Sechster Teil

I

«Ernst, ich muß mit dir sprechen«, sagt mein Vater.

Ich kann mir schon vorstellen, was kommt. Seit Tagen geht er mit sorgenvoller Miene umher und macht Andeutungen. Aber ich bin ihm bislang immer entwischt, denn ich bin selten zu Hause.

Wir gehen in mein Zimmer. Er setzt sich ins Sofa und sieht bekümmert drein.»Wir machen uns Gedanken um deine Zukunft, Ernst. «Ich hole eine Kiste Zigarren aus dem Bücherbord und biete sie ihm an. Sein Gesicht erhellt sich etwas, denn die Zigarre ist gut — ich habe sie von Karl bekommen, und Karl raucht kein Buchenlaub.

«Hast du wirklich deine Stelle als Lehrer aufgegeben?«fragt er.

Ich nicke.

«Warum hast du das nur getan?«

Ich zucke die Achseln. Wie soll ich ihm das bloß erklären? Wir sind zwei völlig verschiedene Menschen und haben uns nur deshalb bis jetzt ganz gut verstanden, weil wir uns überhaupt nicht verstanden haben.

«Und was soll nun werden?«fragt er weiter.

«Irgend etwas«, sage ich,»das ist doch egal.«

Er blickt mich erschreckt an und beginnt dann von einem guten, geachteten Beruf, von Vorwärtskommen und einem Platz im Leben zu reden. Ich höre ihm gerührt und gelangweilt zu und denke daran, wie sonderbar es ist, daß dieser Mann im Sofa mein Vater ist, der früher über mein Dasein bestimmte. Aber er hat mich nicht schützen können in den Jahren draußen, er konnte mir nicht einmal helfen in der Kaserne, jeder Unteroffizier war dort stärker als er. Ich habe alles allein durchmachen müssen, und es war ganz gleichgültig, ob er existierte oder nicht.

Als er geendet hat, schenke ich ihm einen Kognak ein.»Sieh mal, Vater«, sage ich und setze mich zu ihm,»du magst recht haben. Aber ich habe gelernt, in einer Erdhöhle zu hausen, mit einem Kanten Brot und einer dünnen Suppe. Und wenn mal gerade nicht geschossen wurde, war ich schon zufrieden. Eine alte Baracke erschien mir bereits als Luxus, und ein Strohsack im Ruhequartier war das Paradies. Da mußt du begreifen, daß die Tatsache, daß ich lebe und daß nicht mehr geschossen wird, mir einstweilen genügt. Das bißchen Essen und Trinken, das ich brauche, werde ich wohl zusammenbekommen, und für alles andere habe ich ja mein ganzes Leben lang noch Zeit.«

«Ja, aber«, erwidert er,»das ist doch kein Leben, so ins Blaue hinein…«

«Je nachdem«, sage ich,»ich finde, es ist kein Leben, wenn ich später einmal sagen kann, daß ich dreißig Jahre lang täglich in dasselbe Schulzimmer oder dasselbe Büro gegangen bin.«

Verwundert antwortete er:»Ich gehe jetzt seit zwanzig Jahren zur Kartonagenfabrik und habe es immerhin dazu gebracht, daß ich selbständiger Meister bin.«

«Ich will es ja zu nichts bringen, Vater, ich will nur leben.«

«Ich habe auch rechtschaffen gelebt«, sagt er mit einem Anflug von Stolz,»ich bin nicht umsonst zum Mitglied der Handwerkskammer gewählt worden.«

«Sei froh, daß du es so einfach gehabt hast«, entgegne ich.

«Aber du mußt doch etwas werden«, klagt er.

«Ich kann vorläufig im Geschäft eines Kriegskameraden arbeiten, er hat es mir angeboten«, sage ich, um ihn zu beruhigen,»da verdiene ich soviel, wie ich brauche.«

Er schüttelt den Kopf.»Und dafür gibst du die schöne Beamtenstellung auf?«

«Ich habe schon oft was aufgeben müssen, Vater.«

Er zieht bekümmert an seiner Zigarre.»Und du warst sogar pensionsberechtigt.«

«Ach«, sage ich,»wer wird denn von uns Soldaten sechzig Jahre alt? Wir haben soviel in den Knochen, das sich erst später zeigen wird — wir schrammen bestimmt früher ab. «Ich kann mir mit dem besten Willen nicht vorstellen, daß ich sechzig Jahre alt werde. Ich habe zu viele Menschen mit zwanzig sterben sehen. Nachdenklich rauche ich und betrachte meinen Vater. Ich empfinde immer noch, daß er mein Vater ist — doch er ist außerdem noch ein lieber, älterer Mann, vorsichtig und pedantisch, dessen Ansichten für mich keinerlei Bedeutung mehr haben. Ich kann mir gut vorstellen, wie er im Felde gewesen wäre; man hätte immer etwas auf ihn aufpassen müssen, und Unteroffizier wäre er sicher nie geworden.

Nachmittags besuche ich Ludwig. Er sitzt unter einem Haufen Broschüren und Bücher. Ich möchte gern mit ihm über vieles reden, was mir am Herzen liegt, denn ich habe das Gefühl, daß er mir vielleicht einen Weg zeigen kann. Aber er ist heute selber unruhig und erregt.

Wir reden eine Weile belangloses Zeug hin und her, dann sagt er:»Ich muß jetzt zum Arzt.«

«Noch immer wegen der Ruhr?«frage ich.

«Nein — wegen was anderem.«

«Was hast du denn noch, Ludwig?«frage ich verwundert. Er schweigt eine Weile. Seine Lippen zittern. Dann sagt er:

«Ich weiß es nicht.«

«Soll ich mitgehen? Ich habe sowieso nichts vor.«

Er sucht nach seiner Mütze.»Ja, komm nur mit.«

Unterwegs sieht er mich manchmal verstohlen von der Seite an. Er ist seltsam gedrückt und schweigsam. Wir biegen in die Lindenstraße und gehen in ein Haus, das einen kleinen, trostlosen Vorgarten mit Sträuchern hat. Ich lese das weiße Emailleschild an der Tür: Dr. med. Friedrich Schultz, Spezialarzt für Haut-, Harn- und Geschlechtskrankheiten, und bleibe stehen.»Was ist denn los, Ludwig?«

Er sicht mich blaß an.»Noch nichts, Ernst. Hab da mal so ein Geschwür gehabt. Und jetzt ist was wiedergekommen.«

«Wenn's weiter nichts ist, Ludwig«, sage ich erleichtert,»was habe ich schon für Furunkel gehabt! Wie Kinderköppe. Das kommt von dem Ersatzfraß.«

Wir klingeln. Eine Schwester in weißer Tracht macht uns auf. Wir sind beide ungeheuer verlegen und gehen mit roten Köpfen ins Wartezimmer. Dort sind wir gottlob allein. Ein Stoß Hefte von der» Woche «liegt auf dem Tisch. Wir blättern darin. Sie sind ziemlich alt. Man ist da gerade beim Frieden von Brest-Litowsk.

Der Arzt kommt herein. Seine Brille funkelt. Die Tür zum Sprechzimmer bleibt hinter ihm halboffen stehen. Ein Stuhl aus Nickelröhren und Leder ist darin zu sehen, beklemmend praktisch und peinlich.

Komisch, daß so viele Ärzte eine Vorliebe haben, die Patienten wie kleine Kinder zu behandeln. Bei Zahnklempnern gehört das ja direkt zum Studium, aber auch diese Sorte hier scheint so zu sein.

«Na, Herr Breyer«, schäkert die Brillenschlange,»ein bißchen befreunden müssen wir uns ja nun demnächst.«

Ludwig steht wie ein Gespenst und würgt.»Ist es.. «

Der Arzt nickt aufmunternd.»Ja, die Blutprobe ist zurück. Positiv. Jetzt werden wir dem Gesindel mal kräftig zuleibe gehen.«

«Positiv«, stammelt Ludwig,»daß heißt also…«

«Ja«, sagt der Arzt,»wir müssen eine kleine Kur machen.«

«Das heißt also, daß ich Syphilis habe?«

«Ja.«

Ein Brummer summt durch das Zimmer und bumst gegen das Fenster. Die Zeit stockt. Quallig klebt die Luft zwischen den Wänden. Die Welt hat sich verändert. Eine furchtbare Angst ist zu einer furchtbaren Gewißheit geworden.

«Kann es nicht ein Irrtum sein?«fragt Ludwig,»kann man nicht eine zweite Blutprobe machen?«

Der Arzt schüttelt den Kopf.»Es ist besser, bald mit der Kur anzufangen. Das Stadium ist sekundär.«

Ludwig schluckt.»Ist es heilbar?«

Der Arzt belebt sich. Sein Gesicht ist geradezu fröhlich vor Vertrauen.»Aber durchaus. Hier diese Röhrchen, ein halbes Jahr zunächst einmal eingespritzt. Dann werden wir weitersehen. Vielleicht ist dann schon kaum noch etwas nötig. Lues ist heute heilbar.«

Lues — scheußliches Wort, das klingt, als wäre es eine dünne, schwarze Schlange.

«Haben Sie es im Felde bekommen?«fragt der Arzt. Ludwig nickt.»Warum haben Sie es nicht gleich behandeln lassen?«

«Ich habe nicht gewußt, was es war. Man hat uns früher ja nie etwas von diesen Dingen gesagt. Es kam auch erst viel später und sah harmlos aus. Dann ging es von selbst wieder weg.«

Der Arzt schüttelt den Kopf.»Ja, das ist die Kehrseite der Medaille«, sagt er leichthin.

Ich möchte ihm am liebsten einen Stuhl an den Schädel knallen. Was ahnt der denn davon, wie das ist, wenn man drei Tage Urlaub nach Brüssel hat und aus Trichtern, Kotzen, Dreck und Blut mit dem Abendzug ankommt in einer Stadt mit Straßen, Laternen, Lichtern, Läden und Frauen, mit richtigen Hotelzimmern und weißen Badewannen, in denen man planschen und den Schmutz abscheuern kann, mit leiser Musik, Terrassen und kühlem, schwerem Wein, was ahnt der denn von dem Zauber, den der blaue Dunst der Dämmerung schon hat in so einem schmalen Augenblick zwischen Grauen und Grauen; wie ein Riß in den Wolken ist das, wie ein wilder Aufschrei des Lebens in der kurzen Pause zwischen Tod und Tod. Wer weiß, ob man nicht in ein paar Tagen schon im Drahtverhau mit zerrissenen Knochen hängt und brüllt, verdurstet, verreckt. — Noch einen Schluck von dem schweren Wein, noch einen Atemzug und einen Blick in diese unwirkliche Welt der gleitenden Farben, der Träume, der Frauen und des erregenden Flüsterns, der Worte, unter denen das Blut wie eine schwarze Fontäne wird, unter denen Jahre des Drecks, der Wut und der Holfnungslosigkeit zerschmelzen und zu einem süßen, singenden Wirbel von Erinnerung und Hoffnung werden.

Morgen rast der Tod wieder heran mit Geschützen, Handgranaten, Flammenwerfern, Blut und Vernichtung — aber heute noch ist diese sanfte Haut da, sie duftet und ruft wie das Leben selbst, sie lockt unfaßbar, verwirrende Schatten im Nacken, weiche Arme, es knistert und blitzt und stürzt und strömt, der Himmel brennt. — Wer denkt da noch daran, daß in diesem Flüstern und Locken, diesem Duft, dieser Haut das andere liegen kann, lauernd, verborgen, schleichend, wartend: Lues — wer weiß es, und wer will es wissen, wer denkt überhaupt weiter als über das Heute hinaus — morgen ist vielleicht alles schon vorbei — verdammter Krieg, der uns lehrte, nur den Augenblick zu sehen und zu nehmen.

«Und nun?«fragt Ludwig.

«So bald wie möglich anfangen.«

«Dann jetzt«, sagt Ludwig ruhig. Er geht mit dem Arzt in das Sprechzimmer.

Ich bleibe im Wartezimmer und zerreiße ein paar Hefte von der» Woche«, in denen es nur so flimmert von Paraden, Siegen und markigen Worten kriegsbegeisterter Pastöre.

Ludwig kommt zurück. Ich flüstere ihm zu:»Geh noch einmal zu einem anderen Arzt, der hier kann bestimmt nichts. Keine Ahnung hat der. «Er macht eine müde Geste, und wir gehen schweigend die Treppen hinunter. Unten sagt er plötzlich, mit abgewandtem Gesicht:»Auf Wiedersehen dann. —«

Ich sehe auf. Er lehnt am Geländer und hält krampfhaft die Hände in den Taschen.

«Was ist denn?«frage ich erschrocken.

«Ich will jetzt gehen«, antwortet er.

«Dann gib mir wenigstens die Pfote«, sage ich verwundert. Mit zuckendem Mund erwidert er:»Magst mich doch wohl nicht mehr anfassen, jetzt. —«

Scheu und schmal steht er am Geländer, in derselben Haltung, in der er immer an der Grabenböschung lehnte, mit traurigem Gesicht und gesenkten Augen. — »Ach Ludwig, Ludwig, was machen sie hier bloß mit uns — ich dich nicht anfassen, du Kaffer du, du dummes Luder, da faß ich dich an, hundertmal faß ich dich an — «, es stößt mich nur so, verflucht, jetzt heule ich sogar, ich Esel, und nehme ihn um die Schulter und presse ihn an mich und fühle, wie er bebt —,»ach Ludwig, das ist ja alles Quatsch, und vielleicht habe ich sie sogar auch, nun sei doch stille, das kriegt die Brillenschlange da oben ja schon alles wieder zurecht«— und er bebt und bebt, und ich halte ihn fest.

II

Für den Nachmittag sind in der Stadt Demonstrationen angesagt. Seit Monaten steigen überall die Preise, und die Not ist größer als im Krieg geworden. Die Löhne reichen nicht aus, um das Notwendigste zu beschaffen, und selbst wenn man Geld hat, kann man oft nicht einmal etwas dafür kaufen. Aber immer mehr Likörstuben und Tanzlokale erstehen, und immer stärker wird das Schiebertum und der Betrug.

Vereinzelte Gruppen von streikenden Arbeitern ziehen durch die Straße. Ab und zu entsteht ein Auflauf. Es heißt, daß Militär in den Kasernen zusammengezogen worden sein soll. Aber davon ist noch nichts zu sehen.

Hoch- und Niederrufe erschallen. An einer Straßenecke redet jemand. Doch dann schweigt plötzlich alles. —

Langsam kommt ein Zug Menschen heran in den verblichenen Uniformen der Front. Er ist gruppenweise formiert, immer zu vieren nebeneinander. Große Schilder werden vorangetragen:»Wo bleibt der Dank des Vaterlandes?«—»Die Kriegskrüppel hungern.«

Es sind Einarmige, die diese Schilder tragen. Sie schauen sich oft um, ob der Zug auch richtig hinter ihnen herkommt. Denn sie sind die schnellsten.

Ihnen folgen Leute mit Schäferhunden an kurzen Lederriemen. Die Tiere tragen das rote Blindenkreuz auf dem Geschirr. Aufmerksam gehen sie neben ihren Herren her. Stockt der Zug, so setzen sie sich sofort, und die Blinden bleiben stehen. Manchmal stürzen Hunde von der Straße kläffend und schweifwedelnd in den Zug hinein, um mit ihnen zu spielen und zu balgen. Sie aber wenden nur den Kopf und kümmern sich nicht um das Schnuppern und Bellen. Wohl sind ihre Ohren noch straff, aufmerksam gespitzt, und lebhaft die Augen; aber sie gehen, als wollten sie nie mehr laufen und springen, als begriffen sie, wofür sie da sind. Sie unterscheiden sich von ihren Genossen wie barmherzige Schwestern von fröhlichen Ladenmädchen. Die ändern Hunde versuchen es auch nicht lange; nach wenigen Minuten lassen sie ab und trollen sich so eilig, daß es aussieht, als flüchteten sie vor etwas. Nur ein mächtiger Fleischerhund bleibt stehen und bellt, mit breit auseinandergestellten Vorderbeinen, langsam, tief und klagend, bis der Zug an ihm vorüber ist. —

Es ist sonderbar — diese Menschen sind alle blindgeschossen; sie bewegen sich deshalb anders als Blindgeborene. Sie sind ungestümer und gleichzeitig vorsichtiger in den Gesten, die noch nicht die Sicherheit vieler dunkler Jahre haben. In ihnen lebt noch die Erinnerung an Farben, Himmel, Erde und Dämmerung. Sie bewegen sich noch so, als ob sie Augen hätten, unwillkürlich heben und wenden sie die Köpfe, um den anzusehen, der mit ihnen spricht. Manche tragen schwarze Klappen oder Binden auf den Augen, die meisten aber gehen ohne sie, als ob sie dadurch den Farben und dem Licht noch ein wenig näher wären. Das blasse Abendrot schimmert hinter ihren gesenkten Köpfen. In den Schaufenstern beginnen die ersten Lampen zu brennen. Sie aber spüren kaum die milde und zärtliche Luft des Abends an ihren Stirnen — mit ihren groben Stiefeln gehen sie langsam durch die ewige Dunkelheit, die um sie wie eine Wolke gebreitet ist, und zähe und trübe klettern ihre Gedanken die geringen Ziffern auf und ab, die für sie Brot, Versorgung und Leben sein sollen und doch nicht sein können. Träge rühren sich Hunger und Not in den erloschenen Kammern ihres Gehirns. Hilflos und voll dumpfer Angst fühlen sie ihre Nähe und können sie doch nicht sehen und nichts anderes gegen sie tun, als gemeinsam langsam durch die Straßen zu gehen und die toten Gesichter aus der Dunkelheit ins Licht zu heben mit der stummen Bitte an die ändern, die noch sehen können, doch zu sehen.

Hinter den Blinden kommen die Einäugigen, die zerfetzten Gesichter der Kopfverletzten, schiefe, wulstige Münder, Köpfe ohne Nasen und ohne Unterkiefer, einzige große rote Narben die ganzen Gesichter, mit ein paar Löchern darin, wo früher Mund und Nase waren. Über dieser Verwüstung aber stille, fragende, traurige Menschenaugen.

Ihnen folgen die langen Reihen der Beinamputierten. Viele haben schon die künstlichen Glieder, die schräg vorwärtsschnellen beim Gehen und klirrend auf dem Pflaster aufsetzen, als sei auch der ganze Mensch künstlich, aus Eisen mit Scharnieren.

Dann kommen die Schüttler. Ihre Hände, ihre Köpfe, ihre Anzüge, ihre Körper beben, als zitterten sie immer noch vor Grauen. Sie haben keine Gewalt mehr darüber, ihr Wille ist ausgelöscht, die Muskeln und Nerven haben sich gegen das Gehirn empört, die Augen sind stumpf und ohnmächtig geworden.

Einäugige und Einarmige schieben in kleinen Korbwagen mit Wachstuchdecken die Schwerverletzten, die nur noch im Rollstuhl leben können. Zwischen ihnen ziehen einige einen flachen Handwagen, wie ihn Tischler zum Transportieren von Bettstellen und Särgen verwenden. Darauf sitzt ein Rumpf. Die Beine fehlen vollständig. Es ist der Oberkörper eines kräftigen Mannes, sonst nichts.

Er hat einen stämmigen Nacken und ein breites, braves Gesicht mit einem starken Schnurrbart. Er könnte Möbelpacker gewesen sein. Neben sich hat er ein Schild stehen, mit schiefen Buchstaben, die er wohl selbst gemalt hat.»Ich möchte auch lieber gehen, Kamerad. «Mit ernstem Gesicht sitzt der Mann da; nur manchmal stützt er die Arme auf und schwingt sich ein Stück weiter auf dem Wagen, um anders zu sitzen.

Der Zug zieht langsam durch die Straßen. Wo er vorbeikommt, wird es still. Einmal muß er lange halten, an der Ecke der Hakenstraße. Dort wird ein großes neues Tanzlokal errichtet, und die Straße ist von Sandhaufen, Zementwagen und Gerüsten versperrt. Zwischen den Gerüsten über dem Türeingang flammt bereits in roter Leuchtschrift der Name: Astoria, Diele und Likörstube. Der Wagen mit dem Rumpf steht gerade darunter und wartet, bis ein paar eiserne Stangen fortgebracht werden. Die dunkle Glut des Schildes übergießt ihn tmd färbt das Gesicht, das schweigend zusieht, düsterrot, als schwölle es zu einer furchtbaren Leidenschaft an und würde gleich als ein entsetzlicher Schrei zerspringen.

Dann aber geht der Zug weiter, und es ist wieder nur das Gesicht des Möbelpackers, blaß vom Lazarett, im blassen Abend, das dankbar lächelt, als ein Kamerad ihm eine Zigarette zwischen die Lippen schiebt. Still ziehen die Gruppen durch die Straßen, ohne Rufe, ohne Empörung, gefaßt, nur eine Klage, keine Anklage — sie wissen, wer nicht mehr schießen kann, hat nicht allzuviel Hilfe zu erwarten. Sie werden zum Rathaus gehen und eine Weile dort stehen, irgendein Sekretär wird etwas zu ihnen sprechen, dann werden sie sich auf- lösen und einzeln in ihre Zimmer zurückkehren, in ihre engen Wohnungen, zu ihren blassen Kindern und der grauen Not, ohne viel Hoffnung — Gefangene des Schicksals, das andere für sie entfachten. —

Je später es wird, desto unruhiger wird die Stadt. Ich gehe mit Albert durch die Straßen. An allen Ecken stehen Gruppen von Menschen. Gerüchte schwirren umher. Das Militär soll bereits mit einem Zug demonstrierender Arbeiter zusammengestoßen sein.

Aus der Gegend der Marienkirche flattern plötzlich Gewehrschüsse auf; erst vereinzelt, dann eine ganze Salve. Albert und ich sehen uns an; dann gehen wir ohne ein Wort los, der Richtung der Schüsse nach.

Immer mehr Leute kommen uns entgegengelaufen.»Holt Waffen, die Aasbande schießt!«schreien sie. Wir gehen schneller. Wir winden uns zwischen den Gruppen durch, wir schieben uns weiter, jetzt laufen wir schon — eine harte, gefährliche Erregung treibt uns vorwärts. Wir keuchen. Das Knattern verstärkt sich.»Ludwig!«rufe ich.

Er rennt neben uns. Seine Lippen sind zusammengepreßt, die Kieferknochen stehen vor, die Augen sind kalt und gespannt — er hat das Gesicht des Schützengrabens wieder. Albert auch. Ich auch. Wir laufen hinter den Gewehrschüssen her wie hinter einem unheimlich zerrenden Signal.

Schreiend weicht vor uns die Menge zurück. Wir wühlen uns hindurch. Frauen halten sich die Schürzen vor die Augen und stürzen fort. Ein Gebrüll der Wut steigt auf. Man schleppt einen Verwundeten weg.

Wir kommen zum Marktplatz. Dort hat sich die Reichswehr am Rathaus festgesetzt. Fahl blinken die Stahlhelme. Vor der Freitreppe steht ein schußfertiges Maschinengewehr. Der Platz ist leer — nur in den Straßen, die darauf münden, stauen sich die Menschen. Es wäre Wahnsinn, weiter vorzugehen. Das M. G. beherrscht den Platz.

Aber einer geht vor, ganz allein. Hinter ihm kocht die Masse aus den Straßenschläuchen hervor, brodelt um die Häuser herum und schiebt sich schwarz zusammen.

Der Mann aber ist weit voraus. In der Mitte des Platzes tritt er aus dem Schatten, den die Kirche wirft, in den Mondschein hinaus. Eine klare, scharfe Stimme ruft:»Zurück!«

Der Mann hebt die Hände. Der Mond ist so stark, daß man im dunklen Loch des Mundes weiß die Zähne blitzen sieht, als der Mann zu sprechen beginnt.»Kameraden! — «Es wird still.

Seine Stimme ist allein zwischen der Kirche, dem Massiv des Rathauses und den Schatten, sie ist allein auf dem Platze, eine flatternde Taube.»Kameraden, legt die Waffen fort! Wollt ihr auf eure Brüder schießen? Legt die Waffen fort und kommt zu uns!«Nie war der Mond so hell. Wie Kreide sind die Uniformen an der Rathaustreppe. Die Fenster schimmern. Die bestrahlte Hälfte des Kirchturms ist ein Spiegel aus grüner Seide. Die steinernen Ritter am Tor springen mit Helmen und Visieren flimmernd aus der Schattenwand.

«Zurück, oder es wird geschossen!«kommt kalt der Befehl von vorhin. Ich blicke mich nach Ludwig und Albert um. Das war unser Kompanieführer! Das war die Stimme Heels! Eine würgende Spannung erfaßt mich, als müßte ich einer Hinrichtung zusehen. Ich weiß: Heel wird schießen lassen.

Die dunkle Menschenmasse bewegt sich im Schatten der Häuser, sie schwankt und murmelt. Eine Ewigkeit vergeht. Dann lösen sich zwei Soldaten mit Gewehren von der Treppe und gehen auf den einzelnen in der Mitte los. Es scheint unendlich lange zu dauern, bis sie heran sind, sie scheinen in grauem Morast auf der Stelle zu treten, glitzernde Stoffpuppen mit schußfertig gesenkten Gewehren. Der Mann erwartet sie ruhig. Als sie heran sind, sagt er wieder:»Kameraden.. «

Sie greifen ihm unter die Arme und reißen ihn vorwärts. Der Mann wehrt sich nicht. Sie zerren ihn so schnell weiter, daß er stolpert. Da gellen Schreie von hinten, die Masse gerät in Bewegung, eine Straße geht langsam, unregelmäßig vor. Die helle Stimme kommandiert:»Schnell zurück mit ihm! Ich lasse feuern!«Eine Schrecksalve knattert in die Luft. Der Mann reißt sich plötzlich los, aber er rettet sich nicht, er rennt schräg auf das Maschinengewehr los.»Nicht schießen, Kameraden!«

Noch ist nichts passiert, aber als die Menge den Mann ohne Waffen weiterlaufen sieht, rückt sie ebenfalls wieder vor. Sie wogt in einem schmalen Ausläufer an der Kirche entlang. Im nächsten Augenblick fliegt ein Kommando über den Platz, donnernd bricht sich das Tack- tack des Maschinengewehrs in vielfachem Echo von den Häusern, und pfeifend und splitternd schlagen die Kugeln auf das Pflaster.

Wir haben uns blitzschnell hinter einen Häuservorsprung geworfen. Eine lähmende, hundsgemeine Angst hat mich im ersten Augenblick überfallen, ganz anders als je im Felde. Dann verwandelt sie sich in Wut. Ich habe den einzelnen Mann noch gesehen, wie er sich umdrehte und vornüber fiel. Vorsichtig luge ich um die Ecke. Jetzt versucht er gerade wieder, sich hochzurichten, aber es gelingt ihm nicht. Langsam knicken die Arme ein, der Kopf sinkt, und, als sei er unendlich müde, gleitet der Körper aufs Pflaster nieder — da löst sich der Knäuel in meiner Kehle:»Nein!«schreie ich,»Nein!«Grell steht der Ruf zwischen den Häuserwänden.

Da fühle ich mich beiseitegeschoben. Ludwig Breyer steht auf und geht über den Platz auf den dunklen Klumpen Tod zu.

«Ludwig!«rufe ich.

Aber er geht weiter — weiter. — Entsetzt starre ich ihm nach.»Zurück!«kommt wieder das Kommando von der Rathaustreppe. Ludwig bleibt einen Moment stehen.»Lassen Sie nur weiterschießen, Oberleutnant Heel!«ruft er zum Rathaus hinüber. Damit geht er vorwärts und beugt sich zu dem am Boden Liegenden herunter.

Wir sehen einen Offizier die Treppe verlassen. Ohne es recht zu wissen, stehen wir plötzlich neben Ludwig und erwarten den Kommenden, der als Waffe nur einen Spazierstock trägt. Er zaudert keinen Augenblick, obschon wir jetzt zu dritt sind und ihn wegschleppen könnten, wenn wir wollten, denn seine Soldaten würden nicht zu schießen wagen, aus Furcht, ihn treffen zu können.

Ludwig richtet sich auf.»Ich gratuliere Ihnen, Oberleutnant Heel. Der Mann ist tot.«

Ein Blutstreifen läuft unter dem Rock des Toten hervor und sickert in die Furchen zwischen den Pflastersteinen. Neben der rechten Hand, die dünn und gelb aus dem Ärmel gerutscht ist, sammelt er sich zu einer Blutlache, die sich schwarz im Mondlicht spiegelt.»Breyer«, sagt Heel.

«Wissen Sie, wer es ist?«fragt Ludwig.

Heel sieht ihn an und schüttelt den Kopf.

«Max Weil.«

«Ich habe ihn laufen lassen wollen«, sagt Heel nach einer Weile, fast nachdenklich.

«Er ist tot«, antwortet Ludwig.

Heel zuckt die Achseln.

«Es war unser Kamerad«, fährt Ludwig fort.

Heel antwortet nicht.

Ludwig sieht ihn kalt an.»Ein sauberes Handwerk!«

Da rührt Heel sich.»Darauf kommt es nicht an«, sagt er ruhig,»nur auf das Ziel, Ruhe und Ordnung.«

«Ziel — «, erwidert Ludwig verächtlich,»seit wann entschuldigen Sie sich? Ziel! Sie brauchen Beschäftigung — das ist alles. Ziehen Sie Ihre Leute zurück, damit nicht weitergeschossen wird!«

Heel macht eine ungeduldige Bewegung.»Meine Leute bleiben. Wenn sie zurückgingen, würden sie morgen von einem zehnfachen Trupp überfallen werden. Das wissen Sie doch selbst. In fünf Minuten besetze ich die Straßenmündungen. Bis dahin haben Sie Zeit, den Toten wegzubringen.«

«Packt an«, sagt Ludwig zu uns. Dann wendet er sich noch einmal zu Heel.»Wenn Sie jetzt abziehen, wird niemand Sie angreifen. Wenn Sie bleiben, wird es neue Tote geben. Durch Sie! Wissen Sie das?«

«Das weiß ich«, antwortet Heel kalt.

Eine Sekunde stehen wir uns noch gegenüber. Heel sieht uns der Reihe nach an. Es ist ein sonderbarer Moment. Etwas zerbricht.

Dann nehmen wir den nachgebenden Körper Max Weils und tragen ihn fort. Die Straßen sind wieder voll Menschen. Eine breite Gasse öffnet sich uns, als wir kommen. Schreie fliegen auf:»Noskehunde! Blutpolizei! Mörder!«Aus dem Rücken Max Weils tropft das Blut.

Wir bringen ihn in das nächste Haus. Es ist die Holländische Diele. Ein paar Sanitäter sind schon da und verbinden zwei Leute, die auf dem Tanzparkett liegen. Eine Frau mit blutiger Schürze stöhnt und will immerfort nach Hause. Sie haben Mühe, sie festzuhalten, bis eine Tragbahre geholt wird und ein Arzt kommt. Sie hat einen Bauchschuß. Neben ihr liegt ein Mann, der noch seine alte Militärjoppe anhat. Beide Knie sind ihm durchschossen worden. Seine Frau kniet bei ihm und jammert:»Er hat doch gar nichts getan! Er ist doch nur so vorbeigegangen! Ich habe ihm ja bloß sein Essen gebracht!«Sie zeigt auf den grauemaillierten Henkeltopf.»Nur sein Essen. —«

Die Tänzerinnen der Holländischen Diele haben sich in eine Ecke gedrückt. Der Geschäftsführer läuft aufgeregt hin und her und fragt, ob man die Verletzten nicht anderswo hinbringen könne. Sein Geschäft werde ruiniert, wenn es sich herumspräche. Kein Gast würde mehr tanzen wollen. Anton Demuth in seiner goldenen Portiersuniform hat eine Flasche Kognak geholt und hält sie dem Verwundeten an den Mund. Der Geschäftsführer sieht entsetzt zu und macht ihm Zeichen. Anton läßt sich nicht stören.»Glaubst du, daß ich die Beine behalte?«fragt der Verletzte,»ich bin Chauffeur!«

Die Tragbahren kommen. Draußen knattern wieder Schüsse. Wir springen auf. Johlen, Geschrei und das Klirren von Scheiben folgt. Wir laufen hinaus.»Reißt das Pflaster auf!«ruft jemand und haut eine Spitzhacke in die Steine. Matratzen werden herabgeworfen, Stühle, ein Kinderwagen. Vom Platz her blitzen Schüsse. Von den Dächern knallt es jetzt zurück.

«Laterne aus!«Ein Mann springt vor und wirft einen Backstein hinein. Sofort ist es dunkel.»Kosole!«ruft Albert. Er ist es. Valentin ist bei ihm. Wie ein Strudel haben die Schüsse alle herangezogen.»Ran, Ernst, Ludwig, Albert!«brüllt Kosole,»die Schweine schießen auf Frauen!«

Wir liegen in Haustüren, Schüsse peitschen, Menschen schreien, wir sind überschwemmt, mitgerissen, verwüstet, rasend vor Haß, Blut spritzt auf das Pflaster, wir sind wieder Soldaten, es hat uns wieder, krachend und tobend rauscht der Krieg über uns, zwischen uns, in uns — aus ist alles, die Kameradschaft durchlöchert mit Maschinengewehren, Soldaten schießen auf Soldaten, Kameraden auf Kameraden, zu Ende, zu Ende! —

III

Adolf Bethke hat sein Haus verkauft und ist in die Stadt gezogen.

Als er die Frau wieder bei sich aufgenommen hatte, ging alles eine Weile gut. Er tat seine Arbeit, sie tat die ihre, und es schien, als ob die Dinge in die Reihe kommen würden.

Doch das Dorf begann zu zischeln. Wenn die Frau abends über die Straße ging, wurde hinter ihr hergerufen; Burschen, die ihr begeg- neten, lachten ihr frech ins Gesicht; Weiber hielten sich mit deutlicher Geste die Röcke weg. Die Frau sagte nie etwas davon zu Adolf. Aber sie schwand dahin und wurde täglich blasser.

Adolf ging es ähnlich. Trat er in eine Kneipe, so verstummte das Gespräch — besuchte er jemanden, so empfing ihn verlegenes Schweigen — versteckte Fragen wagten sich allmählich hervor — im Suff kamen tölpische Anspielungen, und ein höhnisches Gelächter kollerte manchmal hinter ihm her. Er wußte nichts Rechtes dagegen zu tun; denn wozu sollte er dem ganzen Dorf Rede stehen über etwas, das allein seine Sache war und das nicht einmal der Pastor begriff, der ihn mißmutig hinter seinen goldenen Brillengläsern hervor musterte, wenn er an ihm vorüberging. Es quälte ihn; aber auch Adolf sprach nie mit seiner Frau darüber. So lebten sie eine Zeitlang nebeneinander her, bis die Meute sich an einem Sonntagabend weiter hervorwagte und der Frau in Gegenwart Adolfs etwas zugerufen wurde. Adolf fuhr hoch. Doch sie legte ihm die Hand auf den Arm.»Laß doch, das tun sie so oft, daß ich es schon gar nicht mehr höre.«

«Oft?«— Mit einem Male begriff er, weshalb sie so still geworden war. Wütend sprang er auf, um sich einen der Schreier zu greifen. Aber sie verschwanden hinter den zusammengeschobenen Rücken ihrer Genossen.

Sie gingen nach Hause und legten sich schweigend zu Bett. Adolf starrte vor sich hin. Da hörte er einen leisen, unterdrückten Laut. Die Frau weinte unter ihrer Bettdecke. Vielleicht hatte sie schon oft so gelegen, während er schlief.»Sei ruhig, Marie«, sagte er leise,»wenn sie auch alle reden. «Aber sie weinte weiter. Er fühlte sich hilflos und allein. Das Dunkel stand feindlich hinter den Fenstern, und die Bäume rauschten wie alte Klatschweiber. Vorsichtig legte er die Hand auf die Schulter der Frau. Sie sah ihn mit tränenvollem Gesicht an.»Adolf, laß mich Weggehen, dann hören sie auf damit. —«

Sie stand auf, die Kerze brannte noch, ihr Schatten schwankte groß durch den Raum, er glitt über die Wände, und sie war klein und schwach dagegen in dem geringen Licht. So saß sie auf dem Bettrand und griff nach ihren Strümpfen und ihrer Bluse. Sonderbar und riesig griff der Schatten mit, wie ein lautloses Schicksal, das aus dem schwarzen Lauern draußen durch die Fenster hereingeschlichen war und nun grotesk, verzerrt und höhnisch kichernd alle Bewegungen mitmachte — gleich würde es seine Beute anfallen und sie hinausschleppen in das sausende Dunkel. Adolf sprang auf und riß die weißen Mullvorhänge vor die Fenster, als könne er das niedrige Zimmer dadurch absperren gegen die Nacht, die durch die schwarzen viereckigen Löcher mit gierigen Eulenaugen starrte.

Die Frau hatte die Strümpfe schon übergestreift und griff nach ihrem Leibchen. Da stand Adolf neben ihr.»Aber Marie — «Sie blickte auf und ließ die Hände sinken. Das Leibchen fiel zu Boden. Adolf sah den Jammer in ihren Augen, den Jammer der Kreatur, den Jammer eines geschlagenen Tieres, den ganzen trostlosen Jammer derer, die sich nicht wehren können. Er nahm die Frau um die Schulter. Wie weich und warm sie war, wie konnte man nur mit Steinen nach ihr werfen, hatten sie nicht beide guten Willen? Warum hetzte und jagte man sie so erbarmungslos? Er zog sie an sich, und sie gab nach, sie legte die Arme um seinen Hals und legte den Kopf an seine Brust. So standen sie beide fröstelnd in ihren Nachthemden da und fühlten einander und wollten einer sich an der Wärme des anderen erlösen, sie hockten sich auf den Bettrand und sprachen wenig, und als der Schatten vor ihnen wieder über die Wand zitterte, weil der Kerzendocht sich schräg legte und die Flamme verlöschen wollte, zog Adolf die Frau mit einer zarten Bewegung wieder in das Bett, das hieß: wir bleiben zusammen, wir wollen es wieder versuchen — und er sagte:»Wir gehen fort von hier, Marie. «Das war der Ausweg.

«Ja, Adolf, laß uns Weggehen!«Sie warf sich an ihn heran und weinte jetzt erst laut heraus. Er hielt sie fest und wiederholte immer wieder:»Morgen suchen wir einen Käufer — morgen gleich —. «Und in einem Wirbel von Vorsätzen, Hoffnung, Wut und Trauer nahm er sie, die Verzweiflung wurde zu Glut, bis sie verstummte und das Weinen schwächer wurde wie bei einem Kinde, und endlich erstarb zu Erschöpfung und friedlichem Atem. Die Kerze war verlöscht, die Schatten waren fort, die Frau schlief, aber Adolf lag noch lange wach in seinem Bett und grübelte. Spät in der Nacht erwachte die Frau und fühlte, daß sie die Strümpfe noch trug, die sie angezogen hatte, als sie fort wollte. Sie streifte sie ab und strich darüber hin, bevor sie sie auf den Stuhl neben ihrem Bett legte.

Zwei Tage später verkaufte Adolf Bethke sein Haus und seine Werkstatt. Er fand kurze Zeit darauf eine Tauschwohnung in der Stadt. Die Möbel wurden aufgeladen. Der Hund mußte zurückgelassen werden. Am schwersten aber war der Abschied von seinem Garten. Es war doch nicht leicht, so fortzugehen, und Adolf wußte nicht, was daraus noch werden sollte. Die Frau jedoch war willig und still.

Das Haus in der Stadt ist feucht und lichtlos, die Treppengeländer sind schmutzig und beschlagen vom Waschküchengeruch, die Luft dumpf von Nachbarnhaß und ungelüfteten Zimmern. Arbeit ist wenig da, um so mehr Zeit zum Grübeln. Die beiden werden nicht froh. Es ist, als ob ihnen alles gefolgt sei. Adolf hockt in der Küche und begreift nicht, daß es nicht anders werden will. Wenn sie sich abends gegenübersitzen, wenn sie Zeitungen gelesen, das Essen vom Tisch geräumt haben, dann steht wieder der Hohlraum der Schwermut um das Haus, und ihm wird schwindlig vom Horchen und Nachdenken. Die Frau macht sich zu schaffen, sie putzt den Herd, und wenn er sagt:»Komm, Marie«, so legt sie Lappen und Schmirgel weg und kommt, und wenn er sie herunterzieht und flüstert, erbärmlich allein:»Wir kriegen es schon«, dann nickt sie, aber sie bleibt still, sie ist nicht lustig, wie er es möchte. Er weiß nicht, daß es ebenso sehr an ihm liegt wie an ihr, daß sie sich auseinandergelebt haben in den vier Jahren, als sie nicht zusammen waren, und daß der eine den anderen jetzt bedrückt. Er fährt sie an:»So sprich doch was. «Sie erschrickt; und willfährig sagt sie etwas, was soll sie denn schon sagen, was passiert schon hier in diesem Hause, in ihrer Küche — und wenn es zwischen zwei Menschen erst so ist, daß sie sprechen sollen, dann werden sie nie genug sprechen können, um es in Ordnung zu bringen. Sprechen ist gut, wenn Glück dahinter steht, wenn es leicht und lebendig fließt, aber was sollen so wetterwendische und mißzuverstehende Dinge wie Worte schon helfen, wenn man im Unglück ist. Sie machen es nur noch schlimmer.

Adolf folgt den Bewegungen der Frau mit den Augen, und er sieht dahinter eine andere, junge, fröhliche, die Frau seiner Erinnerung, die er nicht vergessen kann. Der Argwohn flackert auf, und gereizt wirft er hin:»Denkst wohl immer noch an den Kerl, was?«Und als sie ihn groß ansieht und er sein Unrecht merkt, wühlt er gerade deshalb weiter:»Muß doch so sein, warst doch früher anders! Warum bist du denn wiedergekommen? Hättest ja bei ihm bleiben können!«Jedes Wort tut ihm selbst weh, aber wer schwiege darum! Er redet weiter, bis die Frau am Gossenstein in der Ecke steht, wo das Licht nicht hinfällt, und wieder weint, wie ein Kind, das sich verlaufen hat.

Ach, Kinder sind wir alle, verlaufene, törichte Kinder, und immer steht die Nacht um unser Haus.

Er hält es nicht aus, er geht fort und läuft ziellos durch die Straßen, er steht vor den Schaufenstern, ohne etwas zu sehen, er läuft dahin, wo es hell ist. Elektrische Bahnen klingeln, Autos pfeifen vorüber, Menschen stoßen ihn an, und unter dem gelben Lichthof der Laternen stehen die Huren. Sie wiegen die stämmigen Hintern, sie lachen und haken sich ein, er fragt:»Bist du lustig?«, und dann geht er mit ihnen, froh, etwas anderes zu sehen und zu hören. Aber nachher steht er wieder herum, nach Hause will er nicht, und nach Hause möchte er doch, er rennt durch die Kneipen und säuft sich voll.

So finde ich ihn und höre ihm zu und betrachte ihn, wie er mit trüben Augen dasitzt und Worte hervorstößt und trinkt: Adolf Bethke, der umsichtigste, beste Soldat, der treueste Kamerad, der vielen geholfen und so manche gerettet hat. Schutz und Trost, Mutter und Bruder oft für mich draußen, wenn die Leuchtschirme flatterten, und die Nerven von Angriff und Tod zerrissen waren — Seite an Seite haben wir geschlafen in den nassen Stollen, und er hat mich zugedeckt, als ich krank war, alles konnte er, immer wußte er Rat — hier aber hängt er im Drahtverhau und zerreißt sich Hände und Gesicht, und seine Augen sind schon trübe geworden. —

«Mensch, Ernst«, sagt er mit trostloser Stimme,»wären wir doch draußen geblieben — da waren wir wenigstens zusammen. «Ich antworte nicht — ich sehe nur meinen Ärmel an, auf dem ein paar rötlich verwaschene Blutflecken sitzen. Es ist das Blut von Weil, der auf Kommando von Heel erschossen wurde. So weit sind wir jetzt. Es ist wieder Krieg; aber die Kameradschaft ist nicht mehr.

IV

Tjaden feiert Hochzeit mit der Pferdemetzgerei. Das Geschäft hat sich zu einer wahren Goldgrube entwickelt und Tjadens Neigung zu Mariechen ist in gleichem Maße gewachsen.

Morgens fährt das Brautpaar in einer schwarz lackierten, mit weißer Seide ausgeschlagenen Kutsche zur Trauung, vierspännig natürlich, wie es für ein Unternehmen, das von Pferden lebt, gehört. Willy und Kosole sind als Trauzeugen bestimmt. Willy hat sich zu diesem feierlichen Anlaß ein Paar weiße Handschuhe aus echter Baumwolle gekauft. Das hat viel Mühe gekostet. Karl mußte zunächst ein halbes Dutzend Bezugscheine besorgen, und dann ging zwei Tage lang das Suchen los — denn kein Geschäft hatte Willys Größe vorrätig. Doch es hat sich gelohnt. Die kalkweißen Säcke, die er schließlich erwischt hat, wirken überwältigend zu dem frisch gefärbten Cut. Tjaden ist im Frack, Mariechen im Brautkleid mit Schleppe und Myrtenkranz. Kurz vor der Abfahrt zum Standesamt gibt es noch einen Zwischenfall. Kosole kommt an, sieht Tjaden im Frack und kriegt einen Lachkrampf. Kaum ist er einigermaßen wieder zu sich gekommen und wirft erneut einen Blick zur Seite, wo Tjadens abstehende Ohren über dem hohen Kragen schimmern, da geht es abermals los. Es hilft nichts, er würde mitten in der Kirche losbrüllen und die ganze Trauung gefährden — deshalb muß ich im letzten Moment als Trauzeuge einspringen.

Die ganze Pferdemetzgerei ist festlich geschmückt. Am Eingang stehen Blumen und junge Birken, und sogar der Schlächterraum hat eine Girlande aus Tannenreisern, auf denen Willy unter großem Beifall ein Schild» Herzlich Willkommen «anbringt.

Selbstverständlich gib es kein Stück Pferdefleisch bei Tisch; bestes Schweinefleisch dampft in den Schüsseln und ein riesiger Kalbsbraten steht aufgeschnitten vor uns.

Nach dem Kalbsbraten zieht Tjaden seinen Frack aus und legt den Kragen ab. Das ermöglicht Kosole, besser einzuhauen, denn bislang durfte er nicht zur Seite blicken, ohne sich der Gefahr eines Erstik- kungsanfalles auszusetzen. Wir folgen Tjadens Beispiel und es wird gemütlich.

Nachmittags verliest der Schwiegervater ein Dokument, das Tjaden zum Mitbesitzer der Schlächterei macht. Wir gratulieren ihm, und Willy trägt behutsam mit seinen weißen Handschuhen unser Hochzeitsgeschenk herein: ein Messingtablett mit einer Garnitur von zwölf geschliffenen Kristallschnapsgläsern. Dazu drei Flaschen Kognak aus Karls Beständen.

Abends kommt Ludwig einen Augenblick. Auf Tjadens dringende Bitte ist er in Uniform erschienen, denn Tjaden will seinen Leuten zeigen, daß er einen richtigen Leutnant zum Freunde hat. Aber er geht bald wieder. Wir ändern bleiben, bis nur noch Knochen und leere Flaschen auf dem Tische stehen.

Als wir endlich auf die Straße kommen, ist es Mitternacht. Albert macht den Vorschlag, noch ins Cafe Gräger zu gehen.

«Da ist ja längst alles zu«, sagt Willy.

«Wir können hintenrum reinkommen«, beharrt Albert,»Karl weiß Bescheid.«

Wir haben alle keine rechte Lust mehr. Doch Albert drängt so lange, bis wir endlich nachgeben. Ich bin verwundert darüber, denn sonst ist er immer der erste, der nach Hause will.

Obwohl bei Gräger vorn alles dunkel und still ist, geraten wir in einen mächtigen Betrieb, als wir hintenherum über den Hof hineinkommen. Gräger ist das Lokal der Schieber; da geht es fast jeden Tag bis morgens durch.

Ein Teil des Raumes besteht aus kleinen Kojen mit roten Samtvorhängen. Das ist die Weinabteilung. Die meisten Vorhänge sind zugezogen. Quietschen und Lachen ertönt dahinter hervor. Willy grinst von einem Ohr bis zum ändern.»Grägers Privatpuff.«

Wir nehmen weiter vorn Platz. Das Cafe ist voll besetzt. Rechts sind die Tische der Huren. Wo Geschäfte gedeihen, blüht die Lebensfreude. Deshalb sind zwölf Weiber hier nicht einmal zuviel. Allerdings haben sie Konkurrenz. Karl zeigt uns Frau Nickel, einen üppigen, schwarzen Feger. Ihr Mann ist nur ein kleiner Gelegenheitsschieber, der ohne sie verhungert wäre. Sie hilft ihm deshalb, indem sie mit seinen Geschäftspartnern gewöhnlich vorher ein Stunde allein in ihrer Wohnung verhandelt. An allen Tischen herrscht erregtes Hin und Her. Getuschel, Geflüster, Gezischei und Radau. Leute mit englischen Anzügen und neuen Hüten werden von anderen mit Joppen, ohne Kragen, in die Ecke gezogen, geheimnisvoll werden Päckchen und Proben aus den Taschen geholt, geprüft, zurückgewiesen, wieder angeboten, Notizbücher erscheinen, Bleistifte sind in Bewegung, ab und zu stürzt jemand zum Telefon oder nach draußen, und die Luft schwirrt nur so von Waggons, Kilos, Butter, Heringen, Speck, Ampullen, Dollars, Gulden, Aktiennamen und Zahlen. Dicht neben uns wird besonders eifrig über einen Waggon Kohle debattiert. Aber Karl macht nur eine abweisende Geste.»Das sind alles Luftgeschäfte. Der eine hat mal irgendwo etwas gehört, ein zweiter vermittelt weiter, ein dritter interessiert einen vierten, sie rennen herum und tun sich wichtig, aber es steckt fast nie etwas dahinter. Das sind nur Mitläufer, die gern eine Provision schnappen möchten. Die echten Schieberfürsten machen ihre Geschäfte höchstens mit ein bis zwei Mittelspersonen, die sie kennen. Da drüben der Dicke hat gestern zwei Waggons Eier in Polen gekauft. Die laufen jetzt angeblich nach Holland, werden unterwegs anders deklariert und kommen dann als frische holländische Trinkeier zum dreifachen Preis wieder zurück. Das da vorn sind Kokainhändler; sie verdienen natürlich kolossal. Links sitzt Diederichs; der handelt nur mit Speck. Auch sehr gut.«

«Wegen diesen Schweinen müssen wir nun Kohldampf schieben«, knurrt Willy.

«Das müßtest du ohne sie auch«, erwidert Karl.»Vorige Woche wurden noch zehn Faß Butter von Staats wegen verkauft, weil sie völlig verdorben waren durch das lange Stehen. Mit dem Getreide ist das ebenso. Bartscher hat neulich noch ein paar Fuder für ein paar Pfennige kaufen können, weil sie dem Staat in einem baufälligen Schuppen ganz verregnet und verpilzt waren.«

«Wie heißt der?«fragt Albert.

«Bartscher. Julius Bartscher.«

«Ist der öfter hier?«—

«Ich glaube wohl«, sagt Karl,»willst du mit ihm Geschäfte machen?«—

Albert schüttelt den Kopf.»Hat er Geld?«

«Wie Heu«, erwidert Karl mit einem gewissen Respekt.

«Seht mal, da kommt Arthur!«ruft Willy lachend.

Der kanariengelbe Gummimantel taucht in der Hintertür auf. Ein paar Leute stehen auf und stürzen auf ihn los. Ledderhose schiebt sie beiseite, grüßt gönnerhaft diesen und jenen und geht zwischen den Tischen weiter wie ein General. Erstaunt sehe ich, welch einen harten, unangenehmen Ausdruck sein Gesicht gekriegt hat, einen Ausdruck, der bleibt, auch wenn er lächelt.

Er begrüßt uns ziemlich von oben herab.»Setz dich, Arthur«, schmunzelt Willy. Ledderhose zögert, aber er kann der Versuchung nicht widerstehen, uns hier in seinem Reich mal zu zeigen, was für ein Kerl er geworden ist.

«Nur für einen Augenblick«, sagt er und nimmt den Stuhl von Albert, der gerade durchs Lokal streift, als suche er jemand. Ich will hinter ihm herlaufen, lasse es aber, weil ich glaube, daß er nur mal in den Hof muß. Ledderhose läßt Schnaps anfahren und beginnt, über zehntausend Militärstiefel und zwanzig Waggons Altmaterial mit einem Manne zu verhandeln, dessen Finger nur so blitzen von Diamanten. Ab und zu vergewissert Arthur sich durch einen Blick, ob wir auch zuhören.

Albert aber geht die Kojen entlang. Jemand hat ihm etwas erzählt, das er nicht glauben kann, und das ihm trotzdem den ganzen Tag wie ein Brett im Kopf sitzt. Als er durch den Spalt der vorletzten Koje späht, hat er das Gefühl, als ob ein riesiges Beil auf ihn heruntersause. Er taumelt eine Sekunde, dann reißt er den Vorhang beiseite.

Sektgläser stehen auf dem Tisch, ein Bukett Rosen liegt daneben, das Tischtuch ist verschoben und hängt halb auf dem Boden. Hinter dem Tisch kauert eine blonde Person in einem Sessel. Das Kleid ist heruntergestreift, das Haar zerzaust, die Brüste sind noch frei. Das Mädchen hat Albert den Rücken zugewandt, es summt einen Schlager und kämmt sich vor einem kleinen Spiegel.»Lucie«, sagt Albert heiser. Sie fährt herum und starrt ihn an wie ein Gespenst. Krampfhaft versucht sie zu lächeln, aber das Zucken ihres Gesichtes erstirbt, als sie sieht, wie Alberts Blick auf ihren nackten Brüsten haftet. Es gibt nichts mehr zu lügen. Angstvoll drückt sie sich hinter den Sessel.»Albert — ich habe keine Schuld — «, stammelt sie,»er — er ist es gewesen — «, und plötzlich plappert sie ganz schnell:»Er hat mich betrunken gemacht, Albert, ich habe es gar nicht gewollt, er hat mir immer mehr gegeben, ich habe von nichts mehr gewußt, ich schwöre es dir…«

«Was ist denn hier los?«fragt jemand hinter ihm. Bartscher ist vom Hof zurückgekehrt und wiegt sich in den Knien hin und her. Er bläst Albert den Rauch seiner Zigarre ins Gesicht.»Bißchen nassauern, was? Marsch, abfahren!«

Albert steht einen Augenblick wie betäubt vor ihm. Mit ungeheurer Deutlichkeit springen ihm der gewölbte Bauch, das karierte Muster des braunen Anzugs, die goldene Uhrkette und das breite rote Gesicht des ändern ins Gehirn.

In diesem Moment blickt Willy von unserm Tisch aus zufällig auf, springt sofort hoch, wirft ein paar Leute um und rennt durchs Lokal. Doch es ist zu spät. Ehe er ankommt, hat Albert seinen Feldrevolver in der Hand und schießt. Wir laufen hin.

Bartscher hat versucht, sich mit einem Stuhl zu decken — doch er hat ihn nur bis zur Augenhöhe gekriegt. Alberts Schuß aber sitzt zwei Zentimeter darüber in der Stirn. Er hat kaum gezielt — er war immer schon der beste Schütze in der Kompanie, und mit seinem Feldrevolver weiß er seit Jahren Bescheid.

Bartscher kracht zu Boden. Die Füße zucken. Der Schuß war tödlich. Das Mädchen kreischt.»Raus!«schreit Willy und hält die anstürmenden Gäste in Schach. Wir reißen Albert, der bewegungslos dasteht und das Mädchen ansieht, durch den Hof, über die Straße, um die nächsten Ecken, auf einen dunklen Platz, wo zwei Möbelwagen stehen. Willy kommt nach.»Du mußt sofort verschwinden, diese Nacht noch!«sagt er keuchend.

Albert sieht ihn an, als erwache er jetzt erst. Dann macht er sich los.»Laß nur, Willy«, antwortet er schwerfällig,»ich weiß, was ich jetzt zu tun habe.«

«Bist du verrückt?«schnauzt Kosole.

Albert taumelt etwas. Wir halten ihn. Er wehrt uns wieder ab.»Nein, Ferdinand«, sagt er leise, als sei er sehr müde,»wer das eine macht, muß auch das andere tun.«

Er geht langsam der Straße zu.

Willy läuft ihm nach und redet auf ihn ein. Albert schüttelt nur den Kopf und geht zur Mühlenstraße. Willy folgt ihm.

«Man muß ihn mit Gewalt wegbringen«, ruft Kosole,»er bringt es fertig, zur Polizei zu laufen!«

«Ich glaube, es nützt nichts, Ferdinand«, sagt Karl verstört,»ich kenne Albert.«

«Aber der Mann wird doch davon nicht wieder lebendig«, schreit Ferdinand,»was nützt ihm das? Albert muß weg!«

Wir sitzen schweigend herum und warten auf Willy.

«Wie konnte er das nur machen?«fragt Kosole nach einer Weile.

«Er hat so an dem Mädchen gehangen«, sage ich.

Willy kommt allein zurück. Kosole springt auf.»Ist er weg?«

Willy wendet den Kopf ab.»Zur Polizei gegangen. Es war nichts zu machen. Fast hätte er auch noch auf mich geschossen, als ich ihn wegschleppen wollte.«

«Verflucht!«Kosole legt den Kopf auf die Wagendeichsel. Willy läßt sich ins Gras fallen. Karl und ich lehnen an den Wänden des Möbelwagens.

Kosole, Ferdinand Kosole schluchzt wie ein kleines Kind.

V

Ein Schuß ist gefallen, ein Stein hat sich gelöst, eine dunkle Hand hat zwischen uns gegriffen. Wir sind vor einem Schatten davongelaufen, aber wir sind im Kreise gelaufen, und der Schatten hat uns eingeholt.

Wir haben gelärmt und gesucht, wir haben uns verhärtet und hingegeben, wir haben uns geduckt und sind angesprungen, wir haben uns verirrt und sind weitergelaufen — aber immer spürten wir den Schatten im Genick und wollten ihm entrinnen. Wir haben geglaubt, er jage hinter uns her — und wir haben nicht gewußt, daß wir ihn mitgeschleppt haben, daß da, wo wir waren, schweigend auch er war

— daß er nicht hinter uns, sondern in uns war —, in uns selber.

Wir haben Häuser bauen wollen, wir hatten Sehnsucht nach Gärten und Terrassen, denn wir wollten das Meer sehen und den Wind fühlen — aber wir dachten nicht daran, daß Häuser ein Fundament brauchen. Wir waren wie die verlassenen Trichterfelder in Frankreich — sie sind ebenso still wie die Äcker ringsum, aber in ihnen sitzt noch die verschüttete Munition — und solange ist der Pflug gefährlich und gefährdet, bis sie ausgegraben und fortgeräumt ist.

Wir sind immer noch Soldaten, ohne es gewußt zu haben. Wäre Alberts Jugend friedlich und ohne Bruch gewesen, so hätte er vieles gehabt, das warm und vertraut mit ihm gewachsen und ihn gehalten und bewahrt hätte. So aber war alles zerbrochen, er hatte nichts mehr, als er wiederkam — seine ganze verdrängte Jugend, seine geknebelt gewesene Sehnsucht und sein Bedürfnis nach Heimat und Zärtlichkeit warf sich blind auf diesen einen Menschen, den er zu lieben glaubte. Uncl als alles zerbrach, wußte er nichts anderes, als zu schießen — denn sonst hatte er nichts gelernt. Wäre er kein Soldat gewesen, so hätte er viele andere Wege gehabt. So aber zitterte nicht einmal seine Hand — er war seit Jahren gewohnt, zu treffen.

In Albert, dem verträumten Jungen, in Albert, dem scheuen Liebenden, saß immer noch Albert, der Soldat.

Die zerknitterte, alte Frau begreift es nicht.»Wie konnte er das nur tun? Er war immer so ein stilles Kind!«Die Bänder ihres Altfrauenhutes zittern, das Taschentuch zittert, die schwarze Mantille zittert — die ganze Frau ist ein einziges bebendes Stück Leid.»Vielleicht ist es gekommen, weil er keinen Vater mehr hat. Er war erst vier Jahre, als sein Vater starb. Aber er war doch immer ein so stilles, gutes Kind — «

«Das ist er heute auch noch, Frau Troßke«, sage ich. Sie klammert sich daran und beginnt von Alberts Kindheit zu erzählen. Sie muß sprechen, sie hält es nicht mehr aus, die Nachbarn waren da, Bekannte, zwei Lehrer auch, alle verstehen es nicht —

«Die sollen nur ihren Schnabel halten«, sage ich,»die sind alle mit schuld.«

Sie blickt mich verständnislos an. Aber dann erzählt sie weiter davon, wie Albert laufen gelernt hat, daß er nie geschrien hat wie andere Kinder, daß er fast zu ruhig war für einen Jungen — und jetzt so etwas. Wie konnte er das nur tun?

Verwundert sehe ich sie an. Sie weiß nichts von Albert. Vielleicht würde es meiner Mutter genau so mit mir gehen. Mütter können wohl nur lieben, das ist ihr einziges Verständnis.

«Bedenken Sie, Frau Troßke«, sage ich behutsam,»Albert ist doch im Kriege gewesen.«

«Ja«, antwortet sie,»ja — ja —. «Sie faßt den Zusammenhang nicht.»Dieser Bartscher war wohl ein schlechter Mensch?«fragt sie dann leise.

«Er war ein Lump«, bestätige ich ohne weiteres, denn darauf soll es mir nicht ankommen.

Sie nickt unter Tränen.»Sonst konnte ich es mir auch nicht denken. Er hat nie einer Fliege etwas getan. Hans, der hat ihnen die Flügel ausgerissen, aber Albert nie. Was werden sie nun wohl mit ihm machen?«

«Viel kann ihm nicht passieren«, beruhige ich sie,»er war sehr aufgeregt, und das ist beinahe so wie Notwehr.«

«Gott sei Dank«, seufzt sie,»der Schneider über uns hat gesagt, er würde hingerichtet.«

«Der Schneider ist verrückt«, erwidere ich.

«Ja, er hat auch gesagt, Albert wäre ein Mörder. «Sie bricht in Tränen aus.»Und er ist nie und nimmer einer, nie und nimmer!«

«Diesen Schneider werde ich mir mal kaufen«, erkläre ich wütend.»Ich traue mich gar nicht mehr aus dem Hause«, schluchzt sie,»immer steht er da.«

«Ich bringe Sie hin, Mutter Troßke«, sage ich.

Wir kommen bei ihrem Haus an.»Da ist er wieder«, flüstert die alte Frau ängstlich und zeigt auf die Haustür. Ich mache mich steif. Wenn er jetzt einen Ton sagt, haue ich ihn zu Brei, und wenn ich zehn Jahre dafür in den Kasten komme. Aber er geht uns aus dem Wege, ebenso wie zwei Weiber, die bei ihm herumlungern.

In der Wohnung zeigt Alberts Mutter mir noch ein Jugendbild von Hans und ihm. Dabei beginnt sie von neuem zu weinen, doch sie hört wie beschämt gleich wieder auf. Alte Frauen sind darin wie Kinder; Tränen kommen ihnen rasch; aber sie versiegen auch rasch. Auf dem Korridor fragt sie mich:»Hat er wohl genug zu essen?«»Sicher wohl«, antworte ich,»Karl Bröger wird schon darauf aufpassen. Der kann genug bekommen.«

«Ich habe noch etwas Pfannkuchen, den ißt er so gern. Ob ich ihm den wohl bringen darf?«

«Versuchen Sie es mal«, erwidere ich,»und wenn Sie es dürfen, dann sagen sie einfach zu ihm: Albert, ich weiß, du bist nicht schuld daran. Mehr nicht.«

Sie nickt.»Vielleicht habe ich mich nicht genug um ihn gekümmert. Aber Hans hat doch keine Füße — «

Ich tröste sie.»Der arme Junge«, sagt sie,»sitzt da nun ganz allein — «

Ich gebe ihr die Hand.»Mit dem Schneider werde ich jetzt mal reden. Der wird Sie nächstens in Ruhe lassen.«

Er steht noch vor der Haustür. Ein plattes, dummes Kleinbürgergesicht. Er glupscht mich hämisch an, das Maul schon parat, um hinter mir loszuklatschen. Ich fasse ihn am Rock.»Sic verfluchter Ziegenbock, wenn Sie noch ein einziges Wort zu der alten Frau da oben sagen, dann hacke ich Sie in Stücke, merken Sie sich das, Sie Zwirnfadenathlet, Sie Waschweib!«Ich schüttle ihn wie einen Sack Lumpen und stoße ihm das Kreuz gegen die Türklinke —»ich komme wieder, die Knochen breche ich dir, du lausiger Plättbrettscheißer, du verdammter Meck-Meck-Meck!«Damit haue ich ihm rechts und links eine gehörige Wucht herunter.

Ich bin schon weit weg, da kreischt er hinter mir her.»Das geht ans Gericht! Das kostet Sie mindestens hundert Mark. «Ich drehe mich um und gehe zurück. Er verschwindet.

Georg Rahe hockt schmutzig und übernächtigt in Ludwigs Zimmer. Er hat die Nachricht von Albert in der Zeitung gelesen und ist sofort hergekommen.»Wir müssen ihn herausholen«, sagt er. Ludwig blickt auf.

«Wenn wir ein halbes Dutzend vernünftiger Kerle und ein Automobil hätten«, fährt Rahe fort,»müßte es klappen. Die beste Zeit wäre, wenn er zum Gerichtssaal überführt wird. Wir springen dazwischen, machen einen Tumult, und zwei rennen mit Albert los zum Auto.«

Ludwig hat einen Augenblick aufgehorcht. Dann schüttelt er den Kopf.»Es geht nicht, Georg. Wir würden Albert nur schaden, wenn es mißlänge. So hat er wenigstens die Hoffnung, daß er noch einigermaßen davonkommt. Doch das wäre das wenigste — ich würde sofort dabei sein — aber Albert — wir würden Albert nicht mitkriegen. Er will nicht.«

«Dann müssen wir es auch bei ihm mit Gewalt machen«, erklärt Rahe nach einer Weile —»heraus muß er — und wenn ich dabei draufgehe — «

Ludwig erwidert nichts.

«Ich glaube auch, daß es nichts nützen wird, Georg«, sage ich —»selbst wenn wir ihn draußen hätten, würde er sofort wieder zurückgehen. Er hat ja fast auf Willy geschossen, als der ihn wegbringen wollte.«

Rahe stützt den Kopf in die Hände. Ludwig sieht grau und verfallen aus.»Ich glaube, wir sind alle verloren«, sagt er trostlos. Keiner antwortet. Tot hängen das Schweigen und die Sorge im Zimmer. —

Nachher sitze ich noch lange allein bei Ludwig. Er stützt den Kopf in die Hände.»Es ist alles umsonst, Ernst. Wir sind kaputt, aber die Welt geht weiter, als wenn der Krieg nicht dagewesen wäre. Es wird nicht lange mehr dauern, und unsere Nachfolger auf den Schulbänken werden mit gierigen Augen den Erzählungen aus dem Kriege lauschen und sich aus der Langeweile der Schule heraus wünschen, auch dabei gewesen zu sein. Jetzt schon laufen sie zu den Freikorps — und kaum siebzehnjährig begehen sie politische Morde. Ich bin so müde, Ernst — «

«Ludwig…«Ich setze mich neben ihn und lege den Arm um seine schmalen Schultern.

Er lächelt trostlos. Dann sagt er leise:»Damals, vor dem Kriege, hatte ich so eine Schülerliebe, Ernst. Vor ein paar Wochen habe ich das Mädchen wieder getroffen. Es schien mir noch schöner geworden zu sein. Das war so, als ob die Zeit von früher noch einmal in einem Menschen lebendig geworden wäre. Wir haben uns dann öfter gesehen — und plötzlich habe ich gespürt.. «er legt den Kopf auf die Tischplatte. Als er wieder aufsieht, sind seine Augen tot vor Qual —»das ist ja alles nichts mehr für mich, Ernst — ich bin ja krank. «Er steht auf und öffnet das Fenster. Draußen ist eine warme Nacht mit vielen Sternen.

Bedrückt starre ich vor mich hin. Ludwig sieht lange hinaus. Dann wendet er sich um:»Weißt du noch, wie wir mit einem Band Eichendorff nachts in den Wäldern umhergezogen sind?«

«Ja, Ludwig«, sage ich rasch, froh, daß er auf andere Gedanken gekommen ist,»es war im Spätsommer. Einmal haben wir einen Igel dabei gefangen.«

Sein Gesicht entspannt sich.»Und wir glaubten schon, es sei ein Abenteuer mit Postkutschen, Waldhörnern und Sternen —. Weißt du noch, wie wir ausreißen wollten nach Italien?«

«Ja, aber die Postkutsche kam nicht, die uns mitnehmen sollte. Und für die Eisenbahn hatten wir kein Geld.«

Ludwigs Gesicht wird klarer, es sieht fast geheimnisvoll aus, so heiter ist es.»Und dann haben wir Werther gelesen — «, sagt er.»Und Wein getrunken — «, erinnere ich ihn.

Er lächelt.»Und den» Grünen Heinrich «gelesen —. Weißt du noch, wie wir von Judith geflüstert haben?«

Ich nicke.»Du mochtest nachher aber Hölderlin lieber als alles andere — «

Ein sonderbarer Frieden ist über Ludwig gekommen. Er spricht leise und weich.»Was hatten wir damals für Pläne, und wie edel und gut wollten wir werden. Wir sind dann eigentlich recht arme Hunde geworden, Ernst — «

«Ja«, antworte ich nachdenklich,»wo ist das alles geblieben! —«

Wir lehnen nebeneinander am Fenster. Der Wind hängt in den Kirschbäumen. Eine Sternschnuppe fällt. Es schlägt zwölf Uhr.

«Wir wollen schlafen gehen. «Ludwig gibt mir die Hand.»Gute Nacht, Ernst — «

«Schlaf gut, Ludwig.«

Spät nachts trommelt jemand gegen meine Tür. Verstört fahre ich auf.»Wer ist da?«

«Ich, Karl! Mach auf!«

Ich springe aus dem Bett.

Er stürzt herein.»Ludwig — «

Ich reiße ihn heran.»Was ist mit Ludwig?«

«Tot — «

Das Zimmer dreht sich. Ich falle auf mein Bett zurück.»Arzt holen!«

Karl schlägt einen Stuhl auf den Boden, daß er splittert.»Tot, Ernst

— Pulsadern aufgeschnitten — «

Ich weiß nicht, wie ich meine Sachen angezogen habe. Ich weiß nicht, wie ich hingekommen bin. Plötzlich ist ein Zimmer da, grelles Licht, Blut, das unerträgliche Funkeln und Blitzen der Quarze und Kiesel, und davor, in einem Sessel, eine unendlich müde, schmale, zusammengefallene Gestalt, ein furchtbar blasses, spitzes Gesicht mit halb- geschlossenen, erloschenen Augen. —

Ich weiß nicht, was geschieht. Seine Mutter ist da, Karl ist da, Lärm ist da, einer redet auf mich ein, ich verstehe, hierbleiben, ich begreife, sie wollen jemand holen, ich nicke, ich kauere mich in das Sofa, Türen knarren, ich kann mich nicht bewegen, ich kann nicht sprechen, plötzlich bin ich allein mit Ludwig und sehe ihn an. —

Karl war der letzte, der bei ihm war. Er fand ihn still und fast froh. Als er gegangen war, ordnete Ludwig seine paar Sachen und schrieb eine Zeitlang. Dann rückte er einen Stuhl ans Fenster und stellte ein Becken mit warmem Wasser daneben auf den Tisch. Er verschloß die Tür, setzte sich in den Sessel und schnitt sich die Adern im Wasser auf. Der Schmerz war gering. Er sah das Blut fließen, ein Bild, an das er oft gedacht hatte: dieses verhaßte, vergiftete Blut ausströmen zu lassen aus dem Körper.

Sein Zimmer wurde sehr deutlich. Er sah jedes Buch, jeden Nagel, jeden Reflex der Steinsammlung, das Bunte, die Farben, er empfand: sein Zimmer. Es drängte sich heran, es ging in seinen Atem ein und verwuchs mit ihm. Dann wurde es wieder ferner. Undeutlich. Seine Jugend begann in Bildern. Eichendorff, die Wälder, das Heimweh. Versöhnt, ohne Schmerz. Hinter den Wäldern stieg Stacheldraht auf, die weißen Wölkchen der Schrapnells, der Einschlag schwerer Granaten. Doch sie erschreckten ihn nicht mehr. Sie waren gedämpft, fast wie Glocken. Die Glocken wurden stärker, aber die Wälder blieben. Sie läuteten in seinem Kopfe, so stark, als müßte er gleich zerspringen. Es wurde dabei auch dunkler. Dann wurde es schwächer, und der Abend stieg durch das Fenster, die Wolken schwammen heran, unter seine Füße. Er hätte gern in seinem Leben einmal Flamingos gesehen, jetzt wußte er: diese waren Flamingos, mit weiten rosagrauen Schwingen, viele, ein Keil — zogen nicht einmal Wildenten in einem Keil gegen den sehr roten Mond, rot wie Mohn in Flandern? — Die Landschaft weitete sich mehr und mehr, die Wälder sanken tiefer, silbern glänzten Flüsse herauf und Inseln, die rosagrauen Schwingen flogen immer höher, und immer heller wurde der Horizont — das Meer Doch plötzlich stemmte sich noch einmal heiß

im Halse ein schwarzer Schrei hoch, ein letzter Gedanke wurde aus dem Hirn in das schwindende Bewußtsein gespült: Angst, Rettung, Abbinden — er versuchte aufzutaumeln, die Hand hochzureißen — der Körper zuckte, aber er war schon zu schwach. Es kreiste und kreiste, dann schwand es, und der riesige Vogel mit den dunklen Fittichen kam sehr leise mit langsamen Flügelschlägen und wehte sie lautlos über ihm zusammen.

Eine Hand schiebt mich fort. Menschen sind wieder da, sie fassen Ludwig an, ich reiße den ersten weg, niemand soll ihn anrühren, aber dann ist sein Gesicht mit einmal sehr hell und kalt vor mir, verändert, streng, fremd — ich erkenne ihn nicht mehr und taumele zurück, hinaus.

Ich weiß nicht, wie ich in mein Zimmer gekommen bin. Mein Kopf ist leer, und kraftlos liegen meine Arme auf den Lehnen des Stuhles. Ludwig, ich will nicht mehr. Ich will auch nicht mehr. Was soll ich denn noch hier? Wir gehören ja alle nicht mehr hierher. Entwurzeit, verbrannt, müde — warum bist du allein weggegangen? Ich stehe auf. Meine Hände glühen. Meine Augen brennen. Ich fühle, daß ich Fieber habe. Meine Gedanken verwirren sich. Ich weiß nicht mehr, was ich tue.»Holt mich doch«, flüstere ich,»holt mich doch auch!«

Die Zähne zittern mir vor Frost. Meine Hände sind feucht. Ich taumele vorwärts. Große schwarze Kreise flirren mir vor den Augen. Plötzlich erstarre ich. Ging da nicht eine Tür? Klinkte nicht ein Fenster? Ein Schauer durchfährt mich. Durch die offene Tür meines Zimmers sehe ich im Mondlicht neben der Geige an der Wand meinen alten Waffenrock hängen. Ich gehe vorsichtig darauf los, auf Zehenspitzen, damit er nichts merkt, ich schleiche auf diesen grauen Rock zu, der alles zerschlagen hat, unsere Jugend und unser Leben — ich reiße ihn herunter, ich will ihn wegwerfen, aber plötzlich streife ich ihn über, ich ziehe ihn an, ich fühle, wie er durch meine Haut Besitz von mir ergreift, ich fröstle, das Herz schlägt mir rasend hoch im Halse — da zerreißt ein Ton klingend die Stille, ich fahre auf und wende mich um, ich erschrecke, und voll Entsetzen presse ich mich gegen die Wand. —

Denn im fahlen Licht der offenen Tür steht ein Schatten. Er schwankt und weht, er kommt näher und winkt, eine Gestalt formt sich, ein Gesicht mit dunklen Augenhöhlen, zwischen denen ein breiter Riß klafft, ein Mund, der tonlos spricht — ist das nicht —?»Walter — «, flüstere ich, Walter Willenbrock, gefallen im August siebzehn bei Paschendaele — bin ich denn verrückt? träume ich? bin ich krank? — aber hinter ihm schiebt sich schon ein anderer herein, bleich, verkrümmt, gebeugt; Friedrich Tomberge, dem bei Soissons ein Splitter den Rücken zerschmetterte, als er auf den Stufen des Unterstandes hockte. — Und nun drängen sie herein, mit toten Augen, grau und gespenstisch, eine Schar von Schatten, sie sind wiedergekommen und füllen das Zimmer: Franz Kemmerich, mit achtzehn Jahren amputiert und drei Tage später gestorben. Stanislaus Katczinsky, mit schleifenden Füßen und gesenktem Kopf, aus dem dunkel ein dünner Faden sickert — Gerhard Feldkamp, zerrissen von einer Mine bei Ypern, Paul Bäumer, gefallen im Oktober 1918, Heinrich Weßling, Anton Heinzmann, Haie Westhus, Otto Matthes, Franz Wagner — Schatten, Schatten, ein langer Zug, eine endlose Reihe — Sie wehen herein, sie hocken auf den Büchern, sie klettern am Fenster hoch, sie füllen das Zimmer. —

Aber plötzlich zerbricht das Grauen und das Staunen in mir — denn langsam hat sich ein stärkerer Schatten erhoben, er kriecht durch die Tür, die Arme aufgestemmt, er wird lebendig, Knochen wachsen hinein, ein Körper schleift hinterher, kreidig leuchten Zähne aus dem schwarzen Gesicht, jetzt funkeln auch schon Augen in den Höhlen — aufgeschreckt wie ein Seehund schleicht er herein, auf mich zu — der englische Hauptmann — hinter ihm schleifen raschelnd die Wickelgamaschen. Mit einem weichen Ruck wirft er sich hoch und krallt die Hände nach mir. — »Ludwig! Ludwig!«schreie ich,»hilf mir, Ludwig!«

Ich packe in die Bücherhaufen und werfe sie den Händen entgegen,»Handgranate, Ludwig!«stöhne ich, reiße das Aquarium vom Ständer und schleudere es in die Tür, krachend zersplittert es — aber er grinst nur und kommt näher, ich schmeiße den Schmetterlingskasten hinterher, die Geige, ich greife einen Stuhl und schlage auf das Grinsen ein, ich schreie» Ludwig! Ludwig!«, ich stürze auf ihn los, ich breche durch die Tür, der Stuhl kracht, ich rase davon, Rufe hinter mir, angstvolle Rufe, aber stärker, näher das jappende Keuchen, er jagt hinter mir her, ich stürme die Treppen hinunter — er poltert hinter mir, ich erreiche die Straße, ich spüre seinen gierigen Atem im Genick, ich renne, die Häuser schwanken.»Hilfe! Hilfe!«Plätze, Bäume, eine Kralle auf meiner Schulter, er holt mich ein, ich brülle, heule, stolpere, Uniformen, Fäuste, Toben, Blitze und das dumpfe Donnern der weichen Beile, die mich zu Boden schlagen! —

Загрузка...