9.

Der Fluß schnitt wie ein braunes, in willkürlichen Schleifen und Kehren hingeworfenes Band unter ihnen durch die Ebene. Die schlammigen braunen Fluten schienen sich träge zu Tal zu wälzen, aber Skar wußte, daß dieser Eindruck täuschte. Sie waren noch eine gute Meile vom Ufer entfernt; vielleicht auch noch mehr. Das Land war hier flach und ohne sichtbare Markierungen - es gab nichts, was er als Vergleichsmaßstab hätte heranziehen können. Trotzdem konnte er bereits das Geräusch des Wassers hören: ein dumpfes Murmeln und Raunen wie von weit entfernten Stimmen, ein Laut, der nach Feuchtigkeit und Kälte klang und ihn für einen winzigen Moment frösteln ließ. Sein Pferd begann unruhig mit den Hufen zu scharren. Das Tier war durstig - wie er und Herger hatte es vor anderthalb Tagen das letzte Mal getrunken, eine schlammige braune Brühe aus einem stehenden Wasserloch, das die Bezeichnung Tränke selbst mit sehr viel gutem Willen kaum verdiente. Jetzt spürte das Tier die Nähe des Wassers und wollte hinunter. Auch Skars Lippen waren rissig vor Durst, und sein Gaumen fühlte sich pelzig an. Aber er beherrschte sich. Die letzten beiden Tage waren sie im Schutze des Waldes geritten, doch nun war vor ihnen nichts mehr, was als Deckung hätte dienen können; weder auf dieser Seite des Flusses noch auf der anderen.

Sein Pferd begann sich stärker gegen den Zug der Zügel zu stemmen, und Skar sah sich ungeduldig um. Herger war dicht hinter ihm; der Hufschlag seines Pferdes hatte Skar seit Tagesanbruch wie ein arhythmisches Echo begleitet. Trotzdem schien eine Ewigkeit zu vergehen, ehe sich das Unterholz teilte und die gebeugte Gestalt des Schmugglers aus dem Wald heraustrat. Er war abgesessen und führte sein Pferd am Zügel. Sie wechselten sich in dieser Marschordnung ab, um die Kräfte der Pferde zu schonen: Mal ritt er voraus, und Skar führte sein Tier am Zügel neben sich her, mal - wie jetzt - übernahm Skar die Führung, und Herger folgte in geringem Abstand. Sie kamen auf diese Weise nicht halb so schnell voran, wie Skar es sich gewünscht hätte. Aber die Tiere waren am Ende.

So wie ihre Reiter, fügte er in Gedanken hinzu.

Herger blieb neben ihm stehen, fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und blinzelte mehrmals hintereinander. Die Sonne stand - obwohl sie erst vor wenigen Augenblicken aufgegangen war - bereits als weißglühender Ball über dem Horizont, und ihr Licht war hart und schmerzhaft.

»Ist das der Fluß, von dem du gesprochen hast?« fragte er. Herger zögerte einen Moment. Er seufzte, blickte erst nach rechts, dann nach links, als müsse er sich das Bild mühsam ins Gedächtnis zurückrufen und mit seiner Erinnerung vergleichen, und nickte dann. »Der Eisfluß«, bestätigte er. »Wir haben die Hälfte geschafft.«

Vielleicht - sicher - waren seine Worte als Aufmunterung gedacht gewesen, aber wenn sie bei Skar überhaupt etwas bewirkten, so eher das Gegenteil. »Die Hälfte«, murmelte er. »Das heißt noch einmal zehn Tage.«

Herger sah ihn nachdenklich an, krauste die Stirn und schüttelte schließlich den Kopf. »Eher zwölf, fürchte ich«, sagte er. »Der Wald endet hier - von jetzt an werden wir vorsichtiger reiten müssen.«

Skar antwortete nicht darauf. Es gab auch nichts, was er hätte sagen können. Sie hatten viel geredet, aber ihre Gespräche waren mit jedem Tag mehr verflacht, wie Rinnsale versickert in der unglaublichen Weite des Landes, das sie durchquerten. Alles, was zu sagen war, war gesagt worden, und weder Herger noch er waren Männer, die Freude daran fanden, das gleiche mit anderen Worten immer wieder neu zu sagen. Vielleicht, dachte er, lag es auch nur daran, daß er zu weit gewandert war. Wie viele Meilen hatte er zurückgelegt in den letzten Monaten? Viertausend? Fünftausend? Wie viele Hufschläge? Wie viele Worte, die nur gesprochen worden waren, um die Eintönigkeit zu vertreiben?

Herger kletterte mit sichtlicher Anstrengung aus dem Sattel, fuhr sich erneut - und diesmal eindeutig müde - mit der Hand über das Gesicht und sah zum Fluß hinunter. Sein rechtes Auge blinzelte noch immer. »Seltsam«, murmelte er.

»Was?«

Herger deutete mit einer Kopfbewegung nach unten. »Der Fluß führt zu viel Wasser«, sagte er. »Selbst für diese Jahreszeit. Und die Strömung ist zu stark.«

Skar blickte stirnrunzelnd auf das gewundene braune Band hinunter. Er konnte nichts Außergewöhnliches entdecken, aber schließlich war er hier auch nicht zu Hause wie Herger.

»Vielleicht hat die Schneeschmelze früher eingesetzt als sonst«, murmelte er ohne rechte Überzeugung.

Herger blickte instinktiv nach Norden. Die Berge waren als graue, verwaschene Schemen irgendwo vor dem Horizont zu erkennen; graue Giganten mit blitzenden weißen Helmen, die hinter dem widerwillig weichenden Morgennebel allmählich sichtbar wurden. Der Anblick hatte sich seit zehn Tagen nicht verändert. Hätte sich Skar nur am Bild der Berge orientiert, dann hätte er kaum geglaubt, sich weiter als ein paar Meilen von Anchor entfernt zu haben.

»Nein«, sagte Herger schließlich. »Der Fluß ist voller Eis - siehst du es nicht?«

Skar hatte bis jetzt nicht mehr als einen flüchtigen Blick für den Fluß übrig gehabt, aber als er genauer hinsah, merkte er, was Herger meinte: In den kochenden braunen Fluten blitzte es immer wieder auf. Eis - winzige Körner, die wie achtlos hineingestreute Diamantsplitter durch die Wasseroberfläche glitzerten, aber auch große, unregelmäßige Brocken, auf denen ein Mann bequem hätte stehen können. Hier und da lagerte sich auch am Ufer Eis ab; schimmernde weiße Nester, die dem Ansturm des Frühlings trotzten, und der Fluß brachte nicht nur Schlamm und verklumpten Schnee mit sich, sondern auch Kälte. Der Nebel, der von seiner Oberfläche aufstieg, atmete noch den Hauch des Winters. Nein - Herger hatte recht: Selbst die rasendste Strömung war nicht schnell genug, Eis in solcher Menge über die fünf- oder sechshundert Meilen, die es bis zu den Bergen sein mußten, zu tragen, ohne daß es geschmolzen wäre.

»Und was bedeutet das?« fragte er. »Für uns?«

Herger antwortete nicht gleich, aber sein Blick nahm wieder jenen nachdenklichen, halb besorgten Ausdruck an, den Skar in den letzten Tagen oft an ihm beobachtet hatte. Sie waren - von ein paar kaum nennenswerten Umwegen abgesehen - zehn Tage ununterbrochen nach Norden geritten, aber es war trotzdem nicht kälter, sondern im Gegenteil wärmer geworden. Obwohl die Temperaturen in der Nacht noch immer unter den Gefrierpunkt sanken, war es tagsüber bereits doch so warm, daß sie die Mäntel ablegen und nur mit dünnen wollenen Hemden bekleidet reiten konnten. Skar hatte bislang über diesen Umstand kein Wort verloren, aber er hatte ein paar unbewußte Bemerkungen Hergers aufgeschnappt und daraus geschlossen, daß ein Wetter wie dieses auch hier nicht normal war.

»Es bedeutet auf jeden Fall einen Umweg«, murmelte Herger. »Die Pferde schaffen es nicht durch diese Strömung. Und wir auch nicht.«

»Und was schlägst du vor?«

Wieder überlegte Herger sekundenlang. »Es gibt eine Furt«, sagte er nach einer Weile. »Einen Tagesritt westlich von hier.«

»Wohin fließt dieser Fluß?« fragte Skar, Hergers letzte Bemerkung bewußt ignorierend.

Herger grinste flüchtig. »Dorthin, wo die meisten Flüsse enden, Skar - zur Küste.«

»In Richtung Elay?«

Herger nickte. »Ungefähr. Wenn wir ihm folgen würden, dann würde er uns bis auf dreißig Meilen an die Stadt heranführen.« Er runzelte die Stirn, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen, und fügte hinzu: »Ich weiß, was du jetzt denkst - vergiß es.« Er schüttelte erneut den Kopf, stützte sich für die Dauer eines Atemzuges schwer auf dem Sattelknauf ab und seufzte hörbar. »Reiten wir hinunter«, murmelte er schwach. »Den Pferden wird ein Schluck Wasser guttun. Und mir auch.« Ächzend richtete er sich im Sattel auf, griff mit unsicheren Fingern nach den Zügeln und ließ sein Pferd antraben.

Skar warf einen raschen Blick über die Schulter zurück, ehe er ihm folgte: eine Bewegung, die ihm in den letzten Tagen so in Fleisch und Blut übergegangen war, daß er sie schon unbewußt ausführte. Aber natürlich war hinter ihnen nichts als die grüne Mauer des Waldes.

Sein Blick glitt wieder über die eintönige Landschaft. Seine Augen brannten, und wenn er lange genug hinsah, dann begannen die grauen Nebelfetzen vor ihm Umrisse und Formen zu bilden: Gesichter, Gestalten ... die Schemen aus seinem Inneren, die jede Gelegenheit nutzten, hervorzubrechen und ihn zu verhöhnen. O nein - er war nicht mehr der Mann, der er gewesen war. Er war sich so fremd geworden, daß er allmählich anfing, Furcht vor sich selbst zu empfinden. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er die Einsamkeit menschlicher Gesellschaft vorgezogen. Jetzt haßte er sie. Sie hatten während der letzten neun Tage keinen Menschen gesehen, obwohl dieses Land alles andere als dünn besiedelt war. Herger hatte bewußt eine Route gewählt, auf der sie alle Städte und Dörfer in weitem Bogen umgingen - eine Vorsichtsmaßnahme, der Skar nach anfänglichem Zweifel zugestimmt hatte, obwohl sie auf diesem Weg gut die doppelte Zeit brauchten, um Elay zu erreichen. Aber wenn sie jetzt dem Fluß folgten, dann würden sie Menschen treffen. Flüsse haben die Eigenschaft, Siedlungen anzuziehen.

Die Pferde begannen schneller zu laufen, als sie das Wasser witterten. Skar hielt sein Tier jetzt nicht mehr zurück, obwohl ihm der Gedanke, offen und ohne die geringste Deckung dahinzugaloppieren, ein fast körperliches Unbehagen bereitete, und auch Herger ließ die Zügel fahren und beschränkte sich darauf, sich krampfhaft am Sattelknauf festzuklammern. Der Boden federte unter den Hufschlägen der Tiere, und vom Wasser drang ihnen ein Schwall eisiger Luft entgegen. Aber durch den Nebel schimmerte es grün, und ein paar der dürren Büsche, die ihren Weg säumten, trugen bereits erste zaghafte Knospen. Der Frühling hatte Einzug in diesen Teil der Welt gehalten. Zwei Monate zu früh.

Sie saßen ab, und die Pferde senkten gierig die Köpfe zum Wasser, um zu trinken. Skar musterte die beiden Tiere besorgt. Sie waren sichtlich abgemagert. Ihr Fell war struppig und glanzlos geworden, und wo sich zu Beginn des Rittes kräftige Muskeln unter ihrer Haut abgezeichnet hatten, konnte man jetzt deutlich die Rippen sehen. Sie hatten nichts anderes als dürres Gras zu fressen bekommen und selbst davon nicht genug. Der Wald, durch den sie geritten waren, war nur scheinbar fruchtbar gewesen. Das Land war arm an wirklich fruchtbaren Gebieten, und die Landstriche, in denen der Boden gut genug für fettes Gras und Ackerbau war, waren dicht besiedelt und somit für Herger und ihn tabu. Und auch sie waren kaum in einem besseren Zustand als ihre Pferde - Skars Hoffnung, jagdbares Wild finden und erlegen zu können, hatte getrogen. Ein halb verhungertes Kaninchen und ein Bussard, der leichtsinnig genug gewesen war, sich die beiden Reiter aus einer Entfernung zu betrachten, in der ihn Hergers Pfeil hatte treffen können, waren die einzigen Bereicherungen ihrer Speisekarte gewesen. Ansonsten hatten sie von dem gelebt, was in den Satteltaschen gewesen war - Dörrfleisch und trockenes Brot, das abscheulich schmeckte und durstig machte. Aber auch diese Vorräte waren mittlerweile aufgebraucht. Vielleicht würden sie bald die Nähe von Menschen suchen müssen, ob sie wollten oder nicht. Herger kniete am Flußufer nieder, tauchte vorsichtig die Hand ins Wasser und zog sie hastig wieder zurück. »Eisig«, stellte er fest.

»Das ist nicht weiter verwunderlich«, sagte Skar lächelnd. »Immerhin ist genug Eis im Wasser. Wolltest du baden?«

Herger ignorierte seine Bemerkung, stand auf und rieb sich die Hand an der Hose trocken. »An Schwimmen ist jedenfalls nicht zu denken«, sagte er mißmutig. »Wir wären erforen, ehe wir halb drüben wären. Ganz abgesehen von der Strömung.«

Skar zuckte gleichmütig die Achseln. Er hatte keine Lust, über Strömungen und Flüsse zu diskutieren. Dieser Fluß war nichts als ein weiteres Hindernis, das sie überwinden würden. Eine Verzögerung von einem Tag, nicht mehr. Der Gedanke ließ ihn fast unberührt. Irgendwo auf halbem Wege zwischen hier und den Bergen dort vorne lag Elay, die Stadt, in der er Vela finden würde, und er wußte mit unerschütterlicher Gewißheit, daß es nichts mehr gab, was ihn noch aufhalten konnte. Sein Weg würde dort enden, auf die eine oder andere Weise, aber nicht vorher. Er wußte es mit der gleichen Gewißheit, mit der er wußte, daß der Wolf noch immer auf seiner Spur war, obwohl er ihn nicht mehr sah und obwohl selbst das höhnische Wolfsheulen des Windes verstummt war. Er war da, hier, irgendwo, ganz in seiner Nähe, unsichtbar, lauernd und ständig bereit zuzuschlagen, wenn er, Skar, versuchen würde, einen anderen Weg als den nach Elay einzuschlagen. Skar hatte Zeit genug gehabt, über alles nachzudenken, und er wußte jetzt, daß er sich getäuscht hatte, daß der Wolf in Hergers Haus in Anchor nicht eingegriffen hatte, um ihn zu töten, sondern - so absurd es klang - um ihn zu retten. Es wäre ein leichtes für das Ungeheuer gewesen, ihn zu vernichten, schon seit langem. Er hatte ihn gerettet, weil er noch nicht bereit war, so wie er ihn in Tuan gerettet hatte, indem er Vela zwang, ihre Festung auf den gläsernen Ebenen zu verlassen, und ihm damit Gelegenheit zur Flucht verschaffte. Er war noch nicht soweit, zu sterben, in ihm war noch Hoffnung, ein winziger Funke, der gegen alle Logik noch immer brannte und ihn weitertrieb, und solange er noch hoffte - solange es noch eine Enttäuschung gab, die er noch erleben konnte -, so lange würde er am Leben bleiben.

Um ein Haar hätte er laut aufgelacht. Der Gedanke war so makaber, daß er schon fast wieder komisch war. Vielleicht war niemals in der Geschichte dieser Welt ein Mann von einem so übermächtigen Feind verfolgt worden wie er - und trotzdem war es gerade dieser Umstand, der ihn sich so sicher fühlen ließ.

Er wandte sich um, suchte sich einen einigermaßen trockenen Platz und ließ sich darauf nieder. Er fühlte sich schwach, jetzt, wo er nicht mehr im Sattel saß, aber auch das war etwas, woran er sich fast schon gewöhnt hatte. Der Schwächeanfall während ihrer Flucht aus Anchor war kein Zufall gewesen. Seine Kraft ließ im gleichen Maße nach, in dem sie sich der Verbotenen Stadt näherten.

»Wir sollten uns überlegen, was wir tun«, sagte Herger plötzlich.

Skar fuhr aus seinen Gedanken hoch. Er hatte nicht gemerkt, daß Herger näher gekommen und einen halben Schritt vor ihm stehengeblieben war. Er sah auf, starrte Herger eine Sekunde lang an und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Sein Gaumen schmerzte bereits vor Durst, aber er widerstand der Versuchung, aufzustehen und zum Fluß zu gehen und zu trinken. Er wußte, daß das, was er tat, albern war, aber er wußte, daß er diese Bestätigung einfach brauchte: einen winzigen Triumph über sich selbst, der überflüssige und vermutlich sogar schädliche Beweis, daß er noch immer Herr seines Körpers war; daß sein Wille noch immer stärker war als dieses empfindliche Instrument, dessen er sich bediente.

»Was meinst du?« fragte er schwach. Er hatte Mühe, sich überhaupt auf Hergers Worte zu besinnen.

»Nichts Bestimmtes. Ich ...« Herger schüttelte den Kopf, setzte sich mit einer plötzlichen, abrupten Bewegung neben Skar auf den schlammigen Boden und zog die Knie an den Körper, bis er das Kinn darauf stützen konnte. »Ich habe ein ungutes Gefühl«, murmelte er.

Skar nickte. »Ich auch. Vor allem im Magen.«

»Es gibt ein kleines Dorf nicht sehr weit von hier«, sagte Herger. »Wir könnten versuchen, dort Lebensmittel und frische Pferde zu kaufen.«

Skar schüttelte heftig den Kopf. Ganz davon abgesehen, daß sie nichts hatten, womit sie hätten bezahlen können, wollte er kein Risiko mehr eingehen. Sie hatten zu viele Entbehrungen auf sich genommen, um jetzt einfach in das nächstbeste Dorf zu spazieren und nach Essen und einem Schlafplatz zu fragen. Vermutlich wäre das Risiko wirklich minimal gewesen - aber er wollte es trotzdem nicht eingehen, einfach aus dem gleichen Grund, aus dem er seinem Durst widerstand. Jetzt in das nächste Dorf einzureiten und dort womöglich Essen und einen warmen Schlafplatz zu finden, hätte fast eine Enttäuschung bedeutet - ein Gefühl ähnlich dem, das ein Mann empfinden mochte, der unter großen Mühen einen Berg besteigt und, am Gipfel angekommen, feststellen muß, daß es auf der anderen Seite einen bequemen Pfad gibt. Herger schnitt eine Grimasse. »Ich glaube nicht, daß Velas Spione jetzt schon in jedem Bauernhaus sitzen«, sagte er ironisch. »Das Risiko ist nicht sehr groß.«

»Nein«, sagte Skar einfach.

Herger seufzte, riß einen dürren Grashalm aus und begann, darauf herumzukauen. »Auch gut«, sagte er. »Ich wollte ohnehin schon immer wissen, wie lange ein Mensch ohne Nahrung auskommen kann.«

»Länger als ohne Freiheit«, murmelte Skar.

Herger gab einen undefinierbaren Laut von sich. »Eigentlich hätte ich mir denken sollen, daß du keine Gelegenheit ausläßt, eine deiner berüchtigten dramatischen Bemerkungen anzubringen«, sagte er in einer Mischung aus Spott und echtem Ärger. »Niemand zwingt dich, bei mir zu bleiben«, sagte Skar grob. »Ich frage mich ohnehin, warum du es tust.«

Herger grinste. »Du bist mein Kapital, Skar. Wenn dir etwas zustößt, dann bin ich runiert. So einfach ist das.«

Skar wußte für einen Moment nicht, ob er nun wütend werden oder lachen sollte, aber Herger sprach bereits weiter: »Natürlich könnte ich aufstehen und gehen«, sagte er gleichmütig. »Und wie kämst du dann nach Elay?«

Skar musterte ihn kühl. »Ich bin um die halbe Welt gereist, Herger, und werde auch die letzten hundert Meilen noch schaffen, glaub mir.«

»Und wenn du auf Händen und Knien kriechen müßtest, wie?« Seltsamerweise sprach Herger die Worte vollkommen ernst aus. Der spöttische Unterton fehlte, und in seinem Blick war etwas, das Skar zusammenzucken ließ.

»Weißt du, an wen du mich erinnerst, Skar?« fuhr Herger fort. »An Tantor.«

»So?«

»Nicht äußerlich«, fügte Herger - nun wieder spöttisch - hinzu. »Aber du hast mir genug von ihm erzählt. Du hast mehr von ihm, als du selbst ahnst, Skar. Ihr seid euch sehr ähnlich.«

»Wir waren es«, verbesserte ihn Skar. »Bei Tantor bietet es sich an, in der Vergangenheitsform zu sprechen.«

Herger ignorierte Skars Worte. »Ihr seid beide von Haß zerfressen«, sagte er ernsthaft. »Ihm hat sein Haß den Tod gebracht. Du hast gesehen, wie er endete.«

»Er hat es herausgefordert.«

»Wie du«, sagte Herger unbeeindruckt. »In Wirklichkeit willst du gar nicht nach Elay, um dich dort zu rächen. Du suchst den Tod. Du forderst ihn heraus, wo immer du eine Gelegenheit findest.«

Skar hob widerwillig den Blick und sah Herger ins Gesicht. Der Schmuggler lächelte, aber seine Augen blieben vollkommen ernst. Und Skar begann sich unter seinem Blick unbehaglich zu fühlen. Das ganze Gespräch nahm allmählich eine Wende, die ihm nicht behagte. Es war nicht so sehr das, was Herger sagte, oder auf welche Art - er wäre niemals Satai geworden, wenn er nicht frühzeitig gelernt hätte, sich selbst zu beobachten und sich über seine eigenen Gefühle und Motivationen klarzuwerden -, sondern daß er es sagte. Was in ihm war, seine Gefühle, der Haß, der ihn hierhergetrieben hatte, dieser Haß und die Furcht, die noch immer unter der Oberfläche seiner Gedanken brodelte, die Furcht davor, daß das Ding in ihm vielleicht doch nicht tot war, sondern nur schlief, daß es irgendwo tief in ihm noch immer schlummerte und irgendwann einmal erwachen könnte, ein grausames Gegenstück zu der schwarzen Bestie, die sich auf seine Spur gesetzt hatte - all dies gehörte ihm. Er wollte nicht, daß ein anderer wußte, wie es in ihm aussah, daß irgendein Mensch hinter die Maske blickte, die zu tragen er sich bemühte. Hergers Worte gaben ihm das Gefühl, nackt und schutzlos zu sein, ein Mensch aus Glas, dessen geheimste Gedanken klar vor jedem ausgebreitet waren, der sich die Mühe machte, sie lesen zu wollen.

»Das ist meine Sache«, knurrte er.

»Das stimmt nicht«, widersprach Herger ruhig. »Nicht, wenn nicht alles, was du mir erzählt hast, gelogen war.«

Skar sah mit einem Ruck weg und ballte so wuchtig die Fäuste, daß seine Gelenke hörbar knackten. Für einen Moment hatte er Lust, einfach aufzustehen und wegzugehen, aber das wäre nur ein weiterer Beweis für seine Schwäche gewesen. »Es war die Wahrheit«, sagte er. »Aber du wirst trotzdem nie verstehen, weshalb ich hier bin.«

»O doch«, widersprach Herger. »Ich weiß -«

»Nichts weißt du!« fiel ihm Skar wütend ins Wort. »Ich bin hier, um Del zu rächen, und das ist alles.« Er hatte mit einem Mal Mühe, nicht zu schreien. »Ich habe dir von Vela und ihren Plänen erzählt, aber ich habe es nicht getan, um dein Mitleid zu erregen, Herger. Ich habe dir von ihr erzählt, damit du weißt, worauf du dich einläßt und du mir nicht hinterher vorwerfen kannst, ich hätte dich blind in dein Unglück rennen lassen.«

»Ich - oder du dir selbst?« fragte Herger ruhig.

Skar machte eine wütende Handbewegung. »Nimm es, wie du willst. Vielleicht habe ich es auch getan, damit es wenigstens noch einen Menschen gibt, der die Wahrheit kennt, wenn ich sterben sollte. Ich bin hier, um eine persönliche Rechnung zu begleichen, das ist alles. Nicht mehr und nicht weniger, ganz gleich, was du hineingeheimnissen willst oder nicht. Ich habe dieser Hexe Rache geschworen, und wenn ich dabei zufällig auch noch die Welt rette - wie du es ausdrücken würdest -, dann ist es in Ordnung. Wenn nicht...«

»Wenn nicht, soll ich es tun?«

Diesmal antwortete Skar nicht. Es erschien ihm plötzlich sinnlos, das Gespräch fortzuführen. Wie konnte er Herger erklären, warum er hier war - wo er es doch im Grunde selbst nicht wußte? Sicher - er redete sich ein, Del (und auch sich selbst) rächen zu wollen. Aber er hatte sich auch einmal eingeredet, Velas Befehlen zu gehorchen, weil sie ihn vergiftet hatte, dann wieder, weil er seiner Aufgabe als Satai gerecht werden wollte. Unsinn. Es war alles Unsinn gewesen. Seit er dieses Land betreten hatte, fühlte er sich verwirrt und hilflos wie nie zuvor in seinem Leben, aber vielleicht war es gar keine Verwirrung, vielleicht erkannte er sich nur jetzt zum ersten Mal selbst, vielleicht war es, weil er endlich zu begreifen begann, daß er sich belogen hatte, schon immer, nicht erst, seit er Vela begegnet war. Er begriff mit einem Mal, daß er nicht der große starke Mann war, für den er sich selbst immer gehalten hatte; daß er sein Leben lang eigentlich nichts anderes getan hatte als das, was er Gowenna vorgeworfen hatte: sich zu verstecken; sich hinter der Maske des Supermanns zu verkriechen.

Und was ist das jetzt? dachte er mit einem Zynismus, der ihn erschreckte. Selbstmitleid?

Vielleicht. Vielleicht war alles viel einfacher, und sein Geist war schlicht und einfach unter der ständigen Belastung zusammengebrochen. Vielleicht wurde er langsam verrückt. Und vielleicht... Ja, dachte er, was, wenn alles, was mich antrieb, wenn der brennende Haß in meinem Inneren in Wirklichkeit nichts anderes als verletzter Stolz war? Wenn ich es nur nicht ertragen habe, gedemütigt worden zu sein, noch dazu von einer Frau?

Wie hatte Herger ihn - (spöttisch?) - genannt? Mann aus Stahl? Aber was empfindet ein Mann aus Stahl, wenn er zerbrochen wird?

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