Wo Breganzona liegt, ist unklar /König Bileams Kopfbedeckung / Beschreibung der Hauptstadt / Judith näht, und Mäxchen singt / Vierzehn Tage dauern nur zwei Wochen.
Mister Drinkwater flog also nach Genua. Wo Genua liegt, wisst ihr. Und wer es nicht wissen sollte, kann im Schulatlas nachsehen. Professor Jokus von Pokus fuhr, mit Mäxchen in der Brusttasche, nach Calais, kletterte in das Flugzeug >Dagobert<, das sie dort erwartete, und flog nach Breganzona. Wo Breganzona liegt, wisst ihr nicht. Und wer im Schulatlas nachsieht, wird sich wundern.
Sogar in den größten und dicksten Atlanten findet man es nicht. Da hilft kein Blättern. Und auch in meinem alten fünfundzwan-zigbändigen Lexikon wird es nicht genannt. Mit keinem Wort. Obwohl sogar das Dorf Pichelstein erwähnt ist. Man fasst sich an den Kopf. Nur in dem berühmtesten englischen Nachschlagewerk, der Encyclopaedia Britannica, stehen ein paar Hinweise. Ins Deutsche übersetzt, lauten sie folgendermaßen:
Breganzona. Sämtl. Angaben ohne Gewähr. Lage, Größe und Einwohnerzahl unbekannt. Vermutlich Stadt und Insel im Atlantik. Ursprünglich Künstlerkolonie. Seit 1912 Wahlkönigtum. König Dagobert der Weise (1912-1950), fran-zös. Abstammung, Kulturphilosoph.
Seit 1951 Bileam der Nette, dtsch. Herkunft, Kunstmaler. Ausfuhrartikel: Spielzeug, Bilder, Bücher, Bilderbücher, Süß-und Wurstwaren, Turnschuhe, Luftballons, Farbkästen, Leb- und Kirschkuchen, Kau- und Knetgummi usw.
Einfuhr: nicht nennenswert. Fremdenverkehr: keiner. Deckadresse für Export: Calais, Frachthafen, Dock XIIB; für Briefpost und Päckchen: Calais, postlagernd Box 97.
Literatur über Br.: keine. Beitrag fußt auf Gerüchten.
Die Red.
Der Flug dauerte knapp zwei Stunden. Meist erblickte man Wasser, manchmal ein Stück Küste und schließlich nur noch Ozean. Keine Wellen, keine weiße Gischt, nur Gänsehaut aus zitterndem Wasser. Und ab und zu, mit Ost- oder Westkurs, winzige Schiffe.
Als die Stewardess auf dem Klapptisch Rührei mit Schinken servierte, fragte der Jokus: »Wie oft fliegen Sie diese Strecke? Täglich? Oder zwei-, dreimal in der Woche?«
Sie schaute ihn verwundert an. »Machen Sie Spaß? Wir fliegen doch nur, um Gäste abzuholen. Und das tun wir nicht zwei-, dreimal in der Woche, sondern zwei-, höchstens dreimal im ganzen Jahr.«
»Kommen denn keine Touristen?«, fragte Mäxchen, während er ein Schinkenhäppchen vom Teller angelte. »Keine Reporter und Fotografen?«
Die Stewardess schlug die Hände über ihrem flotten Mützchen zusammen. »König Bileam bewahre uns! Solchen Störenfrieden ist der Zutritt verboten. Den letzten, der es probierte, hat Bileam der Nette eigenhändig ins Motorboot zurückgeprügelt.«
»Womtrdendamzurkprlt?« Mäxchen musste husten.
Der Jokus sagte streng: »Man spricht nicht mit vollem Mund.«
Mäxchen hustete noch eine Weile, bis er wieder deutlich sprechen konnte. »Ich wollte nur wissen, womit ihn der König zurückgeprügelt hat.«
»Mit einem Teppichklopfer«, erklärte die junge Dame. »Aber hab keine Angst, mein Kleiner. Seine Gäste haut er nicht.« Nach diesen Worten ging sie zur Bordküche und mit einem beladenen Tablett zum Cockpit, damit der Pilot und der Funker nicht verhungerten.
»Sie hat leicht reden«, sagte Mäxchen leise. »Wenn ich jetzt allein wäre, würde ich mich vermutlich fürchten. Geht’s dir auch so? Ein leeres Flugzeug. Nur die Besatzung. Und wo Breganzona liegt, weiß niemand .«
»Iss noch ein bisschen Rührei«, schlug der Jokus vor. »Das stärkt die Nerven.«
»Nein, ich bin satt und mache mir Sorgen.« Schon kletterte der kleine Mann am Professor hoch und verschwand in dessen Brusttasche. Plötzlich steckte er noch einmal den Kopf heraus. »Beschütz mich gut.«
»Besser als mich selber«, sagte der Jokus. Dann spürte er, wie sich Mäxchen in der Brusttasche zurechtkuschelte. Er lächelte, zündete sich eine Zigarette an und blickte durch das runde Fenster zum Horizont, wo sich der Ozean und der Himmel guten Tag wünschten.
König Bileam der Nette stand auf dem Rollfeld des Flugplatzes von Breganzona, zog die Taschenuhr aus der Brokatweste und erklärte laut und deutlich: »Wenn sie nicht gleich kommen, kommen sie später oder nie. Eine vierte Möglichkeit gibt es nicht.«
Neben ihm standen Judith und Osram, seine Sprösslinge. Und hinter den dreien bildeten vierzig Schulklassen Spalier. Mit Triangeln, Mundharmonikas, Gitarren und Querpfeifen. Alles wartete.
Der König sah aus wie ein glatt rasierter Weihnachtsmann. Er hatte weißes Haar, gesunde rote Backen und trug einen steifen schwarzen Hut auf dem Kopf. Aber außerdem trug er auch die Königskrone. Sie lag, von der Krempe gestützt, auf dem runden Hutrand, blitzte golden und war von der Königin festgenäht worden. Sonst wäre sie ja beim Hutabnehmen jedes Mal heruntergefallen. (Ich meine die Krone, nicht die Königin.)
»Hut und Krone gehören bei mir untrennbar zusammen«, pflegte Bileam der Nette zu sagen. »Ohne Hut wäre ich nur ein König, ohne Krone wäre ich nur ein Bürger. Ich bin beides, und ich trage beides, bis mir eines Tages die Krone zu schwer wird. Dann nehme ich sie ab, habe nur noch den Hut auf dem Kopf und male wieder Bilder.«
Prinzessin Judith zupfte ihn am Ärmel. »Papa, die Maschine kommt!«
Sie hatte Recht. Das Flugzeug >Dagobert< war am Horizont aufgetaucht, wurde größer und lauter, flog eine Schleife, landete, mit gedrosselten Motoren, auf dem Rollfeld, wurde vom Bodenpersonal eingewinkt und stand zitternd still. Der Ausstieg öffnete sich. Die Gangway wurde hingefahren. Zuerst erschien die Stewardess. Hinter ihr tauchte der Jokus auf. Er winkte.
»Musik!«, rief König Bileam, und schon begannen die vierzig Schulklassen zu musizieren, dass die Wände gewackelt hätten, wenn Wände in der Nähe gewesen wären. Ob es sehr schön klang, weiß ich nicht so genau. Sehr laut klang es ganz bestimmt. Man könnte am ehesten sagen: Es klang sehr schön laut.
Die Begrüßung verlief äußerst herzlich. Der König nahm Hut und Krone ab. Judith machte einen Knicks. Osram machte einen Diener. Der Jokus schüttelte allen dreien die Hand. Mäxchen winkte aus der Brusttasche und lachte. Aber man hörte nicht, dass er lachte. Und man hörte nicht, was Bileam und der Jokus sagten. Denn in jeder Schulklasse des Königreichs Breganzona sitzen zwar nur fünfundzwanzig Kinder, aber wenn vierzig Klassen Musik machen, machen tausend Kinder Musik.
Erst als sich Bileam entsetzt die Ohren zuhielt, wurden die Musikanten still. Nun sagten der König und der Jokus noch einmal dasselbe, was sie schon gesagt, aber wegen des Lärms nicht verstanden hatten. Der Jokus holte Mäxchen aus der Brusttasche, setzte ihn dem König auf den Handteller, und nun schritten sie, unter dem Jubel der tausend Kinder, zu dem Auto, das auf sie wartete. Es war ein Rolls-Royce aus dem Baujahr 1930. Ein geräumiges und bequemes Vehikel. Beim Einsteigen musste sich, trotz Hut und Krone, nicht einmal der König bücken.
»Meine Frau lässt sich entschuldigen. Sie konnte nicht mitkommen«, sagte der König, während sie durch die Stadt fuhren. »Sie kocht Kakao und stellt belegte Brötchen her. Das lässt sie sich nicht nehmen. Dabei weiß sie doch, dass wir vorher beim Würstchengott einkehren wollen.«
»Beim Würstchengott?«, fragte Mäxchen. »Wer ist denn das?« Er saß auf der königlichen Krempe, mit dem Rücken zur goldenen Krone, und fühlte sich wie zu Hause.
»Der Würstchengott ist ein Fleischermeister«, sagte Osram. »Sein Lachen ist berühmt, und .«
». und am berühmtesten sind seine heißen Würstchen«, schwärmte Judith. »Die macht ihm keiner nach. Sie zergehen einem auf der Zunge.«
»Wie machen sie das denn?«, fragte Mäxchen. »Ich kenne nur Würstchen, in die man hineinbeißt, dass es knackt, und die man tüchtig kauen muss.«
Fast wären sich die Kinder in die Haare geraten. Erst als sich der König umdrehte und gemütlich meinte: »Zankt euch nicht, haut euch lieber«, wurden sie wieder friedlich, und die zwei Männer konnten ihre Unterhaltung in aller Ruhe fortsetzen.
»Warum haben Sie eigentlich die Dame Ihres Herzens nicht mitgebracht?«, fragte Bileam. »Ihr hübsches Marzipanfräulein?«
»Sie besucht eine alte Tante«, sagte der Professor, »und lässt sich vielmals entschuldigen.«
»Rosa hat gar keine alte Tante«, rief Mäxchen, »und du mogelst.«
»Stimmt das?«, fragte der König amüsiert und faltete die Hände überm Bauch.
Der Jokus zwinkerte ihm verstohlen zu. »Es stimmt, dass sie keine alte Tante hat, und es stimmt, dass ich gemogelt habe.«
Mäxchen schob den Kopf über den königlichen Hutrand und drohte dem Professor mit dem Finger. »Ihr habt Geheimnisse vor mir.«
»Auch das stimmt, Söhnchen. Es ist allerdings nur ein einziges Geheimnis, aber .«
»Können Sie mir’s nicht ins Ohr sagen?«, fragte Bileam.
»Erst wenn der Lümmel nicht mehr auf Ihrem Hut sitzt. Denn für das, was er nicht hören soll, hat er besonders feine Ohren.«
»Mit meinen Kindern ist es genau dasselbe«, gestand der König. »Wenn man ihnen etwas befiehlt, sind sie taub wie der Mann im Mond. Doch wenn mir ihre Mutter was ins Ohr tuschelt, verstehen sie jedes Komma.«
»Ist es wenigstens ein schönes Geheimnis?«, wollte der kleine Mann wissen.
»Du wirst Augen machen, so groß wie Suppentassen.«
»Und wann werde ich so große Augen machen?«
»In vierzehn Tagen.«
Breganzona ist eine heitere Stadt. Die Leute sind vergnügter als anderswo. Die Verkäuferinnen sind freundlicher. Die Gardinen an den Fenstern, ja sogar die Regenwolken über den Dächern blicken lächelnd auf die Straßen und Plätze. Wer in der Straßenbahn mindestens zehn Stationen weit fährt, erhält vom Schaffner einen Becher Limonade gratis. Und keine der vielen städtischen Laternen gleicht der anderen. Sie sind bunt und verschieden wie Lampions bei einem Gartenfest.
Wer Einkäufe macht, muss nicht, wie ein Hase bei der Treibjagd, über die Fahrbahn springen. Die Autobesitzer parken ihre Wagen außerhalb des Geschäftsviertels, holen ihre Trittroller aus dem Kofferraum und trittrollern gemütlich von Laden zu Laden.
»Sonst machen wir das auch«, sagte König Bileam. »Nur wenn wir Gäste abholen, bleiben wir in der Staatskarosse sitzen. Ehre, wem Ehre gebührt.«
Mäxchen gefiel so viel Ehre ganz und gar nicht. »Können wir denn nicht trotzdem umsteigen? Sie auf dem Trittroller und ich auf Ihrem Kronenhut oder Ihrer Hutkrone - das wäre ein Riesenspaß.«
»Vielleicht ein andermal«, meinte der König.
»Außerdem sind wir schon da«, stellte Osram fest. »Alles aussteigen.«
Der Würstchengott war ein umfangreicher Fleischermeister und schüttelte ihnen kräftig die Hand. Nur bei Mäxchen traute er sich nicht. Die Kundschaft in dem engen Laden nahm vom König und seiner Begleitung keine Notiz. Das war in Breganzona so üblich.
Ob er auf dem Jahrmarkt mit seiner Familie Achterbahn fuhr oder auf den Lukas haute, ob er irgendwo für Judiths Aquarium Wasserflöhe kaufte oder für Hildegard, die Königin, eine Langspielplatte oder eine Eieruhr - die Leute bückten freundlich beiseite.
Natürlich kam es trotzdem vor, dass sie gelegentlich zu ihm hinschielten. Noch dazu heute, wo der kleine Mann auf der königlichen Hutkrempe saß. Denn so etwas sah man ja nun wirklich nicht alle Tage.
Hinter der Ladentafel glänzten und dampften die Verkäuferinnen und die Wurstkessel. Davor standen, blank gescheuert, sieben runde mannshohe Holztische. Für Stühle war kein Platz. Man aß im Stehen. Deshalb waren ja auch die Tische doppelt so hoch wie anderswo. Außerdem hatten sie, in halber Höhe, eine untere Tischplatte. Dort standen die Teller für die Kinder, wenn man welche mitbrachte. Sechs Tische waren mit Tellern, Würstchen, Semmeln und Senftöpfen beladen und von schwatzenden und schmatzenden Kunden umlagert.
Den leeren Tisch in der Mitte schmückte ein bestickter Wimpel mit der Inschrift: >Hier schmeckt’s dem König. Täglich zwischen 16 und 17 Uhr. Würstchengott, Hoflieferant.<
»Das nenne ich praktisch«, meinte der Jokus, »jeder Tisch hat zwei Etagen.«
Der Meister, der sie persönlich bediente, strahlte. »Meine eigne Erfindung«, sagte er stolz. »Ich habe sie als den >Zweistöckigen Steh- und Esstisch für Groß und Klein< beim Patentamt angemeldet. Guten Appetit allerseits.« Dann stapfte er ins Schlachthaus, um für die dampfenden Kessel noch ein paar Spieße mit Würstchen zu holen.
»Solche Tische nennst du praktisch?«, fragte Mäxchen den Professor. »Da kann ich nur staunen.«
Der Jokus und der König bissen andächtig in die heißen Würstchen und seufzten selig. Mäxchen bekam von beiden Männern einen Happen ab, seufzte gleichfalls und rutschte an einem der Tischbeine in die untere Etage.
Dort bissen gerade Judith und Osram in ihre Würstchen, dass es nur so knackte. Sie verdrehten vor Wonne die Augen. Mäxchen
kostete auch hier, hätte sich fast die Zunge verbrannt und schnappte nach Luft.
»Was sagst du nun?«, fragte Osram.
Aber Mäxchen sagte gar nichts. Er war schon wieder am Tischbein hochgeklettert und ließ sich droben vom König weiterfüttern.
»Noch zwei Paar heiße Würstchen!«, rief der König.
Kurz darauf rief Judith: »Noch zwei Paar heiße Würstchen, bitte! Für die Kinderetage!«
Der Fleischermeister brachte wieder vier Paar angeschleppt.
Wieder ließ man sich’s schmecken. Und wieder kletterte Mäx-chen zwischen den zwei Tischplatten hin und her und hinauf und herunter. Erst nach der zwanzigsten Klettertour gab er das Rennen auf.
»Wie hat’s geschmeckt?«, fragte Judith.
»Du hast Recht gehabt«, antwortete Mäxchen. »Sie zergehen einem auf der Zunge.«
Auf der Fahrt zum Schloss kaufte König Bileam fünf rote Tulpen. »Für meine liebe Frau«, sagte er.
»Damit Mutti nicht schimpft«, stellte Osram sachlich fest. Prinzessin Judith lächelte klug vor sich hin. »Zwei Tulpen, weil wir zu spät kommen, und zwei Tulpen, weil wir satt sind. Doch wozu die fünfte?«
»Damit sie sich freut«, erklärte der König. »Und nun putzt euch den Mund. Hier ist mein Taschentuch.«
Die Königin blieb bis zur vierten Tulpe ungnädig. Doch bei der fünften schmolz ihr strenger Bück. Denn in der fünften Tulpe stand Mäxchen, steckte den Wuschelkopf über den Blumenrand und sagte: »Je später der Abend, umso schöner die Gäste.« Da band sich die Königin vor Vergnügen die Küchenschürze ab.
Nach der Begrüßung liefen die zwei Königskinder, mit Mäx-chen in der Hand, ins Spielzimmer, wo sie schon am Vormittag die Ritterburg, die Eisenbahn und das Blockhaus mit den Trappern und den Siouxindianern aufgebaut hatten. Zuerst setzten sie die elektrische Eisenbahn in Betrieb. Osram stellte die Weichen.
Judith bediente die Signale. Und Mäxchen war der Lokomotivführer. Er hatte genau die richtige Größe. (Aber wir wollen die drei beim Spielen nicht stören. Kinder haben das gar nicht gerne.)
Inzwischen saßen Bileam, seine Frau und der Jokus in der Schlossbibliothek. Die Herren tranken ein Glas Wein. Die Königin nähte mit ein paar Stichen die Krone auf dem Hut ihres Mannes fester. Und manchmal hörten sie das Kindergeschrei aus dem Spielzimmer.
»Das Schloss ist nicht sehr groß«, sagte der König. »Und alt ist es erst recht nicht. Dagobert, mein Vorgänger, ließ es nach seiner Wahl im Jahre 1912 bauen, und der Geschmack war damals ziemlich schauderhaft.«
»Aber die Mauern sind solide«, meinte seine Frau, »die Zimmer sind nicht so niedrig wie heutzutage, und seit wir Ölheizung haben, gibt es auch keine feuchten Wände mehr.« Sie biss den Nähfaden ab. »So, Bileam, nun sitzt die Krone wieder fest. Ich hänge den Hut in die Garderobe.« Sie ging und ließ die beiden allein.
»Stimmt es, dass Breganzona ursprünglich eine Künstlerkolonie war?«, fragte der Jokus.
»Eine Ferieninsel für Maler, Musiker und Schriftsteller, nichts weiter. Aber die Welt draußen wurde immer lauter, die Fabrikschornsteine qualmten immer giftiger, die Kriege wurden immer übler, und das Goldene Kalb wuchs, bis es ein Riesenochse war -da blieben die Sommergäste für immer hier.«
»Und aus dem Künstlervölkchen wurde ein Volk.«
»Nennen wir’s weiterhin ein Völkchen«, meinte der König. »Mehr sind wir nicht, und mehr wollen wir nicht sein. Wir wollen weder in den Atlas noch ins Lexikon. Wir wollen weder Ruhm noch Reichtum.«
»Seien Sie froh, dass Breganzona so klein ist«, sagte der Jokus. »Sonst hätten Sie großen Ärger.«
»Prosit, Professor.« Der König hob sein Glas. »Und nun verraten Sie mir endlich, warum Rosa Marzipan nicht mitgekommen ist.«
»Wir haben, ohne dass der Junge es ahnt, ein Haus gekauft, und sie richtet es heimlich ein. Man kann nicht ewig von einem Hotel ins nächste ziehen.«
»Nur zu wahr«, brummte Bileam. »Man will wissen, wohin man gehört. Man wird nicht jünger.«
»Das gilt sogar für Mäxchen. Auch er wird älter. Er braucht endlich ein Zuhause. Er braucht endlich gründlichen Privatunterricht. Außerdem will ich meine >Geschichte der Zauberkunst< schreiben ...«
»... und Fräulein Marzipan heiraten.«
»Das ist leichter gesagt als getan.«
»Nanu. Will sie nicht?«
»Lieber König Bileam, können Sie schweigen?«
»Nicht nur wie das Grab, sondern wie ein ganzer Friedhof. Was ist los?«
»Wir haben Angst um Mäxchen«, sagte der Jokus bekümmert. »Wo ich bin und schlafe und gehe und stehe, er ist bei mir, er war bei mir, und er kennt es nicht anders. Was soll werden, wenn Rosa und ich heiraten? Wenn wir Kinder haben? Ich kann mich nicht in Stücke schneiden. Er würde glauben, ich liebte ihn weniger. Er wäre unglücklich, der kleine Kerl, und ich wäre es auch.«
»So unglücklich können glückliche Menschen sein«, meinte König Bileam bedächtig. »Was sollen erst die Unglücklichen machen?«
Mittlerweile ging es im Spielzimmer hoch her. Mäxchen hatte den Beruf des Lokomotivführers längst an den Nagel gehängt. Er war, trotz der hochgeklappten Zugbrücke und des tiefen Wassergrabens, in die Burg eingedrungen. Im Burghof, auf den Wehrgängen und auf dem Söller hatte er sämtliche Ritter umgelegt, von den Knappen und Knechten ganz zu schweigen.
Nachdem Maximilian von Pichelstein, der edle Ritter, jeglichen Widerstand gebrochen hatte, nahm er den erbeuteten Helm vom Haupt, trocknete sich die Heldenstirn und blickte kühn in die Ferne. »Ich dürste nach neuen Taten«, rief er. »Den nächsten Feind, bitte!«
Prinz Osram wusste Rat. »Im Wilden Westen tut sich was. Die Sioux belagern das Blockhaus. Wie wär’s?«
»Wer wird siegen, o Fremdling?«
»Die Rothäute wollen die Palisaden anzünden. Die Fackeln lodern schon.«
»Wir werden sie auslöschen.«
»Womit?«, fragte Osram ratlos. »Die Brunnen sind leer. Die Wasserleitung ist kaputt.«
»Dann nehmen wir Spucke«, rief Trapper Max, das unerschrockene Bleichgesicht.
»Jawohl«, schrie Osram. »Das ist die Lösung!«
»Ihr seid zwei kleine Dreckschweine«, sagte Judith pikiert. »Untersteht euch, im Zimmer herumzuspucken.«
Mäxchen blickte Osram an. »Wer ist die vorlaute Squaw? Was mischt sie sich in Männersachen?«
»Soll ich sie auf den Rücken eines Mustangs binden und in die Prärie jagen?«
Doch daraus wurde nichts. Die rüden Männer aus dem Wilden Westen vergaßen ihre grausamen Pläne mit einem Schlag und starrten fasziniert auf Judiths Hände. Denn die Prinzessin nähte. Sie nähte auf einem runden schwarzen Hut eine goldene Krone fest!
Die Krone war Judiths kleiner goldener Geburtstagsring, und der Hut war auch nicht viel größer, weil er eigentlich einer Puppe gehörte, einem fingerlangen Hirten aus der Puszta. Nun lag er kahl und unbeachtet neben Judiths Nähzeug. Sie biss den Faden ab und sagte: »So.«
»Genau wie Papas Ausgehkrone«, rief Osram.
»Für mich?«, fragte Mäxchen vorsichtig.
»Vielleicht«, sagte Judith. Und während sie ihm den Kronenhut aufsetzte, verdrehte er die Augen, als wolle er sich selber auf den Kopf sehen.
Die Geschwister klatschten vor Begeisterung in die Hände. »Er passt wie angegossen«, rief Judith. Und Osram rief: »Wie Vati auf den Briefmarken!«
Und Mäxchen? Da stand er nun neben Judiths Nähkästchen und wusste nicht, wie schön er aussah. Wie schön man aussieht, sehen immer nur die anderen. »Habt ihr denn keinen Spiegel im Haus?«, fragte er zappelig.
Judith holte ihren Handspiegel, lehnte ihn ans Nähkästchen, und nun konnte sich der kleine Mann endlich betrachten. Er ließ sich Zeit und fand sich wunderbar. Er stolzierte auf und ab, winkte seinem Spiegelbild zu, schwenkte den Hut zum Gruß und rief: »Majestät sehen heute wieder blühend aus! Na ja, kein Wunder. Heiße Würstchen sind die beste Medizin. Vor allem für Leber und Galle. Es gibt keine bessere Diät.«
Mäxchen war aufgezogen wie ein Uhrwerk. Ihm fiel ein Unsinn nach dem anderen ein. Und die Königskinder wollten sich schief und scheckig lachen.
Bileam runzelte die Stirn. »Der Krach wird ja immer toller. Waren wir als Kinder auch so schrecklich laut? Ich fürchte, wir müssen mal dazwischenfahren. Kommen Sie, Professor.« Sie verließen die Bibliothek, gingen auf Zehenspitzen den Korridor entlang und blieben vorm Spielzimmer stehen. Sie hörten, wie Mäxchen rief: »Und nun, meine Dame und mein Herr, bringe ich das Lied auf König Bileam zum Vortrag. Ich habe es vorhin in der roten Tulpe gedichtet. Sie dürfen klatschen. Der Beifall ist das Brot des Künstlers. Wollen Sie mich verhungern lassen?«
Der Jokus schmunzelte. Im Zimmer wurde laut geklatscht. Der König öffnete die Tür. Natürlich nur einen Spalt. Sie schauten hindurch und hielten sich vor Staunen aneinander fest. Mäxchen mit Hut und Krone!
Judith und Osram hockten auf dem Fußboden. Mäxchen stand vor dem Nähkästchen und erklärte: »Ich bitte um Ihre geschätzte Aufmerksamkeit. Die Kapelle lässt sich entschuldigen. Sie hat den Keuchhusten und liegt bei Doktor Ziegenpeter im Krankenhaus. Mir bleibt auch nichts erspart. Trotzdem, es - geht - los!«
Er machte ein paar Tanzschritte, drehte eine Pirouette, breitete die Arme aus und sang:
»König Bileam der Nette
trägt die Krone auf dem Hut.
Doch er trägt sie nicht im Bette,
weil sie ihn dort stören tut.
König Bileam der Nette
liegt ganz ohne goldne Krone
und Melone nachts im Bette,
wenn er ruht.
Denn -wenn -
Bileam der Nette
beides nachts im Bett aufhätte,
schliefe er nur halb so gut.«
Mäxchen machte noch ein paar Tanzschritte, drehte noch eine Pirouette, zog den Hut und sagte: »Aus. Das war’s. Wenn es Ihnen nicht gefallen hat, können Sie an der Kasse Ihr Eintrittsgeld zurückverlangen.«
»Es war großartig«, rief Judith, »du wirst ein Dichter wie Az-navour. Der ist ja auch nicht groß.«
»Sing’s noch einmal«, bat Osram. »Wir klatschen im Takt in die Hände und singen mit.«
»Wir auch«, sagte Bileam und trat mit dem Jokus ins Zimmer. »Los, kleiner König, eins und zwei und ...«
Sie klatschten zu fünft in die Hände. Mäxchen schmetterte sein Lied. Die anderen sangen mit, manchmal allerdings nur »Lalala«, wenn Bileam, zum Spaß, plötzlich ins Schloss zurückwollte und fragte: »Oder haben wir etwas vergessen?«, beugte sich Mäxchen jedes Mal schnell über die große Hutkrempe und flüsterte: »Die heißen Würstchen!«
»Wahrhaftig«, rief dann der König erschrocken, »mein Gedächtnis lässt nach. Geht’s Ihnen ähnlich, Professor?«
So kehrten sie schließlich, bevor sie heimfuhren, doch noch beim Würstchengott ein. Das gehörte zu den Fahrten in die Stadt wie der Donner zum Blitz.
Gegen Abend, wenn sie im Spielzimmer saßen, zauberte der Jokus. Er hatte ja den Zauberfrack mitgebracht. Oder Mäxchen und er zeigten ihre Glanznummer >Der große Dieb und der kleine Mann<. Sie stahlen wie die Raben. Sie stahlen auch die Krone von Bileams Hut, obwohl sie festgenäht war. Die Königin konnte es überhaupt nicht fassen. Im >Lokalanzeiger< stand sogar, die beiden hätten am Freitag das Nadelöhr aus Judiths Nähnadel gestohlen. Doch das halte ich für leicht übertrieben, und auch der Pressechef der Königlichen Staatskanzlei schrieb in einem Leserbrief an die Zeitung, das Nadelöhr sei keine Minute vermisst worden.
Viel Spaß machte der Königsfamilie und der Dienerschaft auch die Nummer >Der Bauchredner und seine Puppe<. Der Jokus tat während dieser Szene, als könne er bauchreden, und Mäxchen, der auf seinem Knie saß, bewegte, während sie sich unterhielten, den Kopf, die Augen und die Arme, als sei er eine vom Jokus heimlich gelenkte Gliederpuppe.
Liebe Leser, ich hätte euch diese Darbietung gerne näher beschrieben, aber der verehrte Herr Bauchredner war dagegen. Und Mäxchen sagte: »Die Nummer ist noch lange nicht bühnenreif.«
Außerdem fand die Vorstellung am 14. Dezember statt und wurde, trotz aller Bitten, nicht wiederholt. Denn es war Zeit zum Kofferpacken. Sogar höchste Zeit. Habt ihr schon einmal einen Zauberfrack in einem Koffer verstaut? Nein? Dazu braucht man eine bis anderthalb Stunden.
Frühmorgens am 15. Dezember brachte die königliche Familie den Professor und den kleinen Mann zum Flugplatz. Der Abschied war herzlich und schmerzlich. Alle sagten gleichzeitig: »Auf baldiges Wiedersehen.« Die Maschine >Dagobert< stieg in die Lüfte. Und damit beginnt .