Ich komme vom Bahnhof, um Adolf Bethke zu besuchen. Sein Haus erkenne ich gleich; er hat es mir draußen oft genug beschrieben.
Ein Garten mit Obstbäumen. Die Äpfel sind nicht alle gepflückt. Viele liegen noch im Rasen unter den Bäumen. Auf einem freien Platz vor der Tür steht eine riesige Kastanie. Der Boden unter ihr ist über und über voll von rotbraunen Blättern, auch der Steintisch und die Bank darunter. Dazwischen schimmern das rötliche Weiß der aufgeplatzten, stacheligen Fruchtschalen und das glänzende Braun der herausgefallenen Kastanien. Ich nehme ein paar auf und betrachte die lackierte, geäderte Mahagonischale mit dem helleren Keimfleck darunter. Daß es so etwas gibt, denke ich und sehe mich um — daß es überhaupt das alles noch gibt: diese bunten Bäume, die blau umdunsteten Wälder — Wälder, keine granatenzerfressenen Baumstümpfe mehr; diesen Wind über den Feldern, ohne Pulverrauch und Gasgestank, diese umbrochene, fettig schimmernde Erde mit ihrem starken Geruch, die Pferde vor den Pflügen, nicht mehr vor Munitionskolonnen, und hinter ihnen, ohne Gewehre, heimgekehrt, Pflüger, Pflüger in Soldatenuniformen.
Die Sonne ist über einem Wäldchen hinter den Wolken versteckt, aber Strahlenbündel schießen silbern dahinter hervor, die bunten Drachen der Kinder stehen hoch am Himmel, die Lungen atmen, kühl schwingt die Luft hinein und heraus, es gibt keine Geschütze, keine Minen mehr, kein Tornister klemmt die Brust, kein Koppel hängt schwer am Magen — vorbei ist das ziehende Gefühl der Vorsicht und des Lauerns im Nacken, das halbe Schleichen, das immer in der nächsten Sekunde in Fallen, Liegen, Grauen und Tod übergehen konnte — frei und aufrecht, mit sorglosen Schultern, gehe ich und empfinde die Stärke dieses Augenblicks: da zu sein und meinen Kameraden Adolf zu besuchen.
Die Haustür steht halboffen. Rechts ist die Küche. Ich klopfe. Niemand antwortet. Ich sage laut guten Tag. Nichts rührt sich. Ich gehe weiter und öffne noch eine Tür. Jemand sitzt allein am Tisch; jetzt sicht er auf, verwildert, eine alte Uniform, ein Blick: Bethke.
«Adolf«, rufe ich erfreut,»hast du nichts gehört! Wohl gerade geschlafen, was?«
Er bleibt in seiner Haltung und reicht mir die Hand.
«Wollt' dich mal besuchen, Adolf.«
«Ist gut von dir, Ernst«, sagt er trübe.
«Ist was los, Adolf?«frage ich verwundert.
«Ach, laß man, Ernst…«
Ich setze mich neben ihn.»Mensch, Adolf, was hast du denn?«Er wehrt ab.»Schon recht, Ernst, laß man. Nur gut, weißt, gut, daß mal einer von euch kommt. «Er steht auf.»Man wird ja verrückt, so allein. «
Ich schaue mich um. Seine Frau ist nirgendwo zu sehen.
Er schweigt eine Zeitlang, dann sagt er noch einmal:»Gut, daß du gekommen bist. «Er kramt nach Schnaps und Zigaretten. Wir nehmen einen Korn aus dicken Gläsern, die unten rosa Einlagen haben. Vor dem Fenster liegt der Garten und der Weg mit den Obstbäumen. Es weht. Die Gartentür klappert. Aus der Ecke schlägt eine dunkel gebeizte Standuhr mit Gewichten.
«Prost Adolf.«—»Prost Ernst.«
Eine Katze schleicht durchs Zimmer. Sie springt auf die Nähmaschine und schnurrt. Nach einiger Zeit beginnt Adolf zu sprechen.»Da kommen sie und reden, Eltern, Schwiegereltern, und dabei verstehen sie mich nicht und ich sie nicht. Als wenn wir alle nicht mehr dieselben Menschen wären. «Er stützt den Kopf auf.»Du verstehst mich, Ernst, und ich dich, aber da, bei denen, ist es, als wäre eine Wand dazwischen.«
Schließlich höre ich dann alles.
Bethke kommt nach Hause, den Affen auf dem Nacken, einen Sack guter Lebensmittel bei sich, Kaffee, Schokolade, sogar Seide für ein ganzes Kleid.
Er will ganz leise kommen, um die Frau zu überraschen, aber der Hund kläfft wie verrückt und reißt die Hütte fast um — da hält es ihn nicht mehr, er rennt den Weg zwischen den Apfelbäumen entlang — seinen Weg, seine Bäume, sein Haus, seine Frau, das Herz schlägt ihm wie ein Schmiedehammer oben im Hals, Tür auf, tiefes Atmen, hinein —»Marie…«
Er sieht sie, sofort hat sein Blick sie umfaßt, es überströmt ihn, Halbdunkel, Heimat, die tickende Uhr, der Tisch, der große Ohrenstuhl, die Frau — er will auf sie zu. Aber sie weicht zurück und starrt ihn an wie einen Schatten.
Er begreift noch nichts.»Hast du dich so erschreckt?«fragt er lachend.
«Ja«, sagt sie angstvoll.
«Wird sich schon geben, Marie«, antwortet er, zitternd vor Aufregung. Jetzt, wo er im Zimmer ist, bebt alles an ihm. Zu lange ist es auch her.
«Ich wußte nicht, daß du schon kommst, Adolf«, sagt die Frau. Sie ist zurückgewichen zum Schrank und sieht ihn mit großen Augen an. Etwas Kaltes faßt ihn einen Moment und quetscht ihm die Lungen zusammen.»Freust du dich denn gar nicht?«fragt er unbeholfen.
«Ja doch, Adolf…«
«Ist denn was passiert?«fragt er weiter und hat immer noch alle Sachen in der Hand.
Da geht die Heulerei auch schon los, sie liegt mit dem Kopf auf der Tischplatte, warum soll er es nicht gleich erfahren, die ändern werden es ihm doch schon sagen, sie hat mit jemand etwas gehabt, es ist über sie gekommen, sie wollte gar nicht und hat immer bloß an ihn gedacht, und nun soll er sie eben totschlagen.
Adolf steht und steht und merkt schließlich, daß er den Affen immer noch auf dem Rücken hat. Er schnallt ihn ab, er packt aus, er zittert, er denkt immerfort: kann doch nicht wahr sein, kann doch nicht wahr sein — und packt weiter aus, nur nicht ruhig sein jetzt; die Seide knistert in seiner Hand, er hält sie hin,»das wollt ich dir mitbringen«, und denkt immerfort: kann doch nicht wahr sein, das kann doch nicht… Er hält hilflos die rote Seide hin, und noch ist nichts in seinem Schädel drin von alledem.
Sie aber weint und will nichts wissen. Er setzt sich nieder und denkt nach und hat plötzlich furchtbaren Hunger. Da stehen Äpfel von den Bäumen draußen, schöne Haferäpfel, er nimmt sie und ißt, denn er muß was tun. Dann aber werden die Hände schlaff und er begreift es. Eine rasende Wut kocht in ihm hoch, er will was kaputtschlagen und läuft hinaus, um den Kerl zu suchen.
Er findet ihn nicht. Da geht er in die Kneipe. Man begrüßt ihn dort; aber alles ist wie auf Eiern, sie sehen an ihm vorbei und sind vorsichtig im Sprechen, sie wissen es also schon. Er tut zwar so, als ob nichts sei, aber wer hält das aus; er gießt das Zeug hinunter und geht, als einer fragt:»Warst du schon zu Hause?«— und Stille ist hinter ihm, als er die Schankstube verläßt. Er rennt herum, und es wird spät darüber. Dann steht er wieder vor seinem Hause. Was soll er tun, er geht hinein. Die Lampe brennt, Kaffee steht auf dem Tisch, Bratkartoffeln sind in der Pfanne auf dem Herd. Es schlägt ihn schmerzlich nieder, wie schön wäre das, wenn es richtig wäre, sogar ein weißes Tuch liegt auf dem Tisch. Aber so ist es nur schlimmer.
Die Frau ist da und weint nicht mehr. Als er sitzt, gießt sie Kaffee ein und stellt die Kartoffeln und die Wurst auf den Tisch. Doch für sich selbst stellt sie keinen Teller hin.
Er sieht sie an. Sie ist blaß und schmal. Alles kommt wieder hoch in einer sinnlosen Traurigkeit. Er will nichts mehr davon wissen, er will sich einschließen und sich aufs Bett legen und zu Stein werden. Der Kaffee dampft, er schiebt ihn zurück, die Pfanne auch. Die Frau erschrickt. Sie weiß, was kommt.
Adolf steht nicht auf, das kann er nicht, er schüttelt nur den Kopf und sagt:»Geh weg, Marie.«
Sie erwidert kein Wort, sie nimmt ihr Umschlagetuch um die Schulter, schiebt noch einmal die Pfanne vor, zu ihm hin, sagt mit zaghafter Stimme:»Iß doch wenigstens, Adolf — «und geht dann. Sie geht, sie geht, mit ihrem leisen Schritt, lautlos, die Tür schließt sich, draußen blafft der Ilund, der Wind saust um die Fenster. Bethke ist allein.
Und dann die Nacht.
Ein paar Tage so allein im Hause zehren an einem Mann, der aus dem Graben kommt.
Adolf versucht den Kerl zu schnappen, um ihn zum Krüppel zu schlagen; aber der hat rechtzeitig was gemerkt und sich dünne gemacht. Adolf lauert auf ihn und sucht ihn überall — doch kann er ihn nicht kriegen, und das wirft ihn ganz um.
Dann erscheinen die Schwiegereltern und reden, er solle es sich doch überlegen, die Frau wäre schon längst wieder vernünftig, vier Jahre allein seien auch keine Kleinigkeit, der Kerl habe schuld, und es wären im Kriege noch ganz andere Dinge passiert. —
«Was soll man bloß machen, Ernst?«Adolf sieht auf.
«Verdammt noch mal«, sage ich,»so eine Scheiße.«
«Dazu kommst du nun nach Hause, Ernst!«
Ich schenke ein, und wir trinken. Da wir keine Zigarren für Adolf mehr im Hause haben und er nicht in die Wirtschaft will, gehe ich, um welche zu holen. Adolf ist ein starker Raucher, und es wird leichter für ihn sein, wenn er Zigarren hat. Ich nehme darum gleich eine ganze Kiste» Waldfrieden «mit, dicke braune Stumpen, die den richtigen Namen haben. Sie sind aus reinem Buchenlaub, aber immer noch besser als nichts.
Als ich zurückkehre, ist jemand da, und ich sehe sofort, daß es die Frau ist. Sie hält sich gerade, doch ihre Schultern sind weich. Es ist etwas Ergreifendes, der Nacken einer Frau, immer haben sie etwas von Kindern, und man kann ihnen wohl nie ganz böse sein. Abgesehen natürlich von den Dicken, die ein Speckgenick haben.
Ich sage guten Tag und setze die Mütze ab. Die Frau antwortet nicht. Die Zigarren stelle ich vor Adolf hin, er nimmt aber keine. Die Uhr tickt. Vor dem Fenster wirbeln die Blätter der Kastanien, manchmal raschelt eins gegen die Scheibe, und der Wind preßt es dagegen. Die fünf braunen, erdigen Blätter, an einem Stiel vereinigt, drohen dann wie ausgestrcckte, greifende Hände von draußen in das Zimmer herein, braune Totenhände des Herbstes. Endlich rührt Adolf sich und sagt mit einer Stimme, die ich nicht an ihm kenne:»Nun geh doch, Marie.«
Sie erhebt sich gehorsam wie ein Schulkind, sieht vor sich hin und geht. Der weiche Nacken, die schmalen Schultern, wie ist das alles nur möglich?
«So kommt sic jeden Tag und sitzt da und sagt nichts und wartet und sieht mich an«, sagt Adolf gramvoll. Ich habe Mitleid mit ihm, aber jetzt habe ich auch Mitleid mit der Frau.»Fahr mit in die Stadt, Adolf, hat keinen Zweck, daß du hier hockst«, schlage ich vor. Er will nicht. Draußen schlägt der Hund an. Die Frau geht jetzt durch die Gartentür, zurück zu ihren Eltern.
«Will sie denn wieder hierher?«frage ich. Er nickt. Ich frage nicht weiter. Das muß er selbst abmachen.»Solltest doch mitkommen«, versuche ich noch mal.
«Später, Ernst.«
«Steck dir wenigstens eine Zigarre an. «Ich schiebe ihm die Kiste hin und warte ab, bis er eine nimmt. Dann gebe ich ihm die Hand.»Ich besuche dich wieder, Adolf.«
Er bringt mich an die Hoftür. Ich winke nach einiger Zeit zurück. Er steht immer noch am Gitter, und hinter ihm ist wieder das Dunkel des Abends, wie damals, als er ausstieg und von uns ging. Er hätte bei uns bleiben sollen. Jetzt ist er allein und unglücklich, und wir können ihm nicht helfen, so gern wir es auch täten. Ach, im Felde war das einfacher — wenn man da nur lebte, war alles schon gut.
Ich liege auf dem Sofa, die Beine lang ausgestreckt, den Kopf auf der Lehne und die Augen geschlossen. Im Halbschlaf gehen mir die Gedanken wunderlich durcheinander. Das Bewußtsein verschwimmt zwischen Wachen und Traum, und wie ein Schatten läuft die Müdigkeit durch meinen Schädel. Hinter ihr weht undeutlich ferner Geschützlärm heran, leise pfeifen Granaten, und blechern kommt das Läuten von Gongs näher, die einen Gasangriff melden — aber ehe ich nach meiner Maske tasten kann, weicht die Dunkelheit lautlos zurück, die Erde, an die ich mich gepreßt habe, zerfließt vor einem warmen, helleren Gefühl, sie wird wieder zum Plüschbezug des Sofas, der sich gegen meine Wange drückt, unklar und tief spüre ich: zu Hause — und das Gasläuten der Gräben zerschmilzt im gedämpften Klappern des Geschirrs, das meine Mutter vorsichtig auf den Tisch stellt.
Dann huscht die Dunkelheit erneut näher und mit ihr das Murren der Artillerie. Nur weit her, als kämen sie über Wälder und Meere, höre ich Worte hineintropfen, die sich erst allmählich zu einem Sinn fügen und zu mir Vordringen.»Die Wurst ist von Onkel Karl«, sagt meine Mutter in das leise Grollen der Geschütze hinein.
Die Worte erreichen mich gerade noch am Rande des Trichters, in den ich niedergleite. Mit ihnen huscht ein sattes, selbstbewußtes Gesicht vorbei.»Ach der«, sage ich ärgerlich, und meine Stimme klingt, als hätte ich Watte im Munde, so wogt die Müdigkeit weiter um mich herum,»dies — dämliche — Arschloch«—. Dann falle ich, falle, falle, und die Schatten springen zu mir herein und überfluten mich in langen Wellen, dunkler und dunkler. —
Aber ich schlafe nicht ein. Es fehlt etwas, das vorher da war — das gleichmäßige, leise, metallische Klirren. Langsam fühle ich mich zum Denken zurück und öffne die Augen. Da steht meine Mutter mit blassem, entsetztem Gesicht und starrt mich an.»Was hast du denn?«rufe ich erschreckt und springe auf.»Bist du krank?«
Sie wehrt ab.»Nein, nein — aber daß du so etwas sagen kannst. — «Ich denke nach. Was habe ich denn nur gesagt? Ach so, das mit Onkel Karl. — »Na, Mutter, sei doch nicht so empfindlich«, lache ich erleichtert,»Onkel Karl ist wirklich ein Schieber, das weißt du doch auch.«
«Das meine ich gar nicht«, antwortet sie leise,»aber daß du solche Ausdrücke gebrauchst. —«
Mit einmal fällt mir ein, was ich da im Halbschlaf gesagt habe. Ich schäme mich, weil mir das gerade bei meiner Mutter passieren mußte.»Es ist mir so herausgerutscht«, erkläre ich entschuldigend,»man muß sich wirklich erst gewöhnen, daß man nicht mehr draußen ist. Da herrscht ein rauher Ton, Mutter. Rauh, aber herzlich.«
Ich glätte mir die Haare und knöpfe den Waffenrock zu. Dann suche ich nach Zigaretten. Dabei sehe ich, daß meine Mutter mich immer noch anblickt und daß ihre Hände zittern.
Überrascht halte ich inne.»Aber Mutter«, sage ich erstaunt und lege den Arm um ihre Schulter,»so schlimm ist das doch wahrhaftig nicht. Soldaten sind nun mal so.«
«Ja, ja, das weiß ich«, erwidert sie,»aber du — du auch. —«
Ich lache. Natürlich, ich auch, will ich rufen, aber ich schweige plötzlich und lasse sie los, so trifft mich etwas. Ich setze mich auf das Sofa, um mich zurechtzufinden.
Vor mir steht die alte Frau mit ihrem bangen, versorgten Gesicht. Sie hat die Hände gefaltet, müde zerarbeitete Hände mit weicher runzeliger Haut, auf der bläulich die Adern hervorstehen; Hände, die für mich so geworden sind. Früher habe ich das nie gesehen, früher habe ich überhaupt vieles nicht gesehen, denn ich war noch zu jung. Aber jetzt begreife ich, weshalb ich für diese schmale verhärmte Frau anders bin als alle Soldaten der Welt: ich bin ihr Kind.
Ich bin es immer für sie geblieben, auch als Soldat. Sie hat im Kriege nur einen Knäuel gefährlicher Bestien gesehen, die ihrem bedrohten Kinde nach dem Leben trachteten. Aber ihr ist nie der Gedanke gekommen, daß dieses bedrohte Kind eine ebenso gefährliche Bestie für die Kinder anderer Mütter war.
Ich senke den Blick von ihren Händen auf meine eigenen. Damit habe ich im Mai 1917 einen Franzosen erstochen. Das Blut lief mir widerlich heiß über die Finger, während ich in besinnungsloser Angst und Wut immer wieder zustach. Nachher mußte ich mich erbrechen, und die ganze Nacht durch habe ich geweint. Erst morgens konnte Adolf Bethke mich trösten; ich war damals gerade achtzehn Jahre alt, und es war der erste Angriff, den ich mitmachte.
Langsam drehe ich die Hände nach außen. Bei dem großen Durchbruchsversuch Anfang Juli habe ich damit drei Leute erschossen. Sie blieben den Tag über im Drahtverhau hängen. Ihre schlaffen Arme baumelten im Luftdruck der Granateinschläge, und oft sah es aus, als drohten sie, aber manchmal auch, als flehten sie um Hilfe. Später habe ich einmal auf zwanzig Meter eine Handgranate geworfen, die einem englischen Hauptmann die Beine wegfetzte. Er schrie furchtbar, den Kopf hatte er mit aufgerissenem Munde hochgcreckt, die Arme aufgestemmt, den Oberkörper gebäumt wie ein Seehund; aber dann verblutete er rasch. Und jetzt sitze ich hier vor meiner Mutter, und sie weint beinahe, weil sie nicht fassen kann, daß ich so roh geworden bin, einen unanständigen Ausdruck zu gebrauchen.
«Ernst«, sagt sie leise,»ich wollte es dir schon immer einmal sagen: du hast dich sehr verändert. Du bist so unruhig geworden.«
Ja, denke ich bitter, ich habe mich verändert. Was weißt du denn noch von mir, Mutter? Es ist nur eine Erinnerung, nicht mehr als eine Erinnerung an einen schwärmerischen, stillen Jungen von früher. Nie, nie darfst du etwas erfahren von den letzten Jahren, nie darfst du ahnen, wie es wirklich gewesen ist und was aus mir geworden ist. Der hundertste Teil davon würde dir das Herz brechen, dir, die du schon zitterst und beschämt wirst durch ein einziges Wort, weil es dir bereits deine Vorstellung von mir erschüttert.»Es wird alles schon mal besser werden«, sage ich ziemlich hilflos, und ich versuche, mich selbst damit zu beruhigen.
Sie setzt sich zu mir und streicht mir über die Hände. Ich ziehe sie weg. Sie sieht mich bekümmert an.»Manchmal bist du mir ganz fremd, Ernst, dann hast du ein Gesicht, das ich gar nicht an dir kenne.«
«Ich muß mich erst gewöhnen«, sage ich,»ich fühle mich noch immer so, als wäre ich hier nur auf Besuch. —«
Die Dämmerung fällt ins Zimmer. Vom Korridor kommt mein Hund herein und legt sich vor mir auf den Boden. Seine Augen schimmern, während er zu mir aufblickt. Er ist auch noch unruhig und hat sich noch nicht gewöhnt.
Meine Mutter lehnt sich zurück.»Daß du nur wiedergekommen bist, Ernst…«
«Ja, das ist die Hauptsache«, sage ich und stehe auf.
Sie bleibt in ihrer Ecke sitzen, eine kleine Gestalt in der Dämmerung, und ich empfinde in einer sonderbaren Weichheit, wie plötzlich die Rollen vertauscht sind. Jetzt ist sie das Kind geworden.
Ich ’iebe sie, ach, wann hätte ich sie mehr geliebt als jetzt, wo ich weiß: nie kann ich zu ihr kommen und bei ihr sein und ihr alles sagen und vielleicht ruhig werden. Habe ich sie nicht verloren? Mit einmal fühle ich, wie fremd und allein ich eigentlich bin.
Sie hat die Augen geschlossen.»Ich ziehe mich jetzt an und gehe noch etwas aus«, flüstere ich, um sie nicht zu stören. Sie nickt.»Ja, mein Junge«, sagt sie — und nach einer Weile leise —»mein guter Junge.«
Es trifft mich wie ein Stich. Behutsam ziehe ich die Tür zu.
Die Wiesen sind naß, und von den Wegen rinnt glucksend das Wasser. Ich trage ein kleines Einmachglas in der Manteltasche und gehe den Pappelgraben entlang. Hier habe ich als Junge Fische und Schmetterlinge gefangen und unter den Bäumen gelegen und geträumt.
Im Frühjahr hing der Graben voll Froschlaich und Algen. Helle, grüne Stauden von Wasserpest schwankten in den kleinen, klaren Wellen, langbeinige Schlittschuhläufer zickzackten zwischen den Stengeln der Schilfrohre, und Schwärme von Stichlingen warfen in der Sonne ihre eiligen, schmalen Schatten auf den goldgefleckten Sand.
Es ist kalt und feucht. In langer Reihe stehen die Pappeln neben dem Graben. Ihre Äste sind kahl, aber ein leichter, blauer Hauch hängt in ihnen. Eines Tages werden sie wieder grünen und rauschen, und die Sonne wird wieder warm und selig über diesem Stück Erde liegen, das so viele Erinnerungen meiner Jugend umfaßt.
Ich stampfe auf die Uferböschung. Ein paar Fische huschen darunter hervor. Da kann ich mich nicht mehr bezähmen. Dort, wo der Graben schmäler wird, so daß ich mit gespreizten Beinen darüber stehen kann, lauere ich, bis ich mit der hohlen Hand zwei Stichlinge erwische. Ich schöpfe sie in mein Glas und betrachte sie.
Sie schießen hin und her, zierlich und vollkommen, mit ihren drei Stacheln auf dem Rücken, dem schlanken, braunen Körper und den schwirrenden Brustflossen. Das Wasser ist klar wie Kristall. Die Reflexe des Glases spiegeln sich darin. Und auf einmal setzt mir der Atem aus, so stark empfinde ich, wie schön das ist, dieses Wasser im Glase mit den Lichtern und Reflexen. Behutsam nehme ich es in die Hand und wandere weiter, ich halte es vorsichtig und sehe manchmal hinein, klopfenden Herzens, als hätte ich meine Jugend darin gefangen und trüge sie nun mit mir nach Hause. Ich hocke mich an den Rand der Tümpel, auf denen dicke Schichten Wasserlinsen schwimmen, und sehe die blaumarmorierten Molche wie kleine Flatterminen hochpendeln, um Luft zu holen. Köchcrfliegenlarven kriechen langsam durch den Schlamm, ein Gelbrandkäfer rudert träge über den Grund, unter einer modernden Wurzel hervor blicken mich die erstaunten Augen eines unbeweglichen Teichfrosches an. Ich sehe alles, und es ist mehr darin, als man sehen kann — es sind noch Erinnerung, Sehnsucht und das Glück der Vergangenheit darin. Vorsichtig fasse ich mein Glas und gehe weiter, suchend, hoffend —.
Der Wind weht, und blau liegen die Berge am Horizont. Aber plötzlich durchfährt mich ein rasender Schreck — runter, runter, Dek- kung, du stehst ja ganz frei im Blickfeld! — ich zucke zusammen in wahnsinniger Angst, ich spreize die Hände, um nach vorn hinter einen Baum zu stürzen, ich zittere und keuche, dann atme ich auf, vorbei — und sehe mich scheu um — niemand hat mich gesehen. Es dauert eine Weile, bis ich mich beruhige. Dann bücke ich mich nach dem Glas, das mir aus der Hand gefallen ist. Das Wasser ist verschüttet, doch die Fische zappeln noch darin. Ich beuge mich zum Graben hinunter und lasse frisches Wasser hineinlaufen.
Langsam gehe ich weiter und hänge meinen Gedanken nach. Der Wald kommt näher. Eine Katze strolcht über den Weg. Der Bahndamm schneidet durch die Felder bis zum Gehölz. Da könnte man Unterstände bauen, denke ich, ordentlich tief und mit Betondecken — dann die Grabenlinie links entlangziehen mit Sappen und Horch- posten und drüben ein paar Maschinengewehre — nein, zwei nur, die ändern an das Gehölz, dadurch liegt das ganze Gelände dann fast unter Kreuzfeuer — die Pappeln müßte man abhauen, damit sie der feindlichen Artillerie das Ziel nicht markieren — und hinten am Hügel eine Anzahl Minenwerfer — dann laß sie nur kommen. —
Ein Zug pfeift. Ich blicke auf. Was mache ich da nur? — Ich bin hierhergegangen, um die Landschaft meiner Jugend wiederzufinden — und jetzt ziehe ich Schützengräben hindurch —. Es ist die Gewohnheit, denke ich, wir können keine Landschaft mehr sehen, nur Gelände — Gelände zum Angreifen und Verteidigen — die alte Mühle auf der Höhe ist keine Mühle — sie ist ein Stützpunkt — der Wald ist kein Wald — er ist Artilleriedeckung — immer spukt das wieder hinein. —
Ich schüttle es ab und versuche, an früher zu denken. Doch es gelingt mir nicht recht. Ich bin auch nicht mehr so froh wie vorhin und habe keine Lust, weiterzugehen. Ich kehre um.
Von weitem sehe ich eine einsame Gestalt. Sie kommt mir entgegen. Es ist Georg Rahe.
«Was machst du denn hier?«fragt er verwundert.
«Und du?«
«Nichts«, sagt er.
«Ich auch nichts«, antworte ich.
«Und das Einmachglas da?«fragt er und sieht mich ein wenig spöttisch an. — Ich werde rot.
«Brauchst dich nicht zu schämen«, sagt er,»wolltest wohl mal wieder Fische fangen, was?«
Ich nicke.»Und?«fragt er.
Ich schüttle den Kopf.
«Ja, so was geht eben nicht mit einer Uniform«, sagt er nachdenklich.
Wir setzen uns auf einen Stapel Holz und rauchen. Rahe nimmt seine Mütze ab.»Weißt du noch, wie wir hier Briefmarken getauscht haben?«
«Ja, ich weiß es noch. Die Holzplätze rochen in der Sonne stark nach Harz und Teer, die Pappeln flimmerten, und kühl kam der Wind vom Wasser her — ich weiß alles noch — wie wir Laubfrösche suchten, wie wir Bücher lasen, wie wir von der Zukunft sprachen und vom Leben, das hinter dem blauen Horizont wartete, lockend wie eine gedämpfte Musik.«
«Es ist dann etwas anders geworden, Ernst, was?«sagt Rahe und lächelt, dieses Lächeln, das wir alle haben, etwas bitter und etwas müde.»Im Felde fingen wir die Fische dann auch anders. Eine Handgranate ins Wasser, und schon schwammen sie mit geplatzten Schwimmblasen und weißen Bäuchen an der Oberfläche. Das war praktischer.«
«Wie mag das nur kommen, Georg«, sage ich,»daß man hier so herumsitzt und eigentlich nicht recht weiß, was beginnen?«
«Es fehlt was, Ernst, nicht?«
Ich nicke. Er tippt mir auf die Brust.»Ich will es dir mal sagen — ich habe auch schon darüber nachgedacht — dies da«, er zeigt auf die Wiesen vor uns,»das war Leben, es blühte und wuchs, und wir wuchsen mit. Und das hinter uns — «er deutet mit dem Kopf zurück in die Ferne,»das war Tod, es starb und zerstörte uns ein bißchen mit. «Er lächelt wieder.»Wir sind ein wenig reparaturbedürftig, mein Junge.«
«Vielleicht wäre es besser, wenn Sommer wäre«, sage ich,»im Sommer ist alles leichter.«
«Daran liegt es nicht«, antwortet er und bläst den Rauch von sich,»ich glaube, es ist etwas ganz anderes.«
«Was denn?«frage ich.
Er zuckt die Achseln und steht auf.»Gehen wir nach Hause, Ernst. Soll ich dir mal erzählen, was ich mir überlegt habe?«Er beugt sich herunter zu mir.»Wahrscheinlich werde ich wieder Soldat.«
«Du bist verrückt«, sage ich betroffen.
«Gar nicht«, erwidert er und ist einen Augenblick sehr ernst,»vielleicht nur konsequent.«
Ich bleibe stehen.»Aber Mensch, Georg…«
Er geht weiter.»Ich bin ja schließlich schon ein paar Wochen länger hier als du«, sagt er und beginnt dann über andere Dinge zu reden. Als die ersten Häuser auf tauchen, nehme ich mein Glas mit den Stichlingen und gieße es wieder in den Graben. Die Fische schwänzeln rasch davon. Das Glas lasse ich am Ufer stehen.
Ich verabschiede mich von Georg. Er geht langsam die Straße entlang. Ich bleibe vor unserem Hause stehen und sehe ihm nach. Seine Worte haben mich seltsam beunruhigt. Etwas Unbestimmtes schleicht um mich herum, es weicht zurück, wenn ich es greifen will, es löst sich auf, wenn ich darauf zugehe, doch dann kriecht es wieder hinter mir zusammen und lauert.
Der Himmel hängt wie Blei über dem niedrigen Gesträuch des Luisenplatzes, die Bäume sind kahl, ein loses Fenster klappert im Winde, und in den zerzausten Holunderbüschen der Vorgärten hockt feucht und trostlos die Dämmerung.
Ich blicke darüber hin, und mit einmal ist es, als sähe ich das alles heute zum erstenmal. Es ist mir plötzlich so wenig vertraut, daß ich es beinahe nicht wiedererkenne. Hat dieses nasse, schmutzige Stück Rasen vor mir denn wirklich die Jahre meiner Kindheit umfaßt, die so beschwingt und strahlend in meiner Erinnerung sind? Ist dieser leere, nüchterne Platz mit der Fabrik davor tatsächlich der stille Fleck Welt, den wir Heimat nannten, und der allein in der Flut des Entsetzens draußen Hoffnung bedeutete und Rettung vor dem Ertrinken? War es nicht eine andere als diese graue Straße mit den häßlichen Häusern, deren Bild in kargen Pausen zwischen Tod und Tod über den Trichtern aufstieg wie ein milder und schwermütiger Traum? War sie nicht viel leuchtender und schöner, viel weiter und erfüllter in meinen Gedanken? Ist denn alles nicht mehr wahr, hat mein Blut mich belogen, hat meine Erinnerung mich betrogen? Ich fröstle. Es ist anders geworden, ohne daß es sich verändert hat. Immer noch geht die Uhr im Fabrikturm von Neubauer und schlägt die Stunden genau wie damals, als wir auf das Zifferblatt starrten, um zu beobachten, wie die Zeiger sich bewegten — immer noch sitzt der Mohr mit der Gipspfeife im Tabakgeschäft nebenan, in dem Georg Rahe die ersten Zigaretten für uns kaufte — und immer noch stehen im Kolonialwarenladen gegenüber die Reklamebilder für Seifenpulver, denen Karl Vogt und ich bei sonnigem Wetter mit Uhrgläsern die Augen ausbrannten. Ich spähe durch das Schaufenster — die Brandflecke sind sogar noch zu sehen. Aber dazwischen liegt der Krieg, und Karl Vogt ist längst am Kemmel gefallen.
Ich begreife nicht, weshalb ich hier stehe und nicht mehr dasselbe empfinde wie damals in den Trichtern und Baracken. Wo ist die Fülle geblieben, das Bebende, Helle, der Glanz, das Unnennbare? War meine Erinnerung denn lebendiger als die Wirklichkeit? Ist sie zur Wirklichkeit geworden, während diese sich zurückzog und zusammenschrumpfte, bis nichts mehr von ihr blieb als ein kahles Gerüst, an dem einmal bunte Fahnen geflattert haben? Hat sie sich von ihr abgelöst und schwebt nun nur noch wie eine schwermütige Wolke darüber? Haben die Jahre draußen die Brücke zum Früher verbrannt?
Fragen, Fragen — aber keine Antwort! —
Die Verfügungen für den Schulbesuch der Kriegsteilnehmer sind da. Unsere Vertreter haben erreicht, was wir wollten: Abgekürzte Schulzeit, Sonderkurse für die Soldaten und Erleichterung des Examens.
Es war nicht leicht, das durchzusetzen, obschon doch Revolution ist
— denn dieser ganze Umsturz ist nur ein bißchen Windgekräusel an der Oberfläche. Er greift nicht durch. Was nützt es schon, wenn ein paar Spitzenposten anders besetzt werden — jeder Soldat weiß, daß ein Kompanieführer die besten Absichten haben kann — wenn die Unteroffiziere nicht wollen, ist er trotzdem ohnmächtig. Ebenso muß der fortschrittlichste Minister immer scheitern, wenn er einen reaktionären Block von Geheimräten gegen sich hat. Und die Geheimräte sind in Deutschland auf ihren Posten geblieben. Diese Büronapoleons sind unverwüstlich.
Die erste Unterrichtsstunde. Wir hocken in den Bänken. Fast alle in Uniform. Drei mit Vollbärten. Einer verheiratet.
Ich entdecke an meinem Platz eine Schnitzerei mit meinem Namen, sauber mit dem Taschenmesser gearbeitet und mit Tinte ausgemalt, ich erinnere mich noch, daß ich diese Leistung in der Geschichtsstunde vollbracht habe; dennoch meine ich, es sei vor hundert Jahren gewesen, so ein sonderbares Gefühl ist es, hier zu sitzen. Der Krieg wird dadurch zur Vergangenheit, und der Kreis schließt sich erneut. Aber wir sind nicht mehr darin.
Unser Deutschlehrer Hollermann kommt und erledigt zunächst das Notwendigste; er gibt uns die Dinge zurück, die von früher her von uns noch lagern. Das lastete wohl schon lange auf seiner ordentlichen Schulmeisterseele. Er schließt den Klassenschrank auf und nimmt die Sachen heraus; Zeichenständer, Reißbretter, und vor allem die dicken blauen Packen der Hefte — Aufsätze, Diktate, Klassenarbeiten. Ein hoher Stapel sammelt sich links neben ihm auf dem Katheder. Die Namen werden aufgerufen, wir melden uns und nehmen die Hefte in Empfang. Willy wirft sie herüber, daß die Löschblätter fliegen.
«Breyer!«—»Hier!«
«Brücker!«—»Hier!«
«Detlefs!«—
Schweigen.»Tot!«ruft Willy.
Detlefs, klein, blond, krumme Beine, einmal sitzengeblieben. Gefreiter, gefallen 1917 am Kemmelberg.
Das Heft wandert auf die rechte Seite des Katheders.
«Dirker!«—»Hier!«
«Dierksmann!«—»Tot!«
Dierksmann, Bauernsohn, großer Skatspieler, schlechter Sänger, gefallen bei Ypern. Das Heft geht nach rechts.
«Eggers!«—
«Noch nicht da!«ruft Willy. Ludwig ergänzt:»Lungenschuß, liegt im Reservelazarett Dortmund, kommt von da drei Monate nach Lippspringe.«
«Friederichs!«—»Hier!«
«Giesecke!«—»Vermißt!«
«Stimmt nicht«, erklärt Westerholt.
«Er ist doch vermißt gemeldet«, sagt Reinersmann.
«Richtig«, gibt Westerholt zurück,»aber er ist seit drei Wochen hier in der Irrenanstalt. Ich habe ihn selbst gesehen.«
«Gehring I!«—»Tot!«
Gehring I; Primus, schrieb Gedichte, gab Privatstunden, kaufte für das Geld Bücher. Gefallen bei Soissons, zusammen mit seinem Bruder.
«Gehring II«, murmelt der Deutschlehrer nur und legt das Heft von selbst zu den ändern nach rechts.
«Schrieb wirklich gute Aufsätze«, sagt er nachdenklich, und blättert noch einmal das Heft von Gehring I durch.
Noch manches Heft geht nach rechts, und als alle aufgerufen sind, liegt ein dicker Packen zurückgebliebener Arbeiten da. Unschlüssig sieht Oberlehrer Hollermann ihn an. Sein Ordnungsgefühl rebelliert wohl, denn er weiß nicht, was er damit anfangen soll. Schließlich findet er einen Ausweg. Man kann die Hefte an die Eltern der Toten schicken.
Aber Willy ist damit nicht einverstanden.»Meinen Sie, daß die Eltern sich darüber freuen werden, wenn sie so ein Heft voll >Ungenü- gend< und >Mangelhaft< sehen?«fragt er.»Lassen Sie das lieber!«Hollermann sieht ihn mit runden Augen an.»Ja, was soll ich denn sonst machen damit?«
«Liegenlassen«, sagt Albert.
Hollermann ist beinahe entrüstet.»Aber das geht doch auf keinen Fall, Troßke, diese Hefte gehören doch nicht der Schule, die kann man doch nicht einfach liegenlassen.«
«O Gott, was für Umstände«, stöhnt Willy und fährt sich durch die Haare.»Geben Sie die Hefte uns, wir werden sie schon besorgen. «Zögernd rückt Hollermann sie raus.»Aber — «meint er ängstlich, denn es ist ja fremdes Eigentum.
«Ja, ja«, sagt Willy,»alles, was Sie wollen, ganz ordentlich frankiert, mit Einschreiben, beruhigen Sie sich nur! Ordnung muß sein, wenn's auch weh tut!«Er blinzelt uns zu und zeigt auf seine Stirn.
Nach der Stunde blättern wir unsere Arbeiten durch. Das letzte Thema, das wir als Aufsatz bearbeitet haben, hieß: Warum muß Deutschland den Krieg gewinnen? Das war Anfang 1916. Einleitung, sechs Beweispunkte, zusammenfassender Schluß. Punkt vier:»Aus religiösen Gründen «habe ich nicht gut gelöst. Mit roter Tinte steht am Rande: sprunghaft und nicht überzeugend. Im ganzen aber ist die siebenseitige Arbeit mit zwei minus zensiert, ein gutes Resultat, wenn man die Tatsachen heute danebenhält. Willy liest seine Arbeit in Naturgeschichte:»Das Buschwindröschen und sein Wurzelstock «laut vor. Grinsend sieht er sich um.»Damit sind wir ja wohl fertig, was?«
«Erledigt«, ruft Westerholt.
Ja, erledigt, wahrhaftig! Wir haben alles vergessen, darin liegt bereits das Urteil. Das, was Bethke und Kosole uns beigebracht haben, vergessen wir nicht.
Nachmittags holen Albert und Ludwig mich ab. Wir wollen sehen, wie es unserm Kameraden Giesecke geht. Unterwegs treffen wir Georg Rahe. Er schließt sich uns an, denn er hat Giesecke auch gekannt. Es ist ein klarer Tag. Vom Hügel, auf dem das Gebäude liegt, kann man weit über die Felder sehen. Gruppenweise arbeiten dort die Irren in ihren blauweiß gestreiften Jacken unter der Aufsicht uniformierter Wächter. Aus einem Fenster des rechten Flügels hören wir Gesang.»An der Saale hellem Strande…«Es muß ein Kranker sein. Sonderbar klingt es durch das Eisengitter:»Und die Wolken ziehen — drüber hin…«
Giesecke ist in einem großen Saal mit einigen anderen Kranken untergebracht. Als wir eintreten, schreit einer grell:»Deckung — Dek- kung!«und kriecht unter den Tisch. Die ändern kümmern sich nicht darum. Giesecke kommt uns sofort entgegen. Er hat ein schmales, gelbes Gesicht und sieht mit dem spitzen Kinn und den abstehenden Ohren viel jünger aus als früher. Nur seine Augen sind unruhig und alt.
Bevor wir ihn begrüßen können, zieht uns jemand beiseite.»Was Neues draußen?«fragt er.
«Nein, nichts Neues«, erwidere ich.
«Und die Front? Haben wir Verdun nun endlich?«
Wir sehen uns an.»Es ist ja längst Frieden«, sagt Albert beruhigend.
Er lacht, ein unangenehmes, meckerndes Gelächter.»Laßt euch doch nicht anscheißen! Die wollen euch bloß dumm machen und lauern nur darauf, daß wir rauskommen sollen! Und dann heidi geschnappt und an die Front. «Geheimnisvoll setzt er hinzu:»Mich kriegen sie nicht wieder!«
Giesecke gibt uns die Hand. Wir sind befangen, denn wir hatten gedacht, er würde wie ein Affe rumturnen und toben und Grimassen schneiden oder wenigstens andauernd zittern, wie die Schüttler an den Straßenecken. Statt dessen lächelt er uns mit schiefem, armem Munde an und sagt:»Hättet ihr wohl nicht gedacht, was?«
«Du bist doch ganz gesund«, erwidere ich.»Was hast du denn?«Er streicht sich über die Stirn.»Kopfschmerzen. Wie ein Ring im Hinterkopf. Und dann Fleury…«
Er ist bei den Kämpfen um Fleury verschüttet worden und hat stundenlang mit einem ändern zusammengelegen, das Gesicht durch einen Balken gegen dessen Hüfte gepreßt, die bis zum Bauch aufgerissen war. Der andere hatte den Kopf frei und schrie. Dann strömte jedesmal eine Welle Blut über Gieseckes Gesicht. Allmählich drückten sich die Därme aus dem Bauch und drohten ihn zu ersticken. Er mußte sie zurückquetschen, um Luft zu kriegen und hörte dabei immer das dumpfe Aufbrüllen des ändern, wenn er hineingriff.
Er erzählt das alles ganz richtig und nacheinander.»Jede Nacht kommt es wieder, ich ersticke dann, und das Zimmer ist voll von schmierigen, weißen Schlangen und Blut.«
«Aber, wenn du es doch weißt, kannst du denn nicht dagegen an- gehen?«fragt Albert.
Giesecke schüttelt den Kopf.»Es nützt nichts, auch wenn ich wach bin. Sie sind da, sowie es dunkel wird. «Er fröstelt.»Zu Hause bin ich aus dem Fenster gesprungen und habe mir ein Bein gebrochen. Da haben sie mich hierher gebracht.«
«Was macht ihr denn?«fragt er nach einer Weile,»habt ihr schon Examen gemacht?«
«Bald«, sagt Ludwig.
«Wird bei mir wohl nichts mehr werden«, meint Giesecke trübe,»so einen lassen sie nicht an Kinder ran.«
Der Mann, der vorhin» Deckung!«gerufen hat, schleicht sich hinter Albert und stupst ihn in den Nacken. Albert fährt auf, besinnt sich jedoch.»K. v.!«kichert der Mann,»K. v!«Er kreischt vor Lachen, aber plötzlich wird er ernst und geht still in eine Ecke.
«Könnt ihr nicht mal an den Major schreiben?«fragt Giesecke.»Welchen Major?«sage ich verwundert. Ludwig stößt mich an.»Was sollen wir ihm denn schreiben?«fahre ich rasch fort.
«Er soll mich einmal wieder nach Fleury lassen«, antwortet Giesecke erregt,»das würde mir helfen, ganz bestimmt. Da ist es jetzt sicher ganz still, und ich kenne es doch nur, wie alles hochflog. Ich würde dann durch die Totenschlucht bei Kalte Erde vorbei nach Fleury gehen, kein Schuß würde fallen, und alles wäre vorbei. Dann müßte ich doch auch Ruhe kriegen, meint ihr nicht auch?«
«Es wird auch so Vorbeigehen«, sagt Ludwig und legt Giesecke die Hand auf den Arm,»du mußt es dir nur ganz richtig klarmachen. «Giesecke sieht traurig vor sich hin.»Schreibt doch dem Major. Gerhard Giesecke heiße ich, mit ck. «Seine Augen sind stur und blind.»Könnt ihr mir nicht etwas Apfelmus mitbringen? Ich möchte so gern mal wieder Apfelmus essen.«
Wir versprechen ihm alles, aber er hört uns schon gar nicht mehr, so teilnahmslos ist er mit einmal geworden. Als wir gehen, steht er auf und macht vor Ludwig eine Ehrenbezeigung. Dann hockt er sich mit abwesenden Augen an den Tisch.
An der Tür sehe ich noch einmal zu ihm hinüber. Er springt plötzlich auf, als erwache er, und läuft hinter uns her.»Nehmt mich mit«, sagt er mit einer hohen, seltsamen Stimme,»sie kommen schon wieder. «Er drückt sich furchtsam an uns. Wir wissen nicht, was wir tun sollen. Da tritt der Arzt herein, sieht uns und nimmt Giesecke vorsichtig um die Schulter.»Wir wollen in den Garten gehen«, sagt er ruhig zu ihm, und Giesecke läßt sich folgsam wegführen.
Draußen liegt die Abendsonne über den Feldern. Aus dem vergitterten Fenster klingt noch immer das Singen —»doch die Burgen — sind zerfallen — Wolken ziehen — drüber hin. «
Schweigend gehen wir nebeneinander her. Die Furchen der Äcker schimmern. Schmal und blaß hängt die Mondsichel zwischen den Ästen der Bäume.
«Ich glaube«, sagt Ludwig nach einer Weile,»etwas haben wir alle davon. —«
Ich blicke ihn an. Sein Gesicht ist vom Abendrot beschienen. Er ist ernst und nachdenklich. Ich will ihm antworten, aber plötzlich zittert mir ein leichter Schauer über die Haut — ich weiß nicht woher und warum.
«Man sollte gar nicht mehr darüber reden«, sagt Albert.
Wir gehen weiter. Das Abendrot verblaßt, und die Dämmerung beginnt. Die Mondsichel wird stärker. Der Nachtwind hebt sich von den Feldern, und in den Häusern werden die ersten Fenster hell. Wir kommen in die Stadt.
Georg Rahe hat den ganzen Weg über nicht gesprochen. Erst als wir stehenbleiben, um uns zu verabschieden, scheint er aus seinen Gedanken zu erwachen.»Habt ihr gehört, was er wollte?«fragt er —»Nach Fleury — zurück nach Fleury. —«
Ich mag noch nicht nach Hause gehen. Albert auch nicht. Wir wandern langsam die Wälle entlang. Unten rauscht der Fluß. An der Mühle bleiben wir stehen und lehnen uns über das Geländer der Brücke.
«Komisch, daß man nie allein sein mag, Ernst, was?«sagt Albert.»Ja«, sage ich,»man weiß gar nicht recht, wo man hingehört.«
Er nickt.»Das ist es. Aber man muß doch irgendwo hingehören.«»Wenn wir erst einen Beruf haben«, sage ich.
Er wehrt ab.»Das ist auch nichts. Man müßte etwas Lebendiges haben, Ernst. Einen Menschen, weißt du. —«
«Ach, ein Mensch«, erwidere ich,»das ist die wackeligste Sache der Welt. Wie leicht der hops gehen kann, haben wir doch oft genug gesehen. Da mußt du schon zehn, zwölfe haben, damit immer noch welche bleiben, wenn die ändern eins vor den Schädel kriegen. «Albert betrachtet aufmerksam die Silhouette des Doms.»So meine ich das nicht«, sagt er.»Ich meine: einen Menschen, der richtig zu einem gehört. Manchmal denke ich: eine Frau. —«
«Großer Gott«, rufe ich, denn ich muß an Bethke denken.
«Quatsch nicht«, fährt Albert mich plötzlich an,»man muß doch etwas haben, woran man sich halten kann, verstehst du denn das nicht? Ich will, daß mich jemand lieb hat, dann hält er mich, und ich halte ihn! Sonst kann man sich ja aufhängen!«Er zittert und dreht mir den Rücken zu.
«Aber Albert«, sage ich leise,»hast du denn nicht uns?«
«Ja, ja, aber das ist doch ganz was anderes — «, und nach einer Weile flüstert er:»Kinder müßte man haben — Kinder, die von nichts etwas wissen. —«
Ich verstehe nicht genau, was er meint. Aber ich mag ihn auch nicht mehr fragen.