6.

Hergers Haus lag in einer heruntergekommenen Gegend der Stadt, unweit des Hafens. Sie hatten den Schuppen durch eine Hintertür verlassen, ohne aufgehalten zu werden. Andred hatte Helm und Mantel ablegen wollen, als sie aus dem direkten Sichtbereich des Hafens heraus waren, aber Skar hatte es vorgezogen, die Verkleidung noch eine Weile beizubehalten. In der Stadt herrschte trotz der späten Stunden noch reger Betrieb, und Skar fiel schon nach kurzem die unverhältnismäßig große Zahl Bewaffneter auf - nicht nur Männer aus Thbarg wie die, auf die sie im Hafen getroffen waren, sondern reguläre Soldaten, aber auch andere Männer, die vor wenigen Tagen vielleicht noch als Kaufleute oder Handwerker ihr Brot verdient hatten und jetzt, mit Schwert, Helm und Brustschild bewehrt, Polizeidienste verrichteten. Nicht allen paßten die Rüstungen, die sie trugen, und eine ganze Anzahl von ihnen wirkte eher lächerlich als furcht- oder wenigstens respekteinflößend. Und noch etwas fiel Skar auf: Nicht allen schien die Rolle zu gefallen, in die man sie gepreßt hatte. Skar und Andred bewegten sich rasch durch das dichter werdende Gewühl der Altstadt und blieben kein einziges Mal stehen, aber Skar spürte die feindseligen Blicke, die ihnen viele Bewohner Anchors hinterherschickten, sehr deutlich. Die Thbarg schienen eher Besatzungs- als Schutzmacht zu sein. Trotzdem war Skar nach wenigen Augenblicken froh, weiter den Mantel eines Thbarg zu tragen. Man ging ihnen aus dem Weg; die beiden vermeintlichen Kaperschiffer fielen deshalb weniger auf als ein verletzter Freiseglerkapitän und ein Satai.

Andred übernahm die Führung, als sie in die verwinkelten Gassen der Altstadt vordrangen. Er hielt sich erstaunlich gut, bedachte man die Umstände, aber Skar fiel auch auf, daß Andreds Gang zwar nicht langsamer, aber merklich gezwungener und steifer wurde und sein linker Arm jetzt vollkommen nutzlos herabhing. Die Hand hatte er, wie in einer zufälligen Geste, in einen Zipfel des Mantels gewickelt. Es hätte eine Blutvergiftung sein können, nach allem, was Skar gesehen hatte. Aber es ging zu schnell.

»Dort vorn ist es«, sagte Andred nach einer Weile. Skar folgte seinem Blick und gewahrte ein niedriges, aus morschen Lehmziegeln erbautes Haus, das selbst in dieser heruntergekommenen Umgebung noch schäbig wirkte. Die Tür bestand aus rohen Brettern, die lieblos zusammengenagelt waren und das Licht hindurchscheinen ließen. Über der Tür war ein verblichenes Schild angebracht, aber die Schrift war unleserlich und war es vermutlich schon gewesen, als die Farbe noch frisch war. Rechts und links des Einganges hingen ein paar zerfranste Netze, Enterhaken und allerlei anderer Kleinkram; offensichtlich Muster der Waren, die Herger feilbot. Nicht eines der Teile befand sich in einem Zustand, der des Stehlens wert gewesen wäre.

Andred trat mit einem raschen Schritt in die Gasse hinein, sah sich mißtrauisch um und streifte dann Helm und Mantel ab. Skar folgte seinem Beispiel, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß niemand sie sah. Es war vielleicht nicht gut, in der Maske thbargscher Krieger zu Herger zu kommen.

Skar wickelte seinen und Andreds Helm in einen der Mäntel, drehte das Ganze zu einem straffen Bündel zusammen und faltete aus dem zweiten Umhang einen improvisierten Sack. Die blaue Farbe würde kaum auffallen. Skar hatte noch nicht viel von Anchor gesehen, aber er war selten in eine Stadt gekommen, deren Bewohner so farbenfroh (oder geschmacklos - das kam auf den Standpunkt an) gekleidet waren wie die Anchors.

Andred sah sich noch einmal sichernd um, trat mit einem entschlossenen Schnauben an die Tür und klopfte. Das Licht, das durch die dünnen Ritzen fiel, flackerte, und Skar hörte leise, schlurfende Schritte. Trotzdem dauerte es lange, bis die Tür aufschwang. Ein dunkles, mißtrauisches Augenpaar lugte zu ihnen hinaus.

»Andred?« fragte der Mann zweifelnd.

Andred nickte ungeduldig, hob die Hand und drückte so kräftig gegen die Tür, daß der Mann dahinter zurückgeschoben wurde. Er huschte ins Haus, winkte Skar ungeduldig, ihm zu folgen, und schob die Tür wieder zu. Skar unterdrückte ein Grinsen, als er den massiven, schmiedeeisernen Riegel sah, mit dem sie gesichert war. Der Riegel mochte selbst dem Ansturm eines Banta standhalten - aber er würde nicht viel nutzen, weil das morsche Holz der Tür schon unter einem halbherzigen Fußtritt zersplittern würde.

»Was willst du hier?« fragte der Mann, der ihnen geöffnet hatte. Skar besah ihn sich genauer. Er war alt - wie alt wirklich, war nicht zu sagen, denn sein Gesicht bestand zum Großteil aus einer verwüsteten Kraterlandschaft von Pockennarben und Schorf -, hatte strähniges braunes Haar und roch, als hätte er das letzte Mal nach seiner Geburt gebadet. Sein Blick irrte unstet zwischen Skar und Andred hin und her. Er hatte Angst.

»Ist Herger zu Hause?« fragte Andred, ohne auf die Frage einzugehen.

Der Alte nickte. »Ja, aber -«

»Ruf ihn.«

Für einen Moment schien der Alte widersprechen zu wollen, aber dann wandte er sich mit einer beinahe hastigen Bewegung um, schlurfte durch den Raum und verschwand durch eine schmale, mit einem zerschlissenen Vorhang versehene Tür.

Skar sah ihm stirnrunzelnd nach. »Wer ist das?« fragte er. Andred zuckte die Achseln. »Irgend so ein verrückter Alter, der sich hier sein Gnadenbrot verdient«, meinte er. »Herger hat viele Leute, die für ihn arbeiten - ich sagte dir doch, daß sich hier das seltsamste Gelichter herumtreibt.« Er lächelte aufmunternd, als er Skars besorgte Miene sah. »Keine Angst«, sagte er. »Ich kenne ihn seit fünfzehn Jahren. Er ist vertrauenswürdig - zumindest Männern gegenüber, bei denen nichts zu holen ist«, fügte er ironisch hinzu.

Skar knurrte etwas Unverständliches, drehte sich weg und begann, das Innere des Ladens zu mustern. Der Raum war nicht groß, aber bis in den letzten Winkel vollgestopft - mit Gerümpel. Skar fiel beim besten Willen kein anderes Wort dafür ein. Er mußte seinen ersten Eindruck schon nach wenigen Augenblicken revidieren - das, was er draußen vor der Tür gesehen hatte, waren keine ausgesonderten Teile, die Herger dort hängen hatte, um seine besseren Waren nicht dem Risiko eines Diebstahles auszusetzen. Was hier, verteilt auf Regale und Bänke und Kisten und provisorische Gestelle oder auch einfach auf dem Fußboden aufgestapelt war, befand sich ausnahmslos im gleichen Zustand. Meistens Teile von Schiffsausrüstungen, soweit er in diesem Müllhaufen überhaupt einen Sinn erkennen konnte, aber auch anderer Kleinkram, der irgendwann vor einem Jahrhundert oder länger einmal zu irgend etwas nützlich gewesen war. Es war nicht ein Teil darunter, für das er auch nur den Schmutz unter seinen Fingernägeln hergegeben hätte.

»Wovon lebt dein Freund eigentlich?« fragte er nach einer Weile.

»Herger?« Andred lächelte dünn. »Offiziell ist er so eine Art Trödler. Es gibt immer wieder einen, der das eine oder andere aus diesem Abfallhaufen gebrauchen kann.«

»Und inoffiziell?«

Diesmal antwortete Andred nicht gleich. »Schmuggler«, sagte er dann, zuckte aber unmittelbar darauf mit den Achseln, um klarzumachen, daß es wohl nicht mehr als eine Vermutung war. »Er kennt jeden und alles, und wenn du irgendeine Information brauchst, dann bekommst du sie hier.«

Skar schwieg einen Moment. Halbwegs hatte er diese Antwort erwartet. Männer wie Herger gab es in jeder Stadt, in die er gekommen war - Männer, die einem für eine kleine Münze einen Führer verschafften, die die besten Bordelle und die billigsten Tavernen kannten, die eine erstaunliche Anzahl von Neffen, Onkeln, Brüdern und Schwestern in jedem Geschäft und jedem Amt der Stadt aufzuweisen hatten und bei denen man für eine etwas größere Münze auch schon einmal einen Dolch mitsamt der dazugehörigen Hand kaufen konnte. Es gefiel ihm nicht. Wenn es jemanden gab, der ihn und Andred verstecken und unauffällig aus der Stadt herausbringen konnte, dann war es vermutlich Herger. Aber genauso wahrscheinlich würde er auf Gondereds Liste ganz oben stehen, wenn der Thbarg daranging, die Stadt zu durchkämmen. »Du siehst nicht sehr zufrieden aus«, sagte Andred.

Skar versuchte zu lächeln, aber es mißlang. »Du hast recht«, murrte er. »Ich schlage vor, daß wir so rasch wie möglich hier verschwinden. Wenn du mich fragst, dann ist Gondered spätestens morgen bei Sonnenaufgang hier.«

»Du irrst dich, Satai«, sagte eine Stimme von der Tür her. Skar zuckte zusammen, fuhr herum und legte instinktiv die Hand auf den Schwertgriff. Der Vorhang war zur Seite geschlagen worden, so leise, daß Skar nicht einmal das Rascheln von Stoff gehört hatte, und unter dem Durchgang war ein dunkelhaariger, schlanker Mann erschienen. Er war groß, fast eine Handspanne größer als Skar, aber von so schlankem Wuchs, daß er kleiner wirkte. Und er war sehr jung; vielleicht dreißig - wenn das Herger war, dann mußte Andred ihn praktisch schon als Kind gekannt haben.

»Mein alter Freund Andred«, fuhr der Mann fort, »der größte Schmuggler zwischen hier und der östlichen Küste. Und ein leibhaftiger Satai?« Er lächelte, schüttelte den Kopf und kam mit katzenhafter Geschmeidigkeit näher. Skar änderte sein erstes Urteil über Herger, als er die Weise sah, in der er sich bewegte. Dieser Mann war gefährlich. »Du bist der Mann, den sie suchen«, fuhr er fort, nachdem er auf Armlänge vor Skar stehengeblieben und ihn einen Herzschlag lang gemustert hatte. »Kräftig, nicht mehr ganz jung und ein Gesicht, das irgendwann einmal jemand versucht hat aufzuschneiden.«

»Beschreibt man mich so?« fragte Skar.

Herger lächelte. »Man nicht, aber Gondered. Und du hast dich geirrt, Skar - er wird nicht morgen, sondern in wenig mehr als einer Stunde hier sein. Ich erwarte ihn.«

»Was hast du mit diesem Hund zu schaffen?« fragte Andred. Seine Stimme klang nur eine ganz kleine Spur schriller als gewohnt, aber sowohl Skar als auch Herger bemerkten es.

»Nichts, was dich beunruhigen müßte«, erwiderte Herger ruhig. »Und jetzt kommt erst einmal mit nach hinten. Ihr seht beide aus, als könntet ihr eine Tasse heiße Brühe und trockene Kleider brauchen.«

Andred wollte noch etwas sagen, aber Herger wandte sich mit einer raschen Bewegung um und ging, so daß sie ihm folgen mußten.

Der angrenzende Raum unterschied sich kaum von dem, aus dem sie kamen. Er war ein wenig größer und nicht ganz so überladen, aber auch er glich eher einem Abfalldepot als einem Laden oder gar einem Zimmer, in dem ein Mensch wohnen konnte. Herger deutete wortlos auf eine schmale Couch und verschwand durch eine weitere Tür, ehe Skar Gelegenheit zu irgendwelchen Fragen hatte. Andred ließ sich mit einem Laut der Erschöpfung auf das zerschlissene Möbel sinken, griff vorsichtig mit der rechten Hand nach seiner verletzten Linken und legte sie in seinen Schoß. Skar fiel auf, daß er einen Zipfel seines Hemdes darüberlegte, als wolle er die Verletzung selbst hier noch verbergen. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, obwohl der Raum nicht geheizt war, und als Skar sich neben Andred setzte, stieg ihm ein schwacher übler Geruch in die Nase.

»Ist er vertrauenswürdig?« fragte er mit einer Kopfbewegung auf die Tür, durch die Herger verschwunden war.

Andred nickte. »Absolut. Ich kenne ihn, seit er ein Kind war. Und er haßt die Thbarg so sehr wie ich.«

Skar sah den Freisegler mißtrauisch an. Seine Stimme klang wieder ruhig, zu ruhig. Das war nicht die Stimme eines Mannes, der vor Stundenfrist sein Schiff und seine Mannschaft verloren hatte. Aber Skar kam nicht dazu, eine entsprechende Frage zu stellen. Die Tür wurde laut geöffnet, und Herger kam - ein Tablett vor sich herbalancierend und ein frisch gewaschenes weißes Tuch über dem Arm - zurück. In seiner Begleitung war der Alte, der sie eingelassen hatte. Herger lächelte, stellte das Tablett - auf dem sich die versprochene Brühe und ein Krug mit einer dunklen, heißen Flüssigkeit befand - in Ermangelung eines anderen freien Platzes auf den Boden und kniete vor Andred nieder.

»Zeig deinen Arm«, sagte er.

Andreds Rechte zuckte mit einer fast erschrockenen Bewegung herab und legte sich auf die verwundete Hand. Herger seufzte, griff nach Andreds Gelenk und drückte den Arm ohne sichtliche Kraftanstrengung beiseite. Sein Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an, als er die schwärzliche Verfärbung sah. Andreds linke Hand war verkrümmt wie eine Kralle. Wenn er einen Krampf hatte, dann mußte er fast unerträgliche Schmerzen ausstehen.

»Wie lange hast du das schon?« fragte er.

Andred antwortete nicht, und Herger wandte sich mit einem fragenden Blick an Skar.

»Nicht lange«, murmelte Skar. »Eine Stunde - zwei, allerhöchstens. Seit wir von Bord des Schiffes geflüchtet sind.«

Es dauerte einen Moment, bis Herger begriff. »Das ... das Schiff, das im Hafen gebrannt hat, war die SHANTAR?« fragte er ungläubig.

Skar nickte.

»Sie haben uns in eine Falle gelockt«, sagte er düster. »Gondereds Männer haben im Hafen auf uns gewartet. Du wußtest es nicht?«

Herger schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich ... Gondered sagte, daß ... daß sie einem Piraten auflauern wollen«, sagte er stockend.

Skar verzog mißtrauisch die Lippen. »Seit wann haben Piraten Satai an Bord?«

Herger schien dem Gedankensprung nicht sofort folgen zu können. Dann zuckte er zusammen, lächelte und beugte sich wieder über Andreds Hand. »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, sagte er, ohne Skar anzusehen. »Aber darüber reden wir später. Jetzt kümmere ich mich erst einmal um deine Hand.« Der letzte Satz galt Andred. Herger berührte seine Fingerknöchel. Die Berührung war sehr flüchtig, aber Andred zuckte trotzdem vor Schmerz zusammen und stieß ein leises Stöhnen aus.

»Zwei Stunden, sagst du?« fragte Herger zweifelnd.

»Allerhöchstens«, bestätigte Skar an Andreds Stelle.

Herger überlegte wieder einen Moment, zog dann einen schmalen Dolch aus dem Stiefelschaft und begann Andreds Hemd säuberlich von der Manschette bis zur Schulter aufzuschneiden. Skar fuhr zusammen, als er die abgebrochene Pfeilspitze sah, die dicht oberhalb des Ellbogengelenks aus dem Arm des Freiseglers ragte. Die Wunde hatte kaum geblutet, aber rings um die Pfeilspitze herum war die Haut schwarzblau verfärbt, und ein dünner, wie mit einer Tuschfeder gezeichneter Strich zog sich über seinen Arm bis zum Ellbogengelenk hinunter, um dort in einer Explosion von Blau und schließlich Schwarz Besitz von seiner Hand zu ergreifen.

»Gift«, sagte Herger trocken. »Sie haben auf euch geschossen? Ihr seid verfolgt worden?«

Skar schüttelte verwirrt den Kopf. Andred mußte getroffen worden sein, als sie noch an Bord des Schiffes gewesen waren. Gondereds Männer sind wirklich gründlich gewesen, dachte er grimmig. Nicht genug, daß sie die SHANTAR in eine Fackel verwandelt hatten - sie hatten das brennende Schiff auch noch mit Pfeilen überschüttet. Vergifteten Pfeilen dazu.

»Warum hast du nichts gesagt?« fragte er. »Narr!«

Andred wandte müde den Kopf. »Was hätte ich sagen sollen?« erwiderte er. Herger unterbrach die Unterhaltung mit einer bestimmenden Geste. »Streiten könnt ihr euch später«, sagte er. »Jetzt muß erst einmal die Wunde versorgt werden.«

Andred nickte. »Gib mir einen Becher Wein«, sagte er. »Den stärksten, den du hast. Und dann schneid das verdammte Ding raus.«

»Den Teufel werde ich tun«, gab Herger zurück. »Du gehst jetzt in mein Schlafgemach und legst dich hin, und ich schicke nach einem Heiler. An der Wunde schneide ich nicht herum.« Andred wollte protestieren, aber Herger hörte gar nicht hin. Er gab seinem Gehilfen einen Wink, zog Andred mit sanfter Gewalt hoch und führte ihn aus dem Raum. Der Freisegler wankte, und die beiden Männer schleppten ihn mehr, als daß er aus eigener Kraft ging.

Skar spürte plötzlich seine Müdigkeit. Er wollte nicht schlafen. Es gab zu viel zu bedenken, zu vieles abzuwägen und zu entscheiden. Er konnte nicht hierbleiben, weder für die Nacht noch für wenige Stunden. Wahrscheinlich hatte Gondered jetzt bereits die Leichen seiner beiden Männer gefunden. Wenn er, Skar, zu lange zögerte, dann würden sich Anchors Tore schließen, und er war erneut gefangen.

Aber die Müdigkeit war stärker als sein Wille. Er schlief nicht ein, verfiel jedoch in einen leichten Dämmerzustand, in dem er seine Umgebung zwar noch wahrnahm, aber kaum mehr fähig war, einen klaren Gedanken zu fassen oder gar auf etwas zu reagieren. Erst als Herger nach einer Weile zurückkam und laut die Tür hinter sich ins Schloß warf, schrak Skar wieder hoch und fand verwirrt in die Wirklichkeit zurück.

Herger grinste, nahm mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden Platz und reichte Skar eine Schüssel mit dampfender Suppe.

»Andred schläft«, sagte er, während Skar nach dem hölzernen Löffel griff und vorsichtig zu essen begann. Der Gedanke an Speise und Trank war ihm bisher nicht einmal gekommen, aber nach den ersten behutsamen Schlucken meldete sich sein Magen ungestüm zu Wort, und er aß schneller.

»Bedien dich ruhig«, sagte Herger auffordernd. »Du kannst auch Andreds Portion noch haben. Ich glaube nicht, daß er im Moment große Lust zum Essen hat.«

»Wie geht es ihm?« fragte Skar kauend.

Das Lächeln auf Hergers Gesicht erlosch. »Nicht gut«, sagte er ernst. »Ich bin kein Heilkundiger, aber ich habe genug Verletzungen gesehen. Seine ist keine von der harmlosen Art. Er hat dir nichts gesagt?«

Skar schüttelte den Kopf.

»Dieser Narr«, fuhr Herger fort. »Du hättest den Pfeil herausschneiden und das Gift aus der Wunde saugen können. Jetzt ist es zu spät dafür. Ich fürchte, er wird die Hand verlieren. Zumindest wird sie steif bleiben.«

Skar aß wortlos weiter und griff, nachdem er die erste Schale geleert hatte, auch noch nach Andreds Suppe. Jetzt wurde ihm vieles klar. Das Gift mußte, während sie auf dem Weg hierher gewesen waren, bereits Andreds Gehirn erreicht und seine Sinne umnebelt haben. Es war nicht der Schock, der ihn hatte abstumpfen lassen. Und dieser Narr hatte nichts gesagt, wahrscheinlich aus Furcht, Skar mit seiner Verwundung noch mehr zu belasten. Skar schüttelte den Kopf, seufzte und fragte: »Kannst du ihn hierbehalten?«

»Andred?« Herger nickte, zog die Knie an und umschlang sie mit den Armen; eine Haltung, die nicht zu seiner Erscheinung paßte und unecht war. Er war nicht halb so gelassen, wie er vorgab. »Warum nicht? Er ist mein Freund.«

»Aber er wird auch gesucht«, sagte Skar. »Und ich werde mich kaum um ihn kümmern können. Ich muß fort.«

»Er ist sicher bei mir«, sagte Herger noch einmal. »Und du auch. Ich habe ein zweites Zimmer, hinten im Anbau. Du kannst dort schlafen, wenn du willst.«

Skar schüttelte den Kopf.

»Wenn es wegen Gondered ist«, sagte Herger, »so brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Mein Haus wäre wahrscheinlich der letzte Ort, an dem er euch suchen würde.«

»Es geht nicht um ihn«, sagte Skar. »Ich muß weiter.«

»Und was treibt dich zu solcher Eile?«

Skar nahm einen weiteren Löffel Suppe, ehe er antwortete: »Es ist besser, wenn du nichts weißt.«

»Mißtraust du mir?« Herger grinste. »Ich bin verschwiegen, Satai. Man kann sagen, ich lebe von meiner Verschwiegenheit - manchmal. Aber ich bin auch neugierig.« Er legte eine winzige, genau bemessene Pause ein und fuhr fort: »Immerhin gehe ich ein Risiko ein, wenn ich dir Unterschlupf gewähre. Du wirst gesucht.«

»Und auf meinen Kopf steht wahrscheinlich ein hübscher Preis«, fügte Skar hinzu.

»Wahrscheinlich«, bestätigte Herger ungerührt. »Aber ich hätte nicht viel davon, dich auszuliefern. Gondered würde mir das Geld sowieso bei der nächsten Gelegenheit wieder abnehmen. Außerdem - wer hat schon gerne einen Satai zum Feind?«

»Reicht dir Andreds Schicksal nicht?« fragte Skar ruhig. »Ich habe ihn ins Vertrauen gezogen. Du siehst, was ihm passiert ist.« Zu seiner Überraschung begann Herger leise zu lachen. »Der Mann mit dem Fluch«, sagte er. »Man hat mich gewarnt, daß du verrückt sein würdest.«

»So?« erwiderte Skar lauernd.

Herger nickte. »Ich weiß eine Menge über dich, Skar - sogar deinen Namen. Machen wir ein Geschäft - du sagst mir, was ich wissen will, und ich helfe dir weiter, wenn ich kann. Ich habe eine Menge Freunde in der Stadt.«

»Ich habe nicht vor, allzu lange in Anchor zu bleiben«, antwortete Skar kalt. Ihr Gespräch war schon lange keine harmlose Plauderei mehr. Herger wußte genau, was er wollte.

»Wo hast du von mir gehört?« fuhr Skar fort. »Und was?« Herger zögerte einen Moment, stand auf und zog sich einen zersprungenen Korbsessel mit abgebrochener Lehne heran, um sich darauf niederzulassen. »Ich habe Freunde in der Stadt«, sagte er noch einmal. »Und einer von ihnen berichtete mir, daß er ein Gespräch zwischen diesem Hundsfott von Thbarg und einem seiner Offiziere belauscht habe. Sie haben Anweisung bekommen, auf einen Satai zu achten, der vielleicht versuchen würde, über Anchor in das Land zu gelangen. Einen Verrückten«, fügte er mit undeutbarer Betonung hinzu. »Man behauptet, du wärest hier, um eine Errish zu töten. Stimmt das?«

Es kostete Skar Mühe, sich seinen Schrecken nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Ein weiterer Punkt für Vela. Sie ließ ihn jagen, damit hatte er gerechnet. Womit er nicht gerechnet hatte, war die Offenheit, mit der sie dabei zu Werke ging. Sie log nicht einmal, sondern verdrehte die Wahrheit nur ein ganz kleines bißchen. Nicht weit genug, daß irgend jemand außer ihr selbst und Skar die Veränderung wirklich bemerken konnte. Schließlich war er hierhergekommen, um eine Errish zu töten.

»Natürlich nicht«, sagte er. »Ich bin vielleicht verrückt, aber so verrückt nun auch wieder nicht.«

»Warum bist du dann hier?« fragte Herger lauernd. »Und warum sucht dich die halbe Armee?«

»Ich ... suche wirklich jemanden«, gestand Skar nach kurzem Überlegen. Vielleicht war es das Beste, sich - für einen Moment wenigstens - Velas eigene Taktik zu eigen zu machen. Und hatte er nicht selbst - irgendwann, vor tausend Jahren und in einem anderen Leben - einmal zu Del gesagt, er solle sich, wenn es schon nötig war, zu lügen, so dicht wie möglich an der Wahrheit bewegen? »Aber es ist keine Errish«, fügte er hinzu.

»Wer dann?«

»Wer hat diese Armee aufgestellt?« gab Skar zurück. »Und warum?«

Auf Hergers Stirn erschien eine schmale Falte. »Zug um Zug, wie?« fragte er. »Ich sehe, du kennst die Regeln. Aber ich muß dir die Antwort schuldig bleiben - ich weiß es nicht. Offiziell«, fuhr er nach sekundenlangem Schweigen fort, »heißt es, daß Quorrl über die Grenzen gekommen sind.«

»Und inoffiziell?«

»Sie ziehen überall Truppen zusammen. Und ich hörte, daß die Händlerkarawanen nicht abreißen. Das sieht mir verdammt nach Vorbereitungen für einen Krieg aus. Aber das sind Vermutungen - ich kümmere mich nicht um Politik. Schlechte Zeiten sind gute Zeiten für mich. Aber gute auch«, fügte er verschlagen hinzu. »Ich mache dir einen Vorschlag, Skar: Ich habe Freunde, auch außerhalb Anchors. Ich sorge dafür, daß du ungefährdet aus der Stadt und dorthin gelangst, wohin du willst.«

»Und was verlangst du dafür?«

»Informationen«, erwiderte Herger. »Du sagst mir, was du unterwegs siehst und hörst« - er zuckte mit den Achseln und starrte scheinbar versonnen gegen die Decke - »und was dieses ganze Affentheater soll.«

»Ich denke, du interessierst dich nicht für Politik?« fragte Skar. »Nur wenn es mir einen Vorteil bringt«, gestand Herger grinsend. »Das Wissen, wann und wo ein Krieg ausbricht, kann Gold wert sein, Satai.«

Skar wußte für einen Moment nicht, ob er Herger nun bewundern oder verachten sollte. Die Vorstellung war verlockend - er traute ihm durchaus zu, daß er ihn aus der Stadt und sicher bis Elay bringen lassen konnte; und der Preis, den er verlangte, war nicht hoch; genaugenommen war er gleich Null - wenn Skar sein Ziel nicht erreichen würde, würde es keinen Krieg geben; wenn er vorher starb, ging Herger ebenfalls leer aus. Aber es war auch nicht mehr als eine Vorstellung. Letztlich war Herger nicht mehr als ein Spitzel und Hehler, und seine Freunde waren gemeine Straßenräuber oder noch Schlimmeres. Wahrscheinlich würden sie ihn bei der ersten sich bietenden Gelegenheit umbringen oder an Velas Häscher verkaufen. Die Geschichte von Räubern und Ausgestoßenen, die sich im Moment der Gefahr erhoben und ihr Leben für die gerechte Sache und das Volk einsetzten, gehörte ins Reich der Phantasie. Es waren Männer wie Herger, die Vela zu ihren Statthaltern machen würde.

»Ich ... werde darüber nachdenken«, sagte er müde.

In Hergers Augen blitzte es auf. Er wußte, daß es nicht mehr als eine Ausflucht war. Und er hatte wohl auch nie ernsthaft mit einem »Ja« gerechnet.

»Du wirst auf jeden Fall die Nacht über hierbleiben«, sagte er bestimmt. »Morgen lasse ich dich aus der Stadt bringen.« Skar wollte protestieren, aber Herger ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Ich weiß ja, daß ihr Satai große Helden seid«, sagte er spöttisch. »Männer aus Stahl, die nichts umwirft. Im Nebenzimmer hängt ein Spiegel, Skar. Sieh hinein, ehe du mir antwortest. Du hast Rost angesetzt. Wenn du jetzt losgehst, dann schläfst du im Laufen ein und wirst erst wach, wenn du gegen den nächsten Posten gerannt bist.« Er stand auf und deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür. »Ich zeige dir dein Zimmer.«

»Warum tust du das?« fragte Skar Herger zuckte die Achseln. »Nimm an, weil du ein Freund von Andred bist«, sagte er.

»Unsinn«, knurrte Skar.

Herger nickte. »Sicher ist es Unsinn. Aber es klingt gut. Die Gesellschaft eines berufsmäßigen Helden verleitet dazu, pathetisch zu werden, weißt du?« Er wurde übergangslos ernst. »Ich kann es mir gar nicht leisten, dich jetzt gehen zu lassen«, sagte er. »Wenn sie dich schnappen, dann werden sie bald wissen, wer dir geholfen hat. Und ich möchte meinen Kopf noch eine Weile auf den Schultern tragen.«

Skar zögerte noch immer. Hergers Worte klangen logisch - beinahe ein bißchen zu logisch.

»Man kann das Mißtrauen auch übertreiben, Satai«, fuhr Herger ungeduldig fort. »Wenn ich dich hätte verraten wollen, dann hätte ich es längst getan. Es ist nicht weit bis zum Hafen.«

Skar erhob sich schwerfällig. Seine Muskeln waren steif geworden, und das Essen und die Ruhe hatten ihn müde werden lassen. Ohne ein weiteres Wort folgte er Herger.

Sie gingen durch einen niedrigen, fensterlosen Gang und betraten ein winziges Zimmer am hinteren Ende des Hauses. Durch das offenstehende Fenster drangen Sternenlicht und die Geräusche der Straße herein; ein schwerer, süßlicher Geruch hing in der Luft.

Herger deutete mit einer Kopfbewegung auf die strohgedeckte Pritsche unter dem Fenster. »Wahrscheinlich bist du Besseres gewohnt«, sagte er. »Aber das ist alles, was ich dir bieten kann. Jedenfalls bist du hier sicher. Ich wecke dich kurz vor Sonnenaufgang.« Er wandte sich um, streckte die Hand nach dem Türgriff aus und hielt noch einmal inne. »Tür und Fensterläden haben Riegel«, sagte er mit sanftem Spott. »Du kannst sie vorlegen, wenn du dich fürchtest.«

»Eine Frage hast du noch nicht beantwortet«, sagte Skar ruhig. »Gondered. Was hast du mit ihm zu schaffen? Warum kommt er hierher?«

Für den Bruchteil eines Lidzuckens glaubte Skar Schrecken auf Hergers Zügen zu lesen. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Ich dachte mir, daß du das noch einmal fragen würdest«, seufzte er. »Gondered ist oft hier, genau wie seine Offiziere, die Männer der Stadtgarde ...« Er breitete die Hände aus, drehte die Handflächen nach außen und zauberte ein absichtlich übertrieben-verschmitztes Lächeln auf seine Lippen. »Man muß leben, Skar. Woher, glaubst du, bekomme ich meine Informationen?«

Skar öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, beließ es dann aber bei einem Achselzucken. Herger nickte, fuhr auf dem Absatz herum und zog die Tür hinter sich zu. Seine Schritte verklangen auf dem Korridor. Wenige Augenblicke später fiel eine zweite Tür ins Schloß, weiter entfernt und gedämpft, und Schweigen senkte sich über den Raum.

Skar schlurfte mit hängenden Schultern zum Bett, ließ sich auf die Kante sinken und schloß die Augen. Er fühlte sich müde, müde und schwach und hilflos wie ein alter Mann. Die Situation war absurd - er hatte sich auf Gedeih und Verderb einem Mann ausgeliefert, dem er normalerweise nicht einmal dann über den Weg getraut hätte, wenn er das Messer an seiner Kehle hätte. Aber er hatte nicht mehr die Kraft, sich wirklich Gedanken darüber zu machen.

Er ließ sich zurücksinken, rutschte einen Moment unruhig hin und her, um auf der harten Pritsche eine einigermaßen bequeme Lage zu finden, und starrte zu dem geöffneten Fenster über seinem Kopf empor. Von draußen drangen die verschiedenen Geräusche der Stadt herein, und der Wind trug Salzwassergeruch mit sich. Für einen Moment vermeinte Skar, brennendes Holz und schmorende Körper zu riechen, aber das war natürlich Einbildung.

Nach einer Weile hörte er Stimmen; die von Herger und eine andere, tiefere. Vielleicht Gondered, dachte er, der gerade mit Herger über den Preis meines Kopfes feilscht.

Aber noch während er diesen Gedanken dachte, schlief er ein.

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