26.

Über dem Tal lag noch Nebel, der letzte flüchtige Hauch der Nacht, der nur widerwillig der hereinbrechenden Dämmerung wich. Es war kalt; die Sonne war als lodernder roter Ball über den Horizont gekrochen, aber es würde noch lange dauern, bis ihre Wärme den Klammergriff des Frostes gesprengt haben würde. An den Wänden der Schlucht glitzerte Rauhreif, hier und da hatte sich Eis in kleinen stacheligen Nestern festgesetzt, und über der nördlichen Hälfte des Canyons fiel Schnee; ein wirbelnder grauweißer Vorhang, hinter dem die Gestalten der Quorrl und Menschen nur noch als huschende Schatten wahrzunehmen waren.

Skar schlug fröstelnd den Kragen seines pelzgefütterten Mantels höher und trat einen Schritt vor. Die beiden Tuan-Krieger folgten ihm wie stumme, mächtige Schatten, aber er bemerkte sie kaum noch. Es waren erst drei Tage vergangen, seit sie in seiner Nähe waren, aber er hatte sich schon an sie gewöhnt. Solange er sich nicht zu hastig bewegte oder gegen Velas ausdrückliche Verbote verstieß, ließen sie ihn in Ruhe.

Die Errish drehte sich um, als sie seine Schritte hörte, lächelte flüchtig und wies mit der Linken ins Tal hinunter. Die andere Hand umklammerte den Stein. Sie hatte ihn von seiner Kette gelöst und hielt ihn so fest, als wolle sie ihn zerbrechen. »Bist du zufrieden?« fragte sie.

»Womit?«

»Mit ihren Vorbereitungen. Ihre Späher müßten schon blind sein, wenn sie das Heer noch nicht bemerkt hätten.«

Skar schenkte sich die Antwort und sah sich statt dessen - zum hundertsten Male - nach allen Seiten um. Es war die klassische Situation: Unter ihnen, auf der anderen Seite der Schlucht und durch die große Entfernung zu einer Ansammlung winziger schwarzer Pünktchen degradiert, rückte das Heer heran, eine Walze aus Fleisch und Panzerplatten, die wie eine bizarre Kaulquappe auf das Lager der Rebellen vorstieß. Vela hatte ihm einen Schlachtplan erklärt; er war nicht sonderlich originell, nicht einmal gut - aber das mußte er auch nicht sein. Was der Errish an strategischem Geschick fehlte, machte sie durch pure Gewalt wett, nicht ein-, sondern hundertmal. Gewalt und Magie. Wenn es Magie war.

Skar schob den Gedanken beiseite. Es war müßig, über etwas nachzudenken, das vom menschlichen Bewußtsein nicht erfaßt werden konnte. Wenn es keine Magie war, dann etwas so Fremdes und Unvorstellbares, daß das Wort wieder seine Berechtigung bekam.

»Woran denkst du?« fragte Vela.

Skar sah sie an. »An nichts«, antwortete er ausweichend.

Vela schüttelte tadelnd den Kopf. »Das solltest du nicht«, sagte sie. »Du hast nicht mehr viel Zeit, vergiß das nicht. In einer Stunde treffen die Heere aufeinander.«

Skar drehte sich mit einem Ruck um und entfernte sich ein paar Schritte. Velas Worte waren der reine Hohn. Die Rebellen waren schon jetzt besiegt. Das Unwetter, das seit drei Tagen über ihrem Tal tobte und mit Hagel- und Schneestürmen auf die wehrlosen Krieger einschlug, mußte sie bereits zermürbt haben. Es war ein unwirklicher Anblick: Hier oben, auf Velas improvisiertem Feldherrnhügel, wuchsen bereits Gras und farbige Unkräuter, und Skar konnte trotz der beißenden Kälte die Wärme spüren, die die Sonne spendete. Bald würde er den Mantel ablegen und die Temperaturen eines Frühlings genießen können, der den Rebellen dort unten wie grausamer Spott vorkommen mußte. Dicht unter Skar, kaum eine Pfeilschußweite entfernt, verlief eine unsichtbare Grenze: die Mauer zwischen Frühling und tiefstem Winter, zwischen lebenspendender Wärme hier oben und tödlicher, würgender Kälte, die sich wie ein weißes Leichentuch über die Schlucht gelegt hatte. Wenige Schritte hinter dieser Grenze lagen Tote; ein Dutzend Quorrl, vielleicht die doppelte Anzahl Männer, und zwischen ihnen eine verkrümmte, graugekleidete Gestalt. Die Errish hatte versucht, Velas scheinbar schutzloses Lager zu nehmen. Skar hatte den Kampf nicht mit angesehen. Nur zwei der schwarzen Tuan-Krieger waren nötig gewesen, die Errish und ihre Begleiter zu töten. Und selbst das war nur ein weiterer Akt überflüssiger Grausamkeit. Sie hätten das Tal nicht einmal verlassen können, wenn Vela es ihnen nicht gestattet hätte. Der Schneesturm dort unten war nur ein Spiel - sie hätte die Gewalten der Hölle heraufbeschwören können, wenn sie gewollt hätte.

Er straffte sich, riß sich gewaltsam von dem grausigen Anblick los und ging zu Vela zurück.

»Was verlangst du von mir, wenn du es nicht tust?« fragte er. Vela runzelte in gespielter Verblüffung die Stirn. »Wenn ich was nicht tue?« erwiderte sie.

Skar knurrte ungeduldig. »Hör auf. Du weißt genau, was ich meine - brich den Angriff ab. Sie können dir nicht schaden. Du hast keinen Grund, sie umzubringen.«

»Du irrst dich, Skar«, antwortete Vela. »Ich habe Tausende von Gründen - und zwei davon heißen Gowenna und Del. Sie sind dort unten, sie und ihre Verbündeten.« Ihre Stimme wurde hart. »Die Herren von Cosh hätten bleiben sollen, wo sie waren, Skar. Niemand hat sie gezwungen, ein Heer aufzustellen und mit Gowenna hierherzuziehen. Sie hat diesen Kampf gewollt, und sie wird ihn bekommen.«

»Es ist kein Kampf«, sagte Skar. »Es ist Mord. Sie sind schon jetzt halb erfroren - glaubst du, sie hätten eine Chance gegen deine Drachen und diese« - er wies auf die schwarzen Hornkrieger und verzog abfällig das Gesicht - »diese Kreaturen?«

»Natürlich nicht«, antwortete Vela ruhig. »Hätten sie sie, wäre ich nicht hier, Skar. Aber ich glaube, du hast noch immer nicht begriffen, warum wir hier sind, du und ich. Du willst diese Schlacht nicht? Ein Wort von dir genügt, und wir ziehen uns zurück. Du weißt, welches.«

Skar starrte sie an. Seine Hände zuckten.

»Dort unten sind mehr als zweitausend Krieger«, fuhr Vela fort. »Menschen, Quorrl, Sumpfleute - und ein paar deiner Freunde. Ihr Leben liegt in deiner Hand. Entscheide dich. Ein Wort von dir, und wir rücken ab. Der Thron von Elay wartet noch auf dich. Du kannst herrschen, Skar. Du wirst mehr Macht in Händen halten als jemals ein Mann vor dir.«

»Hör auf«, flüsterte er.

»Aufhören?« Vela sog geräuschvoll die Luft ein. »Du verkennst deine Lage, Satai«, sagte sie. »Du hast nichts zu fordern, und du bist nicht in der Situation, mir Vorwürfe zu machen. Wenn es zur Schlacht kommt, dann ist es deine Schlacht, Skar. Die Schuld am Tod dieser Männer dort unten wirst du tragen. Du allein, nicht ich!«

»Das ist nicht wahr«, stöhnte Skar. »Du -«

»Du hast mich böse gemacht«, fiel ihm Vela ins Wort. »Vielleicht bin ich es - in deinen Augen. Aber ich gebe dir die Möglichkeit, dieses Morden zu verhindern, Skar. Ich weiß, wie hoch dir der Preis dafür vorkommen muß, aber wenn du wirklich der Mann bist, der du zu sein vorgibst, dann bezahle ihn. Ich verlange nichts als dein Wort, bei mir zu bleiben und deine Feindschaft zu vergessen. Keine Hilfe. Was zu tun ist, werde ich tun.«

»Ich brauche nur stillzuhalten, nicht?« fragte Skar mühsam. »Du verlangst nichts von mir, als daß ich zusehe, wie du diese Welt vernichtest.«

»Unsinn. Ich glaube, du überschätzt uns beide, Skar. Wir können diese Welt weder vernichten noch retten. Aber dein Sohn wird es können. Wäre dir nicht wohler, wenn du dabeisein und ihn lenken könntest? Wenn ich so abgrundtief schlecht bin, wie du mich siehst, kannst du es dann verantworten, die Erziehung dieses Kindes allein in meine Hände zu legen?«

Skar schwieg. Vela starrte ihn noch eine Weile an, nickte dann und straffte die Schultern. »Wie du willst, Skar.« Sie hob die rechte Hand mit dem Stein, schloß die Augen und murmelte lautlose Worte. Skar vermeinte ein leises Knistern zu hören, ein Geräusch wie von fernen Blitzen, und die Luft roch plötzlich wie nach einem Gewitter. Der Stein begann in ihrer Hand zu glühen in einem kalten, unerträglich gleißenden Licht. Eine knöcherne Hand legte sich von hinten auf Skars Schulter und hielt ihn fest.

Ein unwirkliches blaues Licht begann sich über dem Tal auszubreiten. Es sah aus, als glühten die wirbelnden Schneewolken, und die Männer und Quorrl dahinter waren nicht mehr als Motten, die dem Licht zu nahe gekommen waren und verbrannten. Ihre Bewegungen wirkten plötzlich abgehackt und hastig. Dann riß die kochende Wand auf mit beinahe schmerzhafter Plötzlichkeit. Der letzte Schnee sank zu Boden, und das Tal lag als weißer, von unbestimmbarer Bewegung erfüllter Abgrund vor ihnen.

»Du hast recht, Skar«, sagte Vela spöttisch. »Es war unfair. Ich werde ihnen zumindest Gelegenheit geben, sich zur Schlacht zu formieren.«

Skar ballte in hilflosem Zorn die Fäuste. ›Ein Wort von dir‹, hallten Velas Worte hinter seiner Stirn nach. Ein einziges Zeichen von ihm, und dieses sinnlose Morden würde nicht stattfinden. »Nun?« fragte Vela. In ihrer Stimme war jetzt eine winzige, aber hörbare Spur von Ungeduld. »Hast du dich entschieden?« Er konnte sich nicht entscheiden. Niemand konnte eine solche Entscheidung von irgend jemandem verlangen.

Vela wartete. Ihr Gesicht war zu einer reglosen Maske erstarrt, und als er sie ansah, glaubte er für einen winzigen Moment hinter ihren Zügen etwas anderes zu erkennen, das Antlitz von etwas unsagbar Fremdem, Uraltem. Sie war nicht mehr sie selbst. Sie hatte unrecht gehabt. Die Schuld an dem, was jetzt geschah, traf nicht ihn und auch nicht sie. Nicht mehr. Sie bestimmten beide nicht mehr, was geschehen würde. Schon lange nicht mehr.

Er senkte den Blick und wandte sich ab, soweit es der unbarmherzige Griff der Hornkrieger zuließ. Unten im Tal begannen sich die Rebellen zu formieren. Der Schneesturm hatte vollkommen aufgehört, und die weiße Decke war schon nach Minuten von Tausenden von Füßen und Hufen zertrampelt und zu braunem Matsch geworden. Er versuchte einen Blick zur Höhle der Daktylen zu werfen, aber ihr Eingang war zu weit entfernt, als daß er mehr als hektische Aktivität hätte erkennen können.

Skar versuchte jedes Gefühl auszuschalten und nur noch ein Krieger zu sein, der dem Verlauf der Schlacht zusieht. Er erkannte eine Anzahl graugekleideter, huschender Schattengestalten zwischen den Quorrl, und einmal meinte er, für Sekunden einen hünenhaften gepanzerten Mann zu erblicken, war sich aber nicht sicher, ob es wirklich Del war. Als er dort unten gewesen war, hatte ihn die Größe der Schlucht erstaunt, aber jetzt schien sie kaum auszureichen, um all die Krieger aufzunehmen, die sich dort zum Kampf formierten. Es waren Sumpfleute unter ihnen, sehr viele Sumpfleute. Gowenna mußte mehr als tausend Reiter aus Cosh mitgebracht haben - eine ungeheure Armee. Und doch ein Nichts gegen die Kräfte, die ihnen gegenüberstanden.

»Sieh gut hin, Skar«, sagte Vela. »Du bist noch nie Zeuge einer totaleren Niederlage gewesen.«

Skar wollte nicht antworten, aber Velas Worte weckten einen sinnlosen Zorn in ihm. »Ich habe gelernt, mich erst über einen Sieg zu freuen, wenn der Kampf vorbei ist«, knurrte er.

Ein amüsiertes Lächeln spielte um die Lippen der Errish. »Es wird nicht lange dauern«, sagte sie. »Sieh hin.«

Skar gehorchte. Vielleicht hätte er sich jetzt umwenden und gehen sollen, aber das wäre ein Verhalten gewesen, das in seiner Lage allerhöchstens lächerlich gewirkt hätte.

Die Rebellen formierten sich zu drei Gruppen - zwei Trupps von je tausend Mann, die Hälfte davon zu Pferd, die andere zu Fuß; eine dritte, kleinere, bestand nur aus Reitern und schloß sich hinter den beiden großen Einheiten zusammen.

»Das gilt uns«, sagte Vela amüsiert. »Mein Respekt. Sie haben immerhin erkannt, daß wir nur wenige sind.« Sie lachte. »Aber ich fürchte, wir sind nicht so wehrlos, wie deine Freundin und Del glauben.« Sie gab einem ihrer Begleiter einen Wink. Der Mann entfernte sich hastig und kam wenige Augenblicke später zurück, ein zusammengeschobenes wuchtiges Fernglas in der Hand. Vela nahm es entgegen, zog es auseinander und setzte es sich an die Augen.

»Tatsächlich«, murmelte sie, nachdem sie eine Weile hindurchgesehen hatte. »Sie sind dabei.« Sie setzte das Glas wieder ab, wog es nachdenklich in der Hand und wandte sich an Skar. »Du kennst sie - ist es nun Heldenmut, oder will sie sich nur den Triumph nicht nehmen lassen, mich selbst zu töten?«

Skar schwieg. Vela trat auf ihn zu, hob die Hand, um ihm das Glas zu reichen, und überlegte es sich im letzten Augenblick anders. »Laßt sie herankommen«, sagte sie mit erhobener Stimme. »Vernichtet die Krieger, aber laßt die Frau und den Satai am Leben.«

Skar fuhr auf, aber einer seiner Bewacher riß ihn mit einer blitzschnellen Bewegung zurück.

»Schone deine Kräfte«, sagte Vela gelassen. »Verfluche mich ruhig, wenn es dir Erleichterung verschafft. Aber streng dich nicht an - der interessanteste Teil steht uns noch bevor.«

Skar bäumte sich verzweifelt auf, doch der Griff des Dämonenkriegers lockerte sich nicht um einen Millimeter. Skars Bemühungen schienen den Druck der unmenschlich starken Hände sogar noch zu verstärken.

Vela sah wieder nach Süden. Die beiden großen Heeresgruppen der Rebellen hatten mit dem Aufstieg aus dem Tal begonnen. Aber sie rückten langsamer vor, als Skar erwartet hatte. Vielleicht fanden die Pferde auf dem spiegelglatt gefrorenen Boden keinen rechten Halt; vielleicht hatten auch der tagelange Sturm, die Kälte und die zyklopischen Gewitter, die Velas eigentlicher Streitmacht wie unsichtbare apokalyptische Vorboten vorausgeeilt waren, ihre Kräfte schon soweit erlahmen lassen, daß sie zu keinem größeren Tempo mehr fähig waren. Skar versuchte, die Geschwindigkeit der beiden Heere abzuschätzen - wenn die Rebellen ihren Vormarsch nicht sehr bald beschleunigten, dann würde der entscheidende Zusammenstoß unmittelbar am Rand der Schlucht stattfinden.

»Worauf warten sie?« fragte Vela. Skars Blick folgte dem ihren. Die dritte, kleinere Formation der Rebellen hatte sich bisher nicht von der Stelle gerührt. Meldereiter galoppierten hektisch hin und her, und unter den Männern war eine allgemeine Unruhe ausgebrochen - aber sie blieben, wo sie waren, obgleich es kaum ein Ritt von zehn Minuten hier herauf gewesen wäre.

»Sie wartet«, sagte Skar ruhig. »Sie wartet, bis die Schlacht beginnt. Der beste Zeitpunkt für einen direkten Angriff auf das feindliche Hauptquartier ist immer der Moment der Schlacht.« Vela nickte. »Sie fürchtet, wir könnten sonst Verstärkung von unserem Hauptheer bekommen«, murmelte sie. Ihre Vermutung war so unsinnig wie falsch, aber Skar ging nicht darauf ein. Langsam begann er zu ahnen, welchem Plan die Rebellen folgten. Wenn seine Vermutung zutraf, war der Plan genial. Aber auch er würde nichts nützen.

Aus der großen Höhle am anderen Ende der Schlucht stob plötzlich ein Schwarm dunkler, fledermausflügeliger Punkte. Daktylen. Ihre Zahl überraschte Skar. Er war selbst in dieser Höhle gewesen und hatte gesehen, daß es viele waren - aber nicht so viele! Es mußten weit über hundert Tiere sein, die in einem breiten, nicht abreißenden Strom aus der Erde stoben und sich über dem Tal formierten. Das helle, aufgeregte Krächzen der Drachenvögel erfüllte die Luft. Skar nickte anerkennend. Einem Gegner aus Fleisch und Blut hätten die Rebellen mit ihren gewaltigen Kampfechsen eine tödliche Überraschung bereitet.

»Sie greifen an«, flüsterte Vela. Ihre Stimme bebte vor Erregung. Aber es war eine Erregung, die ihn abstieß. Er hatte sie schon unzählige Male gesehen, das Brennen in den Augen, das unbewußte Zittern der Lippen - er kannte diese Art von Erregung aus zahllosen Arenakämpfen, er hatte sie immer gesehen, wenn er Blicke zu den Rängen hinaufgeworfen hatte, ehe die tödlichen Duelle begannen. Plötzlich ekelte er sich vor Vela, vor dem, was aus ihr geworden war.

Aber vielleicht belog er sich auch nur selbst. Vielleicht sah er nur, was er sehen wollte, um seinen Haß zu rechtfertigen.

Die Daktylen hatten ihren Aufmarsch beendet und bildeten einen gewaltigen, leicht auseinandergezogenen Kreis. Die Köpfe der Tiere wiesen nach Westen auf das näherrückende Heer der Drachen und Hornkrieger. Einer der Quorrl auf ihren Rücken hob die Arme und stieß einen scharfen Befehl aus. Skar hörte den Laut wie ein leises Flüstern, das der Wind herantrug. Durch die Formation der Flugdrachen ging eine Welle der Bewegung. Aus dem Kreis wurde ein Oval, dann ein langgezogenes, spitz zulaufendes Dreieck, das mit phantastischer Geschwindigkeit auf das Heer der Errish zuraste.

Sie schafften nicht einmal die halbe Strecke.

Zwischen und über den Drachen blitzte es grell auf. Dünne weiße Lichtbahnen zuckten der angreifenden Daktylenarmee entgegen, und dann war der Himmel voller brennender Vögel und Quorrl, voller Flammen und Schreie und Blut. Skar schloß entsetzt die Augen, aber der grelle Feuerschein der Errish-Waffen fraß sich selbst durch seine geschlossenen Lider hindurch, und der Hornkrieger hielt ihn mit unbarmherziger Kraft fest, so daß er den Kopf nicht abwenden konnte.

Es dauerte nicht einmal zwei Minuten. Die geordnete Angriffsformation der Daktylenreiter verwandelte sich in ein Chaos schreiender, kopflos flüchtender Tiere, aber die Errish ließen ihnen nicht die kleinste Chance. Schon die erste überraschende Salve aus den fürchterlichen Waffen hatte fast ein Viertel der Drachen vom Himmel gebrannt. Und die Errish schossen weiter, auch als die Quorrl ihre Tiere herumrissen und verzweifelt zum Tal zurückflogen. Immer und immer wieder griff das Feuer der Sterne nach den schwarzen Flugechsen, verwandelte ihre Körper in Fackeln und ihre Reiter in schreiende Bündel, die wie Sternschnuppen zu Boden stürzten und den Fluchtweg der Quorrl auf grausige Weise markierten. Nicht einmal ein Zehntel der Streitmacht, die aus den Höhlen aufgestiegen war, kam lebend zurück.

»Hör auf«, flehte Skar. »Hör auf mit diesem Wahnsinn.«

»Es ist kein Wahnsinn«, antwortete Vela, ohne den Blick von dem grausigen Schauspiel zu wenden. »Es ist Krieg, Skar - ich dachte nicht, daß ich den Unterschied einem Krieger erklären muß.«

Skar antwortete nicht mehr. Sie wollte ihn nicht verstehen. Was sie tat, dieses ganze mörderische Schauspiel, sollte nur dem Zweck dienen, ihn zu quälen.

»Was hast du davon, wenn ich aufgebe?« fragte er. »Ich würde dich bei der ersten Gelegenheit -«

»Hintergehen und verraten?« fiel ihm Vela ins Wort. »Kaum, Skar. Davor wüßte ich mich zu schützen, glaub mir. Entscheide dich.« Sie wies hinter sich. Die beiden ungleichen Heere waren weiter aufeinander zugekrochen und standen sich auf wenig mehr als Pfeilschußweite gegenüber. Skar trat an Vela vorbei, geführt und gehalten von den schwarzen Giganten aus Tuan. Einen Moment lang stemmte er sich mit aller Kraft gegen den Druck der eisigen Pranken, die ihn zwangen, dem schrecklichen Geschehen weiter zuzusehen; dann gab er auf.

Die Front der Drachenreiterinnen näherte sich der Schlucht und zog sich gleichzeitig weiter auseinander. Skar wartete darauf, wieder das grelle Sternenfeuer der entsetzlichen Waffen aufflammen zu sehen, aber diesmal schienen die Errish einen anderen Plan zu verfolgen. Kurz bevor die beiden Armeen aufeinanderstießen, spalteten sich die Drachen in drei gleich große, dicht zusammengedrängte Gruppen, wandelnden Festungen gleich, gegen die die heranstürmenden Reiter und Fußtruppen schlichtweg lächerlich wirkten.

Aber der erwartete Zusammenprall blieb aus. Die Reiterei der Rebellen verwandelte sich Augenblicke zuvor in einen quirlenden, auseinanderspritzenden Haufen, durch den die Drachen hindurchstießen, ohne auf nennenswerten Widerstand zu treffen. Die ungestüme Wucht ihres Ansturms verpuffte, und es gab plötzlich nichts, wogegen sie kämpfen konnten.

Vela runzelte die Stirn und sah überrascht Skar an.

»Du hattest recht«, sagte Skar mit einem dünnen, humorlosen Lächeln. »Del ist bei ihnen. Dieser Plan dürfte von ihm stammen. Wäre ich dort unten, hätte ich euch auf die gleiche Weise in die Falle gelockt.«

»Falle?« wiederholte Vela. »Von was für einer Falle sprichst du, Satai?«

Skar deutete mit einer Kopfbewegung ins Tal. »Von dieser dort, Errish.«

Vela fuhr herum. In den wenigen Sekunden, die sie miteinander geredet hatten, hatte sich das Bild vollkommen gewandelt. Die Rebellen hatten sich neu formiert, aber sie bildeten jetzt keine gerade Schlachtreihe mehr, sondern zwei langgezogene, einander überlappende Halbkreise hinter den Drachen, aus denen ein Hagel von Wurfgeschossen und Pfeilen auf die Errish und ihre gewaltigen Echsen herunterregnete. Skar sah, wie zwei, drei der graugekleideten Gestalten getroffen aus den Sätteln kippten. Eine der Echsen stieß plötzlich einen trompetenhaften, unglaublich lauten Schrei aus, hob die Vorderläufe zum Kopf und begann zu toben. Der Pfeilregen verstärkte sich, und weitere Errish stürzten aus den Sätteln. Vereinzelt blitzten jetzt doch die grellen weißen Lichtbahnen ihrer magischen Waffen auf, aber das quirlende, sich ständig in Bewegung befindende Reiterheer bot kein gutes Ziel für die dünnen Blitze, und für einen getroffenen Reiter erschien sofort ein neuer und füllte die Lücke.

Vela war blaß geworden. »Die Drachen«, murmelte sie verstört. »Was ist mit den Drachen los?«

»Hast du selbst mir nicht erzählt, welchen Respekt du vor den Sumpfmännern hast?« fragte Skar. Seine Stimme bebte. »Dort unten sind mehr als tausend Reiter aus Cosh. Genug, um fünfzig deiner Drachen ablenken zu können.«

Vela schluckte. Ihre Mundwinkel zuckten, aber sie sagte nichts mehr, sondern wandte sich wieder der Schlacht zu.

Drei oder vier der graugeschuppten Giganten waren tot, annähernd die Hälfte hatte keine Reiter mehr, und die andere wandte sich zu kopfloser Flucht. Aber es gab nichts, wohin sie fliehen konnten. Auf drei Seiten wurden sie von den Rebellen bedrängt, die immer neue Schwärme von Pfeilen und Armbrustbolzen auf sie herabregnen ließen; Waffen, die eine Feuerechse vielleicht nur durch einen glücklichen Zufallstreffer töten, ihnen aber immer Schmerzen zufügen und sie dadurch in Raserei versetzen konnten. Und das Bemühen ihrer Reiterinnen, sie zu beruhigen, schien nur noch das Gegenteil zu bewirken. Die Tiere schrien, peitschten mit den Schwänzen den Boden und verletzten sich oder ihre Reiter gegenseitig.

Dann erreichte das erste Tier den Rand der Schlucht.

Skar war nicht einmal überrascht, als der scheinbar massive Fels unter dem Gewicht des Drachen nachgab. Das Tier bäumte sich erschrocken auf, griff mit den winzigen Vorderpfoten haltsuchend in die Luft und stürzte in einer Lawine von Sand, zersplitterndem Holz und Geröll zweihundert Fuß tief in die Schlucht. Skar glaubte die Erschütterung bis hier oben zu spüren.

»Diese Falle habe ich gemeint«, sagte er trocken. »Sieh gut hin, Vela«, fuhr er mit beißendem Spott fort. »Du bist noch nie Zeugin einer totaleren Niederlage gewesen.«

Vela fuhr mit einer blitzartigen, wütenden Bewegung herum. Für den Bruchteil einer Sekunde war ihr Gesicht eine verzerrte Maske des Hasses.

Aber sie hatte sich sofort wieder in der Gewalt. »Dein Triumph kommt zu früh, Skar«, sagte sie. »Die Schlacht ist noch nicht vorbei.«

»Das stimmt«, antwortete Skar ruhig. »Aber das dort unten ist nicht mehr der Haufen verängstigter Quorrl und feiger Flüchtlinge, den du ins Leben gerufen hast, Laynanya.« Er benutzte absichtlich diesen Namen, und er sah, wie sie bei seinem Klang zusammenzuckte. »Das dort unten ist Del. Du hast ihn immer für ein großes Kind gehalten, und vermutlich ist er das auch noch. Aber er ist auch mein Schüler, Vela. Ich habe ihm alles beigebracht, was ich je wußte, und er war ein sehr gelehriger Schüler. Vielleicht war diese Schlacht hier der erste Fehler, den du begangen hast, aber es war auch dein größter. Du hättest dich niemals auf sie einlassen dürfen.«

»Unsinn«, widersprach Vela. Sie wirkte fahrig. Ihr Blick flackerte. Sie fuhr sich mit einer hektischen, nervösen Geste durch das Haar, drehte mit einem Ruck den Kopf und sah wieder hinab ins Tal. Der südliche Rand der Schlucht war unter einer brodelnden Qualm- und Staubwolke verschwunden, in der es ab und zu weißblau aufleuchtete. Aber Vela wußte so gut wie Skar, daß der Kampf vorbei war. Die Sumpfleute hatten den Kontakt zwischen den Errish und deren Drachen gründlich unterbrochen, und der Lärm und die Schmerzen, die die Reiter ihnen zufügten, ließen die Tiere wieder zu dem werden, was sie ohne ihre Mentalpartnerinnen waren - Ungeheuer, kraftstrotzende, gewaltige Ungeheuer vielleicht, aber keine ernstzunehmenden Gegner mehr für einen Feind, der Gewalt mit List, und Kraft mit Fallen zu beantworten in der Lage war.

Doch Skar wußte auch, daß der wirkliche Kampf noch bevorstand. Die Drachen hatten sich der Schlucht von Süden her genähert, aber der gefährlichere Feind kam aus der anderen Richtung. Noch war von den Hornkriegern keine Spur zu sehen - Velas Zeitplan war gründlich durcheinandergeraten; wahrscheinlich würden noch Minuten vergehen, ehe die stacheligen schwarzen Helme der Dämonen über den Hügeln erschienen. Skar biß sich nervös auf die Lippen. Er kannte Del und wußte, daß der junge Satai immer für eine Überraschung gut war - aber er, Del, hatte so wenig Zeit gehabt. Zwei, vielleicht drei Tage, um aus einem zusammengewürfelten Haufen von Flüchtlingen und halbwilden Quorrl eine Armee zu formen und darüber hinaus einen Plan auszuarbeiten, mit dessen Hilfe er einen Feind schlagen konnte, gegen den noch niemand bestanden hatte. Skar war nicht sicher, ob er selbst dieser Aufgabe gewachsen gewesen wäre. Aber wenn es außer ihm noch jemand konnte, dann Del.

Skar hielt nach Velas Reiterei Ausschau, konnte sie aber nirgends entdecken. Ein Teil der Männer war hier oben bei ihnen, die anderen hatten den Befehl, bei den Drachen zu bleiben, um die Flanken zu sichern. Vermutlich waren sie längst aufgerieben, zermalmt zwischen den beiden aufeinanderprallenden Heeren. »Was wird er tun?« fragte Vela. Ihre Faust ballte sich um den Stein. Plötzlich fuhr sie herum, starrte Skar aus geweiteten Augen an und schrie noch einmal: »Was wird er tun?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Skar.

»Du weißt es«, zischte Vela. »Du bist ein Satai wie er, ein Krieger. Du weißt es, und du wirst es mir sagen!«

Skar hielt ihrem Blick ruhig stand. »Es würde dir nichts nützen, Vela.«

»Ich werde dich zwingen. Du weißt, daß ich es kann.«

Skar hob instinktiv die freie Linke zur Schläfe. Die winzige Wunde war verheilt, aber er konnte sie noch immer spüren. »Das könntest du«, nickte er, »aber dir fehlt die Zeit. Du wirst zusehen müssen. Ganz egal, was geschieht.«

Eine seltsame Veränderung ging plötzlich mit der Errish vor sich. Gerade war ihr Gesicht noch eine Maske des Hasses gewesen, aber jetzt breitete sich eine eisige, entschlossene Kälte über ihre Züge aus. Skar unterdrückte ein Schaudern. »Nun gut, Skar«, sagte sie. »Ich lasse dir deinen Triumph. Wir werden sehen, wer den Sieg davonträgt.«

Skar sah zum südlichen Rand der Schlucht. Acht, neun zerschmetterte, verdrehte Körper lagen auf dem felsigen Grund des Einschnittes, und das grelle Wetterleuchten hinter den Staubwolken hatte jetzt fast ganz aufgehört. »Du hast schon verloren, Vela«, murmelte er. »Was hier geschehen ist, wird nicht verborgen bleiben. Fünfzig deiner Drachen sind getötet worden. Der Mythos eurer Unbesiegbarkeit ist beseitigt. Du hast deine stärkste Waffe verloren.«

Vela antwortete nicht, aber Skar konnte sehen, wie es hinter der starren Maske ihres Gesichts arbeitete. »Vielleicht hast du recht«, flüsterte sie nach einer Weile. »Aber auch das wird deine Freunde nicht retten.« Ihre Hand schloß sich fester um den Stein, so fest, daß die Knöchel wie kleine runde, weiße Narben hervortraten. Sie warteten. Der Schlachtenlärm hörte nach und nach auf, und die brodelnde Staubwolke über der Schlucht spie die ersten Reiter aus. Sie waren müde, verletzt und blutend, erschöpft bis zum Zusammenbruch - aber siegreich!

Zeit verging - Skar wußte nicht, wieviel: Sekunden, die sich zu Minuten dehnten. Zuviel Zeit, wie er an Velas Reaktion erkannte. Sie bot alle Kraft auf, äußerlich gelassen zu erscheinen, aber Skar kannte sie zu gut, um sich täuschen zu lassen. Und die Hügel im Norden blieben leer.

Auch die Verteidiger unten im Tal wurden sichtlich unruhig. Die Überlebenden des Reiterheeres kehrten nach und nach in den Schutz der Schlucht zurück. Es waren weniger, als Skar gehofft hatte. Sie mußten im letzten Teil des Kampfes einen hohen Blutzoll für ihren Sieg entrichtet haben. Aber die Hornkrieger kamen nicht. Es war, als hätte die Zeit, die sie ausgespien hatte, sie ebenso plötzlich wieder verschluckt wie einen Alptraum, der sich unter den ersten Strahlen der Sonne in Nichts auflöste.

»Warum gibst du es nicht zu?« fragte Skar schließlich. »Erinnerst du dich an deine eigenen Worte? Es ist keine Schande, von einem solchen Gegner besiegt zu werden.«

Vela antwortete nicht. Ein einzelner Reiter erschien auf den Hügelkämmen im Norden und sprengte ins Tal hinab. Skar sah, wie unter den Rebellen erneut Unruhe ausbrach. Eine schwerfällige, im einzelnen nicht zu erkennende Bewegung lief durch die Schlucht.

»Diese Narren«, sagte Vela leise. »Ich werde sie strafen. Sieh hin, Skar. Sieh genau hin, wenn du wissen willst, was ich mit denen tue, die sich mir widersetzen. Sieh ganz genau hin.«

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