Das sechste Kapitel

»Achtung, beim Besuch der Kirche und des Rathauses bücken!« / Seit wann ist die Riesenwelle erblich? /Mäxchens nachgemachte Eltern /Kommissar Steinbeiß kommt aus Südamerika zurück/ Senor Lopez wird fotografiert und flieht.


Neben der Landstraße stand ein Schild. Sie hielten und lasen: »Achtung! Kein Durchgangsverkehr! Parkplatz vorm Ortseingang! Übernachtungsgelegenheit nur für Kinder bis 50 cm! Beim Besuch der Kirche und des Rathauses bücken! Wir bitten um Verständnis! Willkommen in Pichelstein! Alois Pichelsteiner, Bürgermeister.«

Rosa Marzipan lachte. »Da werden wir am besten auf allen vieren kriechen. Hoffentlich sind die Dorfstraßen breit genug.«

»Für uns Männer schon«, meinte der Jokus.

»Sei nicht so frech«, sagte Rosa, »sonst löse ich unsere Verlobung auf.«

Doch dann schwiegen sie und blickten gespannt nach rechts. Denn durch die herbstlichen Stoppelfelder rumpelte ein winziger Leiterwagen, den ein Pony zog. Der Wagen war nicht größer als ein Handkarren, und der Bauer sah aus wie ein Junge im ersten Schuljahr. Aber er war ein grauhaariger Mann. Er winkte dem Auto, als er aus dem Feldweg in die Landstraße einbog.

»Es sieht aus wie eine Kinderkutsche im Zoo«, meinte Mister Drinkwater.

»So groß wie der alte Bauer war dein Vater«, sagte der Jokus zu Mäxchen, der hinter dem kleinen Wagen dreinblickte.

Der Junge saß auf der Schulter des Professors, blickte auf die vielen kleinen Rechtecke der Wiesen und der umgepflügten Felder rechts und links und schwieg.

»Ob die Kartoffeln hier so groß sind wie bei uns?«, fragte der Chauffeur. »Dann haben sie’s verdammt schwer mit der Ernte.«

Mäxchen sagte: »Nun werden also zwei aus dem Dorf beim Filmen tun, als wären sie meine Eltern.«

Der Empfang fand am Parkplatz statt, nachdem die Gäste aus dem Auto gestiegen waren. Die Feuerwehrkapelle, lauter kleine Männer mit kleinen Instrumenten, spielte den Pichelsteiner Marsch. Der Jubel der Einwohner, so klein sie waren, war riesengroß. Alois Pichelsteiner, der Bürgermeister, hielt eine gewaltige Rede. Ferdinand Pichelsteiner, der Vorsitzende des Turnvereins, begrüßte Mäxchen als Ehrenmitglied. Mister Drinkwater überreichte dem Bürgermeister, als Dank für die Mitwirkung der Gemeinde am Film, einen Scheck auf die Deutsche Bank. Und Ferdinand Pichelsteiner kündigte Mäxchen ein Geschenk an, das ihn immer an den Turnverein Pichelstein 1872 erinnern möge.

»Wir sind eine Turngemeinde seit fast hundert Jahren«, rief er.

»Deine lieben Eltern waren bei uns Vorturner. Sie trugen unseren Ruf in die Welt hinaus. Du, verehrtes Ehrenmitglied, hast ihre Talente geerbt und gemehrt. Was könnten wir dir Besseres und Schöneres schenken als - ein Turngerät? Der Schlossermeister Fidelis Pichelsteiner und meine Wenigkeit haben dir aus feinstem Stahl ein Hochreck gebaut, deiner Größe angemessen, mit vierfach verstellbarer Reckstange. Dazu gehört ein weicher Filzteppich, zehn Zentimeter im Quadrat, damit du dir, wenn du die Schwungkippe und die Riesenwelle und den Absprung in der Grätsche übst, nicht die Knöchelchen brichst. Deine Eltern waren Turner, ehe sie Artisten wurden. Du bist ein Artist, nun werde ein Turner, wie es sich für einen Pichelsteiner von echtem Schrot und Korn ziemt!«

Die Feuerwehrkapelle spielte einen Tusch. Die Pichelsteiner brüllten »Bravo«. Und schon kam ein Eselgespann um die Ecke getrabt. In dem Wagen stand ein kleiner Tisch und auf dem Tisch hatte man das winzige Hochreck montiert. Alles staunte. Alle klatschten.

Mäxchen beugte sich weit aus der Brusttasche des Professors und rief: »Liebe Namensvettern, liebe Freunde meiner Eltern! Wir danken euch für den festlichen Empfang, und ich danke euch für das wundervolle Geschenk. Ich werde euer Hochreck stets hoch in Ehren halten. Doch zunächst einmal muss ich probieren, ob die Maße stimmen. Artisten sind gründlich.« Und ehe man sich’s versah, hing der kleine Mann längelang an der Reckstange.

Der Esel stellte die Löffel hoch. Ihm war ungemütlich zumute, weil er nicht sehen konnte, was hinter ihm vorging. Aber er hielt still wie ein Denkmal, das die Ohren spitzt.

Mäxchen hing also eine Weile regungslos am Reck. Dann hob er langsam die Beine bis zur Waagrechten, brachte die Füße aus der Vorhebhalte, bei durchgedrückten Knien, bis an die Reckstange, schob die Beine senkrecht höher, schwang nach vorn weit aus, schwang zurück, machte die Schwungstemme und eine Bauchwelle vorwärts und pausierte kurz, auf die Stange gestützt, um mit den Fingern nachzugreifen. »Das ist lustig«, sagte er zum Jokus, der erschrocken neben dem Karren niedergekniet war.

»Du bist ja total übergeschnappt«, meinte der Jokus. »Mach, dass du herunterkommst!«

»Nur noch ein paar Sekunden. Es gefällt mir so. Streck, bitte, die Hand aus.« Und ehe ihn der Jokus vom Reck pflücken konnte, schwang Mäxchen erneut durch die Luft. Hoch, höher, am höchsten. Die Arme und Beine gestreckt. Und plötzlich wurde eine Riesenwelle daraus, dann die zweite und dritte. Wie ein Sekundenzeiger rotierte er ums Reck. Dann hielt er im Handstand auf der vibrierenden Stange inne, rief »Juhu!« und sprang, mit gegrätschten Beinen, übers Reck und mitten in die ausgestreckte Hand, die ihm der Jokus entgegenhielt. Er brachte sogar die abschließende Kniebeuge fehlerlos zustande.

»Der Junge zehrt an meinen Nerven«, erklärte Rosa Marzipan aufgeregt. Doch das hörte niemand, weil sämtliche Pichelsteiner klatschten. Ferdinand Pichelsteiner drängte sich nach vorn und fragte: »Wo hat er das gelernt?«

»Nirgendwo«, antwortete der Jokus, der den kleinen Mann in die Brusttasche stopfte.

»Seine Eltern konnten’s natürlich«, sagte Ferdinand Pichelsteiner. »Aber seit wann ist die Riesenwelle erblich?«

Mäxchen kicherte. »Ich habe beim Fernsehen zugeschaut. Bei den Weltmeisterschaften. Die russischen und die japanischen Geräteturner sind fabelhaft.«

»Die Grätsche am Hochreck lernt man nicht durchs Fernsehen«, stellte Turnvater Ferdinand fest.

»Ich schon«, behauptete Mäxchen. »Ich bin Artist.«

»Das weiß ich«, sagte Ferdinand Pichelsteiner. »Das weiß ich ja, mein Junge. Du bist sogar ein weltberühmter Artist. Aber das Turnen musst du gelernt haben. Eine andere Erklärung gibt’s nicht. Du hast die Riesenwelle gewissermaßen im Blut.«

Es wurde ein interessanter Tag. Und es war ein anstrengender Tag. Die Straßen waren zu schmal. Die Häuser waren zu niedrig. Mister Drinkwater musste sich manchmal an den Dachrinnen festhalten und konnte in die Stockwerke hineinschauen. Die Kameraleute hatten mit ihren Apparaten in der Turnhalle keinen Platz. Sie mussten das Schauturnen der Männer- und der Frauenriege von draußen drehen. Durch das Fenster am Niedermarkt. Dort, auf dem Niedermarkt, wurde den Gästen auch das Mittagessen serviert. Es gab Pichelsteiner Fleisch. Das ist ja klar. Alles andere war weniger klar. Die Stühle waren für die Gäste zu niedrig und zerbrechlich, die Teller und die Löffel waren zu klein. Man musste sich statt auf Stühle notgedrungen auf Tische setzen und die Mahlzeit mit Suppenkellen aus Töpfen löffeln. So ging es einigermaßen.

Am Nachmittag wurde weitergefilmt. Und weil die Sonne schien, entschloss sich Mister Drinkwater, ein paar wichtige Straßenszenen zu drehen. Nachdem er mit dem Kameramann alles Nötige besprochen hatte, nahm er Rosa Marzipan beiseite und sagte leise: »Machen Sie mit dem Jokus und dem Jungen einen längeren Spaziergang.«

»Warum denn?«, fragte Rosa. »Wir wollen doch bei den Aufnahmen zusehen.«

»Wandern Sie lieber«, bat Drinkwater. »Denn ich drehe nachher, wie sich Mäxchens Eltern auf der Straße von den Nachbarn verabschieden und das Dorf verlassen, um in der Welt ihr Glück zu versuchen.«

»Ich verstehe.«

»Das junge Mädchen und der junge Mann, die wir für die zwei Rollen ausgewählt haben, sehen Mäxchens Eltern sehr ähnlich. Und der Maskenbildner hat das Pärchen nach alten Fotografien so echt hergerichtet, dass Mäxchen erschrecken könnte. Der Junge war ja, als er die Eltern verlor, immerhin sechs Jahre alt, und die Fotografien kennt er auch ...«

»Hänschenklein«, sagte Rosa Marzipan, »Sie sind noch viel netter, als ich bis vor einer Minute dachte.«

»Ich hätte es lieber dem Jokus selber erzählt. Nur, Mäxchen hockt bei ihm in der Brusttasche und .«

»Keine Sorge. Ich werde mit meinem Bräutigam wandern, bis er auf Pichelsteins Feldern zusammenbricht.«

Doch das war leichter gesagt als getan. Eine Zeit lang ließen sich der Professor und Mäxchen das Wandern gefallen. Dann wurden sie aufsässig. Sie begannen zu murren.

Und so bedeutungsvoll das Marzipanmädchen dem Jokus zuzwinkerte - er verstand heute Rosas Augensprache nicht. Sie erreichte nur, dass der Junge misstrauisch wurde. »Warum klappert dein Fräulein Braut in einem fort mit den Augendeckeln?«, fragte er neugierig.

»Keine Ahnung«, meinte der Jokus. »Frauen sind bekanntlich rätselhafte Wesen. Sogar für Zauberkünstler.«

»Ich will beim Filmen zuschauen«, maulte Mäxchen. »Wie Stoppelfelder aussehen, weiß ich schon.«

Und so kehrten sie um. Rosa Marzipan blieb nichts übrig, als mitzutrotten. >Hoffentlich hat Drinkwater die Szene mit den falschen Eltern schon abgedreht<, dachte sie. Aber ihre Hoffnung war vergeblich.

Sie liefen mitten in die Aufnahmen hinein. Die Kamera war auf einem Elektrokarren montiert worden. Er fuhr langsam vor dem mit Koffern und Bündeln beladenen Paar her, das die schmale Straße entlangkam.

Die junge Frau war bildhübsch. Der junge Mann hatte einen prächtigen schwarzen Schnurrbart. Sie waren nicht größer als zwei fünfjährige Kinder und hatten an ihrem Gepäck schwer zu schleppen.

In den Haustüren und offenen Fenstern lehnten andere kleine Pichelsteiner, winkten und riefen: »Viel Glück!« und »Macht’s gut!« und »Schreibt mal eine Ansichtskarte!« und »Vergesst uns nicht ganz!«

Das Pärchen hätte gerne zurückgewinkt. Aber sie waren zu beladen. Sie konnten nur lächeln und den anderen zunicken, und auch das schien ihnen Mühe zu machen. Denn die Zukunft, der sie entgegenmarschierten, lag im Lande Ungewiss. Da lächelt sich’s nicht so leicht.

Der Jokus stand starr. Nun begriff er, warum Rosa mit ihm und dem Jungen in die Felder gezogen war. Er begriff auch, warum sie nur gezwinkert hatte.

»Frauen sind bekanntlich rätselhafte Wesen«, flüsterte sie und sah ihn vorwurfsvoll an.

Und Mäxchen? Mäxchen blickte wie gebannt auf die falschen Eltern. Dann schluckte er schwer und sagte: »Lieber Jokus, bring mich fort! So schnell du kannst!«

Alles hat einmal ein Ende. Das gilt auch für Filmaufnahmen. Mitte November war es so weit. Die Kameraleute hatten, wie sie dann zu sagen pflegen, alle Einstellungen im Kasten. Sie hatten die Geschichte vom kleinen Mann abgedreht, marschierten im Regen aus dem Studio übers Gelände in die gemütlich warme Kantine und zwitscherten ein großes Helles. Doch sie tranken nicht nur ein oder zwei oder vier oder sieben Glas Bier, sondern auch schärfere Sachen. In kleineren Gläsern. Und kleine Gläser sind rascher leer als große. Das leuchtet ein.

Zwischendurch gab es Schweinsbraten mit Knödeln und Krautsalat. Man ließ sich nicht lange nötigen. Hunger macht durstig, und Durst macht hungrig. Drinkwater, der Boss, hatte sie eingeladen. Er hielt sie frei, dankte ihnen, lobte sie und ging ins Nebenzimmer, wo andere Mitarbeiter auf ihn warteten. Ein Film besteht ja nicht nur aus belichtetem Zelluloid.

Im Nebenzimmer saßen - außer dem Jokus, Rosa Marzipan und Mäxchen - der Tonmeister Sohnemann, der Schnittmeister Wegehenkel und Mademoiselle Odette. Sie war Scriptgirl, stammte aus Genf und beherrschte fünf Sprachen, als sei jede der fünf ihre Muttersprache. Es war zum Staunen.

Mister Drinkwater steckte sich eine seiner schwarzen Zigarren ins Gesicht und sagte: »Wenn die Ohren der Menschen so gescheit wären wie die Augen, könnten wir uns jetzt zu den Kameraleuten setzen und mitfeiern. Aber die Ohren sind dümmer als die Augen.«

»Tatsächlich?«, fragte Mäxchen.

Der Jokus nickte. »Sehr viel dümmer. Das Auge versteht alles, was es sieht. Das Ohr versteht nur Englisch oder Japanisch oder Portugiesisch.«

»Das stimmt nicht«, meinte Mäxchen. »Mademoiselle Odette versteht fünf Sprachen.«

Fräulein Odette lachte. »Es gibt mehr als fünf. Verlass dich drauf. Es gibt Hunderte.«

»Mir genügen fünf«, sagte Mister Drinkwater. »Auch das sind noch vier Sprachen zu viel. Doch ich kann’s nicht ändern. Ich bin kein Ohrenarzt, sondern Kaufmann. Ich will nicht die Welt verbessern. Ich will Filme machen, die man überall versteht, damit ich sie überallhin verkaufen kann.« Dann legte er den Zeitplan fürs Synchronstudio, das er gemietet hatte, auf den Tisch und eröffnete ein Fachgespräch, in dem von Versionen und >takes< und Terminen für die Musikaufnahmen und fürs >Über-spielen< und davon die Rede war, wie viele Kopien gezogen werden müssten.

Die Unterhaltung dauerte drei Stunden und ihr hättet kaum den zehnten Teil verstanden. Ein wahres Glück, dass ihr nicht dabei wart. Die Wirtin blieb an der Tür stehen, nachdem sie das Licht angeknipst hatte. Doch dann zuckte sie die Achseln, ging in die Küche zurück und sagte zur Köchin: »Eher verstehe ich Chinesisch.«

»Na und?«, fragte die Köchin ungerührt. »Die einen machen Filme, die andren machen Knödel. Hauptsache, dass jeder seinen Kram versteht. Mehr wäre zu viel.«

Um sieben Uhr am Abend redete Mister Drinkwater immer noch. Er wurde wieder einmal nicht müde. »Am 30. November fliege ich nach Genua, begebe mich an Bord meiner Jacht >Sleepwell< und bin einen Monat lang für niemanden zu sprechen. Dass mir mit den Kopien der Fernsehserie alles klappt!«, sagte er. »Der erste Teil läuft am ersten Weihnachtsfeiertag über dreißig Stationen. Wer einen Fehler hineinbringt, kriegt es mit mir zu tun.«

»Aber nicht, bevor Sie ausgeschlafen haben«, bemerkte Herr Wegehenkel. Und Herr Sohnemann ergänzte: »Also nicht vorm 1. Januar. Da können wir ja vorher noch in aller Ruhe Silvester feiern.«

Drinkwater sagte düster: »Es wäre Ihr letztes.« Und weil Mäxchen lachte und auch Rosa Marzipan herausplatzte, fuhr er noch düsterer fort: »Ich fürchte, ich werde in diesem Kreise nicht ernst genommen.« Jetzt lachten alle miteinander. Denn sie hatten den langen Amerikaner sehr gern, und sie wussten, dass er es wusste.

In diesem Augenblick ging die Tür auf. Ein Taxichauffeur stellte zwei Koffer in die Stube, brummte »Grüß Gott!« und verschwand. Dann geschah eine Weile gar nichts.

Schließlich hörte man kräftige Schritte. Im Türrahmen erschien ein braun gebrannter Mann. Und Mäxchen rief: »Das ist ja Kriminalkommissar Steinbeiß!«

Nach viel Hallo und etwas Whisky sahen sie sich im Vorführraum den Farbfilm an, den der Kriminalkommissar aus Südamerika mitgebracht hatte. Der Film war kurz. Und er war stumm. Deshalb übernahm Herr Steinbeiß, als das Deckenlicht erlosch und die Leinwand hell wurde, den Kommentar. Er erklärte, was es zu sehen gab.

»Auf diesem abgelegenen Hochplateau vor Ihren Augen«, so begann er, »herrscht subtropisches Klima. Es ist ein fruchtbares Land. Künstliche Bewässerung tut ein Übriges. Man pflanzt und erntet Zuckerrohr, Baumwolle, Wein, Bananen und Feigen, aber auch Kartoffeln, Weizen, Mais und Gerste. Die Bauern sind Nachkommen der Araucos, eines Indianerstamms, der in früheren Zeiten den Inkas und bis ins 18. Jahrhundert den Spaniern das Leben schwer gemacht hat. Heute treiben sie Landwirtschaft und Viehzucht, benutzen Lamas als Lastesel, lieben Pferde und leben in Ranchos aus Lehm oder Wellblech. Das Dorf zur Linken heißt San Cristobal. Hier fanden wir Unterkunft. Die ersten Wochen filmten wir Kolibris, Schmetterlinge und Papageien. Wir kurbelten Kakteen, Zypressen, Magnolien, kleine Kinder, Lorbeerbäume, verwitterte Großmütter vor der Haustür, Schafe bei der Schur, die Schneegipfel der Kordilleren im Osten, kurz, wir führten uns auf, als drehten wir einen Schulaufsatz mit der Überschrift >Mein schönstes Ferienerlebnis

»Ein teurer Schulaufsatz«, stöhnte Drinkwater. »Und das alles für mein Geld.« Doch dann wurde er mucksmäuschenstill. Denn auf der Leinwand erschien eine alte graue Burg. Mit Mauern, Zinnen und Schießscharten und mit einem dicken runden Turm. Hinter den Schießscharten patrouillierten bewaffnete Wachtposten.

»Da wohnt er also, der Senor Lopez«, flüsterte Mäxchen aufgeregt.

»Es handelt sich um ein Kastell, das im 17. Jahrhundert einer der spanischen Vizekönige bauen ließ«, berichtete der Kriminalkommissar. »Hier residierte der jeweilige Generalkapitän während seiner Inspektionsreisen. Hier hielt er Gericht, und von hier aus bekämpfte er aufständische Indios. Später verfiel das Fort. Lopez kaufte es vor dreißig Jahren, ließ das Gemäuer wieder herstellen und technisch auf Hochglanz bringen. Eigne Funkstation, eigne Wasserversorgung, eigne Elektrizität. Es ist alles vorhanden. Es gibt nichts, was es nicht gäbe.«

»Waren Sie denn drin?«, fragte Mäxchen gespannt.

»Jawohl. Davon später. Was man jetzt sieht, ist der quadratische Innenhof. Er ist, bis auf den Rosengarten links, mit Betonplatten ausgelegt. Die Mädchen, die im Badeanzug herumhüpfen, sind die Tänzerinnen, die den Senor abends unterhalten müssen. Sie trainieren.«

»Sehr späte Mädchen«, meinte Rosa Marzipan.

»Kein Wunder«, sagte Steinbeiß. »Sie wurden vor zehn Jahren aus einem Nachtklub in Mexiko City entführt und waren schon damals nicht mehr ganz neu.«

»Mit dem Teleobjektiv aufgenommen?«, fragte der Jokus.

»Ja.«

»Aber wo, um alles in der Welt, stand die Kamera?«, fragte Drinkwater.

»Sie stand nicht. Sie hing. Im Wipfel einer sechzig Meter hohen Araukarie, eines der riesigen Nadelbäume, die hier wachsen. Unsre Indios hatten einen Hochsitz montiert. Der Kameramann wurde nachts hochgehievt und in der Nacht darauf abgeseilt. Eine luftige Angelegenheit.«

»Sind das die Scharfschützen, die im Hof antreten?«, fragte Mäxchen.

»Ja. Wachablösung«, erklärte Steinbeiß. »Die Gruppe links kommt vom Mittagessen, die Gruppe rechts geht zum Mittagessen.«

»Müde Löwen«, sagte der Jokus abfällig.

»Müde?« Mäxchen schien es zu bezweifeln. »Der eine Herr Löwe hat dem Fräulein im roten Badeanzug eben eins hin-tendraufgehauen.«

»So etwas sieht man nicht«, bemerkte Rosa Marzipan streng. »Du wirst nie ein feines Kind.«

Mäxchen kicherte.

»Etwas mehr Ruhe«, bat der Kriminalkommissar. »Der Lastwagen, der aufs Burgtor zufährt, gehört Miguel, einem Viehzüchter. Dreimal in der Woche bringt er frisches Fleisch, Wurst, Schmalz und Hühner. Der Indio, der auf der Plane hockt, ist kein Indio, sondern der Detektiv MacKintosh. Er hat sich die Haare gefärbt.«

»Und wie wurde die Fahrt gefilmt?«, fragte Mister Drinkwater. »Von einem zweiten Wagen aus?«

»Jawohl. Wir folgten in zehn Meter Abstand. Im Wagen von Gonzales, der das Obst und Gemüse liefert. Richardson, der mit seiner Handkamera unter vier Bananenstauden lag, dachte, er werde sich das Kreuz brechen.«

»Waren Sie auch als Indio verkleidet?«, fragte Mäxchen.

»Natürlich. Achtung, das Tor öffnet sich.«

Das Burgtor öffnete sich. Miguels Wagen bremste in der Hofmitte. MacKintosh sprang vom Wagen, schlug die Plane hoch und schulterte ein ausgeschlachtetes Kalb. Ein paar Männer kamen angetrabt und halfen beim Abladen. Als sie einem von ihnen einen halben Ochsen aufpackten, schrie Mäxchen: »Das ist ja der Kahle Otto!«

»Stimmt«, sagte Herr Steinbeiß. »Das ist er. Und der Mann mit der weißen Schürze und der Kochmütze, der ins Bild kommt, ist der Küchenchef, Monsieur Gerard, Inhaber von drei Goldmedaillen. Er war, leider gleichzeitig, mit drei Frauen verheiratet gewesen und hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt, als ihm Lopez aus der Klemme half. Doch nun bitte ich um Ihre ganz besondere Aufmerksamkeit. Die Kamera schwenkt zum Rosengarten hinüber. Wir sehen einen rundlichen Herrn.«

Der Herr trug einen Anzug aus Rohseide, hatte einen Strohhut auf dem Kopf und schnitt behutsam eine dunkelrote Rose ab. An seinen kurzen, dicken Fingern funkelten und blitzten Ringe wie in einem Juwelierladen.

»Das muss er sein«, flüsterte Mäxchen.

»Das ist er«, sagte der Kriminalkommissar. »Das ist Senor Lopez, der reichste Mann der Welt. Er lässt Menschen rauben, die ihm die Zeit vertreiben und die er füttert. Sie leben wie in einem Zoo für seltene Zweibeiner.«

Mäxchen seufzte. »Hier wäre ich gelandet!«

Senor Lopez kam nun mit wiegenden Schritten über den Hof, blieb vor Miguels Lieferwagen stehen, sprach mit dem französischen Koch und musterte, während er an der Rose schnupperte, einen halben Ochsen, der abgeladen wurde. Dann nickte er, machte kehrt und ging auf ein Gebäude zu, an dessen Portal ihn ein altes, zotteliges Frauenzimmer erwartete. Beide verschwanden im Haus.

»Das war die Zigeunerin, von der er sich wahrsagen lässt«, erklärte der Kommissar. »Und nun kommen zwei Indios mit einer Bananenstaude ins Bild. Sie stapeln das Obst und Gemüse neben Miguels Wagen, damit Richardson, der Kameramann, im zweiten Wagen nicht entdeckt wird. Der eine Indio ist der Bauer Gonzales, und der andere Indio heißt im bürgerlichen Leben Steinbeiß.«

Mister Drinkwater lachte. »Nicht zum Wiedererkennen!« Auch die anderen im Vorführraum freuten sich über die Verkleidungskünste des Kriminalkommissars.

Nur Mäxchen war nicht wohl zumute. »Ein Glück, dass Bernhard Sie nicht gesehen hat«, sagte er mit zittriger Stimme. »Denn Bernhard hätte Sie vielleicht erkannt.«

»Du bist fast so schlau wie Bernhard«, meinte Steinbeiß. »Als ich, eine Woche später, zum dritten Male, beim Abladen half, kam dieser verdammte Schlauberger dazu. Er hatte einen Zahnstocher zwischen den Zähnen und stand gelangweilt neben uns.

Plötzlich stutzte er und griff mir, ehe ich’s mir versah, ins Gesicht. An seinen Fingern klebte braune Schminke. Und nun ging alles sehr rasch. Denn jetzt griff ich ihm ins Gesicht. Er verdrehte die Augen und kippte um. Gonzales ließ die Bananenstaude los. Sie fiel auf Bernhards Bauch. MacKintosh und Miguel sprangen auf den ersten, Gonzales und ich auf den zweiten Lastwagen, und ehe die Wachtposten wussten, worum sich’s drehte, ratterten wir durchs Tor. Es gab eine kleine Schießerei. Verletzte gab es nicht.«

»Entweder waren es keine Scharfschützen«, sagte der Jokus, »oder sie haben in die Luft geschossen.«

»Sie haben in die Luft geschossen. Jedenfalls haben sie das nach ihrer Verhaftung erklärt.«

»Sie wurden verhaftet?«, fragte Rosa Marzipan.

»Und Senor Lopez?«, rief Mäxchen.

»Das ist ein anderes Kapitel«, sagte der Kriminalkommissar, und seine Stimme klang sehr traurig. Dann drückte er auf einen Schaltknopf und der Film lief weiter. »Der andere Kameramann saß ja noch immer in seinem Nadelbaum. Die Aufnahmen, die Sie sehen werden, machte er zwei Stunden nach unserer Flucht aus dem Burghof. Geben Sie gut Obacht. Sie sehen meine Niederlage.«

Die anderen starrten gebannt auf die Leinwand. Man erblickte den menschenleeren Burghof. Ach nein, ganz leer war er nicht. Am Rosenbeet stand ein rundlicher, eleganter Herr. Er trug einen Anzug aus Rohseide, hatte einen Strohhut auf dem Kopf und schnitt behutsam eine dunkelrote Rose ab. Dann drehte er sich um, schnupperte an der Rose und schien auf etwas zu warten.

»Der Mann hat Nerven«, murmelte Mister Drinkwater.

Plötzlich verschoben sich im Hofe die Betonplatten. Eine Versenkung wurde sichtbar. Und aus der Versenkung stieg, Meter um Meter, ein Flugzeug empor. Die Betonplatte, auf der es stand, fügte sich in die übrigen Platten ein. Senor Lopez ging mit wiegenden Schritten auf das Flugzeug zu. Die Bordtür wurde geöffnet. Eine Leiter senkte sich herab. Senor Lopez kletterte an Bord. Die Leiter wurde eingezogen. Die Tür schloss sich. Kurz danach hob sich das Flugzeug in die Luft und verschwand am Horizont. Der Himmel war so leer wie der Burghof.

»Ein Senkrechtstarter«, stellte Mäxchen fest.

»Ganz recht«, knurrte Herr Steinbeiß. »Die Maschinen sind aber noch nicht zur Serienfabrikation freigegeben.«

»Wozu braucht der reichste Mann der Welt auf Serien zu warten?«, fragte Mister Drinkwater. »Ein Versuchspilot verfliegt sich. Nun? Die Maschine ist verschwunden. Der Pilot ist verschwunden. Nun? Vielleicht liegen sie irgendwo im Gletschereis.

Vielleicht wurden sie aber auch bestochen und landen wohlbehalten in den Kasematten einer Burg.«

»So muss es gewesen sein«, sagte der Kriminalkommissar. »Jedenfalls verschwanden mit Senor Lopez und dem Flugzeug der Koch, die Zigeunerin, die Ballettratten, unsere Freunde Bernhard und Otto, der Hauptmann der Scharfschützen, ein Kunsthistoriker und einhundertvierundsiebzig gerahmte Gemälde. Wir

konnten nur noch die Nägel zählen, an denen die Bilder gehangen hatten.«

»Weiß man, wohin die Maschine geflogen ist?«

»Man weiß es nicht. Nach Paraguay? Nach Bolivien? Nach Peru? Lopez besitzt Minen und Gruben, Haziendas, Fischereiflotten, Konservenfabriken, Kettenhotels und Kreditinstitute. Krösus war, mit ihm verglichen, ein armes Luder. Er ist verschwunden. In einem anderen Kastell? In einem anderen Erdteil? Er hat mich überlistet.«

»Wait and see«, sagte Mister Drinkwater. »Abwarten und Tee trinken. Ich werde Ihre Aufnahmen in allen Kinos als Vorfilm laufen lassen. Mit den nötigen Erklärungen und mit dem Hinweis auf den Großfilm vom kleinen Mann. Die Expedition war nicht vergeblich. Die Interpol wird nun endlich eingreifen müssen. Senor Lopez hat nicht mehr viel Zeit, an roten Rosen zu schnuppern.«

»Haben Sie die Scharfschützen ausgefragt, die er im Stich gelassen hat?«, fragte der Jokus.

»MacKintosh hat das besorgt. Sie waren wütend. Er hat die Tonbänder nach New York mitgenommen. Die Gespräche werden in diesen Tagen übersetzt. Wir haben die Kerle auch gefilmt und fotografiert.«

»Großartig«, erklärte Drinkwater. »Daraus machen wir einen Dokumentarbericht für >Life< und andere Illustrierte.« Er klopfte dem Kriminalkommissar auf die Schulter. »Warum sind Sie mit sich so unzufrieden?«

»Warum habe ich Ihnen die Expedition eingeredet?«, fragte Steinbeiß. »Um Kolibris zu fotografieren? Um eine alte Burg zu filmen? Um einem Flugzeug nachzuwinken? Wahrhaftig nicht. Ich wollte ein bisschen mehr.«

»Man will immer ein bisschen mehr«, sagte Drinkwater, »und erreicht immer ein bisschen weniger.«

Rosa Marzipan amüsierte sich. »Sie sind ein Philosoph.«

Mister Drinkwater stand auf. »In der Hauptsache bin ich Zigarrenraucher. Und nun muss ich mit New York telefonieren.«

Alles hat einmal ein Ende. Auch der November. Und sogar das sechste Kapitel meines Buches. John F. Drinkwater flog nach Genua, wo die Jacht >Sleepwell< auf ihn wartete. Kriminalkommissar Steinbeiß flog nach Berlin. Der Zirkus Stilke ratterte per Eisenbahn ins Winterquartier. Mäxchen und der Jokus machten sich auf die Reise, um König Bileam zu besuchen. Und damit beginnt ...

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