner, wenn sie Ungeziefer bekämpfen.«
»Ich muss Ihnen glauben«, erklärte der Polizeipräsident. »Sie sind der Fachmann. Es könnte sich so ähnlich abgespielt haben. Ich frage mich nur, warum? Warum und wozu versetzt man ein ganzes Gefängnis in einen modernen Dornröschenschlaf?«
»Ich kenne den Grund«, rief Kriminalkommissar Steinbeiß atemlos. Er war eben aus dem Gefängnisbau zurückgekommen und hatte die Frage gehört. »Man hat zwei Häftlinge gestohlen. Die beiden Halunken, die den kleinen Mann entführt hatten.« Dann stürzte er ans Telefon.
Professor Jokus von Pokus und der kleine Mann saßen, als das Telefon klingelte, in ihrem Hotelzimmer und frühstückten. Der Jokus hob den Hörer ab, meldete sich und rief erfreut: »Guten Morgen, Herr Kommissar. Natürlich ist er hier. Er hat sich wieder einmal mit Erdbeermarmelade voll geschmiert. Na ja, als Millionär darf er das. - Was ist passiert? - Bernhard und der Kahle Otto sind verschwunden? Das ist ja allerhand. - Wie bitte? Nächtlicher Überfall? Alle schlafen? Auch die Schäferhunde? - Aha. Ein chemischer Großangriff. Keine Spuren? - Seien Sie ohne Sorge. Ich lasse den Jungen nicht aus dem Auge. Wie? - Sicher. Es muss eine ganze Bande gewesen sein. Haben Sie schon in Tempelhof angerufen? Der Flugplatz ist das Wichtigste. Erkundigen Sie sich nach Chartermaschinen! - Richtig. - Rufen Sie uns wieder an? Schön. Und herzlichen Dank.«
Als ihm der Jokus alles berichtet hatte, meinte Mäxchen: »Da steckt Senor Lopez dahinter oder ich fresse einen Besen.«
»Hoffentlich gibt’s so kleine Besen«, sagte der Jokus. »Und nun putze dir die Marmelade aus dem Gesicht.«
Mäxchen putzte. Dann fragte er: »Glaubst du, dass man mich diesmal wieder klauen wollte?«
Der Jokus schüttelte den Kopf. »Nein. Die Bande ist sicher längst über alle Berge. Es war ein Rückzugsgefecht.«
»Und warum hat dieser Lopez den Bernhard und den Kahlen Otto aus dem Gefängnis herausholen lassen? Das war doch sehr gefährlich und sehr teuer. Oder?«
»Geld spielt für den Mann überhaupt keine Rolle«, sagte der Jokus und trank den letzten Schluck Kaffee. »Und was war für ihn gefährlicher? Dass er die zwei Halunken rauben ließ oder dass es
zu einem Prozess gekommen wäre? Wer weiß, was sie alles verraten hätten, nur um nicht allzu lange eingesperrt zu werden.«
»Verstehe«, meinte Mäxchen. »So wird es sein. Und ich bin froh, dass ich den Besen nicht zu fressen brauche.«
Der erste Tiefschläfer, der aufwachte, war der Europasieger Pluto. Er riss das Maul auf, aber nur um zu gähnen. Schäferhunde mögen zwar klug sein, doch vom Reden halten sie nicht viel.
Der nächste Schläfer, der sich zu Wort meldete, war Hauptwachtmeister Mühlenschulte. Er schlug plötzlich die Augen auf, sah sich um und sagte: »Nanu.« Viel war das nicht. Aber der Polizeipräsident ließ ihm einen Liter schwarzen Kaffee einflößen. Das half.
Er begann sich zu erinnern. »Witschoreck und ich spielten eine Partie Dame, als die Klingel an der Einfahrt läutete. Ich ging also mit Pluto und dem Schlüsselbund hinaus, öffnete das Schiebefenster und sah einen Mann in einem schwarzen, hochgeschlossenen Jackett. Er sei der Stellvertreter des Gefängnisgeistlichen, behauptete er, und man habe ihn gerufen, weil ihm der Häftling von Zelle 34 einen Raubüberfall gestehen wolle.«
»So ein Blödsinn!«, rief Doktor Heublein aufgebracht.
»Sie nehmen mir das Wort aus dem Munde, Herr Direktor. >So ein Blödsinn<, sagte ich zu ihm. Da schob er einen Metallschlauch durch die offene Fensterklappe. Ich dachte noch: >Er wird mir doch nicht einen Staubsauger vorführen wollen . Mitten in der Nacht ... Am Gefängnistor .< Und .«
»Und?«, fragte Obermedizinalrat Dr. Grieneisen.
»Weiter weiß ich nichts«, meinte Mühlenschulte. »Totale Mattscheibe. Tut mir Leid.« Er stutzte. »Witschoreck! Warum schläfst du denn? Gustav! Wach doch auf!«
Aber Wachtmeister Witschoreck war noch nicht so weit.
Etwa um die gleiche Zeit schlug der Kahle Otto die Augen auf und staunte nicht schlecht. Er saß in einem Flugzeug. Die Morgensonne schien. Der Himmel schimmerte stahlblau. Man flog über weißen Wolken hin wie über hunderttausend feinsten Federbetten. »Komisch«, brummte er. »Sieht nicht mehr nach Gefängnis aus.« Da sagte jemand neben ihm: »Guten Morgen wünsch ich. Ausgeschlafen?«
Otto betrachtete seinen Nachbarn misstrauisch. Doch dann grinste er bis hinter die Ohren. »Boileau, oller Kumpel, wie kommst denn du hierher?«
»Frag mich lieber, wie du hierher gekommen bist«, meinte Monsieur Boileau.
»Eins nach ’m andern. Erst ’n Schnaps, wenn’s geht. Oder is das ’n alkoholfreies Flugzeug?« Nach dem dritten Glas fühlte er sich frischer. »Is Bernhard auch hier?«
»Ja, aber er schläft noch.«
»Schade«, erklärte der Kahle Otto. »Ich meine, es is schade, dass ihr ’n nich im Gefängnis gelassen habt. Mensch, kann der eklig sein! Er hat mich wie sein’ Schuhputzer schickeniert. Das liegt mir nich. Lass mich aus der Ecke raus, ich wisch ihm eine!«
»Rege dich nicht auf«, warnte Boileau. »Denke an deinen hohen Blutdruck!«
»Denken liegt mir nich«, sagte Otto.
Boileau nickte. »Ein Glück, dass du es endlich einsiehst. Deine Dämlichkeit kostet den Chef viel Geld. Du lässt dich von einem Fünfzentimeterknirps auf den Arm nehmen. Ihr werdet eingebuchtet. Kollege Ballhaus funkt dem Lopez. Der Lopez funkt mir. Ich miete ein Flugzeug und ein paar Dutzend Spezialisten. Wir spielen >Berlin ist eine Reise wert<, schläfern ein Gefängnis ein, riskieren Kopf und Kragen - und wozu das alles? Nur um zwei solchen Nachtwächtern wie euch aus der Patsche zu helfen!«
»Mach die Klappe zu, sonst zieht’s«, rief da jemand ärgerlich. Es war Bernhard. Er war aufgewacht und hatte Boileaus Vorwürfe gehört. »Und erzähle bloß nich, dass euch Lopez losgeschickt hat, weil er uns so liebt. Er hatte einfach Angst, Otto könnte auspacken. Für eine Flasche Schnaps verkauft der seine zwei Großmütter.«
»Tu mir ’n Gefallen und schlaf noch ’n bisschen«, knurrte der Kahle Otto. »Warum habt ihr bloß den Kerl nich in der Zelle gelassen? Ich kann den Ton nich leiden. Schon gar nich auf nüchternen Magen.«
»Hast du Hunger?«, fragte Boileau.
»Klar, Mensch.«
»Belegte Brote?«
»Neee, ’n paar Schnäpse«, erklärte Otto. »Was das Essen betrifft, bin ich noch ’n Flaschenkind.«
Mittlerweile war die Kriminalpolizei nicht faul gewesen. Kommissar Steinbeiß hatte auf dem Flugplatz Tempelhof den Hangar ausfindig gemacht, von dem aus das Charterflugzeug in der Nacht abgeflogen war. Aber es war in Paris nicht eingetroffen, sondern sonst wo und über alle Berge.
Doch auch die Reporter waren nicht faul gewesen. Und was sie wussten und nicht wussten, stand bereits in den Zeitungen, die man nachmittags auf der Straße kaufen konnte. Die Berichte prangten auf der ersten Seite. Das >Unternehmen Dornröschen< hieß es in Riesenbuchstaben.
Als Kriminalkommissar Steinbeiß die Zeitungen las, wurde er grün vor Ärger. Andere Leute kriegen vor Ärger die Gelbsucht. Er bekam die Grünsucht, eine völlig neue Krankheit. Doch das war noch gar nichts. Es kam noch dicker.
Zwei Stunden später rief seine Frau im Büro an. Sie war völlig außer Fassung und schrie und weinte und tobte, dass er den Hörer vom Ohr weit weghalten musste. Sonst wäre ihm das Trommelfell geplatzt. »Bist du verrückt geworden?«, rief sie im höchsten Diskant. »Wozu brauchen wir denn ein Klavier?«
»Ein Klavier?« Er hielt sich am Schreibtisch fest.
»Jawohl! Sie kriegten es nicht die Treppe herauf, und jetzt holen sie einen Flaschenzug, um es an der Hauswand hochzuziehen und durchs Fenster zu bugsieren.«
»Aber Mausi«, sagte Steinbeiß, »ich habe doch kein Klavier bestellt.«
»Du hast es sogar bezahlt«, rief sie. »Sie haben mir die Rechnung gezeigt! Und wenn du schon ein Klavier kaufst, warum schickst du dann andere Leute, die unsere Wohnung mieten wollen, weil wir auszögen?«
Steinbeiß hielt die Luft an.
»Und ein Krankenwagen war auch hier«, kreischte sie, »er wollte deinen Neffen abholen, der sich bei uns im Badezimmer ein Bein gebrochen hätte!«
»Behalte, bitte, die Nerven«, sagte er ruhig. »Ich komme gleich. Und gehe nicht vor die Tür.«
»Das kann ich sowieso nicht! Es stehen ja zehn große Kisten mit Weinessig davor! Wozu bestellst du zehn große Kisten Weinessig?«
Kriminalkommissar Steinbeiß knallte den Hörer auf die Gabel und hieb sich den Hut auf den Schädel.
Als er in die Konstanzer Straße einbog, sah er schon von weitem die Menschenmenge, die sich vor seinem Haus angesammelt hatte. Hoch in der Luft baumelte ein Klavier. Und Frau Steinbeiß, Hildegard mit Vornamen, eine mollige und sonst sehr geduldige Person, beugte sich weit aus dem offenen Fenster im dritten Stock und verweigerte, mit den Händen rudernd, die Annahme.
Und auf der Straße standen nicht nur neugierige Passanten und Müßiggänger, o nein. Pressefotografen, Kameraleute, Reporter mit Notizblöcken waren darunter. Es wurde geknipst und gekurbelt, notiert und gelacht, dass man sein eigenes Wort nicht verstand.
Steinbeiß sprang aus dem Wagen.
»Endlich kreuzt die Hauptperson auf!«, rief ein Reporter.
»Wie kommen Sie hierher?«, fragte er voller Zorn.
»Na so was«, sagte der Zeitungsmann, und er war ehrlich gekränkt. »Sie haben uns ja alle feierlich einladen lassen! Wer sonst hätte uns denn anrufen und vor Ihr Haus bestellen sollen?«
»Wenn Sie’s nicht selber waren«, meinte ein Pressefotograf, »dann kann es nur jemand gewesen sein, der Sie nicht sehr mag. Ein Klavier in der Luft, Ihre Frau am Fenster, in allen Zeitungen und in der Tagesschau, mit einem flotten Kommentar .«
Kriminalkommissar Steinbeiß stürzte die Treppe hoch, kletterte über die Essigkisten und schlug mit den Fäusten gegen die Tür, bis Mausi öffnete. Dann rannte er zum Telefon, rief die Funkstreife an, dass sie ihm helfe, und ließ sich anschließend mit dem Polizeipräsidenten verbinden. »Herr Präsident«, sagte er, »ich stelle meinen Posten zur Verfügung.«
»Ich weiß schon, worum sich’s handelt«, antwortete der Polizeipräsident. »Machen Sie sich nichts daraus, lieber Steinbeiß. Diesem Senor Lopez ist keiner gewachsen. Ich denke nicht im Traum daran, einen so tüchtigen Mann wie Sie für immer einzubüßen. Aber ich beurlaube Sie für ein halbes Jahr. Dann sehen wir weiter. Einverstanden?«
»Einverstanden«, sagte Steinbeiß. »Und wenn ich den Atlantischen Ozean zu Fuß durchwaten müsste, diesen Senor Lopez kauf ich mir.«
Am Abend saß er mit Mister Drinkwater im Hotel Hilton in der Bar. Der Amerikaner ließ sich alles, was mit dem >Unternehmen Dornröschen< den dürftigen Auskünften der Interpol und dem geschenkten Klavier zusammenhing, noch einmal haarklein erzählen. »Und wie soll ich Ihnen helfen?«, fragte er.
»Ich muss diesen Lopez finden«, erklärte Steinbeiß. »Er hat mich für dumm verkauft. Das lasse ich mir nicht bieten. Heute lacht die Welt über mich. Ich will, dass sie möglichst bald über ihn lacht.«
»Das verstehe ich«, sagte Drinkwater. »Sie wollen also nach Südamerika fliegen.«
»Jawohl.«
»Und sich dort mit der Polizei verbünden.«
»Nein. Wer so reich wie Lopez ist, hat auch bei der Polizei Freunde. Man würde ihn warnen, und ich wäre wieder der Lackierte.«
»Wer soll Ihnen denn sonst helfen?«
»Sie.«
»Ich?«
»Hören Sie zu«, bat der Kommissar. »Sie schicken eine Filmexpedition in die Gegend, wo wir den Senor Lopez vermuten. Dass ein paar Detektive aus New York und Kriminalkommissar Steinbeiß aus Berlin dabei sind, fällt nicht auf. Wir betätigen uns als Mitglieder der Expedition. Als Lastwagenfahrer, als Essenholer, als Zeltbauer, mein Freund MacKintosh aus New York als Dolmetscher. Er kennt Südamerika wie seine Westentasche und ist einer der gescheitesten Detektive unter der Sonne. Die Expedition dreht angeblich einen Kulturfilm über Land und Leute, Sitten und Gebräuche, Schulwesen, seltene Pflanzen und exotische Schmetterlinge ...«
»Ein grässliches Zeug«, sagte Drinkwater und schüttelte sich. »Aber ich verstehe, was Sie im Sinn haben.«
»Wir kurbeln ein paar Kakteen und Papageien und horchen dabei die Leute aus. Dass dieser Lopez keine Feinde hat, ist vollkommen ausgeschlossen. Wir werden seine seltsame Burg finden .«
»So eine Expedition ist ein teurer Spaß. Sie kann schief gehen.
Aber wenn wir auch nur hundert Meter Zelluloid in den Kasten kriegen, die wir gebrauchen können, finanziere ich die Sache.«
»Ich kann nichts versprechen«, sagte der Kriminalkommissar. »Ich habe etwas Geld auf der Bank und eine Lebensversicherung, die man beleihen kann.«
»Entweder mache ich so etwas überhaupt nicht«, antwortete Drinkwater trocken, »oder ich übernehme das gesamte Risiko, und das werde ich tun. Wann fliegen Sie?«
»Übermorgen.«
»Gut. Sie kabeln Ihrem Freund MacKintosh. Und ich informiere mein Büro in New York. Die Filmexpedition wird zusammengestellt werden. Alles Nähere erzähle ich Ihnen morgen. Wie geht’s Ihrer Frau?«
»Sie zieht zu ihrer Schwester«, sagte der Kommissar. »Denn zu Hause traut sie sich nicht mehr vor die Tür. Man lacht uns aus. Wir sind Witzblattfiguren geworden. Heute früh stand, mit Kreide hingeschmiert, an der Hauswand: >Klavierunterricht erteilen ab heute vierhändig Kriminalkommissar a. D. Steinbeiß und Gemahlin / Anmeldungen im 3. Stock.< Wir haben die Klingel abgestellt und das Telefon auf Kundendienst schalten lassen. Es war nicht mehr zum Aushalten.«
»Dieser Lopez ist ein Erzgauner«, sagte Mister Drinkwater. »Aber wer sind seine hiesigen Hintermänner? Wer hat das Klavier bezahlt? Wer hat den Krankenwagen bestellt? Und wer die zehn Kisten mit dem blöden Essig?«
»Die Polizei weiß es nicht. Lauter falsche Namen und Adressen. Nur die Geldscheine waren echt.«
»Wer hat das Charterflugzeug gemietet? Wer war der Reiseleiter? Wer war der Pilot? Wie wurde das >Unternehmen Dornrö-schen< im Einzelnen durchgeführt? Wo ist das Flugzeug von Tempelhof aus mit diesem Kahlen Otto und dem Bernhard hingeflogen?«
»Die Polizei weiß es nicht. In Paris wissen sie so wenig wie wir. Unser Laboratorium hat die Zusammensetzung des Sprüh-stoffs analysiert, mit dem das Gefängnis eingeschläfert wurde. Doch das hilft uns keinen Schritt weiter. Was nützt uns eine chemische Formel?«
Mister Drinkwater erhob sich energisch. »Auf in den Kampf!«, sagte er. »Packen Sie Ihre Koffer!«
Am übernächsten Tag flog Kommissar Steinbeiß nach New York, und wir werden längere Zeit nichts von ihm hören.
Mister Drinkwater saß häufig im Zirkus Stilke und machte sich Notizen. Noch öfter kam er zu Mäxchen, dem Jokus und Rosa Marzipan ins Hotel. Manchmal war auch der Schüler Jakob Hurtig dabei. Und meist sprachen sie von dem Film, den sie im Oktober und November in München drehen wollten. Jakob wusste schon, dass er ein paar Wochen schulfrei bekäme, um mitspielen zu können. »Ich freue mir noch ein mittelgroßes Loch in den Kopf«, sagte er. »Das wird der Film des Jahrhunderts. Warum ist denn noch nicht Oktober?«
»Weil du noch vor einigen Tagen Kirschkerne auf die Straße gespuckt hast«, sagte Mäxchen. »Bring bloß nicht den Kalender durcheinander!«
Diese Bitte war nur zu berechtigt. München war noch nicht an der Reihe. Im August gastierte der >Zirkus Stilke< in der Kelvin Hall in Glasgow, droben in Schottland. Im September trat man in London auf. In der Olympia Hall. Der Erfolg war, wie sogar die >Ti-mes< schrieb, ohne Beispiel. >Maxie ist das Wunder Nummer eins< hieß es.
Und erst am vorletzten Septembertag war es dann so weit. Wieder wurden die Menschen und die Tiere verladen. Wieder ratterte ein Güterzug mit den Käfigen und Wohnwagen durch die Nacht. Wieder überquerte man, diesmal zwischen Harwich und Hoek, auf einem Frachtboot den Kanal. Wieder wurden eine Giraffe, der Kunstreiter Galoppinski und der Löwe Ali seekrank. Wieder ratterte der Zug durch Holland. Diesmal hieß das Ziel: München. Und damit beginnt ...