Das achte Kapitel

Mäxchen zählt Schweizer Tunnels /Das Geheimnis lüftet sich / Rosa soll gemästet werden / Villa Glühwürmchen /Eine Fernsehsendung und viele Ferngespräche /Fairbanks 3712 /Mrs.Simpson hieß vor ihrer Heirat Hannchen Pichelsteiner.


In Calais kletterten sie in eine Caravelle der Air France und flogen mit vielen vergnügten Franzosen, die zum Wintersport wollten, nach Zürich. Dort hatte es geschneit. Vorm Flugplatz stieg der Jokus in ein Taxi.

»Bleiben wir in Zürich?«, fragte Mäxchen.

»Nein, mein Kleiner«, sagte der Professor.

Im Züricher Hauptbahnhof kletterten sie in einen hochmodernen Zug, der nur aus vier Waggons 1. Klasse bestand, und nahmen in der Bar des Speisewagens Platz.

»Draußen steht auf einem Schild >Zürich-Mailand<. Fahren wir nach Mailand?«

»Nein, mein Kleiner«, sagte der Professor. Dann bestellte er für sich einen Whisky und für den Jungen einen Tom Collins. »Natürlich ohne Wodka.«

»Sehr gern«, meinte das Servierfräulein und musterte Mäxchen. »Aber Fingerhüte haben wir leider nicht.«

»In einem normalen Glas und mit einem Strohhalm. Der Kleine sitzt gern auf dem Glasrand. Doch das Glas nicht zu voll. Sonst kriegt er nasse Füße.«

»Sehr gern«, sagte das Servierfräulein. »Ganz wie die Herren wünschen.«

Die Welt war schneeweiß. Der Zug sauste am Zürcher See entlang. Er raste am Vierwaldstätter See vorbei. Die Berge kamen näher. Die Strecke stieg an. Ein Tunnel folgte dem anderen. Die Lampen brannten.

Nachdem der Jokus seine Zeitungen gelesen hatte, vertiefte er sich in ein Buch mit dem Titel >Wichtige Winke eines Fachmanns zur Erlernung der Bauchredekunst<. Mäxchen saß auf dem Rande des Glases, hielt sich am Strohhalm fest, schlürfte seinen Tom Collins schlückchenweise und zählte die Tunnels. »Kannst du mir dein Geheimnis noch immer nicht verraten?«, bohrte er.

»Nein, mein Kleiner.«

»Pfui Spinne! Und du willst mein väterlicher Freund sein? Sechsundzwanzig.«

»Was heißt hier sechsundzwanzig?«

»Der sechsund... , schon wieder einer: der siebenundzwanzigste Tunnel.«

Es schneite dicke Flocken. Man konnte Gletscher sehen. Und zu Eis erstarrte Wasserfälle. Es ging stampfend bergan. Immer höher. >Göschenen< stand an einem Bahnhof. Und schon wurde es von neuem dunkel.

»Jetzt fahren wir durch den Sankt Gotthard«, erklärte der Professor. »Mindestens zehn Minuten lang. Und wenn wir drüben in Airolo wieder aus dem Berg herauskommen, scheint die Sonne.«

»Bist du sicher?«

»Nein.«

Trotzdem behielt der Jokus Recht. Als sie zehn Minuten später aus der Finsternis auftauchten, mussten sie vor lauter Sonnenschein erst einmal die Augen zukneifen. Der Himmel schimmerte blitzblau. Die Reisenden strahlten. Und der Zug selber freute sich auch. Denn nun ging es endlich bergab. Tiefer und tiefer. Schneller und schneller. Bunt bemalte Häuser sausten vorbei. Auf den Balkonen wiegte sich Wäsche, die in der Sonne trocknen sollte.

Die Bahnhöfe hatten italienisch klingende Namen. Alles hatte sich geändert. Nur Tunnels gab es noch immer.

»Dreiundvierzig«, sagte Mäxchen. »Seit Zürich dreiund... Nein, vierundvierzig.« Denn schon wieder ratterten sie durch eine halbe Minute Finsternis.

»Verzähle dich nicht«, meinte der Jokus amüsiert. »Sonst müssen wir nach Zürich zurück und die Fahrt wiederholen.«

»Mach keine Witze, sonst verzähle ich mich wirklich.« Es wurde wieder dunkel. Es wurde wieder hell. »Fünfundvierzig«, stellte Mäxchen fest.

Der Zug brauste durch die Ebene. Man sah grüne Hecken mit roten Beeren. Die ersten Zypressen und Palmen tauchten links und rechts von den Gleisen auf. An einem großen Umladebahnhof hing das Schild >Bellinzona<. Und als der Schaffner nach einer Weile durch die Waggons ging und ausrief: »Die nächste Station ist Lugano. Wir halten nur eine Minute!«, da steckte der Professor den kleinen Mann in die Brusttasche und stand auf.

»Das ist das ganze Geheimnis?«, fragte Mäxchen enttäuscht. »Wir steigen in Lugano aus? Aber wieso ist das denn geheimnis-

voll?« Der Jokus wollte antworten. Doch es kamen noch ein paar Tunnels, und Mäxchen war vollauf mit Zählen beschäftigt.

Dann hielt der Zug. Draußen rief jemand: »Lugano! Beim Aussteigen, bitte, beeilen!« Sie beeilten sich also. Es ging überhaupt sehr eilig zu. Kaum dass der Jokus auf dem Bahnsteig stand, breitete er auch schon die Arme aus, und kaum dass er die Arme ausgebreitet hatte, fiel ihm auch schon eine junge blonde Dame um den Hals. »Vorsicht«, warnte er, »zerdrücke Mäxchen nicht!«

Der Kleine lachte. »Lasst euch nicht stören. Mich stört’s auch nicht. Marzipan ist ja weich.«

Vorm Bahnhof stiegen sie in ein Auto, und das Marzipanfräulein setzte sich hinter das Steuer. »Wieso?«, fragte Mäxchen verwundert. »Ist das ein Mietwagen?«

»Nein. Er gehört uns«, antwortete der Jokus. »Jedem gehört ein Drittel. Welches Drittel möchtest du haben?«

Aber Mäxchen schwieg. Sie waren nach Zürich geflogen. Warum? Um nach Lugano zu fahren. Wozu? Weil Rosa auf dem Bahnsteig wartete. Weshalb? Um in ein Auto zu steigen, wovon ihm ein Drittel gehörte. Und jetzt? Jetzt fuhren sie durch eine hübsche Stadt, die Lugano hieß, über einen hübschen Platz, in dessen Mitte ein riesiger Christbaum stand, an einem hübschen See und hübschen Hotels entlang. Wohin? Vor welchem Hotel würden sie halten?

Aber sie hielten vor keinem der Hotels. Sie durchquerten die Stadt und fuhren einen der Hügel hinauf, die den See umkränzten.. An Villen und Gärten vorüber. Durch Kastanienwälder und durch Dörfer mit Kirchen, Friedhöfen, Schulen, Konsumläden, Kneipen und Tankstellen. Die Straßen wurden schmäler. Sie waren nicht mehr asphaltiert. Das Auto hoppelte wie ein Kaninchen. Doch dann, ganz unerwartet, bog es in einen Wiesenweg ein und hielt vor einer weißen Mauer. Neben der Einfahrt war ein Schild angebracht. >Villa Sorgenklein<, las Mäxchen.

Rosa Marzipan sperrte das Tor auf, fuhr mit dem Wagen über den knirschenden Kies bis zur Garage, stieg wieder aus und sagte lächelnd: »Herzlich willkommen! Wir sind zu Hause.«

Das also war das Geheimnis. Deshalb hatte Rosa eine alte Tante besucht, obwohl sie gar keine Tante hatte. Deswegen hatten sie den kleinen Mann angeschwindelt. Es sollte eine Überraschung sein, und das war es ja auch.

Mäxchen betrachtete die schöne ockergelbe Villa mit den grünen Fensterläden und meinte: »Ich bin platt.« Und nachdem sie über den Rasen, zwischen den Bäumen und Beeten, bis zur Terrasse spaziert waren, von der aus man, tief unten, den Luganer See und, überm anderen Ufer, den Monte Bre und den San Salvatore mit ihren Seilbahnen sah, sagte Mäxchen, nach einer Schweigeminute, sogar: »Ich bin total geplättet.« Das war das höchste Lob, das er kannte, und er ging damit sehr sparsam um.

Die Villa >Sorgenklein< war weder zu klein noch zu groß. Sie hatte Platz für die dressierten Tauben Emma und Minna, für das weiße Zylinderkaninchen Alba und den Schönen Waldemar. Es gab, von den Schlaf- und Schrankzimmern abgesehen, ein Wohnzimmer mit hohen, breiten Fenstern und eine Küche, worin man nicht nur kochen und braten, sondern auch, wenn man wollte, in aller Gemütlichkeit essen konnte.

Sie hatten Appetit. Sie aßen. Es war gemütlich. Emma und Minna pickten Körner. Alba knabberte Chicoree. Die drei Hausbesitzer verzehrten Wiener Schnitzel und goldgelbe Bratkartoffeln. Mäxchen aß an einem kleinen Tisch auf dem großen Küchentisch und erfuhr, während es allen schmeckte, alles, was er noch nicht wusste. (Fast alles.)

Der Jokus, erfuhr er, habe die Villa in aller Heimlichkeit gekauft. Rosa habe das leere Haus, während er und Mäxchen in Breganzona gewesen waren, mit schönen alten Möbeln eingerichtet und dabei drei Pfund und siebzig Gramm abgenommen. Das seien eintausendfünfhundertundsiebzig (1570) Gramm, und sie, Rosa, denke nicht im Traum daran, diese Abmagerungskur fortzusetzen.

»Andere Frauen sind heilfroh, wenn sie dünn werden«, sagte der Jokus zu Mäxchen und zwinkerte.

Rosa erklärte: »Ich bin aber keine andere Frau.«

»Da hat sie, glaube ich, Recht«, sagte Mäxchen zwinkernd zum Jokus. »Außerdem weiß sie, dass du runde Damen liebst. Vielleicht sollten wir sie mästen.«

Der Professor nickte. »Ein guter Vorschlag.«

»Mit >Leichsenrings Kraftfutter

»Wahrscheinlich. Es wäre mir auch zu teuer. Wir füttern sie, fünfmal täglich, mit Spaghetti und Makkaroni. Teigwaren sind hier billig.«

»Sechsmal«, schlug Mäxchen vor. »Mit viel Butter, Tomatenmark und Fleischsoße. Bis sie schön dick ist.«

»Aber was machen wir, wenn sie uns auch dann nicht gefällt?«, fragte der Jokus. »Wenn sie zu breit wird?«

Mäxchen wusste Rat. »Dann lassen wir sie überall tätowieren und zeigen sie auf dem Jahrmarkt. Als entflohene Haremswitwe. Gegen Eintrittsgeld.«

»Kinder und Militär die Hälfte«, sagte der Jokus. »Und du bist der Ausrufer.«

»Jawohl!« Mäxchen rieb sich die Hände. »Treten Sie näher, meine Herrschaften! Hier sehen Sie etwas völlig Neues. Tätowiertes Marzipan, frisch aus Arabien eingetroffen. Die Lieblingswitwe des Emirs Omar.«

»Hereinspaziert, meine Herr- und Damschaften«, rief der Jokus. »Sie heißt Prinzessin Corpulenta, liest Ihnen aus der Hand, falls dieselbe gewaschen ist, und zeigt in der Zweiten Abteilung ihren Siebenschleierharemstanz, wobei sie Gewichte stemmt und Füttern verboten ist.«

»Wunderbar«, sagte Mäxchen. »So machen wir’s. Und von dem Geld, das wir mit ihr verdienen, kaufen wir uns eine Makkaronifarm.«

Rosa Marzipan, die Hübsche, blickte die beiden entgeistert an. Dann flüsterte sie: »Ihr seid ja zwei fürchterliche und ausgekochte Halunken. Wäre ich doch bloß in Arabien geblieben. Dort gab es zwar zum Frühstück verdünntes Wasser und zehn Stockhiebe auf die Fußsöhlchen - aber ihr zwei seid ja noch viel schlimmer als mein lieber Emir Omar mit dem Beinamen der Grässliche.«

Dann mussten sie endlich laut lachen. Auch Minna und Emma, die Lachtauben, lachten mit. Nur das weiße Kaninchen beteiligte sich nicht. Kaninchen lachen höchstens im Traum.

Nach dem Essen wusch Rosa das Geschirr. Der Jokus trocknete ab. Und Mäxchen sang, mit Judiths Kronenhut auf dem Kopf, das Lied von König Bileam.

Als es draußen finster geworden war, gingen sie noch einmal durch den Garten bis zur Terrasse hinaus und freuten sich am Glanz der Dunkelheit. Lugano glitzerte, tief unten, wie ein Juwelierladen. Über den schwarzen See fuhr ein illuminierter Dampfer. Der Monte Bre, der kleine zugespitzte Berg mit seinen Villen, Hotels und Dörfern, glich einem schimmernden Christbaum.

Doch der Märchenhimmel über den drei Hausbesitzern, mit seinen goldenen, grünen, blauen und weißen Sternen, dieser uralte funkelnde Himmel übertraf auch diesmal die Welt der Glühbirnen, so schön sie sein kann.

»Ich bin ja nicht neugierig«, meinte Mäxchen, als er es sich in der alten Streichholzschachtel bequem machte, »aber wo ist eigentlich meine Wohnung geblieben?«

Professor Jokus von Pokus räkelte sich in dem breiten französischen Bett zurecht, das ihm seit heute gehörte, und fragte beiläufig: »Was denn für eine Wohnung?«

Mäxchen sagte: »Die Zweizimmerwohnung. Wer weiß, wo Rosa sie hingestellt hat.«

»Sie steht nirgends. Rosa hat uns, als wir ankamen, alle Zimmer gezeigt. Ich bin doch nicht blind.«

»Nein, das kann man dir nicht vorwerfen. Vielleicht hat sie beim Umzug vergessen, sie einzupacken?«

»Ihr zwei macht mir Spaß«, meinte Mäxchen verdrossen. »Eher hätte sie ihren Namen vergessen als meine niedliche Wohnung. Das weiß ich. Und ich weiß noch etwas: Ihr habt schon wieder Heimlichkeiten vor mir.«

»Das ist natürlich auch möglich«, sagte der Jokus. »Um Weihnachten herum kommt das vor. Weil du aber Heimlichkeiten nicht leiden kannst, werde ich dir jetzt klipp und klar erzählen, was wir dir bis zum Heiligabend verschweigen wollten. Also ...«

»Hör auf!«, rief Mäxchen. »Ich will es gar nicht mehr wissen. Ich bin ein kleiner Schafskopf.«

»Irrtum«, sagte der Jokus. »Du bist ein großer Schafskopf. Und man lösche das Licht aus, ja? Der Herr Zauberkünstler sind müde.«

»Der kleine Herr Schafskopf auch«, murmelte Mäxchen und drückte auf den Knopf der Nachttischlampe.

Am 24. Dezember nach dem Mittagessen fuhr ein Kombiwagen durchs Tor der Villa >Sorgenklein<. Drei Männer kletterten heraus, trugen Kisten und Kasten und allerlei Geräte in den Garten und machten sich, auf halbem Wege zwischen der Terrasse und der Villa, in der Wiese zu schaffen. Was sie dort trieben, war nicht zu sehen.

Außerdem musste Mäxchen die zwei Meter hohe Tanne schmücken, die im Wohnzimmer stand. Er hüpfte, leicht wie ein Vogel, von Zweig zu Zweig, steckte Kerzen fest, hängte Glaskugeln, Zuckerkringel und Engelshaar in den Baum. Der Jokus stand wie ein General daneben und sagte nur: »Die blaue Kugel etwas weiter rechts ... Die dritte Kerze am vierten Ast von unten steht schief ... Den Schokoladenring mehr in die Mitte ... Noch ein bisschen ... Das war zu viel .«

Rosa schaute zu ihnen ins Zimmer, erklärte: »So gut möchte ich’s auch mal haben«, und wollte wieder in die Küche zurück. »Kannst du nicht hier bleiben?«, fragte Mäxchen. »Wir könnten dich gut gebrauchen.«

»Wofür denn?«

»Als Marzipan am Christbaum!«

Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Du bist und bleibst das nichtschmutzigste, nein, das nichtsnutzigste Kind, das ich kenne.«

Aber Mäxchen, der sich in einem Zuckerkringel schaukelte, rief: »Warte nur ab, bis du selber welche hast.«

Da räumte sie das Feld, murmelte: »Ich glaube, der Gänsebraten verbrennt«, und fort war sie.

Als es hübsch dunkel geworden war, zündeten sie am Baum die Lichter an, ließen ein paar Wunderkerzen zischen und sprühen, sangen >O du fröhliche<, und jeder gab jedem einen Kuss. Das machte insgesamt sechs.

»Andere Geschenke gibt es nicht«, erklärte der Jokus energisch. »Wir haben einander die Villa geschenkt. Das ist Bescherung genug.«

»Ihr Schwindler«, meinte Mäxchen seelenruhig. »Wo ist denn meine Zweizimmerwohnung? Und was haben die Leute mittags im Garten gemacht?«

»Na schön«, sagte der Jokus. »Es ist zwar nicht üblich, am Heiligabend im Garten Ostereier zu suchen, aber wir können ja einmal nachschauen.« Er steckte den Jungen in die Brusttasche. Rosa nahm zwei Klappstühle. Und so spazierten sie ins Freie.

Zunächst zeigten ihnen die beiden Scheinwerfer am Dach der Villa den Weg. Dann wurde es für kurze Zeit finster. Doch ganz plötzlich begann es in der Wiese zu schimmern und zu leuchten und zu flimmern, als hielten, zu ihren Füßen, tausend Glühwürmchen ihre Weihnachtsfeier ab. Doch es waren keine tausend Glühwürmchen, sondern es war ein kleines Haus, kaum höher als zwanzig Zentimeter, und aus allen Fenstern zwinkerte Licht.

Mäxchens Zweizimmerwohnung mit Bad und Küche nahm den ersten Stock ein. Im Erdgeschoss lagen ein Arbeits- und ein Spielzimmer, sowie ein Turnsaal mit einem Duschraum. Eine Treppe war natürlich auch da. Sie führte bis ins Dachgeschoss, und auch hier oben, im schrägen Dach, glänzten drei Fenster.

Rosa und der Jokus saßen auf den Klappstühlen, schwiegen und lächelten zufrieden. Wisst ihr übrigens, was Mäxchen sagte? Er sagte gar nichts! Es gibt solche Kinder. Je mehr sie sich freuen, umso stiller werden sie. Mir ging es, als ich ein kleiner Junge war, ganz genauso. Und manche Erwachsene verstehen das falsch. Das ist schade, lässt sich aber nicht ändern.

Das Marzipanfräulein und der Professor gehörten glücklicherweise nicht zu der falschen Sorte. Sie konnten warten, und so warteten sie. Sie blieben auch still, als Mäxchen am Jokus hinunterkletterte, langsam zu dem Häuschen schlich und durch die Fenster blickte. Er konnte sich nicht satt sehen.

Schließlich räusperte sich der Jokus. »Willst du den Schlüssel haben und hineingehen?«

Der kleine Mann schüttelte den Kopf.

»Der Schlüssel ist entsetzlich klein. Vielleicht verlieren wir ihn«, meinte Rosa.

Mäxchen schüttelte wieder den Kopf, lief plötzlich auf das Paar zu, kletterte am Jokus hoch, kroch in die Brusttasche und sagte ein einziges Wort. »Morgen«, sagte er.

Am ersten Feiertag, also am 25. Dezember, war er munter und vorlaut wie immer. Der Jokus nahm eine Kamelhaardecke mit und setzte sich, weil das Wetter mild und sonnig war, vor dem Liliputhaus mitten in die Wiese. Mäxchen inspizierte inzwischen sein Eigenheim vom Keller bis zum Boden, und immer wieder einmal riss er ein Fenster auf und rief: »Hier steht ja das Hochreck aus Pichelstein!« und: »Auch meine Bibliothek ist da!« und: »Ist das ein richtiges Telefon?«

»Natürlich, mein Kleiner. Und wenn du die Nummer 01 wählst, meldet sich eine uns nicht ganz unbekannte Dame.«

Mäxchen hockte sich in den Lehnstuhl und wählte die Nummer 01. (So einen kleinen Apparat habt ihr noch nie gesehen.)

»Wer spricht?«, fragte er. »Mademoiselle Rosa? Sind Sie es höchstpersönlich? Mein Name ist Hausbesitzer Max Pichelsteiner. Ich begrüße Sie auf das Herzlichste ... Was tut Not? ...

Eile? . Wieso? Warum sollen wir denn schon jetzt zum Essen kommen? ... Waaas?« Der kleine Mann starrte zum Professor hinaus und legte auf. »Weißt du, was sie gefragt hat?«; rief er.

»Nein, mein Kleiner.«

»Ob wir zwei Spielmätze verschwitzt hätten, dass 15 Uhr 15 eine interessante Fernsehsendung gezeigt wird.«

Der Jokus blickte auf die Uhr und sprang hoch. »Wie die Zeit vergeht, wenn man nichts zu tun hat! Komm, mach die Fenster zu und schließ die Tür ab!«

Als sie dann schließlich durch die Wiese zurückmarschierten, hatte es Mäxchen wieder einmal mit dem Dichten. Er sang:

»Wohlauf zu frischen Taten!

Es riecht nach Gänsebraten.

Das merkt sogar ein Kind.

Als Nachtisch gibt es Fernsehn.

Da werden wir zwei Herrn sehn,

die werden wir sehr gern sehn,

weil wir es selber sind!«

An diesem Nachmittag saßen viele Millionen Kinder mit ihren Eltern vorm Fernsehschirm und hatten eine halbe Stunde lang rote Ohren. Sie sahen Pichelstein und den Zirkus, den Zauberprofessor mit dem weißen Kaninchen und den beiden Tauben, die drei Schwestern Marzipan als Luftspringerinnen, und sie sahen, das war die Hauptsache, mit eignen Augen den fünf Zentimeter großen Jungen, der in einer Streichholzschachtel schlief. Sie sahen und hörten, wie er beim Jokus Lesen und Schreiben lernte. Sie erlebten, wie die beiden in einem Herrengeschäft die Schaufensterpuppe kauften und wie dann Mäxchen, im Hotelzimmer, auf dem Schönen Waldemar die Kunst des Kletterns übte. Die Sendung endete mit dem Lied vom >Leutnant Unsichtbar<, und die Ansagerin wies auf die Fortsetzung am Sonntag in vierzehn Tagen hin.

Die Kinder waren allesamt begeistert und schwärmten bis zum Schlafengehen vom kleinen Mann. Auch die Erwachsenen sprachen noch stundenlang darüber und meinten, wenn sie das Kerlchen nicht selbst gesehen hätten, könnten sie kaum glauben, dass es so etwas überhaupt gäbe.

Inzwischen saßen die Hauptdarsteller im Wohnzimmer ihrer stillen Villa und blickten nachdenklich vor sich hin. »Ich finde, wir waren ziemlich gut«, sagte der Jokus, »aber ganz genau weiß ich’s nicht.«

»Mein Absprung zum doppelten Salto war miserabel«, erklärte Rosa Marzipan zerknirscht. »Ich sah aus wie ein lahmer Schimmel.« Dann klingelte das Telefon und der erste Gratulant meldete sich. Es war der Schüler Jakob Hurtig aus Berlin, und er schwor bei seinem Schulranzen, dass er, seine Eltern, die Verwandten, die Nachbarn und die gesamte Kickelhahnstraße so etwas Fabelhaftes noch nie vorher gesehen hätten. »Sie sind ganz weg«, rief er aus der Ferne, »und ich bin auch gleich weg, sonst wird das Gespräch zu teuer.« Weg war er.

»Schade«, sagte Mäxchen. »Ich wollte ihm gerade von meinem kleinen Haus erzählen. Wisst ihr schon, wie ich es nennen werde? >Villa Glühwürmchen

Während es ihnen noch gefiel, klingelte das Telefon von neuem. Diesmal meldete sich der Bürgermeister aus dem völlig verschneiten Dorf Pichelstein. Sie seien hell begeistert und fühlten sich kolossal geehrt, weil ihr Dorf ja nun weltberühmt geworden sei, was sich auch auf den Fremdenverkehr vorteilhaft auswirken werde.

Das nächste Ferngespräch kam aus Breganzona. König Bileam gratulierte im Namen sämtlicher Schlossbewohner. Es sei großartig gewesen, und er gäbe den Apparat an die Kinder weiter. Nun fand Mäxchen endlich Gelegenheit, die >Villa Glühwürmchen< zu beschreiben. Judith und Osram eigneten sich als Zuhörer wie niemand sonst. Denn das jetzige erste Stockwerk, die Zweizimmerwohnung mit Küche und Bad, hatten sie ihm ja seinerzeit geschenkt.

Die Anrufe rissen nicht ab. Der nächste Gratulant war Mister Drinkwater, und der Jokus rief: »Hallo, Hänschenklein. Ich denke, du schläfst?«

»Nein. Ich habe mich wecken lassen. Die Sendung war sehr gut. Ich kann mit euch und ihr könnt mit mir zufrieden sein. Und somit: Gute Nacht allerseits.«

»Wo steckst du denn?«, fragte der Jokus.

Da sagte eine fremde Stimme: »Hier spricht der Bordfunker der Jacht >Sleepwell<. Mister Drinkwater schläft bereits wieder. Wir liegen im Hafen von Alexandria vor Anker. Es war eine unvergessliche halbe Stunde. Grüßen Sie, bitte, den kleinen Mann. Ende der Durchsage.«

Der letzte Anruf an diesem denkwürdigen Tage kam aus dem Winterquartier des Zirkus Stilke. Direktor Brausewetter war, schien es, völlig aus dem Häuschen. »Dass ich euch drei jetzt nicht an meine gerührte Brust drücken kann, ist das Einzige, was mir zu meinem Glücke fehlt. Ihr wart göttlich. Ihr wart umwerfend. Ihr wart .«

Mäxchen rollte von der Hör- zur Sprechmuschel. »Direktor Brausepulver, was für Handschuhe haben Sie an?«

»Goldene«, rief der Direktor zurück. »Goldene Handschuhe, du Goldjunge! Meine Gattin legte mir ein Paar unter den Christbaum. Sie hat ein prophetisches Gemüt.«

Und wer rief am Morgen des zweiten Feiertags noch einmal und schon wieder an? Direktor Brausewetter. »Professor, sind Sie allein? Oder ist Mäxchen in der Nähe?«

»Nein, er badet zur Zeit in seinem Eigenheim. Wo brennt’s denn?«

»Ich habe vorhin ein Telegramm aus Alaska erhalten, das höchst merkwürdig klingt.«

»Aus Alaska? Liegt das nicht beim Nordpol gleich um die Ecke?«, fragte der Jokus.

»Das ist leicht möglich. Der Text des Telegramms lautet jedenfalls: >Übermittelt Professor Jokus dringende Bitte, Fairbanks 3712 anzurufen, weil lebenswichtig. Danke schön. Jane Simpson, geborene Hannchen Pichelsteiner.< Haben Sie die Nummer notiert?«

»Fairbanks 3712. Jane Simpson.«

»Geborene Pichelsteiner! Hannchen, auch das noch! Mitten in Alaska! Wo es dort angeblich nur Goldsucher, Eskimos und Hundeschlitten gibt. Meine Frau meint ...«

»Vielleicht hat Ihre Frau Recht«, sagte der Jokus, legte rasch den Hörer auf, hob ihn sofort wieder ab und meldete beim Fernamt Lugano >Fairbanks 3712< an.

»Fairbanks 3712«, wiederholte das Fräulein vom Amt, »sehr gern. Aber dort ist jetzt, glaube ich, Mitternacht oder gestern.«

»Ich bitte um ein Blitzgespräch.«

»Sehr gern, Herr Professor. Und herzlichen Dank für die schöne Fernsehsendung. Es war einmalig.«

Nach dem Essen klagte der Jokus über Kopfschmerzen, legte sich aufs Sofa, sagte, dass er Ruhe brauche, und bat die beiden, eine Spazierfahrt zu machen. Sie hatten nichts dagegen einzuwenden. Doch zuvor zwang ihn Rosa, zwei Kopfschmerztabletten zu schlucken. Das war ihm gar nicht recht, weil er ja gar keine Kopfschmerzen hatte.

Als die zwei aus dem Hause waren, setzte er sich ans Telefon und wartete. Warum er ihnen von Fairbanks 3712 kein Wort erzählt hatte, wusste er selbst nicht genau.

Inzwischen kutschierten Rosa und Mäxchen nach Carona hinüber, wo sie den alten und den kleinen Esel sowie den meckernden Ziegenbock bewunderten, die dort seit Jahren über eine bröcklige Mauer auf die Straße schauen und sich fotografieren lassen. Dann rollten sie nach Morcote hinunter und, am See entlang, nach Melide.

Hier bestaunten sie >La Suisse miniature<, eine im Freien für Kinder erbaute >Schweiz im Kleinen<: mit Bergen und Burgen, Seen und Städten, fahrenden Dampfern, Eisenbahnen und Omnibussen. Man konnte zu Fuß in einer Viertelstunde bequem durch die gesamte Schweiz spazieren. Mäxchen hockte in Rosas Manteltasche und sagte, als sie wieder ins Auto stiegen: »Das wäre ein Ländchen für mich! Genau meine Kragenweite!«

In Lugano kehrten sie im >Kursaal< ein, wo ihnen ein reizender Oberkellner heiße Schokolade und frische Ananastörtchen servierte. Als er Mäxchen sah, strahlte er. »So ein Zufall! An demselben Tisch hat seinerzeit Dottore Kästner jeden Nachmittag gesessen und an dem Buch >Der kleine Mann< geschrieben.«

»Auf welchem Stuhl?«, fragte Mäxchen.

»Auf dem Stuhl, auf dem jetzt Fräulein Marzipan sitzt.«

»Woher wissen Sie denn, wie ich heiße?«, fragte Rosa.

Mäxchen blinzelte dem Oberkellner zu. Dieser blinzelte zurück, verbeugte sich und begrüßte neue Gäste.

»Was gibt es denn da zu blinzeln?«, fragte Rosa spitz. »Woher weiß er es denn wirklich?«

»Aus dem Buch >Der kleine Mann<. Woher denn sonst?«

Rosa lachte, dass sich die Leute umdrehten. »Natürlich!«, rief sie. »Aber nun rasch in den Spielsaal! Dumme Menschen haben Glück beim Roulette.« Und tatsächlich, sie gewann in zehn Minuten dreißig Franken.

Als sie in die Villa heimkamen, wollte Rosa dem Professor noch zwei Tabletten geben. Er aber wollte nicht, sondern sagte: »Ich hatte gar keine Kopfschmerzen. Ich wollte euch nur für einige Zeit los sein.«

»Da habe ich mir ja einen feinen Mann als Bräutigam eingehandelt«, sagte Rosa Marzipan zu Mäxchen.

»Einen notariellen Lügner«, sagte Mäxchen zu Rosa.

»Einen >notorischen< Lügner«, verbesserte sie.

Der Jokus drohte ihnen. »Wenn ihr euch nicht sofort auf eure vier Buchstaben setzt .«

»Wir sind zwei Personen«, meinte Mäxchen.

». dann meinetwegen auf eure acht Buchstaben .«

»Wir sitzen schon, o Herr«, flötete Rosa. »Nicht nur auf vier oder acht Buchstaben, sondern auf dem ganzen Alphabet. Mäx-chen auf dem kleinen, und ich .«

»Ruhe!«, befahl der Professor. »Ich habe vorhin mit Alaska telefoniert. Mit einer Mrs. Jane Simpson. Es sei lebenswichtig, hatte in ihrem Telegramm an Brausewetter gestanden, der mich heute früh anrief. Lebenswichtig, was konnte das bedeuten? Ihr Mädchenname sei Hannchen Pichelsteiner. Ich meldete sofort ein Gespräch an, schützte Kopfschmerzen vor, schluckte zwei scheußliche Tabletten und bat euch spazieren zu fahren.«

Rosa saß auf dem Sofa. Mäxchen saß auf der Sofalehne. Und sie schwiegen um die Wette.

»Vor etwa einer Stunde kam die Verbindung zustande. Ich habe mich mit Mrs. Simpson lange unterhalten, und sie versprach mir, sofort die Koffer zu packen. Morgen überweise ich ihr telegrafisch das Reisegeld, und wenn alles gut geht, werden wir mit den beiden Silvester feiern.«

»Mit den beiden?«, fragte Rosa. »Wieso mit den beiden?«

»Mrs. Simpson hat eine Tochter. Miss Emily Simpson ist neun Jahre alt, und wir könnten sie, wenn sie damit einverstanden ist,

Emilie nennen. Oder Miss Emil. Uns wird schon etwas Unpassendes einfallen.«

Mäxchen saß wie versteinert.

»Sie haben uns auf dem Bildschirm gesehen und den ganzen Abend geweint«, erzählte der Professor. »Mrs. Simpson scheint eine kleine unglückliche Frau zu sein.«

»Wie klein?«, flüsterte Mäxchen.

»Fünfzig Zentimeter groß.«

»Und wie unglücklich?«, fragte Rosa.

»Ihr gefiel es nicht in Pichelstein. Damit fing es an, und deshalb lief sie vor zehn Jahren bei Nacht und Nebel davon. Sie wollte keinen Pichelsteiner, sondern einen richtigen großen Mann haben. Und große Kinder. Dreimal so groß, wie sie selber war. >Guten Tag<, sollten die Leute zu ihren Kindern sagen, >wer ist denn die kleine Frau, die ihr an der Hand haltet?< >Ach, das ist doch unsere Mutti<, sollten die Kinder vergnügt antworten. Das war damals Hannchen Pichelsteiners sehnlichster Wunsch. Sie fuhr als blinder Passagier auf einem Transportdampfer bis nach Kanada. Der Matrose, der sie versteckt hatte, wurde vom Kapitän erwischt und gefeuert. Und weil der Matrose, der Simpson hieß, ein richtiger großer Mann war, heirateten sie. Er fand Arbeit als Packer in einer Konservenfabrik. Dann ließ er sich von einem Agenten für eine Pelztierfarm in Alaska anwerben. Dort bekam Mrs. Simpson eine Tochter. Und am nächsten Tag verschwand Mister Simpson. Er ist nie wieder aufgetaucht.«

»Das verstehe ich nicht«, meinte Rosa. »War er denn so sehr enttäuscht, dass es kein Junge war? Mädchen können doch auch ganz nett sein. Ich zum Beispiel .«

Doch sie brachte ihren Satz nicht zu Ende. Denn Mäxchen riss sich an den Haaren und rief: »Lieber, lieber Jokus, nun erzähle mir endlich, wie groß die Tochter ist! Ich halte es nicht länger aus!«

»Du hast es ja schon erraten«, sagte der Jokus und lächelte.

»Ist sie wirklich . ?«

»Sie ist wirklich ganz genauso klein wie du.«

Von diesem denkwürdigen Abend ließe sich noch allerlei berichten. Doch ich tue es nicht. Es gibt, finde ich, Augenblicke, in denen der Erzähler auf Zehenspitzen aus dem Zimmer gehen und seine Romanfiguren allein lassen sollte. Er schließt hinter sich die Tür, lauscht noch eine Weile und spaziert dann, an der schimmernden >Villa Glühwürmchen< vorbei, bis zur Terrasse und blickt auf Lugano hinunter. Welch ein Glanz und Geglitzer!

>Miss Emily heißt das daumenlange Mädchen<, denkt er, während er hinunterblickt. >Ob sie so hübsch und gescheit wie Mäx-chen ist?<, fragt er sich bekümmert. >Aber Emily oder Emilie, nein, das passt nicht. Mäxchen und Emily? Nein. Mäxchen und Emilie? Nein. Mäxchen und ...< Plötzlich ruft er: »Ich hab’s! Mäxchen und Mielchen!« Und damit beginnt .

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