4.

Die SHANTAR brannte immer noch, als Skar eine halbe Stunde später - nahezu am entgegengesetzten Ende des Hafenbeckens - an Land kroch. Das Schiff war gesunken, aber der ungewöhnlich große Tiefgang des Rumpfes und die geringe Tiefe des Hafenbeckens verhinderten, daß es vollends unter der Wasseroberfläche verschwand, und die Aufbauten und Masten brannten noch immer lichterloh. Von hier aus, aus einer Entfernung von einer dreiviertel Meile betrachtet, wirkte der Anblick beinahe harmlos: ein brennendes Spielzeugschiffchen, das auf einem Teich trieb.

Es gab an dieser Stelle keine Kaimauer. Die gewaltige schwarze Wand, die neben ihm aus dem Wasser stieg, war Teil des natürlich gewachsenen Felsens, der den Hafen zum Meer hin abschirmte, und während Skar weiter darauf zuschwamm, stieß er immer wieder schmerzhaft gegen Riffe und Korallenblöcke, die sich unter der Wasseroberfläche verbargen. Es verließen ihn beinahe die Kräfte, als er zwischen den glitschigen Felsen auf den schmalen Uferstreifen hinaufkroch. Andred war noch immer ohne Bewußtsein, vielleicht schon lange tot, aber Skar zog ihn trotzdem mit sich und bettete ihn so behutsam wie möglich auf den harten Untergrund. Dann, schlagartig und ohne Vorwarnung, kam der Zusammenbruch. Skar wurde es schwarz vor den Augen. Er fiel auf Hände und Knie hinab, blieb sekundenlang mit geschlossenen Augen hocken und versuchte die Übelkeit und das Schwindelgefühl niederzukämpfen. Sein Gesicht und seine Hände waren übersät mit Brandblasen und Wunden, und das Salzwasser schmerzte höllisch.

Andred regte sich stöhnend. Seine Augenlider flatterten, aber sein Blick blieb verschleiert. Seine Hände zuckten; die Fingernägel fuhren mit einem hörbaren kratzenden Geräusch über den feuchten Stein. Skar kroch hastig zu ihm hinüber, griff unter seine Schultern und drehte ihn herum. Andred würgte, rang mühsam nach Luft und erbrach sich mehrmals hintereinander: Salzwasser und bittere grüne Galle.

Er keuchte, wollte etwas sagen und hob den Blick, aber Skar schüttelte nur den Kopf und drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück.

»Nicht«, sagte er leise. »Wir sind in Sicherheit. Keine Angst.«

»In Sicherheit...«, wiederholte Andred bitter. »Was ist... mit dem Schiff?« Er hustete, schluckte ein paarmal krampfhaft und richtete sich auf die Ellbogen auf. Skar wollte ihn abermals zurückhalten, aber der Freisegler schob seine Hand mit erstaunlicher Kraft beiseite und starrte an ihm vorbei zu dem brennenden Wrack der SHANTAR. Das Feuer warf zuckende Lichtreflexe auf das bewegte Wasser des Hafens. Es sah aus, als kröchen die Flammen wie kleine flackernde Tiere durch die Wellentäler auf sie zu. »Sie sind tot«, murmelte Andred. Seine Lippen bewegten sich kaum beim Sprechen, und in seinen weit aufgerissenen Augen stand ein Ausdruck, der Skar erbeben ließ.

»Ich ... fürchte«, sagte er stockend. »Gondereds Männer werden dafür gesorgt haben, daß keiner mehr von Bord kam. Außer uns.«

»Außer uns...«, wiederholte Andred. Seine Stimme klang flach, tonlos, kaum wie die eines Menschen, und wahrscheinlich plapperte er die Worte nur nach, ohne ihren wirklichen Sinn zu begreifen. »Warum hat er das getan, Skar?«

Skars Blick verdüsterte sich. »Wegen mir«, murmelte er. »Ich glaube, er hat mich schon draußen auf dem Meer erkannt. Aber er war sich nicht vollkommen sicher.« Er lachte, leise und vollkommen ohne Humor, hob die Hand zum Gesicht und fuhr mit den Fingerspitzen an der langen, gezackten Narbe entlang, die von seinem Augenwinkel bis hinunter zum Kinn und zum Mund reichte. »So etwas ist nicht gerade von Vorteil, wenn man versucht, sich eine andere Identität zuzulegen.«

»Aber warum ...« Wieder stockte der Freisegler. Seine Mundwinkel zuckten. »Er hat das Schiff vernichtet und die Männer ... es ... er hat sechsundvierzig Männer verbrannt.«

Skar nickte. »Er wollte wohl sichergehen«, sagte er kalt. »Vielleicht hat er uns draußen auf dem Meer nur ungeschoren gelassen, weil er sich erst neue Instruktionen holen mußte. Vielleicht hatte er auch Angst.«

»Angst? Vor der SHANTAR?«

Skar zuckte mit den Achseln. »Wohl eher vor mir«, sagte er nach kurzem Überlegen. »Es ist nicht unbedingt von Vorteil, stark zu sein, Andred«, fuhr er leiser und verbittert fort. »Wenn du zu stark bist, dann beginnen dich die anderen zu fürchten. Und dann passiert so etwas.«

»Aber sechsundvierzig Menschenleben!«

»Er wollte mich mit dem ersten Schlag erledigen«, sagte Skar. »Und da war es wohl das Einfachste, das Schiff mitsamt seiner Besatzung zu verbrennen. Aber vielleicht bereitet es ihm auch einfach nur Freude zu töten.« Und vielleicht ist es einfach meine Bestimmung, jedem, mit dem ich zusammen bin, den Tod zu bringen, fügte er in Gedanken hinzu.

Aber das sprach er nicht laut aus.

Statt dessen stand er auf, warf den durchnäßten Umhang ab und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Stadt. »Wir können nicht hierbleiben«, sagte er. »Sie werden bald anfangen, den Hafen nach den Leichen deiner Männer abzusuchen. Fühlst du dich kräftig genug zu gehen?«

Andred nickte. Er stand auf, strauchelte und hielt sich im letzten Moment an einem Felsen fest, schüttelte aber den Kopf, als Skar ihm die Hand entgegenstreckte.

»Weißt du einen Weg, auf dem wir ungesehen in die Stadt hineinkommen?« fragte Skar.

Andred sah lange und schweigend zur Stadt hinüber. Sein Gesicht war ausdruckslos, starr; eine Maske, auf der nicht einmal mehr Schrecken oder Schmerz zu lesen waren. Die Glut des brennenden Schiffes warf zuckende Lichtfinger über den Hafen, verwandelte Gondereds Männer in kleine, finstere Schatten, die sich mit abgehackten, flinken Bewegungen vor dem Hintergrund der Stadt abzeichneten, und erfüllte seine Augen mit blutrotem Widerschein. »Wir ... könnten versuchen, die Klippen zu ersteigen und die Stadt von der anderen Seite zu betreten«, sagte er tonlos. »Die Wand ist nicht so unbezwingbar, wie es den Anschein hat.« Skar legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zur Krone der steinernen Barriere empor. Jetzt, im schwachen Sternenlicht der Nacht, war sie wenig mehr als ein senkrechter, konturloser Schatten. Er schätzte ihre Höhe auf hundertfünfzig, allerhöchstens zweihundert Fuß - kein unüberwindliches Risiko für einen entschlossenen Mann. Aber er verwarf diesen Gedanken fast sofort wieder. Das Risiko, vom Hafen aus gesehen zu werden, war zu groß. Und er wäre nicht einmal überrascht gewesen, wenn Gondered auch dort oben ein paar von seinen Männern postiert hätte. Zumindest hätte er das getan, wäre er an der Stelle des Thbarg gewesen.

Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder an Andred. »Nein«, sagte er. »Zu gefährlich. Wenn wir entdeckt werden, dann bieten wir zwei prachtvolle Zielscheiben. Wir werden versuchen müssen, so in die Stadt zu gelangen. Was ist mit diesem Herger, von dem du gesprochen hast - glaubst du, daß er uns auch jetzt noch helfen wird?«

Andred nickte, aber Skar bezweifelte beinahe, daß er seine Worte überhaupt gehört hatte. Er sah erst jetzt, daß der Freisegler weit schwerer verletzt war als er - sein linker Arm hing schlaff herunter, und die Hand begann sich allmählich dunkel zu färben, und aus seinem Haaransatz rieselte ein dünner, aber beständiger Blutstrom über seine Schläfe. Besorgt trat er auf ihn zu, um sich um seine Verletzungen zu kümmern, aber Andred winkte erneut ab. »Nicht«, sagte er leise. »Laß mich.«

Skar senkte schuldbewußt den Blick. Natürlich machte Andred ihn - wenn auch unbewußt - für alles verantwortlich, was geschehen war, und daß er den Gedanken nicht laut aussprach, nicht ein einziges Wort von Schmerz oder Vorwurf von sich gab, machte es eher noch schlimmer. Ohne Skar würden seine Männer noch leben und sein Schiff kein brennender Trümmerhaufen sein. Skar war nur ein Bettler gewesen, als sie sich in Endor getroffen hatten, und er, Andred, ein stolzer, nicht gerade reicher, aber doch zumindest wohlhabender Freiseglerkapitän, und ein Augenblick, ein winziger Moment der Großherzigkeit hatte ihn alles gekostet. Er hatte nicht nur sein Schiff verloren. Von einem Moment zum anderen war er zu einem Gejagten wie Skar geworden, und Skar wußte plötzlich - so grundlos und so sicher, wie er zuvor gewußt hatte, daß die SHANTAR in ihr Verderben segelte, daß Andred sterben würde.

Er drängte den Gedanken zurück, wandte sich ab und drehte sich unschlüssig um seine Achse. Das Felsband, auf das sie sich gerettet hatten, war wenig mehr als zwei Manneslängen breit, aber die zerschründeten Grate und Steine boten ihnen genug Deckung, selbst wenn sie bis zum Anbruch des Tages hierbleiben mußten. Schließlich konnte Gondered den Hafen nicht ewig abriegeln lassen. Aber Skar verwarf auch diesen Gedanken. Sie hatten nicht so viel Zeit. Sie brauchten Wasser und trockene Kleider, wenn sie nicht erfrieren wollten, und Andreds Wunden mußten versorgt werden. »Ich fürchte, wir müssen es riskieren«, murmelte er. »Bleib immer dicht hinter mir. Und keinen Laut.«

Er wandte sich um, überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, daß Andred ihm folgte, und begann sich vorsichtig einen Weg zwischen den feuchtglänzenden Felsen hindurch zu suchen. Der Boden war glitschig und fiel zum Wasser hin leicht ab, so daß Skar vorsichtig auftreten und sich wie ein alter Mann von Stein zu Stein tasten mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Jetzt, als die Anspannung allmählich nachließ, spürte er, wie kalt es war. Der Winter hatte zwar seinen Höhepunkt überschritten, schon als Skar in Endor gewesen und auf ein Schiff gewartet hatte, aber die Temperaturen lagen trotzdem nur knapp über dem Gefrierpunkt, und vom Wasser schien Kälte wie unsichtbarer Nebel aufzusteigen und Skars durchnäßte Kleider in einen Panzer aus Eis zu verwandeln.

Das steinerne Sims zog sich halbkreisförmig am Fuß der Klippe entlang, hier und da etwas höher oder niedriger, so daß sie manchmal durch knöchel- oder auch knietiefes Wasser waten mußten. Er führte aber insgesamt ohne Unterbrechung bis zu der Stelle, an der die natürliche von der von Menschenhand geschaffenen Mauer des Kais abgelöst wurde. Skar gebot Andred mit einer Handbewegung zurückzubleiben, als sie sich der Hafenanlage näherten. Ein gewaltiger plumper Lastensegler aus Kohon schaukelte dicht vor ihnen auf den Wellen und schützte sie vor direkter Entdeckung; der Rumpf rieb sich knarrend an der Kaimauer, und von Zeit zu Zeit schlugen die schlaff herabhängenden Segel mit flappendem Geräusch gegen die Masten. Ein leiser Geruch wie nach verfaultem Fisch und moderndem Tauwerk wehte vom Deck des Seglers herüber, und weiter zur Stadt hin konnte Skar undeutliches Stimmengemurmel hören.

Sein Blick tastete aufmerksam über den Kai. Dieser war so flach und deckungslos wie dort, wo die SHANTAR angelegt hatte, aber der Segler warf einen mächtigen dreieckigen Schatten auf das Kopfsteinpflaster - und von seinem Rand aus waren es vielleicht noch zehn Schritte bis zur Mauer des ersten Lagerschuppens. Zehn Schritte zuviel, dachte Skar düster. Gondered war kein solcher Narr, daß er nicht die einfachsten Sicherheitsvorkehrungen treffen und jeden Quadratfuß Boden zwischen der Kaimauer und der Stadt unter Beobachtung stellen würde.

Skar huschte zu Andred zurück, duckte sich neben ihn in den Schatten eines Felsens und blies in die Hände. Die Kälte ließ seine Fingerspitzen taub werden und kroch langsam in seine Muskeln. Nein - sie konnten nicht warten, bis die Sonne aufging und Gondered die Sperre aufhob. Der Gedanke kam Skar im Moment beinahe lächerlich banal vor - aber auch eine Lungenentzündung konnte tödlich sein. Alle Männer, die an Banalitäten gestorben waren, zusammengenommen, ergäben wahrscheinlich eine Kette dreimal von hier nach Ikne und zurück.

»Hör zu«, sagte er. »Ich werde versuchen, einen Weg in die Stadt für uns zu finden; irgendwie. Du wartest hier und rührst dich nicht von der Stelle, ganz gleich, was geschieht - und zwar genau eine Stunde lang. Wenn ich dann nicht zurück bin, oder wenn du siehst, daß ich gefangengenommen oder getötet werde, dann versuche auf eigene Faust in die Stadt zu kommen. Wenn wir getrennt werden, dann treffen wir uns bei deinem Feund Herger. Hast du das verstanden?«

Andred nickte, aber sein Blick schien direkt durch Skar hindurch ins Leere zu gehen. Skar wollte noch etwas sagen, beließ es aber dann bei einem leichten Achselzucken und huschte zurück zur Kaimauer. Andred war nicht der erste Mann, den er in diesem Zustand sah: Der Schock und die Verletzungen waren zuviel gewesen, hatten seinen Geist aus der Bahn geworfen und ihn in einen Zustand versetzt, der noch nicht Trance, aber auch nicht wirkliches Wachsein war. Skar hatte so etwas oft beobachtet, und er wußte, daß Andred stark genug war, sich zu fangen, wenn er nur genügend Zeit und ausreichende Pflege bekam. Wenigstens konnte er Skar und sich selbst so nicht in Gefahr bringen.

Skar blieb am Rand des Kais stehen, richtete sich - noch immer in Deckung der letzten Felsen - auf und sah konzentriert zur Stadt hinüber. Die Schiffe waren nicht mehr als wuchtige Schatten, halbwegs mit der Nacht verschmolzen; vielleicht harmlos, vielleicht aber auch voller neugieriger Augen, die nur darauf warteten, daß er sich zeigte. Die SHANTAR brannte noch immer, aber die Flammen hatten bereits den Großteil ihrer Nahrung aufgezehrt und loderten nicht mehr halb so hoch wie noch vor Minuten, und das Wrack begann jetzt Stück für Stück auseinanderzubrechen. Skar sah, wie sich der Hauptmast zur Seite neigte, wie er zitterte, drei, vier Atemzüge lang reglos und in beinahe unmöglicher Schräglage verharrte und seinen Weg dann fortsetzte, auf die gemauerte Kante des Kais krachte, entzweibrach und brennende Trümmer und Funken verstreute. Ein paar der winzigen Gestalten sprangen hastig zur Seite, Stimmen klangen auf und gingen im Bersten des zerbrechenden Holzes unter, und für einen winzigen Moment loderten die Flammen noch einmal mit greller Glut auf; ein letzter, feuriger Todesschrei des sterbenden Schiffes.

Skar spurtete los.

Bis zum Schatten des Lastenseglers waren es nicht mehr als fünfzig Schritte; drei, vielleicht vier Sekunden, aber er war am Ende seiner Kräfte, als er ihn erreichte. Er fiel auf die Knie, kroch auf Händen und Füßen weiter und blieb, schwer atmend und mit hämmerndem Herzen, im Zentrum des großen, rechteckigen Bereiches vollkommener Schwärze hocken. Sein Blick glitt zur Stadt hinüber, saugte sich an dem halben Hundert winziger schwarzer Gestalten fest und suchte angstvoll nach einer Reaktion, nach aufgeregten Gesten und dem Blitzen von Waffen.

Nichts. Natürlich nicht, du Narr, dachte er zornig. Er hatte den Augenblick mit Bedacht gewählt und wußte, daß - wer immer den Auftrag gehabt hatte, den Hafen zu beobachten - ganz bestimmt für einen Moment weggesehen haben würde, als der Mast fiel. Aber die Unruhe wich nicht, im Gegenteil, sie wurde schlimmer. Vorhin, aus der Deckung der Felsen heraus betrachtet, war ihm der Schatten des Seglers absolut schwarz und lichtlos erschienen, aber mit jeder Sekunde, die er länger hier hockte, gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, nahm er mehr von seiner Umgebung wahr, sah er Schattierungen und Einzelheiten und tausend Nuancen von Schwarz und Grau, und eine lautlose, böse Stimme hinter seinen Gedanken begann ihm zuzuflüstern, daß es seinen Gegnern ebenso ergehen mußte, daß sie Zeit genug gehabt hatten, sich an die schlechten Lichtverhältnisse zu gewöhnen, daß sie ihn sehen mußten, so deutlich, als säße er im Zentrum einer gewaltigen Zielscheibe.

Natürlich war das Unsinn. Er war sicher, und der schwarze Umhang gab ihm zusätzliche Deckung. Aber die Stimme in seinem Inneren und seine Furcht scherten sich nicht viel um die Logik, mit der er sie bekämpfen wollte, und seine Unruhe stieg weiter.

Er stand auf, drehte sich einmal um seine Achse und ging langsam auf den Rand des Schattens zu. Der Lastensegler bewegte sich, nur leicht, aber immerhin so viel, daß die zerfaserte schwarze Linie, die das Nebelgrau der Nacht begrenzte, langsam vor und zurück wanderte, und das Knarren, mit dem sich der Rumpf an der steinernen Mauer rieb, erschien ihm für einen Moment wie ein schweres, mühsames Atemholen.

Skar blieb stehen, schloß für einen Moment die Augen und ballte die Fäuste so heftig, daß seine Fingerknöchel knackten. Was geschah mit ihm? Er hatte Angst - diese Art von Angst - niemals gekannt. Er war Satai. Ein Kämpfer. Ein Mann, der zum Kämpfen und Überleben geschaffen war, der gelernt hatte, seine Gefühle nach Bedarf ein- und auszuschalten. Und jetzt kämpfte er. Aber die Ruhe, das scharfe, von keinen Emotionen beeinträchtigte Denken des Jägers, seine beste und machtvollste Waffe, waren verschwunden. Er hatte Angst. Nicht die Art von Angst, die zum Überleben ebenso notwendig war wie ein gutes Auge und sichere Reaktionen, sondern blanke, nackte Furcht, die Angst des gehetzten Tieres, Angst, die blind und unvorsichtig machte und zu Fehlern verleitete.

Was geht mit mir vor? dachte er erschrocken. Er begann sich zu verändern, rasch, schmerzhaft und unaufhaltsam. Die Worte, die er Andred gegenüber gebraucht hatte, fielen ihm wieder ein, und ein eisiger Schrecken zuckte durch seine Brust, als er begriff, wie wahr sie gewesen waren. Ich bin kein Satai mehr, hatte er gesagt. Und es war wahr. Er hatte seine Kleider, seine Waffen und seine Erinnerungen wieder an sich genommen, aber etwas, irgend etwas, war zurückgeblieben, auf dem brennenden Schiff, in Endor oder vielleicht schon in der verfallenen Festung am Rande des Schattengebirges. Nicht seine Stärke. Nicht seine Reaktionen und all die unzähligen fairen und schmutzigen Tricks, die er gelernt hatte. Dies alles war noch da, irgendwo in ihm, abrufbereit, und er wußte, daß er es haben würde, wenn er es brauchte. Nur dieses Wort, dieses kleine, harmlose Wort Satai, von dem jeder, der nicht selbst zur Kaste gehörte, glaubte, daß es nicht mehr als Krieger bedeutete und das doch in Wirklichkeit Religion, Lebensanschauung, Philosophie und noch viel, viel mehr war, dieses Wort war nicht mehr da.

Es ging schnell, so furchtbar, grausam schnell. Ein Lidzucken, die Zeit, die ein Pfeil benötigt, um von der Sehne zu schnellen und sein Ziel zu treffen. Und plötzlich war er kein Satai mehr, sondern nur noch das, was Gowenna von Anfang an in ihm gesehen hatte - ein gedungener Killer, ein Mann, der das Töten zum Beruf gemacht hatte. Der ...

Skar stöhnte. Seine Gedanken begannen einen wilden Tanz aufzuführen, ihm zu entgleiten, sich zu verwirren. Er kämpfte dagegen an, drängte sie zurück und grub die Fingernägel in seine Handflächen, um den Schmerz als Waffe dagegenzusetzen. Aber es wurde nicht besser. Seine Gedanken klärten sich, aber die Furcht blieb, bohrend, nagend, ein gestaltloser, schwarzer Schrecken, der ihn von jetzt an auf Schritt und Tritt begleiten würde. Skar war beinahe froh, als sich das Geräusch von Schritten in das Klatschen der Wellen mischte und die Nacht zwei Gestalten ausspie.

Es waren Thbarg; zwei von Gondereds Kriegern - schlank, hochgewachsen und in knöchellange blaue Mäntel gehüllt. Sie redeten miteinander, leise und in einer Sprache, die Skar nicht verstand, blieben einen Moment stehen und kamen dann näher, langsam und mit den unentschlossenen Bewegungen von Männern, die kein bestimmtes Ziel hatten. Skar wich einen halben Schritt zurück, schob die Hand unter den Mantel und zog zwei der winzigen Shuriken aus dem Gürtel. Das Metall fühlte sich eisig an. Ein wenig von der Kälte des Hafenwassers war noch in ihm, und seine rasiermesserscharfen Kanten hinterließen dünne, blutige Linien auf Skars Fingern. Er wich noch ein Stück zurück, hob die Arme - langsam, um sich nicht durch eine unbedachte Bewegung oder das Rascheln von Stoff zu verraten - und drehte die fünfzackigen Metallsterne, bis sie die richtige Position hatten: ein wenig schräg und nach vorn geneigt, zwischen Daumen, Zeigefinger und dem ersten Gelenk des Mittelfingers ruhend. Jede Bewegung, jede winzige Geste kam ihm mit seltener Klarheit zu Bewußtsein. Es war Mord.

Skar erschrak. Das waren nicht seine Gedanken.

Aber es ist so, fuhr die Stimme fort. Du mußt sie nicht töten. Sie kommen hierher, direkt auf dich zu, und sie wissen nicht, daß du auf sie wartest. Wenn du nicht gelernt hast, einen Mann zu betäuben, ehe er schreien kann, was dann?

Er erstarrte, ließ die Hände ein wenig sinken und hob sie dann wieder mit einer schnellen, fast wütenden Bewegung. Die Spitzen der Shuriken schrien nach Blut.

Wenn du es tust, dann bist du nicht besser als sie, fuhr die Stimme fort. Seine Hände begannen zu zittern.

Was ist das? dachte Skar. War das der Skar, der er gewesen war, bevor er Vela traf? War er sich selbst schon so fremd geworden, daß er ihn nicht wiedererkannte? War es die Stimme des Satai, die in ihm flüsterte? Oder wurde er - auch dieser Gedanke kam ihm nicht zum ersten Mal - schlicht und einfach verrückt?

Die beiden Thbarg kamen näher, blieben wieder stehen und gingen weiter, die Hände nachlässig auf die Waffen gelegt. Skar verlängerte die imaginäre Linie, der sie folgten, in Gedanken. Sie würden den Schatten nicht betreten, sondern dicht an seiner Grenze entlang zum Ende des Kais gehen, dort wahrscheinlich kehrtmachen und zurückgehen. Er konnte stehenbleiben und einfach warten, und sie würden nicht einmal wissen, wie knapp sie dem Tode entronnen waren.

Dann tu es, flüsterte die Stimme. Zwei Menschenleben sind ein zu hoher Preis für zwei Mäntel.

Sein Blick verschleierte sich. Für einen Moment glaubte er Nebel zu sehen, schwarzen, hin und her tanzenden Nebel voller Blut und Gewalt, dann gewahrte er ein Paar dunkler, spöttischer Augen.

Und als er erkannte, wessen Augen es waren, schleuderte er die Waffen.

Die Shuriken jagten davon, rissen blutige Linien in seine Hände und verwandelten sich in lautlose, tödliche Räder aus Licht. Einer der beiden Thbarg brach lautlos zusammen, der andere schrie auf - ein halblauter, erstickter Ton, der nur wenige Schritte weit zu vernehmen war -, griff sich in den Nacken und drehte sich taumelnd um. Sein Gesicht war eine Maske aus Schmerz und ungläubigem Schrecken. Er wankte, nahm die Hände herunter und betrachtete ungläubig seine Finger. Sie glitzerten dunkel und rot von seinem eigenen Blut. Sein Mund öffnete sich, aber kein Laut kam über seine Lippen. Nur der Schrecken in seinen Augen wurde größer.

Dann fiel er.

Als Skar zu den beiden Toten hinüberging und ihnen die Mäntel auszog, glaubte er ein leises Lachen zu hören. Nicht die Stimme seines dunklen Bruders, nicht die seines Gewissens und nicht das Heulen des Wolfes, sondern das Lachen einer Frau. Velas Lachen.

Willkommen, Bruder, sagte es. Er hatte den letzten Schritt getan. Es gab nichts mehr, was sie unterschied.

Jetzt - endgültig - waren sie sich gleich geworden. Es war nicht das erste Mal, daß er diesen Gedanken dachte, aber es war das erste Mal, daß er wußte, daß er wahr war. Er hatte Vela gehaßt, und ab heute würde er auch sich hassen.

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