8.

»Besser jetzt?« Herger lächelte aufmunternd, knotete den Verband zusammen und sah Skar mit mühsam verhohlener Besorgnis an. Sein Gesicht war noch immer grau vor Schrecken, aber seine Hände hatten nicht gezittert, als er Skars Wunden gesäubert und verbunden hatte.

Skar setzte sich auf, bewegte prüfend den rechten Arm und ballte ein paarmal die Faust, so daß sich die Muskeln unter dem breiten weißen Verband spannten. Die Wunde schmerzte kaum noch. Herger hatte sie mit Wasser aus dem Bach, an dem sie rasteten, ausgewaschen und hinterher eine farblose, übelriechende Paste aufgetragen, die die Blutung vollends zum Stillstand gebracht und die Schmerzen mit wohltuender Kühle vertrieben hatte. Der Verband war nicht der einzige - Herger hatte darauf bestanden, Skar gründlich zu untersuchen, und hatte fast zwei Dutzend Wunden gefunden; die meisten waren allerdings nicht mehr als harmlose Kratzer, die nicht einmal eines Verbandes bedurften; einige waren aber auch tief und gefährlich, klaffende Schnitte, die Skar erst jetzt nach und nach zu spüren begann. Der Hehler hatte fast ihren gesamten Vorrat an Verbandszeug und Salben aufgebraucht, um ihn zu versorgen. Aber Skar mußte zugeben, daß Hergers Behandlung wahre Wunder gewirkt hatte. Nicht nur die Schmerzen waren verschwunden, auch das Schwächegefühl hatte sich Stück für Stück zurückgezogen und, wenn auch nicht neuer Kraft, so doch einem Gefühl angenehmen Wohlbefindens Platz gemacht.

Skar nickte dankbar, stemmte sich in eine halb sitzende, halb hockende Position hoch und griff nach Hergers hilfreich dargebotener Hand, um vollends aufzustehen.

»Du solltest ein paar Stunden ruhen«, sagte Herger. »Du hast viel Blut verloren. Und ich glaube, wir sind hier in Sicherheit. Vorläufig wenigstens.«

Skar sah sich zweifelnd um. Sie hatten Anchor verlassen und waren zwei, vielleicht drei Stunden - die genaue Zeit wußte er nicht mehr - nach Norden geritten, über karges, nur von vereinzelten Büschen und halbvertrockneten Grasinseln bewachsenes Land zuerst, später über Steppe, und sie hatten schließlich diesen kleinen Hain am Fuß einer jäh aus der Ebene aufwachsenden Hügelkette erreicht. Hergers Worte klangen verlockend. Skar war noch immer müde, und noch dringender als sie brauchten die Pferde eine Rast. Aber Skar wußte auch, daß ihre Verfolger ihnen die Zeit, die sie brauchten, nicht zugestehen würden. Tantors Tod änderte vieles, aber nicht alles, und er, Skar, war noch immer ein Gejagter, vielleicht noch mehr als zuvor.

»Wir müssen weiter«, sagte er. »Ich bin sicher, daß sie hinter uns her sind. Selbst ein Blinder könnte unsere Spuren verfolgen.«

»Die Thbarg?« Herger versuchte zu lächeln, aber es mißlang ihm kläglich. Skars Worte hatten die Erinnerung an das, was in Anchor geschehen war, wieder geweckt, und in Hergers Augen glomm erneut Furcht auf. »Ich glaube kaum, daß noch genug von ihnen übrig sind, um uns zu verfolgen«, sagte er. Seine Worte sollten betont gleichmütig klingen, bewirkten aber eher das Gegenteil. Skar musterte ihn scharf. Hergers Gesicht war blaß; von einer ungesunden, leicht ins Gräuliche spielenden Farbe, die an feuchtes Wachs erinnerte. Er wirkte gefaßt, aber in seinen Augen stand ein verräterisches Glitzern, und es war nicht nur die Erschöpfung, die seine Züge gezeichnet hatte.

»Ich spreche nicht von Thbarg«, sagte Skar grob, »und das weißt du genau.« Er ging an Herger vorbei, schwang sich in den Sattel und griff nach den Zügeln. Das Pferd scheute, versuchte auszubrechen und begann unruhig auf der Stelle zu tänzeln, als Skar es mit einem harten Ruck am Zügel zur Räson brachte. Sein Fell glänzte, und Skar konnte den scharfen Schweiß des Tieres riechen. Herger hatte zumindest in einem Teil seiner Versprechungen Wort gehalten - das Fluchttor an der Nordseite der Stadt hatte offengestanden, aber sie waren, nachdem sie Anchor verlassen hatten, fast ununterbrochen im Galopp geritten und hatten den Pferden das letzte abverlangt. Es war schon beinahe ein Wunder, daß noch keines der Tiere tot unter seinem Reiter zusammengebrochen war. Herger hatte recht - es war Wahnsinn, jetzt auf diesen Tieren weiterzureiten; aber es wäre ein noch größerer Wahnsinn gewesen, zu bleiben und auf die Verfolger zu warten. »Dieser ... Wolf«, fragte Herger, ohne sich von der Stelle zu rühren, »was war das? Ein Dämon?«

Skar schwieg einen Moment. »Wenn man an Dämonen und Geister glaubt, dann ja«, sagte er schließlich.

Herger dachte einen Moment über Skars Worte nach, kam aber sichtlich zu keinem Ergebnis. Langsam und mit deutlichem Widerwillen ging er zu seinem Pferd, stieg in den Sattel und sah unsicher zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Skar folgte seinem Blick. Hinter ihnen lag nichts als die dichte, grüne Wand des Waldes, aber er konnte sich lebhaft vorstellen, was Herger hinter dem wuchernden Grün sah.

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte er, ohne Herger anzusehen. »Er ... wird dir nichts tun.«

Herger runzelte die Stirn, schwieg aber. Das Schicksal Tantors und der Thbarg-Krieger strafte Skars Worte Lügen.

»Wir werden uns trennen«, sagte Skar hastig. »Am besten jetzt gleich. Solange du nicht in meiner Nähe bist, bist du nicht in Gefahr, glaub mir.«

»Trennen?« wiederholte Herger. »Du scherzt, Skar.«

Skar schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht. Ich danke dir für deine Hilfe, aber von jetzt an reite ich allein weiter. Ich würde dich nur in Gefahr bringen.«

Zu seiner Überraschung begann Herger zu lachen. »Gefahr, sagst du? Was ist das, Skar? Satai-Humor? Ich glaube nicht, daß du mich noch mehr in Gefahr bringen kannst, als du es bereits getan hast.«

»Muß ich dich erst niederschlagen, oder reitest du freiwillig in einer anderen Richtung weiter?« fragte Skar, ohne auf Hergers Worte einzugehen. »Ich spaße nicht, Herger. Du hast gesehen, was jemandem passieren kann, der mir zu nahe kommt.«

Herger verzog abfällig die Lippen. »Skar, der Unglücksbringer«, sagte er spöttisch. »Der Mann mit dem Fluch, wie? Hör mit dem Unsinn auf. Ich habe euch Satai nie als Halbgötter angesehen, wie es die anderen tun, und ich werde damit auch jetzt nicht anfangen. Du kennst dieses Land nicht, Skar. Du willst nach Elay, aber allein und ohne Hilfe wirst du es niemals bis dorthin schaffen. Du wärest ja nicht einmal über Anchor hinausgekommen aus eigener Kraft. Und ich werde schon auf mich achtgeben, keine Sorge.«

Skar setzte zu einer scharfen Entgegnung an, beließ es aber dann bei einem wortlosen Achselzucken und ritt los. Herger folgte seinem Beispiel und drängte sein Tier ans Skars Seite. »Ich habe dir ein Angebot gemacht gestern abend«, fuhr er fort, ohne Skars verbissenes Schweigen zu beachten. »Und es sieht so aus, als hättest du gar keine andere Wahl, als es anzunehmen.«

Skar schwieg noch immer. Das Schlimme ist, dachte er, daß Herger mit jedem Wort recht hat. Vielleicht würde er den Weg nach Elay aus eigener Kraft finden, aber er hatte keine Ahnung, welche Gefahren und Fallen unterwegs auf ihn lauerten, und das, was in Anchor geschehen war, bewies ihm überdeutlich, wie gut Vela sich auf sein Kommen vorbereitet hatte. Sicher - Herger hatte ihn verraten, aber er hatte keine große Wahl gehabt, und letztlich würde er, Skar, Freunde - oder wenigstens Verbündete - brauchen, wenn er auch nur in die Nähe der Verbotenen Stadt kommen wollte.

Sie ritten eine Zeitlang schweigend nebeneinander her, bis der Weg so schmal wurde, daß Herger zurückbleiben mußte. Der Wald wurde dichter und setzte sich auch hinter der Hügelkette fort. Sie ritten eine Weile parallel zum Bach, bis das glitzernde Band unter einem Wust von Unterholz und wuchernden Luftwurzeln verschwand und sie sich mühsam ihren eigenen Weg suchen mußten. Herger sprach nicht mehr mit Skar, aber das lag wohl eher daran, daß der Weg mit jedem Meter schwieriger wurde und sie ihre ganze Konzentration dazu aufbringen mußten, immer wieder neue Lücken und Breschen im Unterholz zu erspähen, um nicht plötzlich in einer Dornenhecke oder einem Sumpfloch steckenzubleiben. Die Sonne kletterte allmählich höher, und es wurde warm, selbst hier unter dem nahezu geschlossenen Blätterdach des Waldes. Skar streifte schon bald den Umhang von den Schultern und legte ihn zusammengefaltet vor sich über den Sattel. Der Wald schien wie ein gewaltiges lebendes Treibhaus zu funktionieren - die grüne Decke über ihren Köpfen ließ die Wärme der Sonne zwar herein, aber nicht wieder hinaus, und der Gedanke, daß auf den Felsen, die die Hafeneinfahrt von Anchor flankierten, noch Schnee und glitzernder Rauhreif gelegen hatten, erschien Skar beinahe lächerlich.

Später wurde der Weg breiter, und Herger ritt wieder neben Skar, der demonstrativ in eine andere Richtung sah, obwohl er sich allmählich selbst albern vorzukommen begann. Herger wußte so gut wie er, daß ihm letztlich gar nichts anderes übrigbleiben würde, als sein Hilfsangebot anzunehmen. Auch wenn sich das ungute Gefühl, das ihn bei dieser Vorstellung beschlich, eher noch verstärkte.

Gegen Mittag wurde der Wald lichter, und als die Sonne den höchsten Punkt ihrer Wanderung erreicht hatte, lag vor ihnen wieder flaches, steppenähnliches Land, das sich bis zum Horizont erstreckte und irgendwo mit dem Himmel verschmolz. Skar konnte die Weite und Endlosigkeit, die sie erwartete, beinahe spüren.

Sie hielten an, als der Wald vollends hinter ihnen zurückblieb. Die Sonne strahlte heiß von einem wolkenlosen Himmel herab, aber der Wind war noch immer kalt und schneidend, und Skar und Herger wickelten sich wieder in ihre Mäntel. Ein seltsames Gefühl, über dessen Bedeutung Skar sich im ersten Augenblick selbst nicht ganz im klaren war, ergriff von ihm Besitz. Es war ... ja, es war fast so etwas wie Enttäuschung. Er wußte nicht, was er erwartet hatte - im Grunde hatte er es die ganze Zeit über, selbst noch an Bord der SHANTAR, beinahe ängstlich vermieden, über Elay und das Drachenland nachzudenken, zum Teil, weil er prinzipiell nichts davon hielt, Tag um Tag mit wilden Spekulationen und Vermutungen zuzubringen, nur um hinterher zu merken, daß die Realität doch ganz anders aussah, zum Teil aber auch aus reinem Selbstschutz. Es gab unzählige Legenden über das Drachenland, und wenn seine Grenzen für Fremde auch nicht geschlossen waren, so kam doch nur selten ein Reisender über Anchor oder eine der wenigen anderen Grenzstädte hinaus, und diese Unkenntnis von der wahren Beschaffenheit des Landes nährte die Gerüchte und Märchen noch. Nein - er wußte nicht, was er erwartet hatte, aber das nicht. Schon Anchor kam ihm jetzt, da er das erste Mal die Ruhe hatte, wirklich über seine Eindrücke nachzudenken, beinahe bedrückend normal vor: eine Hafenstadt wie hundert andere an den Küsten Enwors, vielleicht ein bißchen besser befestigt und ein bißchen weniger gut zugänglich, aber im Grunde eine Stadt, mehr nicht. Und dieses Land und der Wald, durch den sie gekommen waren - nun, es war Wald, wie er überall zu finden war, und Land, das sich in nichts von den Steppen Ma-labs oder des Treiberlandes unterschied.

»Du bist enttäuscht, wie?«

Skar wandte verwirrt den Kopf. Herger lächelte, wenn auch auf sehr eigentümliche Art. Skars Empfindungen mußten deutlich auf seinem Gesicht zu lesen sein. »Enttäuscht ist nicht das richtige Wort«, sagte er nach kurzem Zögern.

»Jedermann ist enttäuscht, wenn er erst einmal so weit gekommen ist«, widersprach Herger. »Ich kenne das - du bist nicht der erste, den ich hierherbringe, und du wirst nicht der letzte sein. Ich weiß nicht, was man draußen in der Welt über uns redet, aber jeder zweite, der hierherkommt, scheint Herden von Drachen und Hexen zu erwarten, verzauberte Wälder, Wunschbrunnen und Glasflaschen, in denen Geister gefangen sind und nur darauf warten, daß man sie befreit und drei Wünsche äußert.« Er lachte amüsiert. »Es ist ein ganz normales Land, wie du siehst.«

»Natürlich«, sagte Skar hastig. Hergers Worte machten ihn verlegen. Selbstredend hatte er nichts von alledem wirklich erwartet, aber vollkommen unrecht hatte Herger nicht. Zumindest war er mit der Erwartung von etwas Besonderem, Außergewöhnlichem hierhergekommen.

»Allerdings werden wir in Gebirge kommen, wenn wir weiter nach Norden ziehen«, schränkte Herger nach einer Weile ein. »Elay liegt zwar an der Küste, aber der Weg dorthin ist alles andere als leicht.« Er schwieg einen Moment, starrte nachdenklich zum Horizont und beschattete die Augen mit der Hand. Zwischen seinen Brauen entstand eine schmale Falte; eine übertrieben aufgesetzte Geste, die in seinem jugendlichen Gesicht beinahe komisch wirkte. »Dir ist doch klar, daß sie auf uns warten werden in Elay«, sagte er.

Skar nickte. »Auf mich«, verbesserte er den Hehler.

Herger seufzte. »Dann von mir aus auf dich«, sagte er geduldig. »Aber wer immer diesen komischen Zwerg und die Thbarg auf dich gehetzt hat, wird wissen, daß du kommst. Es ist noch keinem gelungen, in die Verbotene Stadt einzudringen - und sie auch lebend wieder zu verlassen.«

»Wer sagt, daß ich das vorhabe?« gab Skar ruhig zurück. Herger gab ein schwer zu definierendes Geräusch von sich. »Du mußt noch etwas leiser sprechen«, sagte er ernsthaft, »und mit Grabesstimme, damit der Satz richtig wirkt.«

Skar fuhr mit einem wütenden Ruck herum. »Du scheinst das Ganze als einen großen Spaß anzusehen, Herger«, sagte er. »Aber das ist es nicht. Begreif das endlich. Ist dir das Schicksal Tantors und seiner Männer nicht Warnung genug?«

Hergers Lächeln erlosch schlagartig. »Ich weiß, daß es kein Spaß ist, Skar«, sagte er ruhig. »Aber ich halte nichts davon, mich die nächsten zwei Wochen mit Gedanken an den Tod zu belasten. Wenn es passiert, dann passiert es - Schicksal. Aber bis es soweit ist, werde ich kämpfen.«

Skar schnaubte. »Geschwafel!« sagte er hart. »Du mischst dich in Dinge, die dich absolut nichts angehen. Ich weiß nicht, warum du es tust - ob aus Abenteuerlust oder Leichtsinn -, aber du machst einen Fehler, Herger.«

»So wie Andred?« fragte Herger ruhig.

Skar fuhr betroffen zusammen. Hergers Worte waren unfair, und er wußte es.

»Wir sollten aufhören, uns zu streiten«, fuhr Herger - merklich sanfter - fort. »Wenn du recht hast und sie uns verfolgen, dann müssen wir hier weg, so schnell es geht.«

Skar nickte. Es kostete ihn Mühe, seine Gedanken wieder auf den Weg und das, was vor ihnen liegen mochte, zu konzentrieren. Aber Herger hatte recht. Sie redeten nicht nur - beide - Unsinn, sondern vergeudeten auch wertvolle Zeit. Es würde eine Weile dauern, bis sich die Nachricht von Tantors Tod herumgesprochen und Velas Häscher sich neu formiert haben würden, aber früher oder später würden sie zur Verfolgung ansetzen. Und seine Gegner hatten einen gewaltigen Vorteil: Sie kannten jeden Schritt, den er machen würde, im voraus.

Er nickte noch einmal, sah flüchtig zum Wald zurück, fast als ob er befürchte, die Verfolger dort bereits auftauchen zu sehen, und setzte sein Pferd in Bewegung. Sie trabten los; nicht sehr schnell, denn die Tiere waren immer noch müde und würden ein schärferes Tempo kaum durchhalten.

Fast eine Stunde lang ritten sie schweigend nebeneinander her. Der Wind drehte sich ein paarmal, wurde aber auch zunehmend schwächer, und mit seinem Abflauen stiegen die Temperaturen. Es war noch immer kühl, aber trotzdem entschieden zu warm für die Jahreszeit. Skar war froh, nicht reden zu müssen; doch er war auch froh, nicht allein zu reiten. Obwohl er Herger noch vor wenig mehr als einer Stunde am liebsten zum Teufel gejagt hätte - und obwohl er noch immer nicht wußte, ob Herger nun sein Verbündeter oder nur ein weiterer Feind war, der nur darauf wartete, ihn in eine Falle zu locken -, war er plötzlich froh, nicht allein sein zu müssen. Es war seltsam - er hatte die Einsamkeit eigentlich immer geliebt; zumindest hatte sie ihm nichts ausgemacht, aber jetzt fürchtete er sich davor. Vielleicht waren Einsamkeit und Alleinsein auch zwei grundverschiedene Dinge. Vielleicht lag es auch daran, daß sich alles geändert hatte. Es war ... ja, vielleicht war das Gefühl, das er vorhin verspürt hatte, weniger Enttäuschung als vielmehr Furcht gewesen. Sein Weg hatte ihn quer über die gesamte bekannte Welt hierhergeführt, aber er wußte, daß er sein Ende bald erreicht haben würde. Wenn er die Analogie zu einem Spiel, die er öfter benutzt hatte, weiterführte, dann war dies die letzte Runde, in der sich alles ändern konnte. Irgend etwas war geschehen, während er in Endor auf ein Schiff gewartet hatte. Er wußte nur noch nicht, was.

Herger drängte sein Tier dichter an das seine heran - eigentlich schon zu nahe, um noch wirklich bequem reiten zu können -, lächelte flüchtig, als er seinem Blick begegnete, und sah dann wieder starr nach Norden. Skars Blick tastete über das schwarze Fell des Pferdes von Herger. Es war ein sehr kräftiges Tier - schlank, aber mit gut entwickelten, starken Muskeln, deren Spiel durch das schweißfeuchte Fell deutlich zu beobachten war; wie seines ein Tier, das mit großer Sorgfalt ausgewählt worden war, und mit ebensogroßer Sorgfalt war ihre Ausrüstung zusammengestellt. Herger hatte sich auf das Allernotwendigste beschränkt, dabei aber nichts Wichtiges übersehen. Skar hatte den Inhalt seiner Satteltaschen flüchtig geprüft, als sie im Schutz des Waldes gerastet hatten. Wenn sie unterwegs ausreichend Wasser und Wild fanden, dann konnten sie Elay erreichen, ohne auf die Hilfe Dritter angewiesen zu sein.

»Wieso eigentlich zwei Pferde?« fragte er unvermittelt.

Herger sah auf. »Ich habe mich schon gefragt, wann du diese Frage stellen wirst«, sagte er.

»Jetzt«, knurrte Skar. »Und ich wäre dir dankbar für eine Antwort.« Der aggressive Ton in seiner Stimme überraschte ihn fast selbst, aber Herger schien ihn gar nicht zu bemerken. »Hattest du von Anfang an vor, mit mir zu reiten?«

Herger zögerte einen Moment mit der Antwort. »Nicht direkt«, sagte er schließlich. »Aber ich bin grundsätzlich mißtrauisch, weißt du. Ich weiß immer noch nicht, ob ich dir trauen kann, und ich habe auch Gondered nicht getraut.« Er lachte leise. »Ich habe es mir schon seit langer Zeit zur Regel gemacht, immer irgendwo eine Hintertür zu wissen, durch die ich im Notfall rasch verschwinden kann, weißt du.«

»Es scheint dir nicht allzuviel auszumachen, Hab und Gut zu verlieren«, murmelte Skar.

Herger machte eine wegwerfende Handbewegung. »Hab und Gut«, stieß er hervor. »Du hast das Gerümpel gesehen. Die beiden Pferde, auf denen wir reiten, sind mehr wert, als ich für den Kram bekommen hätte. Und Anchor hat mir schon lange nicht mehr gefallen. Ich wäre sowieso früher oder später weggegangen. Seit die Thbarg in der Stadt aufgetaucht sind, ist das Leben dort auch für einen Mann wie mich nicht mehr so sicher, wie es einmal war.« Skar sah ihn scharf an. Der Wind hatte Hergers Haar zerzaust, und im grellen Licht der Sonne wirkten die Linien in seinem Gesicht hart; er sah mit einemmal viel älter aus, als Skar ihn bisher eingeschätzt hatte.

»Ein Mann wie du ...«, wiederholte Skar nachdenklich. »Und was für ein Mann bist du?«

»Unter anderem dein Lebensretter«, sagte Herger, »wenn ich dich daran erinnern darf.«

»Nachdem du mich vorher verkauft hast«, konterte Skar ruhig, »wenn ich dich daran erinnern darf.«

Herger lächelte dünn. »Was hast du erwartet? Seit Wochen schleichen diese Thbarg durch die Stadt und erzählen von einem verrückten Satai, der hierherkommt, um einen Ein-Mann-Krieg gegen die Errish zu beginnen. Dann kommst du, bringst einen meiner Freunde mehr tot als lebendig in mein Haus und erzählst seelenruhig, daß sein Schiff mit seiner gesamten Besatzung verbrannt ist.« Er zuckte mit den Achseln und machte eine ungeduldige Handbewegung. »Außerdem war Gondered schon vor euch bei mir, schon bevor das Schiff in den Hafen eingelaufen ist, wenn du es ganz genau wissen willst.«

»Aber wie konnte er wissen ...«

»Es ist kein Geheimnis, daß Andred und ich Freunde sind«, fuhr Herger fort. »Wahrscheinlich war er nicht sicher, euch wirklich im Hafen zu erwischen - womit er durchaus recht hatte, wie sich zeigte. Was ist an dieser Geschichte dran?«

Die Frage überraschte Skar. Sie hatten, obwohl sie sich seit weniger als vierundzwanzig Stunden kannten, bereits so viel gemeinsam erlebt, daß er Herger unbewußt schon als Gefährten akzeptiert hatte. Aber er hatte fast vergessen, daß der Hehler wenig mehr als seinen Namen von ihm wußte.

»Nichts«, sagte er ausweichend. »Jedenfalls nicht an der Version, die du gehört hast.«

Hergers Reaktion kam völlig überraschend. Er beugte sich vor, griff nach dem Zaumzeug von Skars Pferd und brachte das Tier mit einem harten Ruck zum Stehen.

»Jetzt hör mir einmal zu, Skar«, sagte er wütend. »Ich habe einen meiner besten Freunde verloren durch deine Schuld. Mein Haus ist verbrannt, ich wäre um ein Haar umgebracht worden, und auf meinen Kopf ist wahrscheinlich schon ein Preis ausgesetzt deinetwegen. Jeder Halsabschneider von hier bis Elay wird sich einen Spaß daraus machen, mich umzubringen, und dieses Monster, das den Zwerg und die Thbarg getötet hat, wird mich sicher nicht verschonen, wieder deinetwegen nicht, Skar. Und du glaubst, ich hätte kein Recht, die Wahrheit zu erfahren?«

Skar seufzte. Hergers plötzlicher Ausbruch hatte ihn überrascht, aber die Schauspielkünste des jungen Hehlers waren nicht gut; nicht gut genug zumindest, ihn darüber hinwegzutäuschen, daß er sich die Worte - und auch die Betonung - sorgsam zurechtgelegt und nur auf eine Gelegenheit gewartet hatte, sie möglichst wirkungsvoll anzubringen. »Recht...«, wiederholte er, betont ruhig. »Mag sein, daß du ein Recht darauf hast - von deinem Standpunkt aus. Aber ich habe dich nicht gebeten, mich zu begleiten, und nach Rechten« - er betonte das Wort, als handele es sich um einen üblen Scherz -, »nach Rechten wird in diesem Spiel schon lange nicht mehr gefragt, Herger. Andere Leute hatten auch ein Recht weiterzuleben, und Andred hatte das Recht, seine Hand zu behalten.«

»Ich möchte aber wenigstens wissen, warum man mir nach dem Leben trachtet«, sagte Herger unsicher. Skar hatte in schärferem Ton gesprochen, als er erwartet hatte. »Und wer?«

»Wenn du wirklich so gute Verbindungen hast«, knurrte Skar, gleichermaßen wütend auf Herger wie auf sich selbst, daß er sich so hatte hinreißen lassen, »dann solltest du die Antwort kennen. Ich bin erst seit ein paar Stunden in diesem Land, aber selbst ein Blinder würde sehen, daß hier zu einem Krieg gerüstet wird.« Herger nickte ungerührt. »Wie überall«, sagte er. »Die Quorrl...«

»Du weißt so gut wie ich, daß es nicht nur um die Quorrl geht«, fiel ihm Skar ins Wort. »Hast du nicht gestern abend etwas Ähnliches gesagt?«

Herger schwieg einen Moment. Seine dunklen Augen musterten Skar mit einer Mischung aus Neugierde und allmählich aufkeimender Furcht. Vielleicht fragte er sich, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, dem Satai zu helfen.

»Ich weiß so wenig wie du, was in diesem Land vorgeht«, sagte er schließlich. »Natürlich ist der Zug gegen die Quorrl nur ein Vorwand, und das ist nicht einmal ein Geheimnis. Aber es steht uns nicht zu, an den Entschlüssen der Errish herumzukritisieren. Seit tausend Jahren halten sie ihre schützende Hand über uns, und ich kann mich an keinen Fall erinnern, in dem es zu unserem Schaden gewesen wäre.«

Skar antwortete nicht gleich. Es war das erste Mal, daß Herger direkt über die wahren Herren dieses Landes, die Errish, sprach, und der unterwürfige Ton, in dem er es tat, überraschte ihn, vor allem nach dem Eindruck, den er bisher von Herger gewonnen hatte.

Aber hätte er das nicht erwarten müssen? Hätte er nicht noch vor wenigen Monaten ebenso geredet und gedacht? Die Ehrwürdigen Frauen waren seit jeher das Sinnbild für Gerechtigkeit und Ehre gewesen, eine kleine, verschworene Kaste, gleichermaßen gefürchtet wie geachtet, deren bloße Anwesenheit jeden Gedanken an Verrat und Betrug von vornherein lächerlich erscheinen ließ?

»Und es ist dir gleich, wenn dein Land zum Krieg rüstet?« fragte Skar. Herger suchte einen Moment nach Worten. »Natürlich nicht«, sagte er. »Und das ist einer der Gründe, warum ich dich begleite. Ich ... bin nicht der einzige, der laut darüber nachdenkt, ob die Befugnisse der Thbarg wirklich so weit reichen, wie sie behaupten.«

Skar sah verwundert auf, aber Herger sprach schnell weiter. »Skar, wir wissen, daß die Errish keine Hexen sind und nicht zaubern können. Und sie kümmern sich nicht viel um das, was hier im Lande vorgeht. Ein Befehl kann so oder so interpretiert werden. Krieg ...« Er sprach das Wort mit seltsamer Betonung aus. »Gegen wen? Gegen Kohon? Larn? Die Westländer?« Er lächelte und begleitete jeden Namen, den er aufzählte, mit einem überzeugten Kopfschütteln.

»Warum nicht gegen alle?« fragte Skar.

Herger erschrak, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt. »Warum nicht gleich gegen die ganze Welt?« In seiner Stimme war eine ganz leise Spur von Unsicherheit.

»Vielleicht«, murmelte Skar.

Herger antwortete nicht mehr, sondern sah Skar nur mit wachsendem Schrecken an und blickte dann abrupt weg. Er hatte sich auch weiter in der Gewalt, aber seine Hände krampften sich ein wenig zu fest um die Zügel, und der Ausdruck auf seinem Gesicht wirkte beinahe zu gefaßt.

Skar schüttelte verwirrt den Kopf. Was war nur mit ihm - mit ihnen beiden - los! Er versuchte sich an den Herger von gestern abend zu erinnern, aber es fiel ihm schwer. Von seiner übertriebenen, schon fast an Überheblichkeit erinnernden Selbstsicherheit war nicht viel geblieben, und er spürte ganz genau, daß es unter der Maske aus Ruhe und nicht einmal sonderlich überzeugend wirkendem Spott, die Herger aufgesetzt hatte, brodelte. Es schien, als ritte er, Skar, jetzt neben einem völlig anderen Menschen, der nur noch zufällig Ähnlichkeit mit dem Herger hatte, zu dem der Freisegler ihn geführt hatte. Aber auch er selbst hatte sich verändert, mehr, als ihm bis jetzt klargeworden war.

»Dieser Zwerg«, sagte Herger plötzlich. »Tantor - das war doch sein Name?«

Skar nickte. Herger starrte noch immer unverwandt geradeaus, aber seine Stimme hatte sich erneut verändert; eine weitere Fracette des Chaos, das in seinem Inneren toben mußte.

»Ist das, was er erzählt hat, wahr?«

»Was meinst du?«

»Er sagt, daß du ihn ... verraten hast«, preßte Herger hervor. »Wie hat er das gemeint?«

Skar zögerte. Er hatte nicht geglaubt, daß Herger sich so deutlich an Tantors Worte erinnerte; nicht nach allem, was geschehen war. Es wäre ein leichtes für ihn gewesen, einfach mit nein zu antworten, aber irgend etwas hielt ihn zurück.

»Es... ist wahr«, sagte er leise. »Und auch wieder nicht.« Er lächelte unsicher und beinahe verlegen und fuhr nach einem verwirrten Kopfschütteln fort: »Von seinem Standpunkt aus betrachtet, habe ich ihn verraten, glaube ich. So wie du mich gestern nacht verraten hast, um einen Freund zu retten.«

Herger zuckte zusammen. »Ich ...«

»Kein Vorwurf, Herger«, sagte Skar rasch. »Du wolltest eine Antwort, und mehr war es nicht. Ich hatte die Wahl zwischen seinem Leben und dem eines Freundes.«

»Und?« fragte Herger. »Lebt dein Freund?«

Skars Miene verdüsterte sich. Leben? Lebte Del? Vielleicht würden ihn die Sumpfleute auferstehen lassen, aber würde er jemals wieder der Del sein, den er gekannt hatte?

»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Und es spielt auch keine Rolle mehr. Jetzt nicht mehr.«

Herger seufzte. »Warum erzählst du mir nicht alles?« fragte er geduldig. »Früher oder später erfahre ich es ja doch. Stückweise und unvollkommen, aber ich erfahre es.« Er wandte den Kopf, sah Skar einen Herzschlag lang nachdenklich an und preßte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Dann deutete er nach Norden. »Wir werden zwei Wochen unterwegs sein, mindestens. Vielleicht länger, wenn wir uns unterwegs verbergen müssen, und wahrscheinlich werden wir Umwege machen müssen, weil die Pässe gesperrt sind. Eine lange Zeit, wenn man sich jedes Wort überlegen muß, das man spricht.«

Skar schwieg.

»Du hast mich vorhin schon gefragt, was für ein Mann ich bin«, fuhr Herger fort.

»Du hast nicht geantwortet.«

Herger lächelte und wurde sofort wieder ernst. »Zum einen bin ich sehr neugierig«, sagte er scherzhaft und dann ernsthafter: »Aber ich habe auch eine Menge Freunde. Männer, die dir helfen können. Ich glaube nicht daran, daß die Errish in aller Stille einen Krieg gegen den Rest der Welt vorbereiten, Skar, aber ich glaube, daß in diesem Land irgend etwas vorgeht, das nicht gut ist. Und ich möchte wissen, was. Deshalb habe ich dir geholfen. Auch deshalb«, fügte er nach einer kaum merklichen Pause hinzu.

Skar schwieg noch immer, obwohl er selbst nicht zu sagen wußte, warum. Der Mann, der er noch vor ein paar Monaten gewesen war, hätte geantwortet. Er hätte jede Chance ergriffen, Männer um sich zu scharen, um gegen Vela zu ziehen.

Aber er war nicht mehr der Mann, der gegen Combat gezogen war. Nur war die Veränderung anders, als er bisher geglaubt hatte. Er hatte geglaubt, sich Vela anzupassen, hatte diesen fast schmerzhaften Wandel in sich zwar gespürt, aber in der falschen Richtung interpretiert. Seine Zweifel, die Unruhe, die ihn bereits in Hergers Haus überkommen hatte, die unerklärliche Schwäche, die ihn überfallen hatte, als sie flohen, und die jetzt noch nicht vollends verschwunden war ... Um ein Haar hätte er laut aufgelacht. Hatte er sich wirklich eingebildet, härter geworden zu sein? Irgend etwas in ihm hatte ihm gesagt, daß er Vela nur besiegen konnte, wenn er wie sie wurde, wenn er genauso berechnend und kalt mit Menschenleben umging, wenn er tötete, ohne zu denken, wenn er alles, was er je über Ehre und Ritterlichkeit gelernt hatte, über Bord warf und dem Ungeheuer in sich freie Bahn ließ.

Aber das Ungeheuer war nicht mehr in ihm. Sein Dunkler Bruder war fort, schon lange, und er begann erst jetzt allmählich zu spüren, wie sehr er bisher sein Leben bestimmt hatte. Seine Schwäche war nichts als Ekel gewesen, Ekel vor sich selbst, vor seinen Händen, die - wieder einmal - getötet hatten. Vielleicht, dachte er, war der steinerne Wolf nichts anderes als die Verkörperung seines Dunklen Bruders, ein Ding, langsam über Jahrzehnte in ihm herangewachsen, das jetzt zu eigenem, bösem Leben erwacht war.

»Wie lange, sagst du, brauchen wir bis Elay?« fragte er, mühsam die Erinnerungen und Gedanken zurückdrängend, die seine Seele wie der Hauch einer üblen, schleichenden Krankheit zu verpesten begannen.

»Zwei Wochen«, antwortete Herger. »Eher drei, wenn wir einen Bogen um die Städte schlagen, was wir wahrscheinlich tun müssen.«

»Drei Wochen ...« Skar atmete hörbar ein. »Zeit genug zum Reden.«

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