Zum Examen ist eine Verfügung eingetroffen, die Kriegsteilnehmer mit großer Nachsicht zu prüfen. Das geschieht auch. Wir bestehen infolgedessen sämtlich. Der nächste Kursus, in dem Ludwig und Albert sind, soll in drei Monaten geprüft werden. Beide müssen bis dahin warten, obschon sie für vier Mann von uns alle Arbeiten geschrieben haben.
Wenige Tage nach dem Examen erhalten wir vertretungsweise Lehrstellen auf den umliegenden Dörfern zugewiesen. Ich bin froh darüber; denn ich habe das ziellose Herumleben satt. Es hat nur zu Grübeleien, Trauer und sinnloser, lärmender Ausgelassenheit geführt. Jetzt will ich arbeiten.
Ich packe meine Koffer und reise mit Willy zusammen ab. Wir haben das Glück gehabt, Nachbarn zu werden. Unsere Dörfer liegen kaum eine Stunde auseinander.
In einem alten Bauernhof bekomme ich Quartier. Eichen stehen vor den Fenstern, und von den Ställen kommt das sanfte Blöken der Schafe. Die Bäuerin nötigt mich in einen hohen Lehnstuhl und beginnt als erstes aufzutischen. Sie hat die Überzeugung, daß alle Städter halb verhungert sind, und so ungefähr stimmt das ja auch. Mit stiller Rührung sehe ich fast vergessene Dinge auf dem Tisch erscheinen: einen mächtigen Schinken, armlange Würste, schneeweißes Weizenbrot und die von Tjaden so gepriesenen Buchweizenpfannkuchen mit mächtigen Speckaugen in der Mitte. Eine Kompanie könnte satt davon werden, ein solcher Stapel ist es.
Ich beginne einzuhauen, und die Bäuerin steht breit lächelnd, die Arme auf die Hüften gestemmt dabei und freut sich. Nach einer Stunde muß ich stöhnend aufhören, so sehr Mutter Schomaker auch weiternötigt.
Gerade in diesem Moment kommt Willy herein, um mich zu besuchen.»Jetzt passen Sie mal auf«, sage ich zu der Bäuerin,»jetzt können Sie was erleben. Gegen den bin ich ein Waisenknabe. «Willy weiß, was er als Soldat zu tun hat. Er fackelt nicht lange, sondern handelt. Nach kurzer Aufforderung von Schomakers Mutter beginnt er bei den Pfannkuchen. Als er beim Käse angelangt ist, lehnt die Bäuerin mit aufgerissenen Augen am Schrank und sieht Willy an, als wäre er das achte Weltwunder. Begeistert schleppt sie noch eine große Schüssel Pudding heran, und Willy schafft auch die.»So«, sagt er dann schnaufend und legt den Löffel beiseite,»jetzt habe ich direkt Hunger gekriegt. Wie wär's nun mit was Ordentlichem zu essen?«
Mit diesem Satz hat er das Herz von Schomakers Mutter für alle Zeiten gewonnen.
Verlegen und etwas unsicher hocke ich auf dem Katheder. Vor mir sitzen vierzig Kinder. Es sind die jüngsten. Wie mit dem Lineal ausgerichtet sitzen sie in acht Bänken hintereinander, die kleinen, dik- ken Fäuste um die Griffel und Federkästen gefaltet, die Tafeln und Hefte vor sich. Die kleinsten sind sieben, die ältesten zehn Jahre alt. Die Schule hat nur drei Klassen, deshalb sind in jeder mehrere Jahrgänge vereinigt.
Die Holzschuhe schurren auf dem Boden. Im Ofen knistert ein Torffeuer. Viele der Kinder sind mit ihren Wollschals und ihren Felltornistern zwei Stunden weit hergekommen. Ihre Sachen sind naß geworden und beginnen in der trockenen Hitze des Raumes zu dampfen.
Mit runden Apfelgesichtern starren die Kleinsten mich an. Ein paar Mädchen kichern verstohlen. Hingegeben bohrt ein Blondkopf in der Nase. Ein anderer knufft hinter dem Rücken seines Vordermannes ein dickes Butterbrot in sich hinein. Alle aber beobachten aufmerksam jede meiner Bewegungen.
Unbehaglich rutschte ich auf meinem Sessel hin und her. Vor einer Woche noch saß ich ebenso wie sie in einer Bank und betrachtete Hollermanns runde, abgeschabte Gesten, während er über die Dichter der Befreiungskriege sprach. Heute bin ich selbst ein Hollermann geworden. Wenigstens für die da unten.
«Kinder, wir schreiben jetzt ein großes lateinisches L«, sage ich und trete an die Tafel.»Zehn Reihen L, dann fünf Reihen Lina und fünf Reihen Lerche.«
Ich schreibe die Worte langsam mit der Kreide vor. Ein Rascheln und Rauschen ertönt hinter mir. Ich erwarte, daß man mich auslacht, und drehe mich um. Aber nur die Hefte sind aufgeklappt worden und die Schiefertafeln zurechtgeschoben: Folgsam beugen sich die vierzig Köpfe über ihre Arbeit. Ich bin fast überrascht davon.
Die Griffel knirschen und die Federn kratzen. Ich gehe zwischen den Bänken hin und her.
An der Wand hängt ein Kruzifix, eine ausgestopfte Schleiereule und eine Landkarte von Deutschland. Draußen-vor den Fenstern ziehen immerfort eilig und niedrig die Wolken.
Die Karte von Deutschland ist in grünen und braunen Farben ausgeführt. Ich bleibe vor ihr stehen. Die Grenzen sind rot schraffiert, in sonderbarem Zickzack laufen sie von oben nach unten. Köln- Aachen, da sind die dünnen schwarzen Fäden der Eisenbahnlinien — Herbesthal, Lüttich, Brüssel, Lille —, ich stelle mich auf die Zehen — Roubaix — Arras, Ostende —, wo ist denn der Kemmelberg? — Er ist gar nicht darauf — aber da Langemarck, Ypern, Bixschoote, Staden. Wie klein sie auf der Karte sind, winzige Punkte nur, stille, winzige Punkte — und dabei donnerte der Himmel, und die Erde bebte dort am 31. Juli, als der große Durchbruchsversuch begann und wir bis zur Nacht schon alle Offiziere verloren hatten —.
Ich wende mich ab und sehe über die blonden und dunklen Köpfe hin, die eifrig über die Worte Lina und Lerche geneigt sind. Sonderbar — für sie werden diese winzigen Punkte auf der Landkarte nichts weiter mehr als einfacher Lehrstoff sein — ein paar neue Ortsnamen und eine Anzahl Daten zum Auswendiglernen für den Unterricht in der Weltgeschichtsstunde —, ebenso wie der Siebenjährige Krieg und die Schlacht im Teutoburger Walde.
In der zweiten Reihe springt ein Knirps auf und hält sein Heft hoch. Er hat die zwanzig Reihen fertig. Ich gehe hin und zeige ihm, daß er die untere Schlinge beim L etwas zu breit gemacht hat. Er sieht mich mit seinen feuchten, blauen Augen so strahlend an, daß ich einen Augenblick den Blick senken muß. Rasch gehe ich zur Tafel und schreibe zwei Wörter mit einem neuen Buchstaben an. Karl und — eine Sekunde stocke ich, aber ich kann nicht anders, als führte eine unsichtbare Hand die Kreide — Kemmelberg.
«Was ist das, >Karl«frage ich.
Alle Finger gehen hoch.»Ein Mann«, schreit der Knirps von vorhin.
«Und Kemmelberg?«frage ich nach einer kurzen Pause, fast beklommen, weiter.
Schweigen. Endlich meldet sich ein Mädchen.»Aus der Bibel«, sagt es zögernd.
Ich sehe es eine Weile an.»Nein«, antworte ich dann,»das ist nicht richtig. Du hast Ölberg gemeint oder Libanon, nicht wahr?«Das Mädchen nickt verschüchtert. Ich streiche ihm übers Haar.»Dann wollen wir das mal schreiben. Libanon ist ein sehr schönes Wort. «Nachdenklich wandere ich wieder zwischen den Bänken hin und her.
Ab und zu, trifft mich über einen Heftrand hinweg ein forschender Blick. Ich bleibe am Ofen stehen und sehe mir die jungen Gesichter an. Die meisten sind brav und mittelmäßig, manche verschmitzt, andere dumm — aber in einigen flackert etwas Helleres. Denen wird im Leben nicht alles so selbstverständlich erscheinen und nicht alles so glatt gehen —.
Plötzlich faßt mich eine große Mutlosigkeit. Morgen werden wir nun die Verhältniswörter durchnehmen, denke ich — und nächste Woche schreiben wir ein Diktat — in einem Jahr könnt ihr fünfzig Fragen aus dem Katechismus auswendig, in vier Jahren beginnt ihr mit dem großen Einmaleins — und ihr werdet wachsen, und das Leben wird euch in seine Zangen nehmen, ein dumpferes oder ein wilderes, ein gemäßigteres oder ein zerbrechendes — ihr werdet eure Schicksale haben, und es wird über euch kommen, so oder so — was kann ich euch da schon helfen mit meiner Konjugation oder der Aufzählung deutscher Flüsse —. Vierzig seid ihr — vierzig verschiedene Leben stehen hinter euch und warten. Könnte ich euch helfen, wie gerne täte ich das! Aber wer kann hier dem ändern schon wirklich beistehen? Habe ich auch nur Adolf Bethke helfen können?
Die Klingel schrillt. Die erste Stunde ist zu Ende.
Am nächsten Tag ziehen Willy und ich unsere Cuts an — meiner ist gerade noch rechtzeitig fertig geworden — und machen dem Pastor einen Besuch. Dazu sind wir verpflichtet.
Wir werden freundlich, aber sehr zurückhaltend empfangen, denn durch unsern Schulaufruhr haben wir in soliden Kreisen einen ziemlich schlechten Ruf gekriegt. Abends wollen wir noch den Gemeindevorsteher aufsuchen, denn dazu sind wir ebenfalls verpflichtet. Wir treffen ihn jedoch schon in der Kneipe, die gleichzeitig Poststube ist.
Er ist ein listiger Bauer mit verfälteltem Gesicht, der uns als erstes ein paar große Schnäpse anbietet. Wir nehmen an. Augenzwinkernd kommen jetzt zwei, drei andere Bauern dazu, begrüßen uns und laden uns ebenfalls zu einem Glase ein. Höflich stoßen wir mit ihnen an. Sie plieren und linsen sich hinter den Händen zu — die armen Hühner —, wir haben natürlich sofort gemerkt, daß sie uns besoffen machen wollen, um ihren Spaß zu haben. Sie scheinen das schon öfter probiert zu haben; denn sie erzählen schmunzelnd von anderen jungen Lehrern, die hier gewesen wären. Sie glauben aus drei Gründen, daß wir bald Umfallen werden: erstens weil Städter nach ihrer Meinung weniger vertragen als sie — zweitens weil Schulmeister gebildet und deshalb im Saufen von vomeherein schwächer sind — drittens weil so junge Burschen noch keine richtige Übung besitzen können. Das mag auch bei den früheren Seminaristen, die sie hier gehabt haben, richtig gewesen sein; aber bei uns rechnen sie mit einem nicht: daß wir ein paar Jahre Soldaten waren und den Schnaps kochgeschirrweise getrunken haben. Wir nehmen den Kampf auf. Die Bauern wollen uns nur etwas lächerlich machen — wir aber verteidigen eine dreifache Ehre —, das erhöht unsere Stoßkraft.
Der Vorsteher, der Gemeindeschreiber und ein paar knotige Bauern sitzen uns gegenüber. Sie sind scheinbar die wetterfestesten Säufer. Mit leichtem, bauernschlauem Grinsen stoßen sie mit uns an. Willy tut so, als ob er schon munter wäre. Das Grinsen rundum verstärkt sich.
Wir schmeißen selbst eine Runde Bier mit Schnaps. Darauf hagelt es sieben weitere Runden von den ändern. Die Bauern glauben, daß wir damit erledigt wären. Einigermaßen verblüfft sehen sie uns ungerührt die Gläser kippen. Eine gewisse Anerkennung schimmert in den Blicken, mit denen sie uns mustern. Willy bestellt mit unbewegtem Gesicht eine neue Runde.»Aber kein Bier, nur große Schlucks!«ruft er dem Wirt zu.
«Donnerwetter, nur Schnaps?«fragt der Gemeindevorsteher.»Natürlich, sonst sitzen wir bis morgen früh«, bemerkt Willy ruhig,»von dem Bier wird man ja jedesmal wieder nüchtern!«In den Augen des Vorstehers wächst das Staunen. Mit unsicherer Stimme versichert einer der Bauern, daß wir verdammt supen könnten. Zwei andere stehen schweigend auf und verschwinden. Einige unserer Gegner versuchen bereits, die Gläser verstohlen unter den Tisch zu schütten. Aber Willy achtet darauf, daß keiner sich drückt. Er zwingt ihnen die Hände auf den Tisch und die Gläser in den Rachen. Das Grinsen hat aufgehört. Wir gewinnen Boden.
Nach einer Stunde liegen die meisten mit käsigen Gesichtern in der Bude herum oder torkeln kleinlaut nach draußen. Die Gruppe am Tisch ist bis auf den Vorsteher und den Schreiber zusammengeschmolzen. Ein Duell zwischen den beiden und uns beginnt. Wir sehen zwar auch schon doppelt, aber die beiden lallen längst, das gibt uns neue Kraft.
Nach einer halben Stunde, in der wir alle rote Köpfe gekriegt haben, holt Willy zum Hauptschlage aus.
«Vier Wassergläser voll Kognak«, brüllt er zur Theke.
Der Vorsteher prallt zurück. Die Gläser kommen. Willy klemmt zwei davon den beiden zwischen die Finger.»Prost!«
Sie stieren uns an.»Aussaufen!«ruft Willy mit funkelndem Schädel.
«Los, auf einen Schlag!«Der Schreiber will abwehren, aber Willy läßt nicht nach.»In vier Schlucken«, bittet der Vorsteher bereits sehr kleinlaut.»In einem Schluck«, beharrt Willy, steht auf und klappt sein Glas gegen das des Schreibers. Ich springe ebenfalls hoch.»Los! Prost! Ex! Auf Ihr Spezielles!«brüllen wir die verdutzten beiden an. Wie Kälber, die zur Schlachtbank sollen, sehen sie uns an und nehmen einen Schluck.»Weiter! Wollt ihr kneifen?«heult Willy.»Aufstehen!«Sie torkeln hoch und trinken. Verschiedentlich versuchen sie zu unterbrechen, aber wir bölken auf sie ein, zeigen ihnen unsere Gläser,»Prost!«»Rest!«»Weg damit!«und sie schlucken alles herunter. Dann rutschen sie mit verglasten Augen langsam, aber sicher zu Boden. Wir haben gesiegt; im langsamen Trinken hätten sie uns vielleicht untergekriegt; aber auf das schnelle Kippen sind wir trainiert, und es war unsere Chance, ihnen unser Tempo aufzuzwingen. Taumelnd und stolz überblicken wir das Schlachtfeld. Keiner außer uns steht mehr. Der Briefträger, der gleichzeitig Wirt ist, hat den Kopf auf die Theke gestützt und weint um seine Frau, die im Wochenbett gestorben ist, während er im Felde war.»Martha, Martha«, schluchzt er mit einer seltsam hohen Stimme. Das soll er immer um diese Zeit machen, erzählt uns das Schenkmädchen. Das Weinen sticht uns in die Ohren. Es wird auch Zeit, daß wir rauskommen. Willy schnappt sich den Vorsteher, ich mir den lcichteren Schreiber, und wir schleppen sie nach Hause. Das ist unser letzter Triumph. Den Schreiber legen wir vor die Haustür und klopfen, bis Licht gemacht wird. Der Vorsteher aber wird schon erwartet. Seine Frau steht in der Tür.
«Herr Jesus«, kreischt sie,»die neuen Lehrer! So jung und schon
solche Säufer! Das kann ja noch gut werden!«
Willy versucht, ihr zu erklären, daß es sich um eine Ehrensache gehandelt habe, verhaspelt sich jedoch.
«Wo sollen wir ihn hinbringen?«frage ich schließlich.
«Laßt den Saufkopp da man liegen«, entscheidet sie. Wir packen ihn auf ein Sofa. Dann verlangt Willy, kindlich lächelnd, Kaffee. Die Frau sieht ihn an wie einen Hottentotten.
«Wir haben Ihnen doch Ihren Mann wiedergebracht«, erklärt Willy strahlend. Vor soviel unbewußter Frechheit kapituliert selbst die harte Alte. Sie schenkt uns kopfschüttelnd ein paar große Tassen Kaffee ein und gibt uns dabei gute Lehren. Wir sagen zu allem ja, das ist das beste um diese Zeit. —
Von diesem Tage an gelten wir im Dorf als Männer und werden mit Achtung begrüßt.
Einförmig und gleichmäßig gehen die Tage hin. Morgens vier Stunden Schule, nachmittags zwei — aber dazwischen die endlos sich dehnende Zeit des Herumsitzens und Herumlaufens, allein mit sich und seinen Gedanken.
Am schlimmsten sind die Sonntage. Wenn man da nicht in den Kneipen sitzen will, ist es einfach nicht zum Aushalten. Der Hauptlehrer, der außer mir da ist, wohnt seit dreißig Jahren hier und ist in dieser Zeit ein erstklassiger Schweinezüchter mit vielen Preisen geworden. Aber über etwas anderes kann man mit ihm kaum reden. Wenn ich ihn ansehe, möchte ich am liebsten sofort ausreißen; so abschreckend ist der Gedanke, auch einmal so zu werden. Dann ist noch eine Lehrerin da, ein braves, ältliches Geschöpf, das zusammenzuckt, wenn man mal» verflucht und zugenäht «sagt. Auch nicht gerade aufmunternd.
Willy findet sich besser hinein. Er geht als Respektsperson auf alle Hochzeiten und Kindtaufen. Wenn die Pferde Kolik haben oder die Kühe nicht kalben wollen, hilft er den Bauern mit Rat und Tat. Und abends sitzt er mit ihnen in den Wirtschaften und zieht ihnen beim Skat das Fell über die Ohren.
Aber ich will nicht mehr in den Kneipen liegen, ich bleibe lieber in meinem Zimmer. Doch die Stunden werden da lang, und oft kriechen seltsame Gedanken aus den Winkeln — wie blasse, fahle Hände, die winken und drohen, Schatten eines gespenstischen Früher, sonderbar verwandelt. Erinnerungen, die wieder emporsteigen, graue, wesenlose Gesichter, Klage und Anklage. —
An einem trüben Sonntag stehe ich früh auf, ziehe mich an und gehe zur Bahn, um Adolf Bethke zu besuchen. Das ist ein guter Plan — ich kann wieder einmal mit einem Menschen, der mir wirklich nahesteht, zusammensitzen, und der langweilige Sonntag ist herum, wenn ich zurückkomme.
Nachmittags komme ich an. Die Pforte quietscht. Der Hund in der Hütte bellt. Ich gehe rasch die Allee von Obstbäumen entlang. Adolf ist zu Hause. Seine Frau ist auch da. Als ich eintrete und Adolf die Hand gebe, geht sie hinaus. Ich setze mich hin. Nach einer Weile sagt er:»Du wunderst dich wohl, Ernst, was?«
«Warum, Adolf?«
«Weil sie wieder im Hause ist.«
«Nein — das mußt du doch selbst wissen.«
Er schiebt mir eine Schüssel mit Obst hin.»Willst du einen Apfel?«Ich nehme einen und biete ihm eine Zigarre an. Er beißt die Spitze ab und fährt fort:»Sieh, Ernst, ich hab hier gesessen und gesessen und bin halb verrückt dabei geworden. Wenn du allein bist, ist so ein Haus was Schreckliches. Du gehst durch die Zimmer — da hängt noch eine Bluse von ihr, da sind ihre Nähsachen, da ist der Stuhl, auf dem sie immer saß und nähte — und abends, da steht das zweite Bett so weiß und verlassen neben dir herum, du siehst alle Augenblicke rüber und wälzt dich hin und her und kannst nicht schlafen — da geht dir manches durch den Kopf, Ernst. —«
«Glaub's schon, Adolf. —«
«Und dann rennst du raus und säufst und machst Unsinn. —«
Ich nicke. Die Uhr tickt. Der Ofen knistert. Die Frau kommt still herein und stellt Brot und Butter auf den Tisch. Dann geht sie wieder. Bethke streicht über die Tischdecke.
«Ja, Ernst, und so ist es ihr ja schließlich auch gegangen, sie hat auch so herumgesessen, all die Jahre durch und hat dagelegen und Angst gehabt und ist ungewiß gewesen und hat gegrübelt und gehorcht — und dann ist es schließlich gekommen, sicher hat sie es erst gar nicht gewollt, aber als es dann da war, da wußte sie sich nicht mehr zu helfen, und so ist es weitergegangen.«
Die Frau kommt und bringt Kaffee. Ich will ihr guten Tag sagen, doch sie sieht mich nicht an.
«Willst du nicht für dich auch eine Tasse holen?«fragt Adolf.
«Ich muß noch in die Küche«, sagt sie. Sie hat eine leise, tiefe Stimme.
«Ich habe hier gesessen und mir gesagt, du hast deine Ehre gewahrt, du hast sie rausgeschmissen. Aber was hast du von der Ehre, das ist so eine Redensart, du bist allein, und mit und ohne Ehre wird das nicht besser. Da habe ich dann gesagt, sie könnte hierbleiben, was soll das alles auch, man ist doch müde und lebt bloß die paar Jahre, und wenn man es nicht gewußt hätte, wäre es doch auch so geblieben. Wer weiß, was man machen würde, wenn man immer alles wüßte.«
Adolf klopft nervös mit der Hand gegen die Stuhllehne.»Nimm Kaffee, Ernst, Butter ist auch da.«
Ich schenke ein, und wir trinken.
«Sieh, Ernst«, sagt er leise,»ihr habt es leichter, ihr habt eure Bücher und eure Bildung und noch so manches. Aber ich — ich habe doch nichts anderes als nur die Frau. —«
Ich sage nichts dazu, denn ich könnte es ihm nicht erklären; er ist nicht mehr derselbe wie im Felde — und ich bin es auch nicht. Nach einer Weile frage ich:»Was sagt sie denn dazu?«
Adolf läßt die Hand fallen.»Sie sagt eigentlich wenig, es ist ja auch nicht viel aus ihr rauszukriegen, sie sitzt da und sieht dich an. Höchstens, daß sie mal weint. Sie redet wenig.«
Er stellt seine Tasse beiseite.»Mal sagt sie, es wäre nur gewesen, damit einer da wäre. Dann wieder, sie begriffe es nicht, sie hätte nicht gewußt, daß sie mir etwas antäte damit, es wäre gewesen, als ob ich da wäre. Aber das versteht man doch nicht, so was muß man doch auseinanderhalten können, sie ist doch sonst vernünftig.«
Ich denke nach.»Vielleicht meint sie, daß sie gar nicht recht bei sich war die Zeit, so, als wenn sie bloß geträumt hätte, Adolf.«
«Kann sein«, antwortet er,»aber ich verstehe es nicht. Lange hat es ja wohl auch nicht gedauert.«
«Sie will doch von dem ändern nichts mehr wissen?«frage ich.
«Sie sagt, sie gehöre hierher.«
Ich denke darüber nach. Aber was soll man weiter fragen.»Ist es nun besser für dich, Adolf?«
Er sieht mich an.»Nicht so ganz, Ernst, das kannst du dir wohl denken, noch nicht. Aber das wird schon kommen, meinst du nicht auch?«
Er sieht selbst nicht so aus, als ob er es recht glaubte.
«Sicher wird es schon kommen, Adolf«, sage ich und lege ein paar Zigarren, die ich mir aufgespart habe, auf den Tisch. Wir sprechen noch etwas, dann gehe ich. Im Flur treffe ich die Frau, die hastig an mir vorbei will.»Auf Wiedersehen, Frau Bethke«, sage ich und halte ihr die Hand hin.»Auf Wiedersehen«, antwortet sie und gibt mir mit abgewandtem Gesicht die Hand.
Adolf bringt mich noch bis zum Bahnhof. Der Wind saust. Ich sehe ihn von der Seite an und denke daran, wie er im Graben immer vor sich hinlächelte, wenn wir vom Frieden sprachen. Was ist nun aus all dem geworden!
Der Zug fährt ab.»Adolf«, sage ich noch rasch aus dem Fenster,»ich verstehe dich ja so gut — du glaubst nicht, wie gut.«
Er geht allein zurück über das Feld zu seinem Hause.
Es läutet zur großen Pause um zehn Uhr. Ich habe eine Stunde Unterricht in der Oberklasse gegeben. Jetzt stürzen die Vierzehnjährigen an mir vorüber ins Freie. Ich beobachte sie vom Fenster aus. In wenigen Sekunden verändern sie sich vollkommen, sie streifen den Zwang der Schule ab und gewinnen die Frische und Unbefangenheit ihres Alters wieder.
Wenn sie in ihren Bänken vor mir sitzen, sind sie nicht echt; sie haben entweder etwas von Duckmäusern und Strebern oder von Heuchlern und Rebellen an sich. Sieben Jahre Unterricht haben es fertiggebracht, sie dazu zu erziehen. Unverbildet, aufrichtig und ahnungslos wie junge Tiere kamen sie von ihren Wiesen, ihren Spielen und Träumen in die Schule — noch galt unter ihnen das einfache Gesetz des Lebendigen —, der Lebendigste, Kraftvollste war der Führer, dem die ändern folgten. Aber mit den Wochenportionen der Bildung wurde ihnen allmählich ein anderes, künstliches Gesetz der Bewertung aufgepfropft: Derjenige, der seine Portionen am bravsten auslöffelte, wurde ausgezeichnet und galt als der Beste. Die ändern hatten ihm nachzueifern. Kein Wunder, daß die Lebendigsten widerstrebten. Aber sie mußten sich fügen; denn der gute Schüler ist nun einmal das Ideal der Schule. Aber was ist das schon für ein Ideal —! Und was ist schon aus den guten Schülern in der Welt geworden! Im Treibhaus der Schule genossen sie ein kurzes Scheindasein — um so sicherer versanken sie dann nachher in Mittelmäßigkeit und subalterne Belanglosigkeit. Die Welt ist nur von schlechten Schülern vorwärtsgebracht worden.
Ich beobachte die Spielenden. Mit kraftvollen, geschmeidigen Bewegungen werden sie angeführt von dem krausköpfigen Dammholt, der mit seiner Energie den ganzen Platz beherrscht. Die Augen funkeln vor Angriffslust und Courage, die Muskeln und Sehnen sind gestrafft, und die ändern gehorchen ihm ohne Zögern. In zehn Minuten jedoch wird aus demselben Kerl, wenn er hier auf der Bank sitzt, ein verstockter, widerspenstiger Bursche, der niemals seine Aufgaben kann und wahrscheinlich Ostern Sitzenbleiben wird. Er wird ein frommes Gesicht machen, wenn ich ihn ansehe, und hinter mir sofort eine Grimasse schneiden, er wird geläufig lügen, wenn ich ihn frage, ob er seinen Aufsatz abgeschrieben hat, und mir rasch gegen die Hose spucken oder mir einen Heftzwecken auf den Stuhl legen, wenn er Gelegenheit dazu hat. Der Primus aber, der jetzt draußen eine klägliche Figur macht, wird hier im Zimmer wachsen, er wird selbstbewußt den Finger heben, wenn Dammholt keine Antwort weiß und ergeben und wütend auf seine Vier wartet. Der Primus weiß alles, und selbst das weiß er. Aber Dammholt, den ich eigentlich bestrafen müßte, ist mir tausendmal lieber als der blasse Musterknabe.
Ich zucke die Achseln. War es denn nicht schon einmal ähnlich so? Hei der Regimentszusammenkunft im Saale von Konersmann? Galt da nicht plötzlich auch der Mann nichts mehr und der Beruf alles, obschon es vorher ganz anders gewesen war? Ich schüttle den Kopf.
Was ist das nur für eine Welt, in die wir da wieder hineingeraten sind. —
Dammholts Stimme gellt über den Platz. Ich denke darüber nach, ob vielleicht eine sehr kameradschaftliche Einstellung des Lehrers zum Schüler weiterführen würde. Mag sein, daß sie das Verhältnis bessern und manches vermeiden könnte — doch im Grunde wäre sie nur eine Täuschung. Ich weiß ja von uns selbst noch: Jugend ist scharfsichtig und unbestechlich. Sie hält zusammen und bildet eine undurchdringliche Front gegen den Erwachsenen. Sie ist nicht sentimental; man kann sich ihr nähern, aber nicht zu ihr hineinkommen. Wer aus dem Paradiese einmal ausgestoßen ist, kann nie zurück. Es gibt ein Gesetz der Jahre. Dammholt würde eine kameradschaftliche Einstellung kaltblütig und mit seinen scharfen Augen zu seinem Vorteil ausnützen. — Vielleicht würde er sogar eine gewisse Anhänglichkeit zeigen; doch das würde ihn nicht hindern, seinen Vorteil wahrzunehmen. Die Erzieher, die mit der Jugend zu fühlen glauben, sind Schwärmer. Jugend will gar nicht verstanden sein; sie will nur so bleiben, wie sie ist. Der Erwachsene, der sich ihr zu aufdringlich nähert, wird ihr ebenso lächerlich, als wenn er Kinderkleidchen anzöge. Wir können mit der Jugend fühlen, aber die Jugend fühlt nicht mit uns. Das ist ihre Rettung.
Die Klingel ertönt. Die Pause ist zu Ende. Dammholt stellt sich zögernd in die Reihe vor der Tür.
Ich schlendere durch das Dorf, der Heide zu. Wolf läuft vor mir her. Plötzlich schießt aus einem Bauernhof eine Dogge heraus und stürzt sich auf ihn. Wolf hat sie nicht kommen sehen. Es gelingt ihr deshalb, ihn im ersten Anlauf umzureißen. Im nächsten Augenblick ist alles ein wüster Knäuel von Staub, umherschlagenden Körpern und rasendem Knurren.
Der Bauer kommt mit einem Knüppel aus dem Hause gelaufen.
«Um Gottes willen, Lehrer«, schreit er von weitem,»ruft Euren Hund! Pluto reißt ihn in Stücke!«
Ich winke ab.»Pluto! Pluto! Aas, verdammtes, hierher!«brüllt er aufgeregt und kommt atemlos heran, um dazwischenzuschlagen. Doch der Staubwirbel fegt mit wüstem Gekläff hundert Meter weiter und ballt sich dort erneut.
«Der ist verloren«, keucht der Bauer und läßt den Knüppel sinken.»Aber ich sage Ihnen gleich, bezahlen tue ich ihn nicht! Sie hätten ihn ja rufen können!«
«Wer ist verloren?«frage ich.
«Ihr Hund«, erwidert der Bauer ergeben.»Das Luder von Dogge hat schon ein Dutzend davon kaltgemacht.«
«Na, bei Wolf wollen wir das erst mal abwarten«, sage ich,»das ist kein gewöhnlicher Schäferhund, mein Lieber. Das ist ein Kriegshund, ein alter Soldat, verstehen Sie!«
Der Staub verzieht sich. Die beiden Hunde sind auf eine Wiese geraten. Ich sehe, wie die Dogge versucht, Wolf herunterzudrücken und ihn am Kreuz zu schnappen. Wenn es ihr gelingt, ist er verloren, denn sie kann ihm glatt die Rückenwirbel zerknacken. Doch wie ein Aal gleitet der Schäferhund einen Zentimeter vor ihrem Fang- über den Boden, wirft sich herum und greift sofort wieder an. Die Dogge knurrt und kläfft — Wolf aber kämpft völlig lautlos.
«Verdammt«, sagt der Bauer.
Die Dogge schüttelt sich, springt zu, schnappt in die Luft, wendet sich wütend um, springt wieder zu und packt abermals vorbei — doch es ist, als wäre sie allein, so wenig sieht man den Schäferhund. Er fliegt wie eine Katze dicht über den Boden, das ist er als Meldehund gewohnt, er schlüpft der Dogge zwischen den Beinen durch und greift von unten an, er umkreist sie, jagt herum, verbeißt sich plötzlich in ihrem Bauch und hält fest.
Wie verrückt heult die Dogge auf und wirft sich zu Boden, um ihn so zu fassen. Aber mit einem Ruck, schneller als ein Schatten, hat Wolf losgelassen und die Gelegenheit benutzt, ihr an die Kehle zu gehen. Und jetzt, zum ersten Male, höre ich ihn knurren, dumpf, gefährlich, jetzt wo er den Gegner hat und festhält, so sehr die Dogge auch um sich schlägt und sich über den Boden rollt.
«Um Gottes willen, Lehrer«, ruft der Bauer,»ruft euren Hund! Er beißt den Pluto ja in Stücke!«
«Den kann ich ruhig rufen, der kommt jetzt nicht«, sage ich,»und das ist auch richtig. Erst soll er mal diesen Scheißpluto fertigmachen.«
Die Dogge stöhnt und jault. Der Bauer hebt den Knüppel, um ihr beizustehen. Ich reiße ihm den Prügel weg, fasse ihn vor der Brust und brülle:»Verflucht, der Bastard hat doch angefangen.«
Es fehlt nicht viel, dann gehe ich noch auf den Bauern los.
Zum Glück stehe ich so, daß ich sehe, wie Wolf jäh die Dogge losläßt und heranrast, weil er glaubt, ich würde angefallen. So kann ich ihn ab- fangen, sonst hätte der Bauer mindestens eine neue Jacke gebraucht. Inzwischen hat sich Pluto verdrückt. Ich klopfe Wolf den Hals und beruhige ihn.»Das ist ja der wahre Satan«, stottert der Bauer entgeistert.
«Jawohl«, sage ich stolz,»das ist eben altes Militär. Damit soll man nicht anfangen.«
Wir gehen weiter. Hinter dem Dorf liegen einige Wiesen, dann beginnt die Heide mit Wacholdern und Hünengräbern. In der Nähe des Birkenwäldchens weidet eine Herde Schafe. Ihre wolligen Rük- ken glänzen im Schein der untergehenden Sonne wie mattes Gold.
Mit einmal bemerke ich, wie Wolf in gestreckten Sätzen auf die Herde lossaust. Ich glaube, daß das Erlebnis mit der Dogge ihn wild gemacht hat, und laufe hinterher, um ein Blutbad unter den Schafen zu verhindern.»Achtung! Paß auf den Hund auf!«rufe ich dem Schäfer zu.
Er lacht.»Ist ja ein Schäferhund, der tut nichts!«
«Doch, doch!«rufe ich,»der kennt das nicht! Das ist ein Kriegshund!«
«Ach wo«, sagt der Schäfer,»Kriegshund oder nicht. Der macht nichts. Da — sehen Sie — sehen Sie bloß! Gut, mein Hund, weiter! Hol sie!«
Ich traue meinen Augen nicht. Wolf — Wolf, der früher nie ein Schaf gesehen hat, treibt die Herde jetzt zusammen, als hätte er nie etwas anderes getan. In langen Sprüngen fegt er bellend hinter zwei ausgerissenen Lämmern her und jagt sie zurück. Jedesmal, wenn sie ausbrechen oder stehenbleiben wollen, verlegt er ihnen den Weg und zwickt sie in die Beine, so daß sie geradeaus weiterlaufen.»Tiptop«, sagt der Schäfer,»er kneift sie nur, tadellos richtig.«
Der Hund ist wie verwandelt. Seine Augen funkeln, sein zerschossenes Ohr flattert, er umkreist wachsam die Herde, und ich sehe, daß er ungeheuer aufgeregt ist.
«Den kauf ich sofort«, erklärt der Schäfer,»meiner kann's nicht besser. Sehen Sie mal, wie er die Herde zum Dorf rüberdrückt! Der braucht nichts mehr zu lernen.«
Ich weiß nicht, was mit mir los ist.»Wolf«, rufe ich,»Wolf«, und ich könnte gleich losheulen, wie ich ihn so sehe. Da ist er unter Granaten groß geworden, und jetzt, ohne daß ihm jemand was gezeigt hat, weiß er, was seine Aufgabe ist.
«Hundert Mark in bar und ein geschlachtetes Schaf«, sagt der Schäfer.
Ich schüttle den Kopf.»Nicht für eine Million Mark, Mensch«, erwidere ich.
Jetzt schüttelt der Schäfer den Kopf.
Die harten Rispen des Heidekrauts streifen mein Gesicht. Ich biege sie beiseite und lege den Kopf auf die Arme. Der Hund atmet ruhig neben mir, und von weit her kommt das schwache Läuten von Herdenglocken. Sonst ist es still.
Wolken schwimmen langsam über den Abendhimmel. Die Sonne geht unter. Das dunkle Grün der Wacholderbüsche wird zu tiefem Braun, und ich spüre, wie der Nachtwind sich jetzt leise von den fernen Wäldern hebt. In einer Stunde wird er in den Birken wehen. Soldaten ist die Landschaft ebenso vertraut wie Bauern und Förstern, sie haben nicht im Zimmer gelebt; sie wissen um die Zeiten des Windes und den zimtfarbenen Duft verschleierter Abende, sie kennen die Schatten, die über dem Boden schwanken, wenn die Wolken das Licht fangen, und die Wege des Mondes. —
In Flandern, nach einem rasenden Feuerüberfall, dauerte es lange, bis Hilfe für einen Verwundeten kam. Wir hatten alle Verbandspäckchen um ihn gewickelt und abgebunden, was wir konnten, aber er blutete weiter, blutete einfach aus. Und hinter ihm stand die ganze Zeit eine riesige Wolke am abendlichen Himmel, eine einzige Wolke, aber sie war ein ganzes Gebirge aus Weiß, Gold und rötlichem Glanz. Unwirklich und herrlich stand sie hinter dem zerschossenen Braun der Landschaft, sie war ganz still und leuchtete, und der Sterbende lag ganz still und blutete, als gehörten sie zusammen, und doch war es für mich unbegreiflich, daß die Wolke so schön und unbeteiligt am Himmel stand, während ein Mensch starb. —
Das letzte Licht der Sonne färbt die Heide mit einem düsteren Rot. Kiebitze flattern klagend auf. Eine Rohrdommel ruft von den Teichen her. Ich starre über die weite, purpurbraune Fläche. — Bei Hout- houlst gab es eine Stelle, wo in den Wiesen so viel Mohn wuchs, daß sie ganz rot davon waren. Wir nannten sie die Blutwiesen, denn bei Gewitter hatten sie die fahle Farbe von eben geronnenem, noch frischem Blut. — Dort wurde Köhler verrückt, als wir in einer hellen Nacht, verwüstet und müde, vorbeimarschierten. Er glaubte im unsicheren Licht des Mondes, es seien Blutseen und wollte hineinspringen. —
Ich fröstle und blicke auf. Was soll das nur? Weshalb kommen diese Erinnerungen jetzt so oft? Und so sonderbar, so ganz anders als draußen im Felde? Bin ich zuviel allein?
Wolf rührt sich neben mir und bellt ganz hoch und leise im Schlaf. Träumt er von seiner Herde? Ich sehe ihn lange an. Dann wecke ich ihn und wir gehen zurück.
Es ist Sonnabend. Ich gehe zu Willy und frage ihn, ob er über Sonntag mit mir in die Stadt fahren will. Doch er weist den Gedanken weit von sich.»Morgen haben wir eine gefüllte Gans hier«, sagt er,»die kann ich auf keinen Fall im Stich lassen. Weshalb willst du denn weg?«
«Ich kann es sonntags hier nicht aushalten«, sage ich.
«Verstehe ich nicht«, meint er,»bei der Verpflegung!«
Ich fahre allein. Abends gehe ich in einer unbestimmten Hoffnung zu Waldmann. Da ist großer Trubel. Ich stehe eine Weile herum und sehe zu. Eine Menge junger Burschen, die gerade noch so am Krieg vorbeigerutscht sind, treibt sich auf dem Parkett herum. Sie sind selbstsicher und wissen, was sie wollen, ihre Welt hat einen klaren Anfang und ein klares Ziel: den Erfolg. Sie sind viel fertiger als wir, obschon sie jünger sind.
Unter den Tanzenden entdecke ich die zierliche, kleine Näherin mit der ich den Onestep gewonnen habe. Ich fordere sie zu einem Walzer auf, und wir bleiben dann zusammen. Vor ein paar Tagen habe ich mein Gehalt bekommen, davon bestelle ich jetzt ein paar Flaschen süßen, roten Wein. Wir trinken ihn langsam, und je mehr ich trinke, desto mehr gerate ich in eine sonderbare Schwermut. Was sagte Albert damals? Einen Menschen haben, der einem gehört.
Nachdenklich höre ich dem Geplauder des Mädchens zu, das wie ein Schwälbchen zwitschert von Kolleginnen, vom Stücklohn für Weißwäsche, von neuen Tänzen und tausend nichtigen Dingen. Wenn der Stücklohn um zwanzig Pfennig erhöht würde, könnte sie mittags ins Restaurant essen gehen, dann wäre sie zufrieden. Ich beneide sie um ihr klares, einfaches Dasein und frage sie immer weiter. Ich möchte jeden Menschen, der hier lacht und fröhlich ist, fragen, wie er lebt. Vielleicht wäre einer dabei, der mir etwas erzählen könnte, das mir helfen würde.
Nachher bringe ich das Schwälbchen nach Hause. Sie wohnt in einer grauen Mietskaserne unter dem Dach. Vor der Tür bleiben wir stehen. Ich fühle die Wärme ihrer Hand in meiner. Ungewiß schimmert ihr Gesicht aus dem Dunkel. Ein Menschengesicht, eine Hand, in der Wärme und Leben ist —»laß mich mitgehen«, sage ich hastig,»laß mich mitgehen. —«
Wir schleichen vorsichtig die knarrenden Treppen hinauf. Ich zünde ein Streichholz an, aber sie bläst es gleich wieder aus, faßt mich bei der Hand und zieht mich hinter sich her.
Ein schmales Zimmerchen. Ein Tisch, ein braunes Sofa, ein Bett, ein paar Bilder an der Wand, in der Ecke die Nähmaschine, eine Probierpuppe aus Rohr und ein Korb mit weißer Nähwäsche.
Hurtig holt die Kleine einen Spirituskocher hervor und macht aus Apfelschalen und zehnfach aufgekochten und wieder getrockneten Teeblättern Tee zurecht. Zwei Tassen, ein lachendes, etwas verschmitztes Gesichtchen, ein rührend blaues Kleidchen, die freundliche Armut eines Zimmers, ein Schwälbchen, dessen Jugend sein einziger Besitz ist — ich setze mich ins Sofa. Beginnt so die Liebe? So leicht und spielerisch? Man muß wohl über sich selbst hinwegspringen dabei.
Das Schwälbchen ist lieb, es gehört ja wohl auch zu ihrem kleinen Leben, daß jemand kommt und es in die Arme nimmt und dann wieder geht; die Nähmaschine surrt, ein anderer kommt, das Schwälbchen lacht, das Schwälbchen weint und näht immerzu. — Es wirft eine kleine bunte Decke über die Maschine, die dadurch aus einem Arbeitstier von Nickel und Stahl zu einem Hügel von roten und blauen Seidenblumen wird. Es will nicht an den Tag erinnert sein, es kuschelt sich in meinen Arm und plaudert, es summt und murmelt und singt in seinem leichten Kleid, es ist so schmal und blaß und ein wenig verhungert und so leicht, daß man es zum Bett, zu dem eisernen Feldbett tragen kann, es hat einen so süßen Ausdruck der Hingebung, wie es sich dabei am Hals festhält, es seufzt und lächelt, ein Kind mit geschlossenen Augen, es seufzt und bebt und stammelt ein bißchen, es atmet tief und hat kleine Schreie, ich schaue es an, ich schaue es immerfort an, ich will auch so sein und frage schweigend: ist es das — ist es das? — und dann nennt mich das Schwälbchen mit allerlei bunten Namen und ist verschämt und zärtlich und schmiegt sich an, und als ich gehe und frage:»Bist du glücklich, Schwälbchen?«da küßt es mich viele Male und schneidet Grimassen und winkt und nickt und nickt. —
Ich aber steige die Treppen hinunter und bin voll Verwunderung. Sie ist glücklich — wie schnell das geht. Ich begreife es nicht. Ist sie nicht immer noch ein anderer Mensch, ein Leben für sich, in das ich nie hinein kann? Bliebe sie es nicht, auch wenn ich alle Brände der Liebe hätte? Ach, Liebe — eine Fackel, die in einen Abgrund fällt und erst zeigt, wie tief er ist.
Ich gehe über die Straßen, dem Bahnhof zu. Nein, das ist es nicht, das auch nicht. Da ist man ja noch mehr allein als sonst. —
Der Lichtkreis der Lampe erhellt den Tisch. Vor mir liegen Stapel von blauen Heften. Daneben steht eine Flasche mit roter Tinte. Ich sehe die Hefte durch, streiche die Fehler an, lege die Löschblätter hinein und klappe sie zu.
Dann stehe ich auf. Ist das nun das Leben? Dieses monotone Gleichmaß der Tage und Stunden? Wie wenig füllt es im Grunde doch aus! Es bleibt noch immer viel zuviel Zeit zum Denken. Ich hatte gehofft, die Einförmigkeit würde mich beruhigen. Aber sie macht mich nur unruhiger. Wie lang die Abende hier sind!
Ich gehe über die Diele. Die Kühe schnauben und stampfen im Halbdunkel. Auf niedrigen Schemeln hocken die Mägde neben ihnen, um sie zu melken. Jede sitzt für sich wie in einem kleinen Zimmer, dessen Wände nach beiden Seiten von den schwarzbunten Körpern der Tiere gebildet werden. Kleine Lichter flackern über ihnen im warmen Stalldunst, die Milch spritzt dünn in die Eimer, und die Brüste der Mädchen wippen in den blauen Waschkleidern. Sie heben die Köpfe und lächeln und atmen und zeigen gesunde weiße Zähne. Ihre Augen funkeln im Dunkel. Es riecht nach Heu und Vieh.
Ich stehe eine Zeitlang vor der Tür, dann kehre ich in mein Zimmer zurück. Die blauen Hefte liegen unter der Lampe — so werden sie immer liegen —, werde ich auch immer so sitzen, bis ich allmählich alt werde und endlich sterbe? Ich will schlafen gehen. Langsam wandert der rote Mond über das Dach der Scheune und wirft den Umriß des Fensters auf den Fußboden, ein schräges Viereck mit einem Kreuz darin, das sich unaufhörlich verschiebt, je höher es steigt. Nach einer Stunde kriecht er mein Bett herauf, und das Schattenkreuz schleicht über meine Brust. Ich liege in dem großen, blaurot karierten Bauernbett und kann nicht schlafen. Manchmal fallen mir die Augen zu, und ich sinke sausend in einen Raum ohne Grenzen — aber im letzten Augenblick reißt mich eine jäh hervorspringende Angst wieder zurück ins Wachsein, und ich höre weiter, wie die Kirchenuhr die Stunden schlägt, ich horche und warte und wälze mich herum.
Schließlich stehe ich auf und ziehe mich wieder an. Dann steige ich aus dem Fenster, hebe den Hund hinterher und lauf in die Heide hinaus. Der Mond scheint, die Luft braust, und weit dehnt sich die Ebene. Dunkel schneidet der Bahndamm hindurch.
Ich setze mich unter einen Wacholderbusch. Nach einiger Zeit sehe ich die Signallampenkette an der Bahnstrecke aufflammen. Der Nachtzug kommt. Leise und metallisch beginnen die Schienen zu dröhnen. Die Scheinwerfer der Lokomotive blitzen am Horizont auf und jagen eine Woge Licht vor sich her. Der Zug rast mit erleuchteten Fenstern vorüber, einen Atemzug lang sind die Abteile mit ihren Koffern und Schicksalen ganz nahe, dann fegen sie weiter, die Schienen glänzen wieder im nassen Licht, und aus der Feme nur noch starrt die rote Schlußlampe des Zuges wie ein glühendes Auge drohend her.
Ich sehe den Mond hell und gelb werden, ich laufe durch die blaue Dämmerung der Birkenwälder, Regentropfen sprühen mir von den Zweigen ins Genick, ich stolpere über Wurzeln und Steine, und der Morgen graut bleiern, als ich zurückkomme. Die Lampe brennt noch — verzweifelt blicke ich mich im Zimmer um — nein, das halte ich nicht aus, dazu muß man zwanzig Jahre älter sein, um sich so bescheiden zu können. —
Müde und erschöpft versuche ich, mich auszuziehen. Es gelingt mir nicht mehr. Aber noch im Einschlafen presse ich die Fäuste zusammen — ich will nicht nachlassen — noch will ich es nicht aufgeben. — Dann sinke ich wieder sausend in den Raum ohne Grenzen und schiebe mich vorsichtig weiter. Langsam, einen Zentimeter und noch einen. Die Sonne brennt auf die gelben Hänge, der Ginster blüht, die Luft ist heiß und still, Fesselballons und weiße Flakwölkchen hängen am Horizont. Vor meinem Stahlhelm schwanken die roten Blätter einer Mohnblüte.
Ein ganz schwaches, kaum vernehmliches Scharren kommt gegenüber, hinter dem Gebüsch hervor. Dann ist es wieder ruhig. Ich warte weiter. Ein Käfer mit grüngoldenen Flügeln kriecht vor mir einen Kamillenstengel hoch. Seine Fühler tasten die zackigen Blätter ab. Wieder weht ein leichtes Geräusch durch den Mittag. Jetzt taucht ein Helmrand hinter dem Gebüsch auf. Eine Stirn darunter, helle Augen, ein fester Mund — prüfend gehen die Augen über die Landschaft und kehren zu einem weißen Papierblock zurück. Der Mann zeichnet ahnungslos eine Skizze von der Ferme drüben.
Ich ziehe die Handgranate heran. Es dauert lange. Endlich liegt sie neben mir. Mit der linken Hand reiße ich sie ab und zähle lautlos. Dann schleudere ich sie in flachem Bogen gegen das Brombeergestrüpp und rutsche rasch in mein Loch zurück, presse den Körper dicht an den Boden, drücke das Gesicht ins Gras und öffne den Mund.
Der Krach der Explosion zerreißt die Luft, Splitter schwirren, ein Schrei steigt auf, lang gedehnt, rasend vor Entsetzen. Ich habe die zweite Granate in der Hand und luge über die Deckung. Der Engländer liegt jetzt frei auf dem Boden, die Unterschenkel sind weggefetzt, das Blut strömt heraus. Lang aufgerollt hängen die Streifen der Wickelgamaschen hinter ihm wie lose Bänder, er liegt auf dem Bauch, mit den Armen rudert er durch das Gras, der Mund ist weit offen und schreit.
Er wirft sich herum und sieht mich. Da stemmt er die Arme auf und bäumt sich hoch wie ein Seehund, er schreit mich an und blutet, blutet —. Dann wird das rote Gesicht fahl und fällt zusammen, der Blick zerbricht, und Augen und Mund sind nur noch schwarze Höhlen eines einstürzenden Antlitzes, das langsam sich zur Erde neigt, einknickt und in die Kamillenbüsche sinkt. Erledigt.
Ich schiebe mich fort und will zurückschleichen zu unseren Gräben. Aber ich sehe mich noch einmal um — da ist plötzlich der Tote wieder lebendig geworden, er richtet sich auf, als wollte er hinter mir herlaufen. — Ich ziehe die zweite Handgranate ab und werfe sie ihm entgegen. Sie fällt einen Meter neben ihm herunter, rollt aus, liegt — ich zähle, zähle — warum explodiert sie denn nicht? — Der Tote steht jetzt, er bleckt die Zähne, ich werfe die nächste Handgranate — auch sie versagt — jetzt macht der drüben schon ein paar Schritte, auf seinen Stümpfen läuft er, grinsend, die Arme nach mir ausgestreckt — ich werfe die letzte Handgranate — sie fliegt ihm gegen die Brust, er wischt sie fort — da springe ich auf, um wegzurennen, aber die Knie versagen mir, sie sind weich wie Butter, unendlich langsam ziehe ich sie vorwärts, ich klebe am Boden fest, ich zerre, ich werfe mich vorwärts, schon höre ich das Keuchen des Verfolgers, ich reiße mit den Fäusten an meinen nachgebenden Beinen — aber von hinten schließen sich zwei Hände um meinen Nacken, drücken mich zurück, auf den Boden, der Tote kniet auf meiner Brust, er greift die nachschleifenden Wickelgamaschen aus dem Gras und dreht sie mir um den Hals. Ich drücke den Kopf weg, ich spanne alle Muskeln an, ich werfe mich nach rechts, um der Schlinge zu entgehen — da, ein Ruck, ein erstickter Schmerz im Hals, der Tote schleift mich vorwärts, dem Abhang der Kalkgrube zu, er wälzt mich hinunter, ich verliere das Gleichgewicht und versuche, mich festzuhalten, ich rutsche, falle, schreie, falle endlos, schreie, schlage auf, schreie. —
Dunkel bricht in Klumpen unter meinen krallenden Händen, krachend poltert etwas neben mir herunter, ich pralle gegen Steine, Ecken, Eisen, hemmungslos rast das Schreien aus mir heraus, jäh gellend, ich kann nicht aufhören, Rufe dazwischen, Griffe nach meinen Armen, ich stoße sie weg, jemand stolpert über mich, ich erwische ein Gewehr, ertaste eine Deckung, reiße es an die Schulter, drücke ab, immer noch schreiend, dann zuckt es wie ein Messer durch den Knäuel —»Birkholz«— wieder —»Birkholz«— ich springe auf, da kommt Hilfe, ich muß mich durchschlagen, ich reiße mich los, renne, bekomme einen Hieb gegen das Knie, stürze in eine weiche Grube, in Licht, grelles, zuckendes Licht,»Birkholz«—»Birkholz«— nur noch mein Schreien ist spitz im Raum — plötzlich bricht es ab — Vor mir stehen der Bauer und seine Frau. Ich liege halb auf dem Bett, halb auf der Erde, neben mir rappelt der Knecht sich hoch, krampfhaft halte ich einen Spazierstock wie ein Gewehr in der Faust, irgendwo muß ich bluten, dann spüre ich, daß nur der Hund mir die Hand leckt.
«Lehrer«, sagt die Bäuerin zitternd,»was habt Ihr nur?«
Ich begreife nichts.»Wie komme ich denn hierher?«frage ich mit rauher Stimme.
«Aber Lehrer — wacht doch auf — Ihr habt geträumt.«
«Geträumt«, sage ich,»das soll ich geträumt haben?«Und auf einmal lache ich, lache, daß es mich schüttelt, daß es mir wehtut, lache…
Aber plötzlich zerbirst das Lachen in mir.»Es war der englische Hauptmann«, flüsterte ich —»der von damals. —«
Der Knecht reibt sich seinen abgeschürften Arm.»Sie haben geträumt, Lehrer, und sind aus dem Bett gefallen«, sagt er,»Sie hörten ja gar nichts und haben mich fast totgeschlagen. —«
Ich verstehe ihn nicht, ich bin grenzenlos schlapp und elend. Dann sehe ich den Stock in meiner Hand. Ich lege ihn weg und setze mich auf das Bett. Der Hund drängt sich an meine Knie.
«Geben Sie mir ein Glas Wasser, Mutter Schomaker«, sage ich,»und geht nur wieder zu Bett. —«
Aber ich lege mich nicht wieder nieder, sondern bleibe mit einer Decke am Tisch sitzen. Das Licht lasse ich brennen.
So hocke ich lange, still und mit abwesendem Blick, wie nur Soldaten sitzen können, wenn sie allein sind. Nach einiger Zeit werde ich unruhig und habe das Gefühl, als wäre noch jemand im Zimmer. Ich spüre, wie langsam, ohne daß ich mich rühre, wieder Blick und Sehen in meine Augen kommen. Als ich die Lider etwas hebe, bemerke ich, daß ich gerade gegenüber vom Spiegel sitze, der über dem kleinen Waschtisch hängt. Aus seinem etwas welligen Glas heraus blickt mich ein Gesicht mit Schatten und schwarzen Augenhöhlen an. Mein Gesicht. —
Ich stehe auf, nehme den Spiegel herab und stelle ihn in eine Ecke, mit dem Glas zur Wand.
Es wird Morgen. Ich gehe hinüber in meine Klasse. Die Kleinen sitzen mit gefalteten Händen da. In ihren großen Augen ist noch das ganze scheue Erstaunen der Kinderjahre. Sie sehen mich so vertrauensvoll und gläubig an, daß ich es plötzlich wie einen Schlag aufs Herz spüre. —
Hier stehe ich vor euch, einer der hunderttausend Bankrotteure, denen der Krieg jeden Glauben und fast alle Kraft zerschlug. — Hier stehe ich vor euch und empfinde, wieviel lebendiger und daseinsverbundener ihr seid als ich — hier stehe ich vor euch und soll euch nun Lehrer und Führer sein. Was soll ich euch denn lehren? Soll ich euch sagen, daß ihr in zwanzig Jahren ausgetrocknet und verkrüppelt seid, verkümmert in euren freiesten Trieben und unbarmherzig zu Dutzendware gepreßt? Soll ich euch erzählen, daß alle Bildung, alle Kultur und alle Wissenschaft nichts ist als grauenhafter Hohn, solange sich Menschen noch mit Gas, Eisen, Pulver und Feuer im Namen Gottes und der Menschheit bekriegen? Was soll ich euch denn lehren, ihr kleinen Geschöpfe — ihr, die ihr allein rein geblieben seid in diesen furchtbaren Jahren?
Was kann ich euch denn lehren? Soll ich euch sagen, wie man Handgranaten abreißt und gegen Menschen wirft? Soll ich euch zeigen, wie man jemand mit einem Seitengewehr ersticht, mit einem Kolben erschlägt, mit einem Spaten abschlachtet? Soll ich euch vormachen, wie man einen Gewehrlauf gegen ein so unbegreifliches Wunder wie eine atmende Brust, eine pulsierende Lunge, ein lebendiges Herz richtet? Soll ich euch erzählen, was eine Tetanuslähmung, ein zerrissenes Rückenmark, eine abgerissene Schädeldecke ist? Soll ich euch beschreiben, wie herumspritzendes Gehirn, wie zerfetzte Knochen, wie herausquellende Därme aussehen? Soll ich euch vormachen, wie man mit einem Bauchschuß stöhnt, mit einem Lungenschuß röchelt, mit einem Kopfschuß pfeift? Mehr weiß ich nicht! Mehr habe ich nicht gelernt!
Soll ich euch an die grüne und graue Landkarte drüben führen, mit dem Finger darüber fahren und euch sagen, daß hier die Liebe ermordet wurde? Soll ich euch erklären, daß die Bücher, die ihr in Händen haltet, Netze sind, mit denen man eure arglosen Seelen in das Gestrüpp der Phrasen und in die Drahtverhaue der gefälschten Begriffe lockt?
Da stehe ich vor euch, ein Befleckter, ein Schuldiger, und müßte euch bitten: bleibt wie ihr seid und laßt das warme Licht der Kindheit nicht zur Stichflamme des Hasses mißbrauchen! Um eure Stirnen ist noch der Hauch der Unschuld — wie kann ich euch da lehren wollen! Hinter mir jagen noch die blutigen Schatten der Vergangenheit — wie kann ich mich da zwischen euch wagen? Muß ich nicht selbst erst wieder ein Mensch werden?
Ich fühle, wie ein Krampf sich in mir ausbreitet, als würde ich zu Stein und müßte bröckelnd zerfallen. Langsam lasse ich mich in den Stuhl sinken und begreife, daß ich nicht mehr hier bleiben kann. Ich versuche, etwas zu erfassen, aber ich kann es nicht. Erst nach einiger Zeit, die mir endlos erscheint, löst sich die Starre. Ich stehe auf.»Kinder«, sage ich mit Mühe,»ihr könnt gehen. Heute ist schulfrei.«
Die Kleinen sehen mich an, ob ich auch keinen Scherz mache. Ich nicke noch einmal.»Ja, es ist wahr — geht spielen heute — den ganzen Tag — geht spielen in den Wald — oder mit euren Hunden und Katzen — ihr braucht erst morgen wiederzukommen. —«
Da werfen sie klappernd die Federkästen in die Tornister und drängen zwitschernd und atemlos hinaus.
Ich packe meine Sachen und gehe zum Nachbardorf, um mich von Willy zu verabschieden. Er lehnt in Hemdsärmeln am Fenster und übt auf der Geige.»Alles neu macht der Mai«. Auf dem Tisch steht ein reichhaltiges Essen.
«Mein drittes heute«, erklärt er befriedigt,»ich habe gemerkt, daß ich auf Vorrat fressen kann wie ein Kamel.«
Ich sage ihm, daß ich heute abend wieder abreisen will. Willy ist kein Mann, der lange fragt.»Ich will dir was sagen, Ernst«, meint er nachdenklich,»langweilig ist es hier ja — aber solange ich solches Futter habe«, er zeigt auf den Tisch,»kriegen mich keine zehn Pferde aus dem Pestalozzistall wieder heraus.«
Damit holt er einen Kasten Flaschenbier unter dem Sofa hervor.»Starkstrom«, schmunzelt er und hält das Etikett gegen die Lampe.
Ich sehe ihn lange an.»Mensch, Willy, ich wollte, ich wäre wie du!«sage ich dann.
«Das glaube ich«, schmunzelt er und läßt einen Flaschenverschluß knallen.
Als ich zum Bahnhof gehe, kommen aus dem Nachbarhaus ein paar Mädchen mit verschmierten Mäulchen und wippenden Haarschleifen angelaufen. Sie haben gerade im Garten einen toten Maulwurf begraben und für ihn gebetet. Jetzt knixen sie und halten mir die Hände hin.»Wiedersehen, Herr Lehrer.«