Erich Maria Remarque Der Weg zurück

Eingang

Der Rest des zweiten Zuges liegt in einem zerschossenen Grabenstück hinter der Front und döst.

«Komische Art von Granaten — «, sagt Jupp plötzlich.

«Wieso?«fragt Ferdinand Kosole und richtet sich halb auf.

«Hör doch!«antwortet Jupp.

Kosole legt eine Hand hinters Ohr und lauscht. Wir horchen ebenfalls in die Nacht hinaus. Aber es ist nichts anderes zu vernehmen als das dumpfe Geräusch des Artilleriefeuers und das hohe Zwitschern der Granaten. Von rechts kommt dazu nur noch das Knarren von Maschinengewehren und ab und zu ein Schrei. Aber das kennen wir nun seit Jahren, deshalb braucht man doch nicht extra den Mund aufzumachen.

Kosole sieht Jupp bedenklich an.

«Jetzt hat's gerade aufgehört«, verteidigt sich der verlegen.

Kosole mustert ihn noch einmal forschend. Da Jupp jedoch ruhig bleibt, wendet er sich ab und brummt:»Dir zischt der Kohldampf im Bauch, das sind deine Granaten. Solltest lieber ein Auge voll Schlaf nehmen.«

Dabei klopft er aus der Erde eine Kopfstütze zurecht und streckt sich vorsichtig so aus, daß seine Stiefel nicht ins Wasser rutschen können.»Mensch, zu Hause hat man nun 'ne Frau und ein zweischläfriges Bett«, murmelt er, schon mit geschlossenen Augen.

«Wird schon einer dabei liegen«, gibt Jupp aus seiner Ecke zurück. Kosole öffnet ein Auge und wirft ihm einen scharfen Blick zu. Er sieht aus, als wollte er doch noch auf stehen. Dann aber knurrt er:»Möcht ich ihr nicht raten, du Rheineule. «Gleich darauf schnarcht er bereits.

Jupp macht mir ein Zeichen, zu ihm herüberzuklettern. Ich steige über Adolf Bethkes Stiefel und setze mich neben ihn. Mit einem behutsamen Blick nach dem Schnarchenden bemerkt er bitter:»Keine Ahnung von Bildung hat so was, sage ich dir.«

Jupp war vor dem Kriege Schreiber bei einem Rechtsanwalt in Köln. Obwohl er schon drei Jahre Soldat ist, hat er immer noch ein empfindliches Gemüt und legt sonderbarerweise Wert darauf, hier draußen ein gebildeter Mensch zu sein. Worum es sich dabei genau handelt, weiß er selbst natürlich auch nicht; aber von allem, was er früher einmal gehört hat, ist ausgerechnet das Wort Bildung bei ihm hängengeblieben, und er klammert sich daran wie an eine Planke im Meer, um nicht unterzugehen. Jeder hat hier so irgend etwas, der eine seine Frau, der andere sein Geschäft, der dritte seine Stiefel, Valentin Laher seinen Schnaps und Tjaden den Wunsch, noch einmal dicke Bohnen mit Speck zu fressen. Kosole hingegen wird durch das Wort Bildung ohne weiteres gereizt. Er bringt es irgendwie mit dem Begriff Stehkragen zusammen, und das genügt ihm. Sogar jetzt wirkt es. Ohne sein Schnarchen zu unterbrechen, äußert er kurz:»Du Miststock von Schreiberseele.«

Jupp schüttelt resigniert und erhaben den Kopf. Eine Weile sitzen wir schweigend dicht nebeneinander, um uns zu wärmen. Die Nacht ist naß und kalt, Wolken ziehen, und manchmal regnet es. Dann nehmen wir die Zeltbahnen, auf denen wir hocken, und hängen sie über unsere Köpfe.

Am Horizont leuchtet das Mündungsfeuer der Geschütze. Man hat den Eindruck, es müsse dort eine weniger kalte Gegend sein, so gemütlich sieht es aus. Wie bunte und silberne Blumen steigen die Raketen über das Wetterleuchten der Artillerie hinaus. Groß und rot schwimmt der Mond in der diesigen Luft über den Ruinen einer Ferme.

«Glaubst du, daß wir nach Hause kommen?«flüstert Jupp.

Ich zucke mit den Schultern.»Es heißt ja so. —«

Jupp atmet laut.»Ein warmes Zimmer und ein Sofa und abends ausgehen — kannst du dir das noch vorstellen?«

«Bei meinem letzten Urlaub habe ich mein Zivilzeug anprobiert«, sage ich nachdenklich,»aber es ist mir viel zu klein geworden; ich müßte neue Sachen haben. «Wie wunderlich das alles hier klingt: Zivilzeug, Sofa, Abend —. Sonderbare Gedanken kommen einem hoch dabei — wie schwarzer Kaffee, wenn er manchmal zu sehr nach dem Blech und Rost des Kochgeschirrs schmeckte und man ihn heiß und würgend wieder erbrach.

Jupp bohrt versonnen in der Nase.»Menschenskind, Schaufenster

— und Cafes — und Weiber.«

«Ach, Mann, sei froh, wenn du zuerst mal aus der Scheiße hier raus bist«, sage ich und blase in meine kalten Hände.

«Hast recht. «Jupp zieht die Zeltbahn über seine mageren, krummen Schultern.»Was machst du denn, wenn du hier weg bist?«

Ich lache.»Ich? Ich werde wohl wieder zur Schule müssen. Ich und Willy und Albert — und sogar Ludwig drüben auch. «Damit zeige ich rückwärts, wo jemand vor einem zerschossenen Unterstand liegt, mit zwei Mänteln zugedeckt.

«Ach, verflucht! Aber das werdet ihr doch nicht machen?«meint Jupp.

«Weiß ich nicht. Werden wir wohl müssen«, antworte ich und werde wütend, ohne zu wissen warum.

Unter den Mänteln regt es sich. Ein blasses, schmales Gesicht hebt sich hoch und stöhnt leise. Dort liegt mein Mitschüler, der Leutnant Ludwig Breyer, unser Zugführer. Seit Wochen hat er blutigen Durchfall, es ist zweifellos Ruhr, aber er will nicht zurück ins Lazarett. Er will lieber hier bei uns bleiben, denn wir warten alle darauf, daß es Frieden gibt, und dann können wir ihn gleich mitnehmen. Die Lazarette sind übervoll, niemand kümmert sich da recht um einen, und wenn man erst auf so einem Bett liegt, ist man gleich schon ein Stück mehr tot. Rundum krepieren die Leute, das steckt an, wenn man allein dazwischen ist, und ehe man sich's versieht, ist man dabei. Max Weil, unser Sanitäter, hat Breyer eine Art flüssigen Gips besorgt, den frißt er, damit die Därme auszementiert werden und wieder Halt kriegen. Trotzdem läßt er den Tag so zwanzig-, dreißigmal die Hosen herunter.

Auch jetzt muß er wieder nebenan. Ich helfe ihm um die Ecke, und er hockt sich nieder.

Jupp winkt mir:»Hörst du, da ist es wieder!«

«Was denn?«

«Die Granaten von vorhin.«

Kosole rührt sich und gähnt. Dann erhebt er sich, sieht seine schwere Faust bedeutungsvoll an, schielt nach Jupp und erklärt:»Mann, wenn du uns jetzt aber wieder Fiole vorgemacht hast, kannst da deine Knochen im Rübensack nach Hause schicken. «Wir lauschen. Das Zischen und Pfeifen der unsichtbaren Granatbögen wird unterbrochen durch einen sonderbaren, heiseren, langgezogenen Laut, der so seltsam und neu ist, daß mir die Haut schauert.

«Gasgranaten!«ruft Willy Homeyer und springt auf.

Wir sind alle wach und horchen angespannt.

Weßling zeigt in die Luft.»Da sind sie! Wilde Gänse!«

Vor dem trüben Grau der Wolken zieht dunkler ein Strich, ein Keil. Die Spitze steuert den Mond an, jetzt durchschneidet sie seine rote Scheibe, deutlich sind die schwarzen Schatten zu sehen, ein Winkel von vielen Flügeln, ein Zug mit quarrenden, fremden, wilden Ru- len, der sich in der Ferne verliert.

«Da gehen sie hin«, knurrt Willy.»Verflucht, wer auch so abhauen könnte 1 Zwei Flügel, und dann weg!«

Heinrich Weßling sieht hinter den Gänsen her.»Jetzt wird's Winter«, sagt er langsam. Er ist Bauer, er weiß so was.

Ludwig Breyer lehnt schwach und traurig an der Böschung und murmelt:»Das erste Mal, daß ich welche sehe.«

Aber am muntersten ist mit einem Schlage Kosole geworden. Er läßt sich die Sache rasch noch einmal von Weßling erklären und fragt vor allem, ob wilde Gänse so groß wie Mastgänse wären.»Ungefähr«, sagt Weßling.

«Meine Fresse noch mal«, Kosole zittern die Kinnbacken vor Aufregung,»dann fliegen da ja jetzt so fuffzehn, zwanzig tadellose Braten durch die Luft!«

Wieder rauscht es von Flügeln dicht über uns, wieder stößt uns der rauhe, kehlige Ruf wie ein Habicht in die Schädel, und das Klatschen der Schwingen vereinigt sich mit den ziehenden Schreien und den Stößen des stärker werdenden Windes zu einem heftigen, jähen Begriff von Freiheit und Leben.

Ein Schuß knallt. Kosole setzt die Knarre ab und späht eifrig zum Himmel. Er hat mitten in den Keil hineingehalten. Neben ihm steht Tjaden, bereit, wie ein Jagdhund loszurasen, wenn eine Gans fällt. Aber der Schwarm fliegt geschlossen weiter.

«Schade«, sagt Adolf Bethke,»das wäre der erste vernünftige Schuß in diesem Lausekrieg gewesen.«

Kosole schmeißt enttäuscht das Gewehr weg.»Wenn man doch ein paar Schrotpatronen hätte!«Er versinkt in Schwermut und Phantasien, was dann alles getan werden könnte. Unwillkürlich kaut er.»Jawohl«, sagt Jupp, der ihn beobachtet hat,»mit Apfelmus und Bratkartoffeln, was?«

Kosole sieht ihn giftig an.»Halt die Schnauze, Schreiberseele!«»Du hättest Flieger werden sollen«, grinst Jupp,»dann könntest du sie jetzt mit einem Netz fangen.«

«Arschloch!«antwortet Kosole abschließend und haut sich wieder zum Schlafen hin. Es ist auch das beste. Der Regen wird stärker. Wir setzen uns mit den Rücken gegeneinander und hängen uns die Zeltbahnen über. Wie dunkle Haufen Erde hocken wir in unserem Grabenstück. Erde, Uniform und etwas Leben darunter.

Ein scharfes Flüstern weckt mich.»Vorwärts — vorwärts!«

«Was ist denn los?«frage ich schlaftrunken.

«Wir sollen nach vorn«, knurrt Kosole und rafft seine Sachen zusammen.

«Da kommen wir ja gerade her«, sage ich verwundert.

«So ein Quatsch«, höre ich Weßling schimpfen,»der Krieg ist doch

aus.«

«Los, vorwärts!«Es ist Heel selbst, unser Kompanieführer, der uns antreibt. Ungeduldig läuft er durch den Graben. Ludwig Breyer ist schon auf den Beinen.»Es hilft nichts, wir müssen raus«, sagt er ergeben und nimmt ein paar Handgranaten.

Adolf Bethke sieht ihn an.»Du solltest hierbleiben, Ludwig. Mit deiner Ruhr kannst du nicht nach vorn.«

Breyer schüttelt den Kopf.

Die Koppel schnurren, die Gewehre klappern und der fahle Geruch des Todes steigt plötzlich wieder aus der Erde empor. Wir hatten gehofft, ihm schon für immer entronnen zu sein, denn wie eine Rakete war der Gedanke an Frieden vor uns hochgegangen, und wenn wir es auch noch nicht geglaubt und begriffen hatten, die Hoffnung allein war doch bereits genug gewesen, um uns in den wenigen Minuten, die das Gerücht zum Erzähltwerden brauchte, mehr zu verändern, als vorher in zwanzig Monaten. Ein Jahr Krieg hat sich bisher auf das andere gelegt, ein Jahr Hoffnungslosigkeit kam zum anderen, und wenn man die Zeit nachrechnete, war die Verwunderung fast gleich groß darüber, daß es schon so lange und daß es erst so lange her war. Jetzt aber, wo bekanntgeworden ist, daß der Friede jeden Tag da sein kann, hat jede Stunde tausendfaches Gewicht, und jede Minute im Feuer erscheint uns fast schwerer und länger als die ganze Zeit vorher.

Der Wind miaut um die Reste der Brustwehren, und die Wolken ziehen eilig über den Mond. Licht und Schatten wechseln immerfort. Wir gehen dicht hintereinander, eine Gruppe von Schatten, ein armseliger zweiter Zug, zusammengeschossen bis auf ein paar Mann — die ganze Kompanie hat ja kaum noch die Stärke eines normalen Zuges —, aber dieser Rest ist gesiebt. Wir haben sogar noch drei alte Leute von vierzehn hier: Bethke, Weßling und Kosole, die alles kennen und manchmal von den ersten Monaten des Bewegungskrieges erzählen, als wäre das zur Zeit der alten Deutschen gewesen.

Jeder sucht sich in der Stellung seine Ecke, sein Loch. Es ist wenig los. Leuchtkugeln, Maschinengewehre, Ratten. Willy schmeißt eine mit gut gezieltem Tritt hoch und halbiert sie in der Luft mit einem Spatenschlag.

Vereinzelte Schüsse fallen. Von rechts klingt entfernt das Geräusch explodierender Handgranaten.

I loffentlich bleibt's hier ruhig«, sagt Weßling.

«Jetzt noch eins vor den Bregen kriegen—. «Willy schüttelt den Kopf.»Wer Pech hat, bricht sich den Finger, wenn er in der Nase bohrt«, brummt Valentin.

Ludwig liegt auf einer Zeltbahn. Er hätte wirklich hinten bleiben können. Max Weil gibt ihm ein paar Tabletten zum Einnehmen. Valentin redet auf ihn ein, Schnaps zu trinken. Ledderhose versucht, eine saftige Schweinerei zu erzählen. Keiner hört hin. Wir liegen herum. Die Zeit geht weiter.

Mit einem Male zucke ich zusammen und hebe den Kopf. Ich sehe, daß auch Bethke bereits hochgefahren ist. Selbst Tjaden wird lebendig. Der jahrelange Instinkt meldet irgend etwas, keiner weiß noch was, aber bestimmt ist etwas Besonderes los. Vorsichtig recken wir die Köpfe und lauschen, die Augen zu engen Spalten verengt, um die Dämmerung zu durchdringen. Alle sind wach, in allen sind alle Sinne bis aufs äußerste angespannt, alle Muskeln bereit, das noch Unbekannte, Kommende, das nur Gefahr bedeuten kann, zu empfangen. Leise schurren die Handgranaten, mit denen Willy, der beste Werfer, sich vorschiebt. Wir liegen wie Katzen angeschmiegt am Boden. Neben mir entdecke ich Ludwig Breyer. In seinen gespannten Zügen ist nichts mehr von Krankheit. Er hat dasselbe kalte, tödliche Gesicht wie alle hier, das Gesicht des Schützengrabens. Eine rasende Spannung hat es gefroren, so außergewöhnlich ist der Eindruck, den das Unterbewußtsein uns vermittelt hat, lange bevor unsere Sinne ihn erkennen können.

Der Nebel schwankt und weht. Und plötzlich fühle ich, was uns alle zu höchstem Alarm gebannt hat. Es ist nur still geworden. Ganz still. Kein M-G. mehr, kein Abschuß, kein Einschlag; kein Granatenpfeifen, nichts, gar nichts mehr, kein Schuß, kein Schrei. Es ist einfach still, vollkommen still.

Wir sehen uns an, wir können es nicht begreifen. Es ist das erste Mal so still, seit wir im Kriege sind. Wir wittern unruhig, um zu erfahren, was es zu bedeuten hat. Schleicht Gas heran? Aber der Wind steht schlecht, er würde es abtreiben. Kommt ein Angriff? Aber dann wäre er durch die Stille ja vorzeitig verraten. Was ist bloß los? Die Granate in meiner Hand ist naß, so schwitze ich vor Erregung. Es ist, als wollten die Nerven reißen. Fünf Minuten. Zehn Minuten.»Jetzt schon eine Viertelstunde«, ruft Valentin Laher. Seine Stimme schallt hohl im Nebel wie aus einem Grabe. Und immer noch geschieht nichts, kein Angriff, keine plötzlich verdunkelnden, springenden Schatten.. Die Hände lockern sich und schließen sich fester. Das ist nicht mehr zum Aushalten! Wir sind den Lärm der Front so gewohnt, daß wir das Gefühl haben, jetzt, wo er mit einmal nicht mehr auf uns lastet, zerplatzen zu müssen, hochzufliegen wie Ballons.»Mensch, paß auf, es ist Frieden«, sagt Willy plötzlich, und das schlägt ein wie eine Bombe.

Die Gesichter lockern sich, die Bewegungen werden ziellos und unsicher. Frieden? Wir sehen uns ungläubig an. Frieden? Ich lasse meine Handgranaten fallen. Frieden? Ludwig legt sich langsam wieder auf seine Zeltbahn. Frieden? Bethke hat einen Ausdruck in den Augen, als würde sein Gesicht gleich zerbrechen. Frieden? Weßling steht unbeweglich wie ein Baum, und als er das Gesicht abwendet und sich zu uns dreht, sieht er aus, als wolle er gleich weitergehen bis nach Hause.

Auf einmal, wir haben es kaum bemerkt im Wirbel unserer Erregung, ist das Schweigen zu Ende, dumpf dröhnen wieder die Abschüsse, und wie Spechtgehacke knarrt auch bereits von weither ein M.-G. Wir werden ruhig und sind fast froh, die vertrauten Geräusche des Todes wieder zu hören.

Den Tag über haben wir Ruhe. Nachts sollen wir ein Stück zurück, wie schon oft bisher. Aber die von drüben folgen nicht einfach, sondern sie greifen an. Ehe wir uns versehen, kommt schweres Feuer herüber. Hinter uns tost es in roten Fontänen durch die Dämmerung. Einstweilen ist es bei uns noch ruhig. Willy und Tjaden finden zufällig eine Büchse Fleisch und fressen sie sofort auf. Die ändern liegen da und warten. Die vielen Monate haben sie ausgegliiht, sie sind fast gleichgültig, solange sie sich nicht wehren können.

Der Kompanieführer kriecht in unsern Trichter.»Habt ihr alles?«fragt er durch den Lärm.»Zu wenig Munition«, schreit Bethke. Heel zuckt die Achseln und schiebt Bethke eine Zigarette über die Schulter zu. Der nickt, ohne umzusehen.»Muß so gehen«, ruft Heel und springt zum nächsten Trichter. Er weiß, daß es gehen wird. Jeder dieser alten Soldaten könnte genau so gut Kompanieführer sein wie er selber.

Es wird dunkel. Das Feuer erwischt uns. Schutz haben wir wenig. Wir wühlen im Trichter mit Händen und Spaten Löcher für die Köpfe. So liegen wir fest angepreßt, Albert Troßke und Adolf Bethke neben mir. Zwanzig Meter neben uns wichst es ein. Wir reißen die Schnauzen auf, als das Biest ranpfeift, um die Trommelfelle zu retten, aber auch so sind wir halbtaub, Erde und Dreck spritzt uns in die Augen, und der verfluchte Pulver- und Schwefelqualm kratzt uns im Halse. Es regnet Sprengstücke. Einen hat es bestimmt er wischt, denn in unsern Trichter saust mit einem heißen Granatfetzen eine abgerissene Hand, gerade neben Bethkes Kopf.

Heel springt zu uns herein, kalkweiß vor Wut unter dem Helm beim Aufflackern der Explosionen.»Brand«, keucht er,»Volltreffer, alles weg.«

Wieder kracht es, braust, brüllt, regnet Dreck und Eisen, die Luft donnert, die Erde dröhnt. Dann hebt sich der Vorhang, gleitet zurück, im gleichen Augenblick heben sich Menschen, verbrannt, schwarz aus der Erde, Handgranaten in den Fäusten, lauernd und bereit.»Langsam zurück«, ruft Heel.

Der Angriff liegt links von uns. Ein Trichternest von uns wird umkämpft. Das M.-G. bellt. Die Blitze der Handgranaten zucken. Plötzlich schweigt das M.-G. — Ladehemmung. Sofort wird das Nest von der Flanke gefaßt. Ein paar Minuten noch und es ist abgeschnitten. Heel sieht es.»Verflucht«, er setzt über die Böschung.»Vorwärts!«Munition fliegt mit hinüber, rasch liegen Willy, Bethke, Heel in Wurfweite und werfen, Heel springt schon wieder hoch, er ist verrückt in solchen Momenten, ein wahrer Satan. Aber es gelingt, die im Trichter fassen neuen Mut, das M.-G. kommt wieder in Schwung, die Verbindung ist da, und wir springen gemeinsam zurück, um den Betonklotz hinter uns zu erreichen. Es ist so schnell gegangen, daß die Amerikaner gar nicht gemerkt haben, wie das Nest geräumt wurde. Blitze zucken immer noch in den verlassenen Trichter.

Es wird ruhiger. Ich habe Angst um Ludwig. Aber er ist da. Dann kriecht Bethke heran.»Weßling?«

«Was ist mit Weßling? Wo ist Weßling?«— Der Ruf steht plötzlich im dumpfen Rollen der Ferngeschütze.»Weßling — Weßling. —«

Heel taucht auf.»Was ist?«

«Weßling fehlt.«

Tjaden hat neben ihm gelegen, als es zurückging, ihn dann aber nicht mehr gesehen.»Wo?«fragt Kosole. Tjaden zeigt dahin.»Verdammt! — «Kosole sieht Bethke an. Bethke Kosole. Beide wissen, daß dies vielleicht unser letztes Gefecht ist. Sie zögern keinen Moment.»Einerlei«, knurrt Bethke.»Los«, schnauft Kosole. Sie verschwinden im Dunkel. Heel springt hinter ihnen heraus.

Ludwig macht alles fertig, um sofort vorzustoßen, falls die drei angegriffen werden. Es bleibt vorläufig still. Plötzlich aber blitzen Explosionen von Handgranaten. Revolverschüsse knallen dazwischen. Wir springen sofort vor, Ludwig als erster — da tauchen die schweißigen Gesichter Bethkes und Kosoles schon auf, die jemand auf einer Zeltbahn hinter sich herschleifen.

Heel? Es ist Weßling, der stöhnt. Heel? Hält die ändern auf, er hat geschossen; gleich darauf ist er zurück,»die ganze Bande im Trichter erledigt«, schreit er,»und zwei noch mit dem Revolver. «Dann starrt er auf Weßling.»Na, was ist?«Der antwortet nicht. Sein Bauch ist aufgerissen wie ein Fleischerladen. Man kann nicht sehen, wie tief die Wunde reicht. Sie wird notdürftig verbunden. Weßling stöhnt nach Wasser, aber er kriegt keins. Bauchverletzte dürfen nicht trinken. Dann verlangt er nach Decken. Ihn friert, er hat viel Blut verloren.

Ein Gefechtsläufer bringt den Befehl, weiter zurückzugehen. Weßling nehmen wir in einer Zeltbahn mit, durch die ein Gewehr zum Tragen gesteckt wird, bis wir eine Bahre finden. Vorsichtig tappen wir hintereinander her. Es wird allmählich hell. Silberner Nebel im Gebüsch. Wir verlassen die Gefechtszone. Schon glauben wir, es sei alles vorbei, da sirrt es leise heran und schlägt tackend auf. Ludwig Breyer krempelt schweigend seinen Ärmel hoch. Er hat einen Schuß in den Arm bekommen. Weil verbindet ihn.

Wir gehen zurück. Zurück.

Die Luft ist milde wie Wein. Das ist kein November, das ist März. Der Himmel blaßblau und klar. In den Lachen am Wege spiegelt sich die Sonne. Wir gehen durch eine Pappelallee. Die Bäume stehen zu beiden Seiten der Straße, hoch und fast unversehrt, nur manchmal fehlt einer. Diese Gegend war früher Hinterland, sie ist nicht so verwüstet worden wie die Kilometer davor, die wir Tag um Tag, Meter um Meter aufgegeben haben. Die Sonne leuchtet auf der braunen Zeltbahn, und während wir durch die gelben Alleen gehen, schweben segelnd immerfort Blätter darauf herunter; einige fallen hinein. In der Lazarettstation ist alles voll. Viele Verwundete liegen schon vor der Tür. Wir lassen Weßling einstweilen auch draußen. Eine Anzahl Armverwundeter mit weißen Verbänden formiert sich zum Abmarsch. Das Lazarett wird schon aufgelöst. Ein Arzt läuft herum und untersucht die Neuangekommenen. Einen Mann, dem das Bein lose, falsch geknickt im Kniegelenk hängt, läßt er sofort hereinschaffen. Weßling wird nur verbunden und bleibt draußen.

Er wacht aus seinem Dösen auf und sieht dem Arzt nach.

«Weshalb geht er denn ab?«

«Wird schon wiederkommen«, sage ich.

«Aber ich muß doch rein, ich muß operiert werden. «Er wird auf einmal furchtbar aufgeregt und tastet nach dem Verband.»Das muß doch gleich genäht werden.«

Wir versuchen, ihn zu beruhigen. Er ist ganz grün und schwitzt vor Angst:»Adolf, renn hinterher, er soll kommen.«

Bethke zögert einen Moment. Aber er kann nicht anders unter Weßlings Augen, obschon er weiß, daß es keinen Zweck hat. Ich sehe ihn mit dem Arzt sprechen. Weßling blickt ihm nach, so weit er kann, es sieht schrecklich aus, wie er den Kopf herumzudrehen versucht. Bethke kommt so zurück, daß Weßling ihn nicht erblicken kann, schüttelt den Kopf und zeigt mit den Fingern eins und macht mit dem Munde unhörbar: Ei-ne Stun-de. — Wir setzen zuversichtliche Gesichter auf. Aber wer kann einen sterbenden Bauern täuschen! Als Bethke ihm sagt, er werde später operiert werden, die Wunde müsse erst etwas anheilen, weiß Weßling schon alles. Einen Augenblick schweigt er, dann keucht er leise:»Ja, da steht ihr und seid heil — und kommt nach Hause — und ich — vier Jahre und so was — vier Jahre — und so was. —«

«Du kommst ja gleich rein ins Lazarett, Heinrich«, tröstet Bethke ihn.

Er wehrt ab.»Laßt man.«

Von da ab sagt er nicht mehr viel. Er will auch nicht hineingetragen werden, sondern draußen bleiben. Das Lazarett liegt an einem kleinen Hang. Die Allee, durch die wir gekommen sind, kann man von hier aus weithin sehen. Sie ist bunt und golden. Die Erde liegt still und weich und geborgen da, sogar Äcker sind zu sehen, kleine, braune, aufgegrabene Stücke, dicht beim Lazarett. Wenn der Wind den Blut- und Eiterbrodem wegfegt, kann man den herben Geruch der Schollen riechen. Die Ferne ist blau und alles sehr friedlich; denn der Blick von hier geht nicht zur Front. Die Front liegt rechts.

Weßling ist still. Er betrachtet alles ganz genau. Die Augen sind aufmerksam und klar. Er ist Bauer und versteht sich mit der Landschaft noch besser und anders als wir. Er weiß, daß er jetzt weg muß. Deshalb will er nichts versäumen und wendet keinen Blick mehr ab. Von Minute zu Minute wird er blasser. Endlich macht er eine Bewegung und flüstert:»Ernst…«

Ich beuge mich zu seinem Munde herunter.»Nimm meine Sachen heraus«, sagt er.

«Das hat doch noch Zeit, Heinrich…«

«Nein, nein. Los.«

Ich lege sie vor ihn hin. Die Brieftasche aus abgeschabtem Kaliko, das Messer, die Uhr, das Geld — man kennt das ja allmählich. Lose in der Brieftasche liegt das Bild seiner Frau.

«Zeig her«, sagt er.

Ich nehme es heraus und halte es so, daß er es sehen kann. Es ist ein klares, bräunliches Gesicht. Er betrachtet es. Nach einer Weile flüstert er:»Das ist dann alles weg«, und die Lippen zittern ihm. Endlich wendet er den Kopf ab.

«Nimm's mit«, sagt er. Ich weiß nicht, was er meint, aber ich will nicht noch lange fragen und stecke es deshalb in die Tasche.»Das bringt ihr…«, er sieht mich mit einem sonderbaren, großen Blick an, murmelt, schüttelt den Kopf und stöhnt. Ich versuche krampfhaft, noch etwas zu verstehen, doch er gurgelt nur noch, reckt sich, atmet schwerer und langsamer, mit Pausen, stockend — dann noch einmal ganz tief und seufzend — und hat plötzlich Augen, als sei er erblindet, und ist tot.

Am nächsten Morgen liegen wir zum letzten Male vorn. Es wird kaum noch geschossen. Der Krieg ist zu Ende. In einer Stunde sollen wir abziehen. Wir brauchen nun nie wieder hierher zu kommen. Wenn wir gehen, gehen wir für immer.

Wir zerstören, was zu zerstören ist. Wenig genug. Ein paar Unterstände. Dann kommt der Befehl zum Rückzug.

Es ist ein sonderbarer Moment. Wir stehen beieinander und sehen nach vorn. Leichte Nebelschwaden liegen über dem Boden. Die Trichterlinien und Gräben sind deutlich erkennbar. Es sind zwar nur noch die letzten Linien, denn dieses hier gehört zur Reservestellung, aber es ist doch immer noch Feuerbereich. Wie oft sind wir durch diesen Laufgraben vorgegangen; wie oft mit wenigen durch ihn zurückgekommen. — Grau liegt die eintönige Landschaft vor uns — in der Ferne der Rest des Wäldchens, ein paar Stümpfe, die Ruinen des Dorfes, dazwischen eine hohe einsame Mauer, die sich immer noch gehalten hat.»Ja«, sagt Bethke nachdenklich,»da hat man nun vier Jahre dringesessen…«

«Verdammt ja«, nickt Kosole.»Und nun ist einfach Schluß.«

«Mensch, Mensch«, Willy Homeyer lehnt sich gegen die Brustwehr.»Komisch so was, nicht…«

Wir stehen und starren. Die Ferne, der Waldrest, die Höhen, die Linien am Horizont drüben, das war eine furchtbare Welt und ein schweres Leben. Und jetzt bleibt das ohne weiteres zurück, wenn wir die Füße vorwärtssetzen, es versinkt Schritt für Schritt hinter uns und in einer Stunde ist es weg, als wäre es nie gewesen. Wer kann das begreifen!

Da stehen wir und sollten lachen und brüllen vor Vergnügen — und haben doch ein flaues Gefühl im Magen, als hätte man einen Besen gefressen und müßte das Kotzen kriegen.

Keiner sagt recht was. Ludwig Breyer lehnt müde am Grabenrand und hebt die Hand, als stände gegenüber ein Mensch, dem er winken wollte.

Heel erscheint.»Könnt euch wohl nicht trennen, was? Ja, jetzt kommt der Dreck.«

Ledderhose sieht ihn verwundert an.»Jetzt kommt doch der Frieden.«

«Ja, eben der Dreck«, sagt Heel und geht weiter mit einem Gesicht, als sei seine Mutter gestorben.

«Dem fehlt der Pour le merite«, erklärt Ledderhose.

«Ach, halt's Maul«, sagt Albert Troßke.

«Na, nun los«, meint Bethke, bleibt aber auch noch stehen.

«Liegt mancher da von uns«, sagt Ludwig.

«Ja — Brandt, Müller, Kat, Haie, Bäumer, Bertinck. —«

«Sandkuhl, Meinders, die beiden Terbrüggen, Huge, Bernhard…«»Mensch, hör auf…«

Viele liegen da von uns, aber bislang haben wir es nicht so empfunden. Wir sind ja zusammengeblieben, sie in den Gräbern, wir in den Gräben, nur durch ein paar Handvoll Erde getrennt. Sie waren uns nur etwas voraus, denn täglich wurden wir weniger und sie mehr — und oft wußten wir nicht, ob wir schon zu ihnen gehörten oder nicht. Aber manchmal brachten die Granaten auch sie wieder herauf zu uns, hochgeschleuderte zerfallende Knochen, Uniformreste, verweste, nasse, schon erdige Köpfe, die im Trommelfeuer noch einmal aus ihren verschütteten Unterständen in die Schlacht zurückkehrten. Wir empfanden es nicht als schrecklich; wir waren ihnen zu nahe. Aber jetzt gehen wir ins Leben zurück, und sie müssen hierbleiben.

Ludwig, dessen Vater in diesem Abschnitt gefallen ist, schneuzt sich durch die Hand und dreht sich um. Langsam folgen wir. Aber wir halten noch einige Male und sehen uns um. Und stehen wieder still und spüren plötzlich, daß das da vorn, diese Hölle des Grauens, diese zerfetzte Ecke Trichterland, uns in der Brust sitzt, daß es — verflucht, wenn es nicht so ein Quatsch und uns nicht zum Brechen wäre —, daß es beinahe aussieht, als wäre es uns vertraut geworden wie eine qualvolle, furchtbare Heimat, und wir gehörten einfach hierher.

Wir schütteln die Köpfe darüber — aber sind es die verlorenen Jahre, die dort bleiben, sind es die Kameraden, die da liegen, ist es all das Elend, das diese Erde deckt —, ein Jammer sitzt uns in den Knochen, daß wir losheulen könnten.

Dann marschieren wir.

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