Wie ein Eimer Wasser, der aufs Pflaster klatscht, spritzen wir vor dem Bahnhof auseinander. Im Sturmschritt marschiert Kosole mit Bröger und Troßke die Heinrichstraße hinunter. Ebenso eilig wende ich mich mit Ludwig zur Bahnhofsallee. Ledderhose ist ohne Abschied bereits wie ein Bolzen mit seinem Trödelladen davongeschossen. Tjaden läßt sich von Willy rasch noch den nächsten Weg zum Puff beschreiben, und nur Jupp und Valentin haben Zeit. Sie werden von niemandem erwartet und schlendern deswegen vorläufig zum Wartesaal, um auf Futter zu spekulieren. Später wollen sie zur Kaserne.
Von den Bäumen der Bahnhofsallee tropft die Nässe; Wolken ziehen niedrig und rasch. Ein paar Soldaten jüngsten Jahrgangs kommen uns entgegen. Sie tragen rote Armbinden.»Achselstücke runter!«schreit einer und springt auf Ludwig zu.
«Halts Maul, du Sommerrekrut«, sage ich und schiebe ihn beiseite.
Andere drängen heran und umringen uns. Ludwig sieht den vordersten ruhig an und geht weiter. Der Mann weicht aus. Dann jedoch erscheinen zwei Matrosen und stürzen sich auf ihn.
«Ihr Schweine, seht ihr denn nicht, daß er verwundet ist?«brülle ich und werfe meinen Tornister ab, um die Hände besser frei zu kriegen. Aber Ludwig liegt schon am Boden, er ist ja so gut wie wehrlos mit seinem Armschuß. Die Matrosen zerren an seiner Uniform und treten auf ihm herum.»Ein Leutnant!«kreischt eine Weiberstimme,»schlagt ihn tot, den Bluthund!«
Ehe ich ihm helfen kann, kriege ich einen Schlag ins Gesicht, daß ich taumle.»Satansbiest!«keuche ich und pflanze dem Angreifer mit voller Kraft meinen Stiefel in den Bauch. Er seufzt und kippt um. Sofort fallen drei andere über mich her. Der Hund springt einem davon ins Genick. Doch die übrigen reißen mich herunter.»Licht aus — Messer raus — «, schreit das Weib.
Zwischen den trampelnden Beinen sehe ich, wie Ludwig mit der freien linken Hand einen Matrosen würgt, den er umwerfen konnte, indem er ihm von unten in die Kniekehlen schlug.
Er läßt nicht los, obschon die ändern mächtig auf ihn einhauen.
Dann wichst mir jemand ein Koppel auf den Schädel, und ein anderer tritt mir in die Zähne. Wolf schnappt ihn zwar gleich darauf am Knie, aber wir kommen nicht hoch, sie schlagen uns immer wieder herunter und wollen uns zu Brei trampeln. Wütend versuche ich, an meinen Revolver heranzugelangen. Doch im selben Augenblick kracht schon einer meiner Angreifer rücklings neben mir aufs Pflaster. Ein zweiter Krach — ein zweiter Besinnungsloser — gleich darauf ein dritter — da kann nur Willy an der Arbeit sein.
Er ist im Galopp herangestürmt, hat seinen Tornister unterwegs abgeworfen und tobt nun über uns. Je zwei greift er mit seinen Fäusten im Genick und hämmert ihnen die Köpfe zusammen. Sie sind sofort ohnmächtig, denn wenn Willy wild wird, ist er ein lebendiger Schmiedehammer. Wir werden frei, und ich springe auf, aber die anderen reißen schon aus. Es gelingt mir noch, einem meinen Tornister ins Kreuz zu schmettern, dann kümmere ich mich um Ludwig.
Willy ist schon auf der Verfolgung. Er hat gesehen, daß die beiden Matrosen auf Ludwig eingeschlagen haben. Einer von ihnen liegt blau und stöhnend im Rinnstein, den knurrenden Hund über sich, hinter dem zweiten jagt er mit flatternden Haaren her wie ein roter Orkan.
Ludwigs Verband ist zertreten. Blut quillt hindurch. Sein Gesicht ist verschmiert, die Stirn durch einen Tritt verletzt. Er wischt sich ab und steht langsam auf.»Hast du viel abgekriegt?«frage ich. Totenblaß schüttelt er den Kopf.
Willy hat unterdessen den Matrosen geschnappt und schleift ihn wie einen Sack heran.»Ihr verdammten Säue«, knirscht er,»den ganzen Krieg habt ihr in der Sommerfrische auf euren Schiffen gesessen und keinen Schuß gehört — jetzt aber wollt ihr die Fresse aufreißen und über Frontsoldaten herfallen —, ich will euch helfen! Knie nieder, du Etappenbock! Bitte ihn um Verzeihung!«Er stößt den Mann vor Ludwig herunter und sieht so fürchterlich dabei aus, daß einem tatsächlich bange werden kann.»Ich massakriere dich«, faucht er,»ich reiße dich in Fetzen, runter auf die Knie!«
Der Mann winselt.»Laß doch, Willy«, sagt Ludwig und nimmt seine Sachen auf.
«Was?«fragt der fassungslos,»bist du verrückt? Wo sie dir den Arm zertrampelt haben?«
Ludwig geht schon weiter.»Ach, laß ihn laufen — «
Einen Augenblick staunt Willy verständnislos über Ludwig; dann läßt er kopfschüttelnd den Matrosen los.
«Na schön, also lauf!«Aber er kann es sich doch nicht versagen, ihm in der Sekunde, wo er absaust, einen Fußtritt nachzufeuern, daß er
sich zweimal überschlägt.
Wir gehen weiter. Willy schimpft, denn er muß reden, wenn er wütend ist. Ludwig aber schweigt.
Plötzlich sehen wir von der Ecke der Bierstraße den Trupp der Weggelaufenen wieder anrücken. Sie haben Verstärkung geholt. Willy nimmt seine Knarre herunter.»Laden und sichern«, sagt er und seine Augen werden klein. Ludwig zieht seinen Revolver hervor, und ich mache mein Gewehr ebenfalls schußfertig. Bislang war das Ganze eine Keilerei, aber jetzt wird es Ernst. Zum zweiten Male lassen wir uns nicht anfallen.
Wir verteilen uns auf der Straße in einem Abstand von drei Schritt, damit wir kein geschlossenes Ziel bilden, und gehen vor. Der Hund merkt sofort, was los ist. Knurrend drückt er sich neben uns in den Rinnstein, denn er hat im Felde gelernt, unter Deckung vorwärts zu schleichen.
«Wenn wir auf zwanzig Meter ran sind, schießen wir«, ruft Willy drohend.
Der Haufen vor uns wird unruhig. Wir gehen weiter. Gewehre heben sich gegen uns. Willy legt knackend den Sicherungsflügel herum und holt eine Handgranate vom Koppel, die er als eisernen Bestand immer noch bei sich hat.»Ich zähle bis drei — «
Da löst sich aus dem Trupp ein älterer Mann mit einem Unteroffiziersrock, an dem die Tressen fehlen. Er tritt vor uns und ruft:»Sind wir Kameraden oder nicht?«
Willy muß erst Luft holen, so verblüfft ist er.»Verdammt, das fragen wir euch, ihr feigen Kälber«, entgegnet er entrüstet,»wer hat denn hier angefangen, über Verwundete herzufallen?«
Der andere stutzt.»Habt ihr das gemacht?«fragt er zurück.
«Er wollte die Achselstücke nicht runternehmen«, sagt einer aus dem Haufen.
Der Mann macht eine ärgerliche Bewegung. Dann wendet er sich uns wieder zu.»Das hätten sie nicht machen sollen, Kameraden. Aber ihr scheint gar nicht zu wissen, was los ist. Wo kommt ihr denn eigentlich her?«
«Von der Front, woher sonst?«schnaubt Willy.
«Und wohin wollt ihr?«
«Dahin, wo ihr den ganzen Krieg gewesen seid: nach Hause.«»Kamerad«, der Mann hebt einen leeren Ärmel hoch,»das habe ich nicht zu Hause verloren.«
«Um so schlimmer«, erklärt Willy ungerührt,»dann solltest du dich schämen, mit solchen nachgemachten Soldaten zusammen zu sein!«Der Unteroffizier kommt näher.»Es ist Revolution«, sagt er ruhig,»und wer nicht für uns ist, der ist gegen uns!«
Willy lacht.»Schöne Revolution, mit deinem Verein der Achselklappenabreißer da! Wenn ihr nicht mehr wollt…«Er spuckt verächtlich aus.
«Doch!«sagt der Einarmige und geht jetzt rasch auf ihn zu,»wir wollen mehr! Schluß mit dem Krieg, Schluß mit der Verhetzung! Schluß mit dem Mord! Wir wollen wieder Menschen werden und keine Kriegsmaschinen!«
Willy läßt die Handgranate sinken.»Dafür war das ja ein feiner Anfang«, sagt er und deutet auf Ludwigs zertretenen Verband. Dann geht er mit ein paar Sprüngen auf den Trupp los.»Macht, daß ihr nach Hause kommt, ihr Säuglinge!«brüllt er in den zurückweichenden Haufen.»Menschen wollt ihr werden? Ihr seid ja noch nicht mal Soldaten! Wenn man sieht, wie ihr eure Gewehre anfaßt, kann man Angst kriegen, daß ihr euch die Hände brecht!«
Der Schwarm verläuft sich. Willy macht kehrt und baut sich vor dem Unteroffizier auf.»So, jetzt will ich dir mal was sagen! Wir haben den Kram genau so satt wie ihr, und Schluß werden muß einmal damit, das ist klar! Aber nicht so! Wenn wir was machen, dann tun wir es selbst, aber vorschreiben lassen wir uns noch lange nichts. Und nun sperr deine Augen mal ganz weit auf!«
Er reißt sich mit zwei Griffen die Achselklappen ab.»Das mache ich, weil ich es will, und nicht, weil ihr es wollt! Das ist meine Sache. Der da aber — «er zeigt auf Ludwig hinüber,»ist unser Leutnant, und er behält sie, und wehe dem, der was dazu sagt. «Der Einarmige nickt. In seinem Gesicht arbeitet es.»Ich war doch auch draußen, Mensch«, stößt er hervor,»ich weiß doch auch Bescheid! Hier — «er weist erregt seinen Stumpf vor.»Zwanzigste I. D., Verdun!«
«Waren wir auch«, sagt Willy lakonisch,»dann also — Mahlzeit!«
Er lupft seinen Tornister an und hängt die Knarre um. Wir marschieren weiter. Aber als Ludwig an ihm vorübergeht, nimmt der Unteroffizier mit der roten Armbinde plötzlich die Hand an die Mütze, und wir verstehen, was er will: er grüßt nicht die Uniform und nicht den Krieg — er grüßt den Kameraden von draußen.
Willys Wohnung ist am nächsten. Gerührt winkt er zu dem kleinen Hause hinüber.»Salü, alter Kasten! Jetzt hat Reserve Ruhe. «Wir wollen stehenbleiben. Doch Willy wehrt ab.»Erst bringen wir Ludwig weg«, erklärt er kampflustig,»meinen Kartoffelsalat und meine Ermahnungen kriege ich früh genug.«
Unterwegs halten wir an und säubern uns, damit unsere Eltern nicht sehen, daß wir gerade aus einer Schlägerei kommen. Ich wische Ludwigs Gesicht ab, und wir machen seinen Verband los, um die blutigen Stellen zu verdecken, weil seine Mutter sich sonst leicht erschrecken könnte. Er muß sowieso später zum Lazarett und sich neu verbinden lassen.
Wir kommen ruhig hin. Ludwig sieht immer noch sehr angegriffen aus.»Mach dir nichts draus«, sage ich und gebe ihm die Hand. Willy legt ihm seine Pranke um die Schultern.»Kann jedem mal passieren, alter Junge. Ohne den Schuß hättest du Gulasch aus ihnen gemacht.«
Ludwig nickt uns zu und geht hinein. Wir sehen ihm nach, ob er auch richtig die Treppe hinaufkommt. Er ist schon halb oben, da fällt Willy plötzlich noch etwas ein.»Das nächste Mal treten, Ludwig«, ruft er beschwörend hinter ihm her,»immer nur treten! Nie rankommen lassen in solchen Fällen!«Dann läßt er befriedigt die Haustür zufallen.
«Ich möchte wissen, was er seit ein paar Wochen hat«, sage ich. Willy kratzt sich den Schädel.»Es wird die Ruhr sein«, meint er,»denn Ludwig sonst! — Weißt du noch, wie er den Tank bei Bix- schoote erledigte? — Ganz allein! Das war nicht so einfach, mein lieber Scholli. —«
Er lupft seinen Tornister an.»Also mach's gut, Ernst — ich will jetzt mal nachsehen, was Familie Homeyer im letzten halben Jahr gemacht hat. Eine Stunde Rührung schätze ich, dann geht's los mit dem Erziehen. Meine Mutter — Mensch, das wäre ein Feldwebel geworden! Ein goldenes Herz hat die Alte — aber in einer Fassung von Granit!«
Ich gehe allein weiter, und auf einmal ist die Welt verändert. In meinen Ohren rauscht es, als ströme ein Fluß unter dem Pflaster her, und ich sehe und höre nicht eher mehr etwas, als bis ich vor unserm Hause stehe. Langsam gehe ich hinauf. Über der Tür hängt ein Schild.»Herzlich willkommen!«und ein Strauß Blumen steckt daneben. Sie haben mich schon kommen sehen und stehen alle da, meine Schwestern — hinter ihnen ist das Wohnzimmer zu sehen, auf dem Tisch steht Essen und alles ist feierlich. — »Was macht ihr denn für Unsinn«, sage ich,»Blumen und alles — wozu denn? — so wichtig ist das doch nicht — weshalb weinst du denn, Mutter? — ich bin doch wieder da — und der Krieg ist zu Ende — da braucht man doch nicht zu weinen — «, und dann erst merke ich, daß mir selbst die Tränen salzig in die Schnauze laufen.
Wir haben Kartoffelpuffer mit Eiern und Wurst gegessen — eine wunderbare Mahlzeit. Fast zwei Jahre ist es her, seit ich zuletzt ein Ei gesehen habe — von Kartoffelpuffern ganz zu schweigen.
Jetzt sitzen wir satt und behaglich um den großen Tisch im Wohnzimmer und trinken Eichelkaffee mit Zuckerersatz. Die Lampe brennt, der Kanarienvogel singt, sogar der Ofen ist warm, und Wolf liegt unter dem Tisch und schläft. Es ist so schön, wie es nur sein kann.
«Nun erzähl mal, was du alles erlebt hast, Ernst«, sagt mein Vater.»Erlebt — «, erwidere ich und denke nach,»erlebt habe ich eigentlich gar nichts. Es war doch andauernd Krieg, was soll man da schon erleben?«
So sehr ich mir auch den Kopf zerbreche, mir fällt nichts Rechtes ein. Von den Sachen draußen kann man mit Zivilisten nicht reden, und etwas anderes kenne ich ja nicht.»Ihr habt doch sicherlich hier viel mehr erlebt«, sage ich entschuldigend.
Das haben sie. Meine Schwestern erzählen, wie sie das Abendbrot zusammenhamstern mußten. Zweimal ist ihnen von den Gendarmen alles auf den Bahnhöfen abgenommen worden. Beim drittenmal haben sie die Eier in die Mäntel genäht, die Wurst in die Blusen gesteckt, und die Kartoffeln in Taschen unter den Röcken verborgen. Da sind sie durchgekommen.
Ich höre ihnen etwas abwesend zu. Sie sind groß geworden, seit ich sie zum letztenmal gesehen habe. Vielleicht habe ich damals auch nicht so darauf geachtet, deshalb fällt es mir um so mehr auf. Ilse muß schon über siebzehn sein. Wie die Zeit vergeht! — »Weißt du, daß Regierungsrat Pleister gestorben ist?«fragt mein Vater.
Ich schüttle den Kopf.»Wann denn?«
«Im Juli, ungefähr um den zwanzigsten herum. —«
Das Wasser auf dem Ofen singt. Ich spiele mit den Fransen der Tischdecke. So, im Juli, denke ich, im Juli — da haben wir in den letzten fünf Tagen sechsunddreißig Mann verloren. Doch ich weiß kaum noch von dreien, wie sie heißen, so viele kamen später noch dazu.»Was hat er denn gehabt?«frage ich, ein bißchen schläfrig von der ungewohnten Wärme des Zimmers,»Splitter oder Gewehrschuß?«
«Aber Ernst«, erwidert mein Vater verwundert,»er war doch gar kein Soldat! Lungenentzündung hat er gehabt.«
«Ach, richtig«, sage ich und setze mich auf meinem Stuhl zurecht,»das gibt's ja auch noch.«
Sie berichten weiter, was seit meinem letzten Urlaub passiert ist. Der Schlächter an der Ecke ist von hungrigen Frauen halbtot geschlagen worden. Einmal, Ende August, hat es für jede Familie ein ganzes Pfund Fisch gegeben. Der Hund von Doktor Knott ist weggefangen und wahrscheinlich zu Seife verarbeitet worden. Fräulein Mentrup hat ein Kind gekriegt. Die Kartoffeln sind wieder teurer geworden. Nächste Woche soll es vielleicht auf dem Schlachthof Knochen zu kaufen geben. Die zweite Tochter von Tante Grete hat im vorigen Monat geheiratet, einen Rittmeister sogar. —
Draußen klopft der Regen an die Scheiben. Ich ziehe die Schultern hoch. Sonderbar, wieder in einem Zimmer zu sitzen. Sonderbar, zu Hause zu sein. —
Meine Schwester hält inne.»Du hörst ja gar nicht zu, Ernst — «, sagt sie erstaunt.
«Doch, doch«, versichere ich und raffe mich rasch zusammen,»einen Rittmeister, natürlich, einen Rittmeister hat sie geheiratet.«
«Ja, stell dir vor, das Glück«, fährt meine Schwester eifrig fort,»dabei hat sie doch das ganze Gesicht voll Sommersprossen! Was sagst du nur dazu?«
Was soll ich schon dazu sagen — wenn ein Rittmeister eine Schrapnellkugel ins Gehirn kriegt, ist er ebenso erledigt wie andere Menschen auch.
Sie sprechen weiter, doch ich kann meine Gedanken nicht recht Zusammenhalten. Immer wieder schweifen sie ab.
Ich stehe auf und sehe aus dem Fenster. Ein paar Unterhosen hängen auf der Leine. Sie flattern grau und träge in der Dämmerung. Das unsichere Halbdunkel der Bleiche flackert — und plötzlich steigt schattenhaft und fern ein anderes Bild dahinter herauf — flatternde Wäsche, eine einsame Mundharmonika im Abend, ein Vormarsch im Zwielicht — und viele tote Neger in fahlen, blauen Mänteln, mit zerborstenen Lippen und blutigen Augen — Gas. Das Bild ist einen Augenblick ganz deutlich, dann schwankt es und schwindet, die Unterhosen flattern hindurch, die Bleiche ist wieder da, und ich spüre hinter mir wieder das Zimmer mit Eltern, Wärme und Geborgenheit. Vorbei, denke ich erleichtert und wende mich rasch ab.
«Weshalb bist du nur so zappelig, Ernst«, fragt mein Vater,»du hast noch keine Viertelstunde hintereinander ruhig geses- sen.«
«Vielleicht ist er übermüdet«, meint meine Mutter.
«Nein«, antworte ich etwas verwirrt und denke nach,»das nicht. Aber ich glaube fast, ich kann nicht mehr so lange auf einem Stuhl sitzen. Im Felde hatten wir keine, lagen wir immer herum, wie es gerade traf. Ich bin es einfach nicht mehr gewöhnt.«
«Komisch«, sagt mein Vater.
Ich zucke die Achseln. Meine Mutter lächelt.»Warst du schon in deinem Zimmer?«fragt sie.
«Noch nicht«, erwidere ich und gehe hinüber. Mir schlägt das Herz, als ich die Tür öffne und im Dunkeln den Geruch der Bücher atme. Hastig knipse ich das Licht an. Dann blicke ich mich um.»Es ist alles genau so geblieben«, sagt meine Schwester hinter mir.
«Ja, ja«, antworte ich abwehrend, denn ich möchte jetzt lieber allein sein. Doch die ändern kommen auch schon. Sie bleiben in der Tür stehen und blicken mich aufmunternd an. Ich setze mich in den Lehnstuhl und lege die Hände auf die Tischplatte. Sie fühlt sich glatt und kühl an. Ja, alles ist so geblieben. Da liegt sogar noch immer der Briefbeschwerer aus braunem Marmor, den mir Karl Vogt geschenkt hat. Er hat seinen Platz wie früher neben dem Kompaß und dem Tintenfaß. Aber Karl Vogt ist am Kemmel gefallen.
«Gefällt dir das Zimmer nicht mehr?«fragt meine Schwester.
«Doch«, sage ich zögernd,»aber es ist so klein. —«
Mein Vater lacht.»Es war doch früher genau so.«
«Das wohl«, gebe ich zu,»aber ich habe gemeint, es wäre viel größer. —«
«Du warst so lange nicht hier, Ernst«, sagt meine Mutter.
Ich nicke.»Das Bett wird noch frisch überzogen«, fährt sie fort,»da mußt du jetzt nicht hinsehen.«
Ich taste nach meiner Rocktasche. Adolf Bethke hat mir zum Abschied ein Päckchen Zigarren geschenkt. Ich muß jetzt eine davon rauchen. Alles ist so lose um mich herum, als wäre mir etwas schwindlig. Ich ziehe den Rauch tief in die Lungen und fühle, daß es schon besser wird.
«Zigarren rauchst du?«fragt mein Vater überrascht und beinahe vorwurfsvoll.
Verwundert sehe ich ihn an.»Natürlich«, erwidere ich,»die gehörten doch zur Verpflegung draußen. Jeden Tag standen uns drei oder vier zu. Willst du auch eine haben?«
Kopfschüttelnd nimmt er sie.»Früher hast du überhaupt nicht geraucht.«
«Ja, früher — «, sage ich und muß ein bißchen über ihn lächeln, weil er soviel Wesen davon macht. Früher hätte ich allerdings auch das nicht getan. Aber die Scheu vor älteren Leuten hat sich im Schützengraben verloren. Da waren wir alle gleich.
Verstohlen sehe ich nach der Uhr. Ein paar Stunden bin ich erst hier, aber mir ist, als wären es ein paar Wochen, seit ich Willy und Ludwig nicht mehr gesehen habe. Am liebsten möchte ich rasch einmal zu ihnen laufen; denn noch kann ich mir nicht vorstellen, daß ich jetzt für immer in der Familie bleiben soll, noch habe ich das Gefühl, daß wir morgen, übermorgen, irgendwann wieder marschieren werden, Schulter an Schulter, fluchend, ergeben, aber dicht zusammen. —
Schließlich stehe ich auf und hole meinen Mantel vom Korridor.»Willst du heute abend nicht bei uns bleiben?«fragt meine Mutter.»Ich muß mich noch melden«, sage ich, denn das andere würde sie doch nicht verstehen.
Sie geht mit mir bis zur Treppe.»Warte«, sagt sie,»es ist ja dunkel, ich bringe ein Licht. —«
Überrascht bleibe ich stehen. Ein Licht? Für die paar Treppenstufen? Herrgott, durch wieviel verschlammte Trichter, über wieviel zerwühlte Anmarschwege habe ich mich jahrelang ohne Licht in schwerem Feuer nachts zurechtfinden müssen — und jetzt ein Licht für eine Treppe? Ach Mutter! — Aber ich warte geduldig, bis sie mit der Lampe kommt und mir leuchtet, und es ist, als streichelte sie mich im Dunkel.
«Sei vorsichtig, Ernst, daß dir draußen nichts geschieht«, ruft sie mir nach.
«Was soll mir denn geschehen, hier in der Heimat, hier im Frieden, Mutter?«sage ich lächelnd und blicke zu ihr hinauf.
Sie beugt sich über das Geländer. Ihr kleines, zerfurchtes Gesicht ist golden beschattet vom Lampenschirm. Unwirklich wehen die Schatten und Lichter hinter ihr über den Flur. Und plötzlich schwankt etwas in mir, eine seltsame Rührung packt mich, fast wie ein Schmerz — als gäbe es nichts auf der Welt als dieses Gesicht, als wäre ich wieder ein Kind, dem man auf der Treppe leuchten muß, ein Junge, dem auf der Straße etwas geschehen kann, und alles andere dazwischen nur Spuk und Traum. —
Aber das Licht der Lampe fängt sich zu einem scharfen Reflex in meinem Koppelschloß. Die Sekunde verfliegt, ich bin kein Kind, ich trage eine Uniform. Rasch springe ich die Treppe hinunter, immer drei Stufen auf einmal, und stoße die Haustür auf, begierig, zu meinen Kameraden zu kommen.
Zuerst besuche ich Albert Troßke. Seine Mutter hat verweinte Augen, doch das gehört heute ja dazu und ist nicht weiter schlimm. Aber Albert ist auch nicht der alte, er hockt wie ein nasser Pudel am Tisch. Neben ihm sitzt sein älterer Bruder. Ich habe ihn lange nicht gesehen und weiß nur, daß er im Lazarett gelegen hat. Er ist dick geworden und hat schöne rote Backen.»Tag, Hans, wieder gesund«, sage ich lustig,»wie geht's, wie steht's? Auf zwei Beinen immer noch am besten, was?«
Er murmelt etwas Unverständliches. Frau Troßke schluckt auf und geht hinaus. Albert macht mir ein Zeichen mit den Augen. Verständnislos blicke ich mich um. Dann sehe ich, daß Hans neben seinem Stuhl Krücken liegen hat.»Noch immer nicht in Ordnung?«frage ich.
«Doch«, antwortet er,»vorige Woche aus dem Lazarett entlassen. «Er greift nach den Krücken, stützt sich auf und schwingt sich mit zwei Sätzen zum Ofen. Beide Füße fehlen ihm. Rechts hat er eine eiserne Prothese, links schon ein Gestell mit einem Schuh daran.
Ich schäme mich über meine dumme Redensart.»Hab's nicht gewußt, Hans«, sage ich.
Er nickt. Die Füße sind ihm in den Karpaten erfroren, dann ist Brand hinzugekommen, und schließlich hat man sie abnehmen müssen.
«Gott sei Dank, nur die Füße!«Frau Troßke hat ein Kissen geholt und schiebt es unter die Prothesen.»Laß nur, Hans, wir werden es schon machen, du wirst schon wieder laufen lernen. «Sie setzt sich neben ihn und streichelt seine Hände.
«Ja«, sage ich, um etwas zu sagen,»die Beine hast du wenigstens noch.«
«Mir reicht es auch so«, antwortet er.
Ich gebe ihm eine Zigarette. Was soll man machen in solchen Augenblicken — alles ist roh, wenn man es auch noch so gut meint. Wir sprechen zwar etwas, mühsam und stockend, aber wenn einer von uns aufsteht, Albert oder ich, und hin und her geht, merken wir, wie Hans uns auf die Füße schaut, mit einem dunklen, gequälten Blick, und wie die Augen seiner Mutter denselben Weg suchen — immer nur auf die Füße — hin und her — ihr habt Füße — ich habe keine. —
Er kann wohl vorläufig nichts anderes denken — und seine Mutter kümmert sich nur um ihn. Sie sieht nicht, daß Albert darunter leidet. Er ist ganz scheu geworden in den paar Stunden.»Du, wir müssen uns noch melden«, sage ich zu ihm, um einen Grund anzugeben, damit er fortgehen kann.
«Ja«, sagt er rasch.
Draußen atmen wir auf. Der Abend spiegelt sich weich auf dem nassen Pflaster. Laternen flackern im Wind. Albert sieht starr geradeaus.»Ich kann doch nichts daran ändern, Ernst«, beginnt er stockend,»aber wenn ich so dazwischensitze und ihn sehe und seine Mutter, dann meine ich zuletzt, ich sei schuld, und ich schäme mich, weil ich noch zwei Füße habe. Ganz gemein kommt man sich vor, weil man so heil ist. Wenn man wenigstens noch einen Armschuß hätte, wie Ludwig, dann stände man doch nicht ganz so aufreizend da. —«
Ich versuche, ihn zu trösten. Doch er blickt zur Seite. Es überzeugt ihn nicht, was ich auch sage — aber mich erleichtert es wenigstens. So ist es ja immer mit Trost.
Wir gehen zu Willy. In seinem Zimmer sieht es wüst aus. Das Bett steht zerlegt an der Wand. Es muß größer gemacht werden, denn Willy ist beim Militär so gewachsen, daß er nicht mehr hineinpaßt. Bretter, Hämmer und Sägen liegen umher. Auf einem Stuhl glänzt eine gewaltige Schüssel Kartoffelsalat. Er selbst ist nicht da. Seine Mutter erzählt, daß er seit einer Stunde in der Waschküche sei, um sich sauber zu schrubben. Wir warten.
Frau Homeyer kniet vor Willys Tornister und kramt darin. Kopfschüttelnd holt sie einige dreckige Fetzen heraus, die früher einmal ein Paar Strümpfe gewesen sind.»Lauter Löcher«, murmelt sie und sieht Albert und mich mißbilligend an.
«Kriegsware«, sage ich und zucke die Achseln.
«So, Kriegsware?«erwidert sie ärgerlich,»was ihr nicht alles wißt! Beste Wolle war das! Acht Tage bin ich rumgelaufen, bis ich sie gekriegt habe. Und jetzt sind sie schon hin. Aber neue gibt's nirgendwo. «Bekümmert sieht sie die Reste an.»Soviel Zeit habt ihr im Krieg doch sicher jede Woche mal gehabt, um schnell ein Paar reine Strümpfe anzuziehen. Vier Paar hat er das letztemal mitgenommen. Nur zwei hat er wieder mitgebracht. Und die noch so!«Sie fährt mit der Hand durch die Löcher.
Ich will Willy gerade in Schutz nehmen, da kommt er selbst triumphierend mit gewaltigem Gebrüll hereingestürmt.»Das nennt die Welt Schwein haben! Ein Kochgeschirraspirant! Heute abend gibt es noch Hühnerfrikassee!«
In der Hand trägt er wie eine Fahne einen dicken Hahn. Die grüngoldenen Schwanzfedern schimmern, der Kamm leuchtet purpurn, am Schnabel hängen noch ein paar Blutstropfen. Obschon ich gut gegessen habe, läuft mir das Wasser im Munde zusammen.
Willy schwenkt das Tier selig hin und her. Frau Homeyer richtet sich auf und stößt einen Schrei aus.»Willy! Wo hast du den her?«
Willy berichtet stolz, daß er ihn soeben hinter dem Schuppen gesichtet, gefangen und geschlachtet habe, alles in zwei Minuten. Er klopft seiner Mutter auf den Rücken.»Das haben wir draußen gelernt. Willy war nicht umsonst mal stellvertretender Küchenbulle.«
Sie sieht ihn an, als hätte er eine Bombe verschluckt. Dann ruft sie nach ihrem Mann. Gebrochen stöhnt sie:»Oskar, sieh dir das an — er hat Bindings Zuchthahn geschlachtet!«
«Wieso Binding?«fragt Willy.
«Der Hahn gehört doch Binding nebenan! Dem Milchhändler! O Gott, wie konntest du so was machen?«Frau Homeyer sinkt auf einen Stuhl.
«Ich werde doch solch einen Braten nicht laufen lassen«, sagt Willy erstaunt,»das hat man schon so im Griff.«
Frau Homeyer kann sich nicht beruhigen.»Das wird ja was geben! Dieser Bindung ist solch ein Wutkopp!«
«Wofür hältst du mich eigentlich?«fragt Willy jetzt ernstlich beleidigt,»meinst du denn, mich hätte nur eine Maus gesehen? Ich bin doch kein Anfänger! Es ist genau der zehnte, den ich erwische. Ein Jubiläumshahn! Den können wir in voller Ruhe essen, dieser Binding hat keine Ahnung davon. «Er schüttelt ihn zärtlich.»Du sollst mir schmecken! Wollen wir ihn kochen oder braten?«
«Glaubst du denn, ich werde ein Stück davon essen?«ruft Frau Homeyer außer sich,»sofort bringst du ihn zurück!«
«Ich bin doch nicht verrückt«, erklärt Willy.
«Du hast ihn doch gestohlen«, klagt sie verzweifelt.
«Gestohlen?«Willy bricht in ein Gelächter aus.»Das wäre ja noch schöner. Requiriert ist der! Besorgt! Gefunden! — Gestohlen? Wenn man Geld wegnimmt, da kann man von Stehlen reden, aber doch nicht, wenn man was zu fressen schnappt. Da hätten wir schon viel gestohlen, Ernst, was?«
«Aber klar«, sage ich,»der Hahn ist dir zugelaufen, Willy. Genau wie damals der vom Batterieführer der Zweiten in Staden. Weißt du noch, wie du daraus für die ganze Kompanie Hühnerfrikassee gemacht hast? Eins zu eins — ein Huhn auf ein Pferd?«Willy grinst geschmeichelt und tupft mit der Hand auf die Platte des Kochherdes.
«Kalt«, sagt er enttäuscht und wendet sich an seine Mutter.»Habt
ihr denn keine Kohlen?«
Frau Homeyer ist vor Aufregung die Sprache weggeblieben. Sie kann nur den Kopf schütteln. Willy winkt begütigend.»Besorge ich morgen auch. Einstweilen können wir ja dann diesen alten Stuhl hier nehmen, der ist sowieso nichts mehr wert.«
Frau Homeyer sieht ihren Sohn erneut fassungslos an. Dann reißt sie ihm erst den Stuhl und darauf den Hahn aus den Fingern und tritt den Weg zu Milchhändler Binding an.
Willy ist ehrlich entrüstet.»Da geht er hin und singt nicht mehr«, sagt er schwermütig.»Verstehst du das, Ernst?«
Daß wir den Stuhl nicht nehmen können, obschon wir im Felde einmal ein ganzes Klavier verbrannt haben, um einen Apfelschimmel weich zu kriegen, verstehe ich zur Not. Und daß wir hier zu Hause nicht mehr dem unwillkürlichen Zucken unserer Hände nachgeben dürfen, obwohl draußen alles Freßbare Sache des Glücks und nicht der Moral war, begreife ich vielleicht auch noch. Aber daß der Hahn, der doch nun mal tot ist, zurückgebracht wird, wo sogar ein Rekrut schon wissen müßte, daß so was nur unnütze Scherereien gibt, das finde ich ganz und gar blödsinnig.
«Wenn das Mode wird, verhungern wir hier noch, paß auf«, behauptet Willy aufgewühlt.»In einer halben Stunde hätten wir das schönste Hühnerfrikassee gehabt, wenn wir unter uns gewesen wären. Ich hätte uns eine gelbe Soße dazu gemacht.«
Er läßt den Blick zwischen Kochherd und Tür hin und her wandern.»Am besten ist es, wir verschwinden«, schlage ich vor,»hier gibt's nur noch dicke Luft.«
Aber Frau Homeyer kommt schon zurück.»Er war nicht zu Hause«, sagt sie atemlos und will aufgeregt weitersprechen, da sieht sie, daß Willy sich angezogen hat. Darüber vergißt sie alles.»Du willst schon weg?«
«Bißchen Patrouille gehen, Mama«, sagt er lachend.
Sie beginnt zu weinen. Willy klopft ihr verlegen auf die Schulter.»Ich komme ja wieder. Jetzt kommen wir ja immer wieder. Viel zu oft, paß mal auf…«
Seite an Seite, mit großen Schritten, die Hände in den Taschen, gehen wir die Schloßstraße entlang.»Wollen wir Ludwig nicht abholen?«frage ich.
Willy schüttelt den Kopf.»Lieber schlafen lassen. Ist besser für ihn.«
Die Stadt ist unruhig. Lastautos mit Matrosen rasen über die Straßen. Rote Fahnen flattern.
Vor dem Rathaus werden Stöße von Flugblättern abgeladen und verteilt. Die Leute reißen sie den Matrosen aus den Händen und überfliegen sie gierig. Ihre Augen glänzen. Ein Windstoß faßt in die Packen und wirbelt die Bekanntmachungen wie einen Schwarm weißer Tauben hoch. Die Blätter fangen sich in den kahlen Ästen der Bäume und bleiben dort raschelnd hängen.»Kameraden«, sagt ein alter Mann in einem feldgrauen Mantel neben uns,»Kameraden, jetzt wird es besser. «Sein Mund zittert.»Verdammt, hier scheint was los zu sein«, sage ich.
Wir verdoppeln unsere Schritte. Je näher wir zum Domhof kommen, desto stärker wird das Gedränge. Der Platz ist voller Menschen. Auf den Stufen des Theaters steht ein Soldat und redet. Das kreidige Licht einer Karbidlampe flackert über sein Gesicht. Wir können nicht richtig verstehen, was er spricht, denn der Wind faucht in langen, unregelmäßigen Stößen über den Platz und bringt vom Dom jedesmal eine Welle Orgelmusik mit, in der die dünne, abgehackte Stimme beinahe ertrinkt.
Eine aufregende, ungewisse Spannung lagert über dem Platz. Die Menge steht wie eine Mauer. Fast alles Soldaten. Viele mit ihren Frauen. Die schweigsamen, verschlossenen Gesichter haben denselben Ausdruck wie im Felde, wenn sie unter den Stahlhelmen hinweg nach dem Feinde spähten. Aber in den Blicken liegt jetzt plötzlich noch etwas anderes: die Ahnung einer Zukunft, die unfaßbare Erwartung eines anderen Lebens. — Vom Theater her kommen Rufe. Ein dumpfes Brausen antwortet.
«Kinder, jetzt geht's ran!«sagt Willy begeistert. Arme heben sich. Ein Ruck geht durch die Menge. Die Reihen geraten in Bewegung. Ein Zug formiert sich. Schreie ertönen:»Vorwärts, Kameraden!«Wie ein gewaltiger Atemzug rauscht der Marschtritt über das Pflaster. Wir schwenken ohne Besinnen ein.
Rechts von uns geht ein Artillerist. Vor uns ein Pionier. Gruppe fügt sich zu Gruppe. Nur wenige kennen sich. Trotzdem sind wir sofort miteinander vertraut. Soldaten brauchen nichts voneinander zu wissen. Sie sind Kameraden, das ist genug.»Los, Otto, komm auch mit!«ruft der Pionier vor uns einem anderen zu, der stehengeblieben ist.
Der zögert. Er hat seine Frau bei sich. Sie schiebt ihren Arm unter den seinen und sieht ihn an. Er lächelt verlegen:»Nachher, Franz. «Willy zieht eine Grimasse.»Wenn die Unterröcke erst dazwischen kommen, ist die richtige Kameradschaft bald zum Deubel, paßt mal auf!«
«Ach Quatsch«, erwidert der Pionier und gibt ihm eine Zigarette,»Weiber sind das halbe Leben. Bloß alles zu seiner Zeit.«
Wir fallen unwillkürlich in Gleichschritt. Das ist ein anderes Marschieren als sonst. Das Pflaster dröhnt, und wie ein Blitz fliegt über den Kolonnen eine wilde, atemlose Hoffnung auf: als ginge es jetzt geradewegs in ein Dasein der Freiheit und Gerechtigkeit hinein.
Doch schon nach wenigen hundert Metern stoppt der Zug. Er hält vor der Wohnung des Bürgermeisters. Ein paar Arbeiter rütteln an der Haustür. Es bleibt still; aber hinter den geschlossenen Fenstern sieht man einen Augenblick das bleiche Gesicht einer Frau. Das Rütteln verstärkt sich, und ein Stein fliegt gegen das Fenster. Ein zweiter folgt. Klirrend splittert das Glas in den Vorgarten.
Da erscheint der Bürgermeister auf dem Balkon der ersten Etage. Zurufe fliegen ihm entgegen. Er versucht, etwas zu beteuern, aber niemand hört auf ihn.»Los! Mitkommen!«schreit jemand.
Der Bürgermeister zuckt die Achseln und nickt. Wenige Minuten später marschiert er an der Spitze des Zuges.
Der nächste, der herausgeholt wird, ist der Leiter des Lebensmittelamtes. Dann kommt ein verstörter Kahlkopf an die Reihe, der Butterschiebungen gemacht haben soll. Einen Getreidehändler erwischen wir nicht mehr — der ist rechtzeitig getürmt, als er uns kommen hörte.
Der Zug marschiert zum Schloßhof und staut sich vor dem Eingang des Bezirkskommandos. Ein Soldat springt die Treppe empor und geht hinein. Wir warten. Alle Fenster sind hell.
Endlich öffnet sich die Tür wieder. Wir recken die Köpfe. Ein Mann mit einer Aktentasche tritt heraus. Er sucht Blätter hervor und beginnt mit gleichmäßiger Stimme eine Rede abzulesen. Wir lauschen angestrengt. Willy hält beide Hände an seine großen Ohren. Da er einen Kopf größer als alle anderen ist, versteht er die Sätze besser und wiederholt sie. Aber die Worte plätschern über uns hin. Sie klingen und verklingen, doch sie treffen uns nicht, sie reißen uns nicht mit, sie rütteln uns nicht auf, sie plätschern nur und plätschern.
Wir werden unruhig. Wir verstehen das nicht. Wir sind gewohnt zu handeln. Es ist doch Revolution! Da muß doch was geschehen! Aber der Mann da oben redet nur und redet. Er mahnt zur Ruhe und Besonnenheit. Dabei ist noch niemand unbesonnen gewesen. Endlich tritt er ab.»Wer war das?«frage ich enttäuscht.
Der Artillerist neben uns weiß Bescheid.»Der Vorsitzende vom Ar- beiter- und Soldatenrat. War früher, glaube ich, Zahnarzt.«»Aha!«brummt Willy und dreht unbehaglich seinen roten Schädel hin und her.»So ein Quatsch! Ich habe gedacht, es ginge gleich zum Bahnhof und dann direkt nach Berlin.«
Rufe aus der Menge werden laut und pflanzen sich fort. Der Bürgermeister soll reden. Er wird die Treppe hinaufgeschoben. Mit ruhiger Stimme erklärt er, es würde alles genau untersucht werden. Neben ihm stehen schlotternd die beiden Schieber. Sie schwitzen vor Angst. Dabei geschieht ihnen gar nichts. Sie werden wohl ange- schrien, aber jeder geniert sich, die Hand gegen sie zu erheben.
«Na«, sagt Willy,»wenigstens der Bürgermeister hat Courage.«
«Ach, der ist das gewöhnt«, meint der Artillerist,»den holen sie alle paar Tage mal raus. —«
Wir sehen ihn erstaunt an.»Passiert denn so was öfter?«fragt Albert.
Der andere nickt.»Es kommen ja immer noch neue Truppen zurück, die meinen, daß sie aufräumen müssen. Na, und dabei bleibt's dann. —«
«Mensch, das versteh' ich nicht«, sagt Albert.
«Ich auch nicht«, erklärt der Artillerist und gähnt herzhaft,»hab's mir auch anders vorgestellt. Na adjüs, ich trudele in meine Flohkiste. Das ist vernünftiger.«
Andere folgen. Der Platz leert sich zusehends. Ein zweiter Delegierter spricht jetzt. Auch er mahnt zur Ruhe. Die Führer würden für alles sorgen. Sie seien schon bei der Arbeit. Er zeigt auf die erleuchteten Fenster. Am besten wäre es, wir gingen nach Hause.
«Verflucht, und das ist alles?«sage ich ärgerlich.
Wir kommen uns beinahe lächerlich vor, weil wir mitgegangen sind. Was haben wir vorhin nur gewollt?» Scheiße«, sagt Willy enttäuscht. Wir zucken die Achseln und schlendern fort.
Eine Zeitlang bummeln wir noch herum, dann trennen wir uns. Ich bringe Albert nach Hause und gehe allein zurück. Aber es ist sonderbar: jetzt, wo meine Kameraden nicht mehr bei mir sind, beginnt alles um mich herum leise zu schwanken und unwirklich zu werden. Eben noch war es selbstverständlich und fest, jetzt aber löst es sich plötzlich und ist so bestürzend neu und ungewohnt, daß ich beinahe nicht mehr weiß, ob ich nicht alles nur träume. Bin ich denn da? Bin ich wirklich wieder da und zu Hause?
Da liegen die Straßen steinern und sicher, mit glatten, schimmernden Dächern, nirgendwo klaffen Löcher und Granatrisse, unversehrt ragen die Mauern in die blaue Nacht, dunkel schneiden die Silhouetten der Balkone und Giebel hinein, nichts ist angefressen von den Zähnen des Krieges, die Fensterscheiben sind alle heil, und hinter den hellen Wolken ihrer Gardinen lebt eine gedämpfte andere Welt als die heulende des Todes, in der ich bislang zu Hause war.
Vor einem Hause, in dem die untern Fenster erleuchtet sind, bleibe ich stehen. Musik klingt leise heraus. Die Vorhänge sind nur halb zugezogen. Man kann hineinsehen.
Eine Frau sitzt am Klavier und spielt. Sie ist allein. Nur das Licht einer Stehlampe fällt auf die weißen Notenblätter. Das übrige Zimmer verschwimmt in buntem Halbdämmer. Ein Sofa und einige Stühle mit Lehnen und Polstern führen in ihm ein friedliches Dasein. In einem Sessel liegt ein Hund und schläft. Ich starre wie verzaubert auf dieses Bild. Erst als die Frau aufsteht und mit weichen Schritten lautlos zum Tisch geht, trete ich rasch zurück. Mein Herz schlägt. Im wilden Licht der Leuchtraketen und unter den zerschossenen Ruinen der Frontdörfer habe ich fast vergessen, daß es dies alles noch gibt: diesen straßenweit in Räume gemauerten Frieden der Teppiche, der Wärme und der Frauen. Ich möchte die Haustür öffnen und in das Zimmer hineingehen, ich möchte mich in den Sessel kauern, die Hände in die Wärme halten und mich davon überströmen lassen, ich möchte sprechen und das Harte, Heftige, Vergangene unter den stillen Augen der Frau auftauen und hinter mir lassen, ich möchte es ausziehen wie einen schmutzigen Anzug. — Das Licht im Zimmer erlischt. Ich gehe weiter. Aber die Nacht ist auf einmal voll von dunklen Rufen und undeutlichen Stimmen, voll von Bildern und Vergangenem, voll von Fragen und Antworten.
Ich wandere weit hinaus. Auf der Anhöhe des Klosterberges bleibe ich stehen. Silbern liegt unten die Stadt. Der Mond spiegelt sich im Fluß. Die Türme schweben, und es ist unfaßbar still. Ich stehe eine Weile und gehe dann zurück, wieder den Straßen und Wohnungen zu.
Leise tappe ich zu Hause die Treppe hinauf. Meine Eltern schlafen schon. Ich höre ihren Atem — den leiseren meiner Mutter und den rauheren meines Vaters — und schäme mich, daß ich so spät wiedergekommen bin.
In meinem Zimmer mache ich Licht. In der Ecke steht das Bett, weiß bezogen, mit aufgeschlagener Decke. Ich setze mich darauf und hocke noch eine Weile so da. Dann werde ich müde. Mechanisch strecke ich mich aus und will die Decke über mich ziehen. Aber plötzlich setze ich mich wieder auf, denn ich habe ganz vergessen, mich auszuziehen. Draußen schliefen wir ja immer nur in unserm Zeug. Langsam streife ich die Uniform ab und stelle die Stiefel in die Ecke. Dabei sehe ich, daß am Fußende des Bettes ein Nachthemd hängt. Das kenne ich kaum noch. Ich ziehe es an. Und mit einmal, während ich es nackt und fröstelnd überstreife, überwältigt mich ein Gefühl, ich betaste die Decken und wühle mich in die Kissen, ich drücke sie an mich und presse mich hinein, in die Kissen, in den Schlaf und wieder in das Leben, und empfinde nur das eine und nichts anderes: ich bin da, — ja, ich bin da!
Albert und ich sitzen im Cafe Meyer am Fenster. Vor uns auf dem runden Marmortisch stehen zwei Tassen mit kalt gewordenem Kaffee. Wir sind schon drei Stunden hier, doch wir haben uns noch nicht entschließen können, die bittere Brühe zu trinken. Dabei sind wir von draußen allerhand gewohnt; aber dieses hier kann nichts anderes als aufgekochte Steinkohle sein.
Nur drei Tische sind besetzt. An einem verhandeln Schieber über einen Waggon Lebensmittel; am anderen sitzt ein Ehepaar, das Zeitungen liest; am dritten rekeln wir unsere hingeflegelten Hintern auf den roten Plüschsofas.
Die Gardinen sind schmutzig, die Kellnerin gähnt, die Luft ist stik- kig, und eigentlich ist hier wohl nicht viel los; aber für uns ist trotzdem eine ganze Menge los. Wir hocken gemütlich da, wir haben endlos Zeit, die Musik spielt, und wir können aus dem Fenster sehen. Das haben wir lange nicht mehr gehabt.
Wir bleiben deshalb auch so lange, bis die drei Musiker ihre Sachen zusammengepackt haben und die Kellnerin ärgerlich immer engere Kreise um den Tisch zieht. Dann zahlen wir und streichen durch den Abend. Es ist großartig, langsam von einem Schaufenster zum anderen zu gehen, sich um nichts kümmern zu müssen und ein freier Mann zu sein.
An der Stubenstraße machen wir halt.»Könnten mal zu Becker reingehen«, sage ich.
«Tatsächlich«, stimmt Albert zu,»das könnten wir. Der wird sich ja wundern.«
In Beckers Geschäft haben wir einen Teil unserer Schuljahre zugebracht. Dort gab es alles zu kaufen, was man sich denken konnte: Hefte, Zeichensachen, Schmetterlingsnetze, Aquarien, Briefmarkensammlungen, antiquarische Bücher und Broschüren mit den Auflösungen der algebraischen Aufgaben. Bei Becker saßen wir stundenlang, dort haben wir heimlich Zigaretten geraucht und unsere ersten verstohlenen Zusammenkünfte mit den Mädchen der Bürgerschule gehabt. Er war uns großer Vertrauter. Wir treten ein. Rasch lassen ein paar Schüler, die in den Ecken stehen, ihre Zigaretten in der hohlen Hand verschwinden. Wir lächeln und recken uns ein bißchen. Ein Mädchen kommt und fragt nach unsern Wünschen.
«Wir möchten Herrn Becker sprechen«, sage ich.
Das Mädchen zögert.»Kann ich es denn nicht auch machen?«
«Nein, Fräulein«, erwidere ich,»das können Sie nicht. Sagen Sie mal Herrn Becker Bescheid.«
Sie geht. Wir sehen uns an und stecken unternehmungslustig die Hände in die Taschen. Das wird ja ein Hallo geben!
Das wohlbekannte Klingeln der Kontortür ertönt. Becker kommt, klein, grau und verhutzelt, wie immer. Er blinzelt einen Moment. Dann erkennt er uns.»Sieh da, Birkholz und Troßke«, sagt er,»auch wieder da?«
«Ja«, sagen wir rasch und denken, daß es jetzt losgeht.
«Ist ja schön! Was soll's denn sein?«fragt er.»Zigaretten?«Wir sind verdutzt. Kaufen wollten wir eigentlich gar nichts, daran hatten wir nicht gedacht.»Ja, zehn Zigaretten«, sage ich schließlich.
Er gibt sie uns.»Na, denn auf ein baldiges!«Damit schlurft er zurück. Wir stehen noch einen Augenblick.»Noch was vergessen?«ruft er von der kleinen Treppe.
«Nein, nein«, antworten wir und gehen.
«Na, Albert«, sage ich draußen,»der scheint zu meinen, wir wären bloß mal spazieren gewesen, was?«
Er macht eine verdrossene Bewegung.»Zivilistenkamel…«
Wir bummeln weiter. Spät am Abend stößt Willy zu uns, und wir gehen zusammen zur Kaserne.
Unterwegs springt Willy plötzlich zur Seite. Ich erschrecke ebenfalls. Das unverkennbare Jaulen einer Granate kreischt heran, aber dann sehen wir uns verblüfft um und lachen. Es war nur das Quietschen der elektrischen Straßenbahn.
Jupp und Valentin hocken etwas verlassen in einer leeren, großen Korporalschaftsbude. Tjaden ist überhaupt noch nicht zurückgekommen. Er ist immer noch im Puff. Die beiden anderen begrüßen uns erfreut, denn nun können sie einen Skat ansetzen. Jupp hat es in der kurzen Zeit geschafft, Soldatenrat zu werden. Er hat sich einfach selbst dazu gemacht und bleibt es jetzt, weil ein solcher Wirrwarr in der Kaserne herrscht, daß keiner Bescheid weiß. Damit ist er fürs erste versorgt, denn seine Zivilstellung ist futsch. Sein Rechtsanwalt aus Köln hat ihm geschrieben, die weibliche Hilfskraft sei vorzüglich eingearbeitet und billiger, Jupp aber wäre sicher den Büroanforderungen im Feld etwas entwachsen. Er bedauere herzlich, die Zeiten seien hart. Beste Wünsche für die Zukunft.
«Schöner Mist«, sagt Jupp melancholisch,»all die Jahre hat man nur den einen Wunsch gehabt: weg von den Preußen, und jetzt ist man froh, daß man bleiben kann. Na, so kaputt oder so kaputt — ich reize achtzehn.«
Willy hat ein Bombenblatt in der Faust.»Zwanzig«, antworte ich für ihn,»und du, Valentin?«
Er zuckt die Achseln.»Vierundzwanzig.«
Als Jupp bei vierzig paßt, erscheint Karl Bröger.»Wollte mal nach- sehen, was ihr macht«, sagt er.
«Da hast du uns hier gesucht, was?«schmunzelt Willy und setzt sich behaglich und breit hin.»Ja, die Kaserne ist doch nun mal die wahre Heimat der Soldaten. Einundvierzig!«
«Sechsundvierzig«, schnaubt Valentin herausfordernd.»Achtundvierzig«, donnert Willy zurück.
Verflucht, das wird ein hohes Spiel. Wir rücken näher. Willy lehnt sich genußreich an die Spindwand und zeigt uns einen haushohen Grand. Aber Valentin grinst gefährlich; er hat ein noch mächtigeres Null aus der Hand in der Flosse.
Wunderbar gemütlich ist es in der Bude hier. Auf dem Tisch steht ein Kerzenstummel und flackert. Matt schimmern die Bettstellen aus den Schatten. Wir fressen große Stücke Käse, die Jupp besorgt hat. Er teilt jedem seine Portion mit dem Seitengewehr zu.
«Fünfzig!«tobt Valentin.
Da fliegt die Tür auf und Tjaden stürmt herein.»Se… Se…«stottert er und kriegt vor Aufregung einen mörderischen Schluckauf. Wir führen ihn mit hochgehobenen Armen in der Stube herum.»Haben dir die Huren dein Geld geklaut?«fragt Willy teilnehmend.
Er schüttelt den Kopf.»Se… Se…«
«Stillgestanden!«kommandiert Willy.
Tjaden fährt zusammen. Der Schluckauf ist weg.
«Seelig — ich habe Seelig gefunden«, jubelt er.
«Mensch — «, Willy heult auf,»wenn du jetzt lügst, werfe ich dich aus dem Fenster!«
Seelig war unser Kompaniefeldwebel, ein Biest ersten Ranges. Zwei Monate vor der Revolution wurde er leider versetzt, so daß wir ihn bislang nicht fassen konnten. Tjaden erzählt, daß er in der Kneipe» König Wilhelm «Gastwirt sei und hervorragendes Bier habe.
«Hin!«rufe ich, und wir drängen hinaus.
«Aber nicht ohne Ferdinand«, sagt Willy.»Der hat mit Seelig noch wegen Schröder abzurechnen.«
Wir pfeifen und lärmen vor Kosoles Haus, bis er mißmutig im Hemd ans Fenster kommt.»Was fällt euch ein — am späten Abend«, knurrt er.»Wißt ihr nicht, daß ich verheiratet bin?«
«Das hat Zeit«, schreit Willy,»komm rasch runter, wir haben Seelig entdeckt!«
Ferdinand wird lebendig.»Tatsache?«fragt er.
«Tatsache!«kräht Tjaden.
«Gut, ich komme!«antwortet er,»aber wehe, wenn ihr mich angeschmiert habt. —«
Fünf Minuten später ist er unten und läßt sich berichten. Wir sausen los.
Als wir in die Hakenstraße einbiegen, rennt Willy in der Aufregung einen Mann über den Haufen.»Rhinozeros!«brüllt der vom Boden aus hinter ihm her.
Willy kehrt rasch um und pflanzt sich drohend vor ihm auf.»Pardon, haben Sie was gesagt?«fragt er und tippt an seine Mütze. Der andere rappelt sich auf und sieht an ihm empor.»Nicht daß ich wüßte«, antwortet er mürrisch.
«Ihr Glück«, sagt Willy,»zum Schimpfen haben Sie nämlich nicht den nötigen Körperbau.«
Wir durchqueren einen Vorgarten und halten vor der Kneipe» König Wilhelm«. Der Name ist bereits überpinselt. Sie heißt jetzt» Edelweiß«. Willy greift nach der Türklinke.
«Moment!«Kosole zieht ihm die Pfote zurück.»Willy«, sagt er dann beschwörend,»wenn gehauen wird, haue ich! Hand drauf!«»Geht in Ordnung!«bestätigt Willy und reißt die Tür auf.
Lärm, Qualm und Licht stürzen uns entgegen. Gläser klirren. Ein Musikapparat donnert den Marsch aus der Lustigen Witwe. Die I Iähne der Theke blitzen. Ein Schwall von Gelächter wirbelt um die Wanne des Schanktisches, an dem zwei Mädchen die schaumigen Gläser spülen. Ein Haufen Kerle ist um sie herum. Witze knallen. Das Wasser schwappt über. Die Gesichter spiegeln sich zerfetzt darin. Ein Artillerist bestellt eine Runde Schnaps und greift einem Mädchen an den Hintern.»Das ist noch Friedensware, Lina«, brüllt er begeistert.
Wir drängen uns durch.»Tatsächlich, da steht er«, sagt Willy. Mit hochgekrempelten Ärmeln und offenem Hemd, schwitzend, mit nassem, rotem Hals zapft der Wirt hinter der Theke das Bier ab. Braun und golden fließen die Strahlen unter seinen dicken Fäusten in die Gläser. Jetzt sieht er auf. Ein breites Lächeln kriecht über sein Gesicht.»Mahlzeit! Auch da? Was soll's sein, hell oder dunkel?«
«Hell, Herr Feldwebel«, erwidert Tjaden frech. Der Wirt zählt uns mit den Augen.
«Sieben«, sagt Willy.
«Sieben«, wiederholt der Wirt mit einem Blick auf Ferdinand,»sechs und Kosole, wahrhaftig.«
Ferdinand schiebt sich an die Theke. Er stemmt die Fäuste auf den Rand.»Sag mal, Seelig, hast du auch Rum?«
Der Wirt hantiert hinter seinem Nickelgestänge.»Natürlich habe ich auch Rum.«
Kosole sieht ihn von unten an.»Den säufst du wohl gerne, was?«Der Wirt schenkt eine Reihe Kognakgläser voll.»Natürlich saufe ich den gerne.«
«Weißt du noch, wann du zuletzt welchen gesoffen hast?«
«Nee. —«
«Aber ich!«brüllt Kosole und steht vor der Theke wie ein Bulle vor der Hecke.»Kennst du den Namen Schröder?«
«Schröder gibt's viele«, sagt der Wirt oberflächlich.
Das ist zuviel für Kosole. Er setzt zum Sprung an. Willy greift ihn und drückt ihn auf einen Stuhl.»Erst trinken! — Sieben hell«, erklärt er zur Theke hinüber.
Kosole schweigt. Wir setzen uns an einen Tisch. Der Wirt stellt uns die halben Liter selbst hin.»Prost!«sagt er.
«Prost!«antwortet Tjaden, und wir trinken. Dann lehnt er sich zurück.»Na, was habe ich euch gesagt?«
Ferdinand sieht hinter dem Wirt her, der wieder zur Theke geht.»Mensch, wenn ich bloß daran denke«, knirscht er,»wie dieser Bock nach Rum stank, als wir Schröder beerdigten. —«
Er bricht ab.
«Nur nicht weich werden«, sagt Tjaden.
Doch als hätten Kosoles Worte einen Vorhang weggerissen, der die ganze Zeit über schon leise wehte und schwankte, so scheint plötzlich eine graue, gespenstische Öde in die Wirtsstube hereinzuwachsen. Die Fenster verschwimmen, Schatten steigen aus den Ritzen des Fußbodens herauf, und die Erinnerung qualmt durch den rauchigen Raum.
Kosole und Seelig konnten sich nie leiden. Aber Todfeinde wurden sie erst im August 18. Wir lagen damals in einem zerschossenen Grabenstück hinter der Front und mußten die ganze Nacht an einem Massengrab arbeiten. Wir konnten es nicht sehr tief machen, denn das Grundwasser kam bald durch. Zum Schluß arbeiteten wir schon im dicken Schlamm.
Bethke, Weßling und Kosole steiften die Wände ab. Wir ändern sammelten die Leichen im Vorgelände und legten sie zu einer langen Reihe nebeneinander, bis das Grab fertig war. Albert Troßke, der Unteroffizier unserer Gruppe, nahm ihnen die Erkennungsmarken und Soldbücher ab, soweit sie noch welche hatten.
Einige der Toten hatten schon schwarze, angefaulte Gesichter, denn die Verwesung ging schnell in den feuchten Monaten. Dafür aber rochen alle nicht so stark wie im Sommer. Manche waren naß und aufgedunsen vom Wasser wie Schwämme. Einen fanden wir mit ausgebreiteten Armen auf die Erde hingestreckt. Als wir ihn aufhoben, sahen wir, daß es fast nur die Fetzen der Uniform waren, die da lagen, so war er zerrissen. Auch die Erkennungsmarke war fort. Schließlich erkannten wir an einem Hosenflicken den Gefreiten Glaser. Er war sehr leicht; denn von ihm fehlte fast die Hälfte.
Arme, Beine oder Köpfe, die einzeln gefunden wurden, sammelten wir in einer Zeltbahn für sich. Als wir Glaser brachten, sagte Bethke:»Genug. Wir kriegen keine mehr hinein.«
Wir holten ein paar Sandsäcke voll Kalk. Jupp streute sie mit einer flachen Schaufel über die Grube aus. Bald darauf erschien Max Weil, der Kreuze von hinten geholt hatte. Zu unserem Erstaunen tauchte auch Seelig aus dem Dunkel auf. Wir hörten, daß er den Auftrag hätte, ein Gebet zu sprechen; denn ein Pfarrer war gerade nicht in der Nähe, und unsere beiden Offiziere waren krank. Er hatte deswegen schlechte Laune, denn er konnte kein Blut sehen, so dick er auch war. Dazu kam, daß er nachtblind war und wenig sah. Das machte ihn so nervös, daß er den Rand der Grube verfehlte und hin- cinfiel. Tjaden brach in ein Gelächter aus und rief mit unterdrückter Stimme:»Zuschütten — zuschütten.«
Ausgerechnet Kosole arbeitete an dieser Stelle in der Grube. Seelig fiel ihm direkt auf den Kopf. Das waren ungefähr zwei Zentner Lebendgewicht. Ferdinand fluchte mörderisch. Dann erkannte er den Feldwebel, aber deshalb hielt er als altes Frontschwein den Mund nicht, denn es war immerhin 1918. Der Spieß rappelte sich auf, sah seinen alten Gegner Kosole vor sich, explodierte und schrie ihn an. Ferdinand schrie zurück. Bethke, der auch unten war, versuchte sie auseinanderzureißen. Aber der Feldwebel spuckte vor Wut, und Kosole, im Gefühl, daß ihm schweres Unrecht geschah, ließ nichts auf sich sitzen. Jetzt sprang auch Willy noch hinunter, um Kosole beizustehen. Ein mächtiges Gebrüll stieg aus dem Grabe empor.
«Ruhe«, sagte plötzlich jemand. Obschon die Stimme leise war, hörte der Lärm sofort auf. Seelig kletterte schnaufend aus dem Grabe. Seine Uniform war weiß von Kalkstaub, er sah aus wie ein Posaunenengel mit Zuckerguß. Kosole und Bethke kamen ebenfalls herauf. Oben stand, auf einen Spazierstock gestützt, Ludwig Breyer. Bisher hatte er, mit zwei Mänteln zugedeckt, vor dem Unterstand gelegen, denn er hatte damals seinen ersten schweren Ruhranfall.
«Was ist los?«fragte er. Drei Mann zugleich versuchten eine Erklärung. Ludwig wehrte müde ab.»Ist ja auch egal. —«
Der Spieß behauptete, Kosole hätte ihn vor die Brust gestoßen. Kosole schäumte erneut dagegen an.
«Ruhe«, sagte Ludwig noch einmal. Es wurde still.»Hast du alle Erkennungsmarken, Albert?«fragte er dann.
«Ja«, antwortete Troßke und fügte leise, damit Kosole es nicht hörte, hinzu:»Schröder ist auch dabei.«
Beide sahen sich einen Augenblick an. Dann sagte Ludwig:»Also haben sie ihn doch nicht gefangengenommen. Wo liegt er?«Albert führte ihn die Reihe entlang. Bröger und ich folgten; denn Schröder war unser Mitschüler. Troßke blieb vor einer Leiche stehen, deren Kopf mit einem Sandsack zugedeckt war. Breyer bückte sich. Albert zog ihn zurück.»Nicht aufmachen, Ludwig«, bat er. Breyer drehte sich um.»Doch, Albert«, sagte er ruhig,»doch.«
Man konnte von Schröders Oberkörper nichts mehr erkennen. Er war platt wie eine Flunder. Das Gesicht war zu einem Brett gehauen, in dem ein schwarzes, schiefes Loch mit einem Kranz von Zähnen den Mund andeutete. Schweigend deckte Breyer es wieder zu.»Weiß er es?«fragte er und sah in die Richtung, wo Kosole arbeitete. Albert schüttelte den Kopf.»Wir müssen sehen, daß der Spieß verschwindet«, sagte er,»sonst gibt's ein Unglück.«
Schröder war Kosoles Freund gewesen. Wir hatten es zwar nie verstanden, denn er war zart und anfällig, ein richtiges Kind, und ganz das Gegenteil von Ferdinand — aber der hatte ihn beschützt wie eine Mutter.
Hinter uns schnaufte jemand. Seelig war nachgekommen und stand mit aufgerissenen Augen da.»So was habe ich noch nie gesehen«, stammelte er,»wie ist denn das passiert?«
Keiner antwortete — denn Schröder hätte eigentlich vor acht Tagen auf Urlaub gehen müssen, Seelig aber hatte ihm das versaut, weil er ihn und Kosole nicht leiden konnte. Jetzt war Schröder tot.
Wir gingen weg; denn wir konnten den Spieß in diesem Augenblick nicht sehen. Ludwig kroch wieder unter seine Mäntel. Nur Albert blieb. Seelig starrte die Leiche an. Der Mond kam hinter einer Wolke hervor und beleuchtete sie. Den dicken Oberkörper vorgebeugt, stand der Feldwebel da und sah auf die fahlen Gesichter herunter, in denen der unfaßbare Ausdruck des Grauens gefroren war zu einer Stille, die beinahe schrie.
Albert sagte kalt:»Am besten ist es, Sie sprechen jetzt ein Gebet und gehen dann zurück.«
Der Feldwebel wischte sich die Stirn.»Ich kann nicht«, murmelte er. Das Entsetzen hatte ihn gepackt. Wir kannten das; wochenlang empfand man nichts, und plötzlich, bei einer unvermuteten Gelegenheit, schlug es einen nieder. Mit grünem Gesicht schaukelte er fort.
«Der hat gemeint, hier würde mit Bonbons geschmissen«, sagte Tjaden trocken.
Es regnete stärker, und wir wurden ungeduldig. Der Spieß kam nicht wieder. Endlich holten wir Ludwig Breyer unter seinen Mänteln hervor. Er sprach mit leiser Stimme ein Vaterunser.
Wir reichten die Toten herunter. Weil half mit anfassen. Ich merkte, wie er bebte. Fast unhörbar flüsterte er:»Ihr werdet gerächt werden. «Immer wieder. Verwundert sah ich ihn an.
«Was hast du bloß?«fragte ich.»Das sind doch nicht deine ersten. Da wirst du viel zu rächen haben. «Er sagte dann nichts mehr.
Als wir die ersten Reihen gelegt hatten, kamen Valentin und Jupp noch mit einer Zeltbahn angeschleppt.
«Dieser lebt noch«, sagte Jupp und schlug die Zeltbahn auseinander.
Kosole warf einen Blick darauf.»Aber nicht mehr lange«, sagte er.»Auf den können wir warten.«
Der Mann in der Zeltbahn röchelte stoßweise. Bei jedem Atemzug lief ihm das Blut übers Kinn.
«Sollen wir ihn wegbringen?«fragte Jupp.
«Dann stirbt er gleich«, sagte Albert und zeigte auf das Blut. Wir betteten ihn seitwärts hin. Max Weil beschäftigte sich mit ihm. Dann arbeiteten wir weiter. Valentin half mir jetzt. Wir reichten Glaser herunter.»Mensch, die Frau, die Frau…«, murmelte Valentin.»Vorsicht, jetzt kommt Schröder«, rief Jupp nach unten und ließ die Zeltbahn rutschen.
«Halts Maul«, zischte Bröger.
Kosole hielt die Leiche noch auf den Armen.»Wer?«fragte er verständnislos.
«Schröder«, erwiderte Jupp, der glaubte, Ferdinand wisse es schon.»Quatsch nicht, du Kuhkopp, der ist doch gefangen«, schrie Kosole wütend.
«Es stimmt, Ferdinand«, sagte Albert Troßke, der daneben stand. Wir hielten den Atem an. Kosole hob ohne ein Wort die Leiche wieder heraus und kletterte hinterher. Dann leuchtete er sie mit einer Taschenlampe ab. Ganz dicht beugte er sich über die Reste des Gesichts und suchte.
«Gott sei Dank, daß der Spieß weg ist«, flüsterte Karl.
Wir warteten regungslos auf die nächste Sekunde. Kosole richtete sich auf.»Schaufel her«, sagte er kurz. Ich gab sie ihm. Wir erwarteten Mord und Totschlag. Aber Kosole begann nur zu graben. Er machte für Schröder ein einzelnes Grab und ließ keinen anderen heran. Er trug ihn auch selbst hinein. An Seelig dachte er gar nicht, so nahm es ihn mit.
Beim Morgengrauen hatten wir beide Gräber fertig. Inzwischen war der Verwundete gestorben, und wir konnten ihn gleich zu den ändern legen. Als die Erde festgestampft war, setzten wir die Kreuze ein. Kosole schrieb mit Tintenstift Schröders Namen auf eines davon, das noch leer war, und hängte einen Stahlhelm darüber.
Ludwig kam noch einmal. Wir nahmen die Helme ab. Er sprach ein zweites Vaterunser. Albert stand bleich neben ihm. Schröder war sein Nebenmann in der Schule gewesen. Am schlimmsten aber sah Kosole aus; er war ganz grau und verfallen und sagte überhaupt nichts mehr.
Wir standen noch eine Weile. Es regnete immer weiter. Dann kamen die Kaffeeholer. Wir setzten uns hin, um zu essen.
Morgens kletterte plötzlich der Spieß aus einem Unterstand in der Nähe. Wir hatten geglaubt, daß er längst weg wäre. Er stank kilometerweit nach Rum und wollte jetzt erst zurück nach hinten. Kosole brüllte auf, als er ihn sah. Zum Glück war Willy in der Nähe. Er stürzte sich sofort auf Ferdinand und hielt ihn fest. Aber wir mußten mit vier Mann alle Kräfte aufbieten, damit er sich nicht losriß und den Feldwebel erwürgte. Erst nach einer Stunde wurde er vernünftig und sah ein, daß er sich nur unglücklich machen würde, wenn er hinterherliefe. Aber er versprach an Schröders Grab, daß er noch mit Seelig abrechnen würde.
Jetzt steht Seelig an der Theke, Kosole sitzt fünf Meter von ihm weg, und beide sind keine Soldaten mehr.
Das Orchestrion donnert zum drittenmal den Marsch aus der Lustigen Witwe.
«Wirt, noch eine Lage Schnaps«, schreit Tjaden mit funkelnden Schweinsaugen.»Sofort«, antwortet Seelig und bringt die Gläser.»Prost, Kameraden!«
Kosole sieht unter gesenkten Brauen hervor.»Du bist nicht unser Kamerad«, grunzt er. Seelig nimmt die Flasche unter den Arm.»Na, schön, dann nicht«, erwidert er und geht zur Theke zurück.
Valentin schüttet den Schnaps hinunter.»Sauf, Ferdinand, das ist das einzig Wahre«, sagt er.
Willy bestellt die nächste Runde. Tjaden ist schon halb besoffen.»Na, Seelig, alte Kompaniespinne«, grölt er,»jetzt kriegen wir keinen Knast mehr, was? Trink einen mit!«Er haut seinem ehemaligen Vorgesetzten auf die Schulter, daß der sich verschluckt. Dafür wäre er ein Jahr früher vors Kriegsgericht oder in die Irrenanstalt gekommen.
Kosole sieht vom Schanktisch in sein Glas und vom Glas wieder zum Schanktisch und zu dem dicken dienstfertigen Mann an den Bierhähnen. Er schüttelt den Kopf.»Das ist ja ein ganz anderer Mensch, Ernst«, sagt er zu mir.
Mir geht es ebenso wie ihm. Ich kenne Seelig nicht wieder. Er war mit seiner Uniform und seinem Notizbuch so verwachsen, daß ich ihn mir kaum im Hemd vorstellen konnte, geschweige denn als Schankwirt. Und jetzt holt er sich ein Glas und läßt sich von Tjaden, der früher wie eine Laus vor ihm war, duzen und auf die Schulter kloppen. Verdammt, wie sich die Welt gedreht hat!
Willy stößt Kosole aufmunternd in die Rippen.»Na?«
«Ich weiß nicht, Willy«, sagt Ferdinand verstört,»soll ich dem da nun in die Fresse schlagen oder nicht? So hatte ich mir das doch nicht gedacht. Sieh dir an, wie er herumdienert, dieser Schleimscheißer. Da hat man doch gar keine Lust mehr.«
Tjaden bestellt und bestellt. Es macht ihm einen Heidenspaß, seinen Vorgesetzten für sich springen zu sehen.
Seelig hat nun auch schon allerhand hinter sich. Sein Bulldoggenschädel glüht, teils von Alkohol, teils von Geschäftsfreude.»Wollen uns wieder vertragen«, schlägt er vor,»ich spendiere auch eine Runde Friedensrum.«
«Was?«sagt Kosole und richtet sich auf.
«Rum. Ich habe da noch eine Pulle im Schrank stehen«, sagt Seelig harmlos und geht sie holen. Kosole ist wie vor den Kopf geschlagen und starrt ihm nach.
«Der weiß nichts mehr davon, Ferdinand«, vermutet Willy,»sonst hätte er das nicht riskiert.«
Seelig kommt zurück und schenkt ein. Kosole faucht ihn an.»Weißt du denn nicht mehr, wie du Rum gesoffen hast vor Angst? Kannst ja Nachtwächter im Leichenschauhaus werden, du!«
Seelig macht eine versöhnliche Handbewegung.»Ist doch schon lange her«, sagt er,»ist ja schon nicht mehr wahr.«
Ferdinand schweigt wieder. Wenn Seelig einmal scharf antworten würde, wäre der Krach sofort da. Aber dieses ungewohnte Nachgeben verblüfft Kosole und macht ihn unentschlossen.
Tjaden schnuppert, und auch wir heben die Nasen. Der Rum ist gut. Kosole schmeißt sein Glas um.»Ich lasse mir nichts spendieren.«»Mensch«, ruft Tjaden,»dann hättest du's mir doch geben können!«Er versucht mit den Fingern zu retten, was zu retten ist. Nicht viel. Das Lokal leert sich allmählich.»Feierabend«, ruft Seelig und läßt die Rolläden herunter. Wir stehen auf.
«Na, Ferdinand?«frage ich. Er schüttelt den Kopf. Er ist mit sich nicht zu Rande. Das ist nicht mehr der richtige Seelig, dieser Kellner da.
Der Wirt macht uns die Tür los.»Wiedersehen, die Herren, angenehme Ruhe.«
«Herren«, kichert Tjaden,»Herren — früher sagte er Schweine. — «Kosole ist schon fast draußen, da wirft er zufällig einen Blick auf den Fußboden und sieht Seeligs Beine, die noch in den altbekannten Gamaschen stecken. Auch die Hosen haben noch Biese und Militärschnitt. Oben ist er Wirt, unten jedoch noch Feldwebel. Das entscheidet.
Mit einem Ruck dreht Ferdinand sich um. Seelig weicht zurück. Kosole geht ihm nach.»Paß mal auf«, knurrt er,»Schröder! Schröder! Schröder! Kennst du den noch, Hund, verfluchter? Da hast du was für Schröder! Schönen Gruß vom Massengrab. «Er schlägt zu. Der Wirt kippt, springt hinter die Theke und greift nach einem Holzhammer. Er trifft Kosole auf die Schulter und ins Gesicht. Aber Ferdinand weicht überhaupt nicht aus, so wild ist er plötzlich. Er schnappt sich Seelig, drückt ihm den Kopf auf die Theke, daß es klirrt, und läßt alle Hähne los.»Da, sauf, du Rumbock! Ersticken sollst du, ersaufen in deinem Sauzeug!«knirscht er.
Das Bier strömt Seelig in den Nacken und schießt ihm durch das Hemd in die Hose, die gleich absteht wie ein Luftballon. Er brüllt vor Wut, denn es ist schwer, heutzutage so gutes Bier wiederzukriegen. Dann gelingt es ihm, sich hochzuwerfen und ein Glas zu fassen. Er stößt es Kosole von unten gegen das Kinn.
«Falsch«, sagt Willy, der interessiert in der Tür steht,»er hätte mit dem Kopf stoßen und ihm dann die Knie wegreißen müssen. «Keiner von uns greift ein. Dies ist Kosoles Sache. Auch wenn er zuschanden geschlagen würde, dürften wir ihm nicht helfen. Wir sind nur dazu da, die ändern zurückzuhalten, wenn sie Seelig beistehen wollen. Aber niemand will es mehr, denn Tjaden hat mit drei Worten die Sache erklärt.
Ferdinands Gesicht blutet heftig; er wird jetzt richtig wütend und macht Seelig rasch fertig. Mit einem Schlag gegen die Kehle bringt er ihn herunter, kollert über ihn hinweg und haut seinen Schädel ein paarmal auf den Boden, bis er genug hat.
Dann gehen wir. Lina steht käsebleich vor ihrem gurgelnden Chef.»Am besten, ihr bringt ihn ins Krankenhaus«, ruft Willy zurück,»wird ungefähr zwei bis drei Wochen dauern. Keine schlimme Kiste!«
Draußen lächelt Kosole befreit wie ein Kind, denn Schröder ist jetzt gerächt.»Das war schön«, sagt er und wischt sich das Blut ab. Dann gibt er uns die Hand.»So, jetzt muß ich aber schleunigst wieder zu meiner Frau, sonst meint die nachher noch, ich wäre in eine richtige Schlägerei gekommen.«
Wir trennen uns auf dem Marktplatz. Jupp und Valentin gehen zur Kaserne. Ihre Stiefel klappern über das mondbeschienene Pflaster.»Am liebsten möchte ich mit«, sagt Albert auf einmal.
«Kann ich verstehen«, bestätigt Willy, der wohl noch an seinen Hahn denkt.»Etwas kleinlich sind die Menschen hier, was?«
Ich nicke.»Nun müssen wir ja auch wohl bald wieder in die Schule. —«
Wir bleiben stehen und grinsen. Tjaden kann sich gar nicht fassen vor Vergnügen darüber. Dann läuft er lachend hinter Valentin und Jupp her.
Willy kratzt sich den Schädel.»Glaubt ihr, daß die sich da auf uns freuen? Ganz so bequem sind wir doch wohl nicht mehr. —«
«Als Helden, möglichst weit weg, waren wir ihnen sicher lieber«, sagt Karl.
«Ich bin ja gespannt auf das Theater«, erklärt Willy,»so wie wir jetzt gebaut sind — im Stahlbad gehärtet…«
Er hebt ein Bein etwas an und läßt einen gewaltigen Furz losheulen.»Dreißigkommafünf«, konstatiert er befriedigt.
Als unsere Kompanie aufgelöst wurde, mußten wir unsere Waffen mitnehmen. Wir hatten Anweisung, sie erst in unserm Heimatort abzuliefern. Jetzt sind wir in der Kaserne und geben die Gewehre ab. Gleichzeitig erhalten wir unsere Abmusterungslöhnung: Fünfzig Mark Entlassungsgeld und fünfzehn Marschgeld für jeden. Außerdem haben wir das Anrecht auf einen Mantel, ein Paar Schuhe, Wäsche und eine Uniform. Wir klettern zum Dachstock hinauf, um die Brocken in Empfang zu nehmen. Der Kammerspieß macht eine lässige Handbewegung:»Sucht euch was aus.«
Willy beschnuppert auf einem flüchtigen Rundgang die aufgehängten Sachen.»Hör mal«, sagt er dann väterlich,»das kannst du mit Rekruten machen. Die Brocken stammen ja aus der Arche Noah. Zeig mal neue vor!«
«Hab' keine«, erwidert der Kammerfritze mürrisch.
«So«, sagt Willy und betrachtet ihn eine Weile. Darauf holt er ein Aluminiumetui hervor.»Rauchst du?«
Der andere schüttelt seinen Glatzkopf.
«Na, dann priemst du, was?«Willy greift in die Rocktasche.
«Nee.«
«Schön, dann säufst du doch?«Willy hat an alles gedacht; er faßt nach einer Erhöhung auf der Brust.
«Auch nicht«, meint der Kammerbulle pomadig.
«Dann bleibt mir nichts übrig, als dir ein paar in die Schnauze zu schlagen«, erklärt Willy freundlich.»Wir gehen hier ohne tadellose, neue Kluft nicht weg.«
Zum Glück kommt in diesem Moment Jupp dazu, der als Soldatenrat jetzt eine große Nummer hat. Er kneift dem Kammerfritzen ein Auge.»Landsleute, Heinrich! Alte Fußlatscher. Zeig ihnen mal den Salong!«
Der Kammerspieß heitert sich auf.»Konntet ihr doch gleich sagen!«
Wir gehen mit ihm nach hinten. Da hängen die neuen Sachen. Rasch werfen wir unsern alten Kram beiseite und ziehen uns um. Willy erklärt, zwei Mäntel zu brauchen, er sei bei den Preußen blutarm geworden. Der Kammerbulle zögert. Jupp nimmt ihn unter den Arm und spricht in einer Ecke mit ihm über Verpflegungsgelder. Als beide zurückkommen, ist der Spieß beruhigt. Er streift Tjaden und Willy, die bedeutend dicker geworden sind, mit halbem Auge.»Na, ja«, brummt er,»soll mir egal sein. Manche holen ihren Kram ja auch nicht ab. Haben Marie genug. Hauptsache, daß mein Bestand stimmt.«
Wir unterschreiben, daß wir alles bekommen haben.»Sagtest du vorhin nicht was von Rauchen?«fragte der Spieß Willy.
Verblüfft grinsend holt der sein Etui heraus.
«Und von priemen?«fährt der andere fort.
Willy greift in die Rocktasche.»Aber saufen tust du nicht, was?«erkundigt er sich.
«Doch«, sagt der Spieß ruhig,»das ist mir sogar direkt vom Arzt verschrieben. Ich bin nämlich auch blutarm. Laß den Buddel mal hier.«
«Sekunde!«Willy macht einen gewaltigen Zug, um wenigstens etwas zu retten. Dann überreicht er dem staunenden Kammerfloh die Flasche, die eben noch voll war. Jetzt ist nur noch die Hälfte darin.
Jupp begleitet uns bis zum Kasernentor.»Wißt ihr, wer jetzt auch hier ist?«fragt er.»Max Weil! Im Soldatenrat!«
«Da gehört er auch hin«, erklärt Kosole.»Ganz schöner Druckposten,
was?«
«Teils, teils«, meint Jupp.»Vorläufig halten wir die Stellung, Valentin und ich. Wenn ihr mal was braucht, Freifahrtscheine oder so was, ich sitze an der Quelle.«
«Gib mal einen«, sage ich,»dann kann ich nächstens Adolf besuchen.«
Er zieht einen Block heraus und reißt den Schein ab.»Füll ihn selbst aus. Du fährst natürlich zweiter Klasse.«
«Gcmacht.«
Draußen knöpft Willy seinen Mantel auf. Er hat einen zweiten darunter an.»Besser, ich habe ihn, als daß er nachher verschoben wird«, meint er gemütlich.»Den können mir die Preußen für mein halbes Dutzend Splitter schon zugeben.«
Wir gehen die Große Straße entlang. Kosole erzählt, daß er heute nachmittag seinen Taubenschlag reparieren will. Er hat vor dem Kriege eine Zucht von Brieftauben und schwarzweißen Tümmlern gehabt. Damit will er jetzt wieder anfangen. Das hat er sich immer draußen gewünscht.
«Und sonst, Ferdinand?«frage ich.
«Arbeit suchen«, sagt er kurz,»bin doch verheiratet, Mensch. Immer ran an Speck, jetzt.«
Aus der Gegend der Marienkirche knattern plötzlich ein paar Schüsse. Wir horchen auf.»Armeerevolver und Gewehr 98«, erklärt Willy sachkundig.»Zwei Revolver, glaub' ich.«
«Na, wenn schon«, lacht Tjaden und schwenkt seine Schnürschuhe,»immer noch verdammt friedlich gegen Flandern.«
Vor einem Herrenmodengeschäft bleibt Willy stehen. Im Fenster ist ein Ersatzanzug aus Papier und Brennesselfaser ausgestellt. Doch der interessiert ihn wenig. Dagegen betrachtet er gebannt eine Reihe von verblaßten Modeplakaten, die hinter dem Anzug ausgehängt sind. Aufgeregt zeigt er auf das Bild eines eleganten Herrn mit Spitzbart, der in ewiger Unterhaltung mit einem Jäger begriffen ist.»Wißt ihr, was das ist?«
«Eine Flinte«, sagt Kosole, der den Jäger meint.
«Quatsch«, unterbricht Willy ihn ungeduldig,»das ist ein Kötte- weh! Ein Schwalbenschwanz, verstehst du? Das Modernste jetzt! Und wißt ihr, was mir eingefallen ist? Ich lasse mir einen aus diesem Mantel hier machen. Auftrennen, schwarz färben, umarbeiten, hier die Schlippen weg — bong, sage ich euch!«
Er verliebt sich zusehends in seine Idee. Aber Karl dämpft ihn.»Hast du denn eine gestreifte Hose dazu?«fragt er überlegen. Willy stutzt einen Moment.»Die klaue ich meinem Alten aus dem Schrank«, entscheidet er dann.»Dazu noch seine weiße Hochzeitsweste, was meint ihr, wie Willy dann aussieht!«Strahlend vor Glück blickt er uns der Reihe nach an.»Verflucht nochmal, Kinder, jetzt wird aber gelebt, was?«
Ich komme nach Hause und gebe die Hälfte des Entlassungsgeldes meiner Mutter.»Ludwig Breyer ist da«, sagt sie,»er sitzt in deinem Zimmer.«
«Er ist ja Leutnant«, fügt mein Vater hinzu.
«Ja«, erwidere ich,»hast du das nicht gewußt?«
Ludwig sieht etwas frischer aus. Seine Ruhr bessert sich. Er lächelt mich an.»Ich wollte mir ein paar Bücher von dir borgen, Ernst.«»Such dir aus, was du willst, Ludwig«, sage ich.
«Brauchst du sie denn nicht selber?«fragt er.
Ich schüttle den Kopf.»Vorläufig nicht. Gestern habe ich mal versucht, etwas zu lesen. Aber es ist komisch, ich kann meine Gedanken nicht mehr richtig Zusammenhalten. Nach ein paar Seiten denke ich an ganz was anderes. Als wenn man ein Brett vor dem Kopf hätte. Willst du Romane haben?«
«Nein«, sagt er und sucht sich ein paar Bücher heraus. Ich sehe auf die Titel.»So schweres Zeug, Ludwig?«frage ich,»was willst du denn damit?«
Er lächelt verlegen. Dann sagt er zögernd:»Draußen ist mir so manches durch den Kopf gegangen, Ernst, und ich konnte es nie recht zusammenkriegen. Jetzt aber, wo es nun vorbei ist, möchte ich eine Menge wissen; wie das mit den Menschen ist, weißt du, daß so etwas passieren konnte, und wie das alles kommt. Da gibt es viele Fragen. Auch bei uns selber. Früher haben wir über das Leben doch ganz anders gedacht. Ich möchte vieles wissen, Ernst…«
Ich zeige auf die Bücher.»Glaubst du, daß du es darin findest?«»Ich will es jedenfalls versuchen. Ich lese jetzt von morgens bis abends.«
Er verabschiedet sich bald. Nachdenklich bleibe ich sitzen. Was habe ich getan inzwischen? Beschämt greife ich nach einem Buche. Doch bald lasse ich es sinken und starre aus dem Fenster. Das kann ich stundenlang, so ins Leere hinein. Früher war das anders, da wußte ich immer, was ich tun sollte.
Meine Mutter kommt ins Zimmer.»Ernst, du gehst doch heute abend zu Onkel Karl?«
«Ja, meinetwegen«, erwidere ich etwas mißmutig.
«Er hat uns oft Lebensmittel geschickt«, sagt sie behutsam.
Ich nicke. Draußen vor dem Fenster beginnt die Dämmerung. In den Ästen der Kastanie hängen blaue Schatten. Ich wende mich um.»Wart ihr im Sommer oft am Pappelgraben, Mutter?«frage ich rasch.»Das muß doch schön gewesen sein…«
«Nein, Ernst, das ganze Jahr nicht.«
«Aber warum denn nicht, Mutter?«frage ich erstaunt.»Früher seid ihr doch jeden Sonntag da gewesen.«
«Wir sind nicht mehr spazieren gegangen«, erwidert sie leise,»man wurde immer so hungrig davon. Und wir hatten doch nichts zu essen.«»Ach so…«, sage ich langsam,»aber Onkel Karl, der hatte genug,
was?«
«Er hat uns auch oft was geschickt, Ernst.«
Ich bin plötzlich etwas traurig.»Wozu war das eigentlich alles, Mutter?«sage ich.
Sie streicht mir über die Hand.»Es wird schon zu etwas gewesen sein, Ernst. Unser Herrgott wird es wohl wissen.«
Onkel Karl ist der Renommierverwandte unserer Familie. Er hat eine Villa und war im Kriege Oberzahlmeister.
Wolf begleitet mich hin, aber er muß draußen bleiben, denn meine Tante liebt keine Hunde. Ich klingele.
Ein Mann im Frack öffnet. Verdutzt grüße ich. Dann fällt mir ein, daß es der Diener sein muß. Das habe ich beim Kommiß ganz vergessen.
Der Mann mustert mich, als wäre er ein Oberstleutnant in Zivil. Ich lächele, aber er lächelt nicht wieder. Als ich meinen Mantel ausziehe, hebt er die Hand, als wolle er mir helfen.»Na«, sage ich, um mir seine Gunst zu gewinnen,»als alter Muskote werde ich das wohl selber noch fertigbringen. «Damit stülpe ich die Brocken über einen Haken.
Er aber nimmt die Sachen schweigend wieder herunter und hängt sie mit hochmütigem Gesicht auf einen Haken daneben. Kaffer, denke ich und gehe weiter.
Onkel Karl kommt mir sporenklirrend entgegen. Er begrüßt mich herablassend, weil ich nur dem Mannschaftsstande angehöre. Erstaunt betrachte ich seine funkelnde Gala-Uniform.»Gibt es denn heute bei euch Pferdebraten?«erkundige ich mich, um einen Witz zu machen.
«Wieso?«fragt er verwundert.
«Weil du Sporen zum Essen trägst«, erwidere ich lachend.
Er wirft mir einen ärgerlichen Blick zu. Ohne es zu wollen, scheine ich eine wunde Stelle bei ihm getroffen zu haben. Diese Biirohocker sind beim Militär ja oft besonders scharf auf Degen und Sporen.
Bevor ich ihm erklären kann, daß ich ihn nicht beleidigen wollte, kommt meine Tante angerauscht. Sie ist noch immer flach wie ein Plättbrett, und ihre kleinen, schwarzen Augen glänzen ebenso wie früher, als wären sie auf der Knopfgabel geputzt. Während sie mich mit einem Schwall von Worten übersprudelt, wirft sie unausgesetzt scharfe Blicke nach allen Seiten.
Ich bin etwas benommen. Zuviel Leute, finde ich, zuviel Damen und vor allem: zuviel Licht. Im Felde hatten wir höchstens mal eine Petroleumlampe. Diese Kronleuchter hier aber sind unerbittlich wie Gerichtsvollzieher. Man kann nichts vor ihnen verstecken. Unbehaglich kratze ich mir den Rücken.
«Was machst du denn da?«fragt meine Tante und hält im Reden inne.
«Wird wohl noch so eine Laus sein, die entwischt ist«, sage ich,»wir hatten ja so viele, das dauert mindestens eine Woche, bis man sie alle los ist…«
Erschreckt tritt sie zurück.»Keine Angst«, beruhige ich sie,»die kann nicht springen. Läuse sind keine Flöhe.«
«Um Gottes willen!«Sie legt den Finger an den Mund und zieht ein Gesicht, als hätte ich wer weiß was für eine Schweinerei gesagt. Aber so sind sie: Helden sollen wir sein, doch von Läusen wollen sie nichts wissen.
Ich muß einer Anzahl Leuten die Hand geben und fange an zu schwitzen. Die Menschen hier sind so ganz anders als wir draußen. Ich komme mir schwerfällig wie ein Tank dagegen vor. Sie benehmen sich, als säßen sie in einem Schaufenster, und sie reden, als wären sie auf dem Theater. Vorsichtig versuche ich, meine Hände zu verstecken, denn der Grabendreck sitzt noch wie Gift darin eingefressen. Verstohlen wische ich sie an der Hose ab; trotzdem sind sie immer gerade dann feucht, wenn ich sie einer Dame reichen muß.
Ich drücke mich herum und gerate in eine Gruppe, in der ein Rechnungsrat das große Wort führt.»Stellen Sie sich vor«, ereifert er sich,»ein Sattler! Ein Sattler als Reichspräsident! Malen Sie sich das mal aus: ein Gala-Empfang bei Hofe und ein Sattler, der Audienzen erteilt. Zum Piepen!«
Er muß husten vor Aufregung.»Was sagen Sie dazu, junger Krieger!«ruft er und patscht mir auf die Schulter.
Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht. Verlegen zucke ich die Achseln.»Vielleicht versteht er was…«
Der Rechnungsrat starrt mich einen Moment an. Dann schüttelt er sich vor Vergnügen.»Sehr gut«, kräht er,»vielleicht versteht er was! Nein, mein Lieber, so was ist angeboren! Ein Sattler! Warum denn nicht gleich ein Schneider oder ein Schuster?«
Er wendet sich wieder zu den ändern. Ich ärgere mich über sein Gerede; denn es geht mir gegen den Strich, daß er über die Schuster so wegwerfend spricht. Die sind ebensogut Soldaten gewesen wie die besseren Leute. Adolf Bethke war auch ein Schuster, und er verstand von Kriegen mehr als mancher Major. Bei uns kam es nur auf den Mann an und nicht auf den Beruf. Mißtrauisch mustere ich den Rechnungsrat. Er wirft jetzt mit Zitaten um sich, und es mag sein, daß er die Bildung mit Löffeln gefressen hat; aber wenn es darauf ankäme, daß mich jemand aus dem Feuer holen müßte, würde ich mich lieber auf Adolf Bethke verlassen.
Ich bin froh, als wir endlich am Tisch sitzen. Neben mir habe ich ein junges Mädchen mit einer Schwanenboa um den Hals. Sie gefällt mir gut, aber ich weiß nicht, was ich mit ihr anfangen soll. Als Soldat hat man wenig gesprochen, und schon gar nicht zu Damen. Die ändern unterhalten sich lebhaft. Ich versuche, zuzuhören, um etwas zu profitieren.
Oben am Tisch sitzt der Rechnungsrat, der gerade erklärt, wenn wir zwei Monate länger ausgehalten hätten, wäre der Krieg gewonnen gewesen. Mir wird fast schlecht bei dem Quatsch, denn jeder Soldat weiß, daß wir einfach keine Munition und keine Leute mehr hatten. Ihm gegenüber erzählt eine Dame von ihrem gefallenen Mann, und sie macht sich so wichtig dabei, als wäre sie gefallen und nicht er. Weiter unten wird von Aktien und Friedensbedingungen geredet, und alle wissen es natürlich besser, als die Leute, die damit wirklich zu tun haben. Ein Mann mit einer Hakennase erzählt mit so scheinheiligem Mitleid über die Frau seines Freundes eine Geschichte, daß man ihm für seine schlecht verborgene Schadenfreude ein Glas in den Schnabel werfen sollte.
Mir wird ganz dumm im Kopf über dem Gerede, und ich kann bald überhaupt nicht mehr richtig folgen. Das Mädchen mit der Schwanenboa fragt mich spöttisch, ob ich im Felde stumm geworden sei.»Nee«, antworte ich und denke: Kosole und Tjaden müßten hier dazwischen sitzen, die würden schön lachen über den Salm, den ihr verzapft und auf den ihr noch stolz seid. Aber es wurmt mich doch etwas, daß ich nicht mit einer guten Bemerkung mal zeigen kann, was ich denke.
Gottlob erscheinen in diesem Moment knusperige Koteletts auf dem Tisch. Ich schnuppere. Es sind echte Schweinskoteletts, in richtigem Fett gebraten. Ihr Anblick läßt mich alles verschmerzen. Ich lange mir ein gutes Stück herüber und fange voll Genuß an zu kauen. Es schmeckt großartig. Endlos lange ist es her, daß ich frische Koteletts gegessen habe. In Flandern war das zum letztenmal — da hatten wir zwei Ferkel gefangen —, wir fraßen sie an einem wunderbar milden Sommerabend bis zum Gerippe auf — damals lebte Katczinsky noch, ach Kat, und Haie Westhus, das waren andere Kerle, als die hier in der Heimat — ich stütze die Arme auf und vergesse alles um mich herum, so nahe sehe ich sie vor mir. Die Tiere waren sehr zart — Kartoffelpuffer hatten wir dazu gebacken — und Leer war dabei und Paul Bäumer — ja, Paul — ich höre und sehe nichts mehr, ich verliere mich ganz in Erinnerungen…
Ein Kichern weckt mich. Am Tisch ist es still geworden. Tante Lina sieht aus wie eine Flasche Schwefelsäure. Das Mädchen neben mir unterdrückt ein Lachen. Alle sehen zu mir hin.
Der Schweiß bricht mir auf einmal aus. Da sitze ich, wie damals in Flandern, selbstvergessen, die Ellenbogen aufgestemmt, den Knochen in der Pfote, die Finger voll Fett, und knabbere den Kotelettrest ab — die ändern aber essen sauber mit Messer und Gabel.
Blutrot starre ich vor mich hin und lege den Knochen fort. Wie konnte ich mich nur so vergessen? Doch ich bin es ja gar nicht anders gewöhnt: im Felde haben wir immer so gegessen, da hatten wir höchstens einen Löffel oder eine Gabel, aber nie einen Teller.
In meine Beschämung mischt sich plötzlich Wut. Wut auf diesen Onkel Karl, der betont laut anfängt, über Kriegsanleihe zu reden; Wut auf alle diese Leute, die sich so wichtig gebärden mit ihren klugen Worten; Wut auf diese ganze Welt hier, die so selbstverständlich mit ihrem Kleinkram dahinlebt, als wären die ungeheuren Jahre niemals gewesen, in denen es doch nur eins gab: Tod oder Leben und nichts sonst.
Schweigend und bockig stopfe ich in mich hinein, was ich fassen kann, wenigstens gründlich satt werden will ich. Sobald es geht, drücke ich mich dann hinaus.
In der Garderobe steht der Diener im Frack. Ich greife nach meinen Sachen und fauche:»Dich hätten wir auch im Felde haben müssen, du lackierter Affe! Dich und die ganze Bande hier!«Dann knalle ich die Tür zu.
Wolf hat vor dem Hause auf mich gewartet. Er springt an mir hoch.»Komm Wolf«, sage ich, und plötzlich wird mir bewußt, daß es nicht das Pech mit dem Kotelett war, das mich so erbittert gemacht hat, sondern daß es dieser abgestandene, selbstgefällige Geist von früher ist, der sich hier immer noch bläht und wichtig tut.»Komm, Wolf«, wiederhole ich,»das sind keine Leute für uns! Mit jedem Tommy, mit jedem französischen Grabenschwein würden wir uns besser verstehen. Komm, wir gehen zu unseren Kameraden! Da ist es besser, wenn sie auch mit den Händen fressen und rülpsen! Komm!«
Wir laufen los, der Hund und ich, wir rennen, was wir können, schneller und schneller, keuchend, bellend, wir rennen wie die Verrückten mit funkelnden Augen — mag alles zum Satan gehen, wir leben, was Wolf, wir leben!
Ludwig Breyer, Albert Troßke und ich sind auf dem Wege zur Schule. Der Unterricht soll wieder beginnen. Wir waren Schüler des Lehrerseminars, und für uns hat es kein Notexamen gegeben. Die Kriegsteilnehmer des Gymnasiums haben es besser gehabt. Viele von ihnen konnten eine Notprüfung machen, entweder bevor sie Soldaten wurden oder während ihres Urlaubs. Der Rest, der das nicht getan hat, muß allerdings auch wieder in die Klassen zurück. Karl Bröger gehört dazu.
Wir kommen am Dom vorbei. Die grünen Kupferplatten der Türme sind abgedeckt und durch graue Dachpappe ersetzt worden. Sie sehen schimmelig und zerfressen aus, und die Kirche wirkt dadurch fast wie eine Fabrik. Die Kupferplatten sind zu Granaten eingeschmolzen worden.
«Das hätte sich der liebe Gott auch nicht träumen lassen«, sagt Albert.
An der Westseite des Domes, in einer winkligen Gasse, liegt das zweistöckige Seminar. Schräg gegenüber das Gymnasium. Dahinter der Fluß und der Wall mit den Linden. Ehe wir Soldaten wurden, umfaßten diese Gebäude unsere Welt. Dann wurden es die Schützengräben. Jetzt sind wir wieder hier. Aber dies ist nicht mehr unsere Welt. Die Gräben waren stärker.
Vor dem Gymnasium treffen wir unseren Spielkameraden Georg Rahe. Er war Leutnant und Kompanieführer, aber im Urlaub hat er gesoffen und herumgesessen und nicht an sein Abitur gedacht. Deshalb muß er jetzt wieder in die Obersekunda, in der er schon zweimal sitzengeblieben ist.
«Ist das wahr, Georg?«frage ich,»daß du draußen so erstklassig geworden bist in Latein?«
Er lacht und storcht mit seinen langen Beinen zum Gymnasium hinüber.
«Paß auf, daß du in Betragen keine Vier kriegst«, ruft er mir nach.
Im letzten halben Jahr war er Flieger. Er hat vier Engländer abgeschossen, aber ich glaube nicht, daß er den Pythagoreischen Lehrsatz noch beweisen kann.
Wir gehen weiter zum Seminar. Die Gasse wimmelt von Uniformen. Gesichter tauchen auf, die man fast vergessen, Namen, die man Jahre nicht mehr gehört hat. Hans Walldorf humpelt heran, den wir November 17 mit zerschmettertem Knie zurückschleppten. Der Oberschenkel ist ihm abgenommen worden; er trägt jetzt ein schweres Kunstbein mit Scharnieren und stampft beim Gehen mächtig auf. Kurt Leipold erscheint und stellt sich lachend selbst vor: Götz von Berlichingen mit der eisernen Faust. Er hat einen künstlichen rechten Arm. Dann kommt jemand aus der Torecke und sagt gurgelnd:»Mich kennt ihr wohl nicht wieder, was?«
Ich sehe das Gesicht an, soweit es noch eins ist. Über die Stirn läuft eine breite, rote Narbe. Sie reicht bis ins linke Auge. Das Fleisch ist dort übergewachsen, so daß das Auge klein und tief liegt. Aber es ist noch da. Rechts ist das Auge starr, aus Glas. Die Nase ist fort, ein schwarzer Lappen bedeckt die Stelle. Die Narbe, die darunter hervorläuft, spaltet den Mund zweimal. Er ist wulstig und schief zusammengewachsen, daher die undeutliche Sprache. Die Zähne sind künstlich. Eine Klammer ist daran sichtbar. Unschlüssig schaue ich hin. Die gurgelnde Stimme sagt:»Paul Rademacher.«
Jetzt erkenne ich ihn. Das ist ja sein grauer Anzug, mit den Streifen.»Tag, Paul, was machst du?«
«Siehst ja«, er versucht, die Lippen zu verziehen,»zwei Spatenschläge. Das ist auch noch mitgegangen. «Er hebt die Hand, an der drei Finger fehlen. Traurig blinzelt sein eines Auge. Das andere sieht starr und unbeteiligt geradeaus.»Wenn ich nur wüßte, ob ich noch Schulmeister werden kann. Das Sprechen ist zu schlecht. Kannst du mich denn verstehen?«
«Gut«, antworte ich.»Das gibt sich auch noch. Man kann das sicher weiter operieren.«
Er hebt die Schultern und schweigt. Er scheint nicht viel Hoffnung zu haben. Wenn es ginge, hätten sie es auch schon gemacht. Willy stößt zu uns, um uns die letzten Ereignisse zu erzählen. Wir hören, daß Borkmann doch noch an seinem Lungenschuß gestorben ist. Er hat galoppierende Schwindsucht dazugekriegt. Henze hat sich erschossen, als er erfuhr, daß seine Rückenmarksverletzung nur zu dauerndem Rollstuhl führen könnte. Das ist zu verstehen: Er war unser bester Fußballspieler. Meyer ist im September gefallen, Lich- tenfeld im Juni. Lichtenfeld war nur zwei Tage draußen.
Plötzlich stutzen wir. Eine kleine mickrige Gestalt steht vor uns.»Was, Westerholt?«fragt Willy ungläubig.
«Immer noch, du Fliegenpilz«, antwortet der.
Willy ist verblüfft.»Ich denke, du bist tot.«
«Noch nicht«, gibt Westerholt gemütlich zurück.
«Aber ich habe es doch in der Zeitung gelesen.«
«War eben eine Fehlanzeige«, schmunzelt der Kleine.
«Man kann sich auch auf nichts mehr verlassen«, sagt Willy kopfschüttelnd.»Ich dachte, die Würmer hätten dich längst gefressen.«»Nach dir, Willy«, antwortet Westerholt selbstgefällig,»du bist früher dran. Rothaarige leben nie lange.«
Wir gehen hinein. Der Hof, auf dem wir um zehn Uhr unsere Butterbrote aßen, die Klassenzimmer mit den Tafeln und Bänken, die Gänge mit den Reihen der Mützenhaken — sie sind noch genau wie früher, aber uns erscheinen sie wie aus einer anderen Welt. Nur den Geruch der halbdunklen Räume kennen wir wieder; er ist nicht so derb, aber ähnlich dem der Kasernen.
Groß, mit hundert Pfeifen, schimmert in der Aula die Orgel. Rechts davon steht die Gruppe der Lehrer. Auf dem Pult des Direktors sind zwei Topfgewächse mit lederartigen Blättern auf gestellt. Davor hängt ein Lorbeerkranz mit Schleife. Der Direktor ist im Gehrock. Es gibt also eine Begrüßungsfeier. Wir drängen uns zu einem Haufen zusammen. Keiner hat Lust, in der ersten Reihe zu stehen. Nur Willy nimmt unbefangen dort Aufstellung. Sein Schädel leuchtet im Halbdunkel des Raumes wie die rote Lampe eines Puffs.
Ich betrachte die Gruppe der Lehrer. Früher bedeuteten sie für uns mehr als andere Menschen; nicht allein weil sie unsere Vorgesetzten waren, sondern weil wir im Grunde doch an sie glaubten, auch wenn wir uns über sie lustig machten. Heute sind sie für uns nur noch eine Anzahl älterer Männer, die wir freundlich verachten.
Da stehen sie nun und wollen uns wieder belehren. Man sieht ihnen an, daß sie bereit sind, etwas von ihrer Würde zu opfern. Aber was können sie uns schon lehren. Wir kennen das Leben jetzt besser als sie, wir haben ein anderes Wissen erworben, hart, blutig, grausam und unerbittlich. Heute könnten wir sie lehren, aber wer will das! — Wenn jetzt ein überraschender Sturmangriff auf die Aula erfolgte, würden sie ängstlich und ratlos wie Karnickel umherhopsen, während von uns keiner den Kopf verlöre. Ruhig und entschlossen würden wir sofort das Zweckmäßigste tun, nämlich sie einsperren, damit sie uns nicht stören könnten, und die Verteidigung beginnen.
Der Direktor räuspert sich zu einer Ansprache. Die Worte springen rund und glatt aus seinem Munde, er ist ein vorzüglicher Redner, das muß man zugeben. Er spricht vom heldenhaften Ringen der Truppen, von Kampf, Sieg und Tapferkeit. Aber trotz aller schönen Worte empfinde ich einen Stachel dabei, vielleicht gerade wegen der schönen Worte. So glatt und rund war das nicht. Ich sehe Ludwig an, der sieht mich an; Albert, Walldorf, Westerholt, Reinersmann, allen paßt es nicht.
Der Direktor gerät an sich selbst in Schwung. Er feiert jetzt nicht nur das Heldentum draußen, sondern auch das stillere daheim.»Auch wir in der Heimat haben unsere volle Schuldigkeit getan, wir haben uns eingeschränkt und gehungert für unsere Soldaten, wir haben gebangt und gezittert, schwer war es, und oft mag das Durchhalten fast schwerer gewesen sein für uns, als für unsere braven Feldgrauen draußen. —«
«Hoppla«, sagt Westerholt. Gemurmel entsteht. Der Alte wirft einen schiefen Blick herüber und fährt fort:»Doch das können wir wohl nicht gegeneinanderstellen. Sie haben dem Tode furchtlos ins eherne Antlitz gesehen und Ihre große Pflicht getan, und wenn auch der Endsieg unseren Waffen nicht beschieden war, so wollen wir jetzt um so mehr in heißer Liebe zu unserm schwergeprüften Vaterlande zusammenstehen, wir wollen wiederaufbauen trotz aller feindlichen Mächte, im Sinne unseres Altmeisters Goethe, der so knorrig aus den Jahrhunderten in unsere verworrene Zeit herübermahnt: Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten!«
Die Stimme des Alten sinkt um eine Terz. Sie trägt jetzt einen Flor und ist in Salböl gebadet. Ein Ruck geht durch die schwarze Schar der Lehrer. Ihre Gesichter zeigen Sammlung und Ernst.»Besonders gedenken aber wollen wir der gefallenen Zöglinge unserer Anstalt, die freudig hinausgeeilt sind, um die Heimat zu schützen, und geblieben sind auf dem Felde der Ehre. Einundzwanzig Kameraden sind nicht mehr unter uns — einundzwanzig Kämpfer haben den ruhmreichen Tod der Waffen gefunden — einundzwanzig Helden ruhen in fremder Erde aus vom Klirren der Schlacht und schlummern den ewigen Schlaf unterm grünen Rasen…«
In diesem Augenblick ertönt ein kurzes, brüllendes Gelächter. Der Direktor hält peinlich betroffen inne. Das Gelächter geht von Willy aus, der klotzig wie ein Kleiderschrank dasteht. Sein Gesicht ist puterrot, so wütend ist er.
«Grüner Rasen — grüner Rasen — «, stottert er,»ewiger Schlaf? Im Trichterdreck liegen sie, kaputtgeschossen, zerrissen, im Sumpf versackt —. Grüner Rasen! Wir sind hier doch nicht in der Gesangstunde!«Er fuchtelt mit den Armen wie eine Windmühle im Sturm.»Heldentod! Wie ihr euch das vorstellt! Wollen Sie wissen, wie der kleine Hoyer gestorben ist? Den ganzen Tag hat er im Drahtverhau gelegen und geschrien, und die Därme hingen ihm wie Makkaroni aus dem Bauch. Dann hat ihm ein Sprengstück die Finger weggerissen und zwei Stunden später einen Fetzen vom Bein, und er hat immer doch gelebt und versucht, sich mit der anderen Hand die Därme reinzustopfen, und schließlich abends war er fertig. Als wir dann herankonnten, nachts, war er durchlöchert wie ein Reibeisen. Erzählen Sie doch seiner Mutter, wie er gestorben ist, wenn Sie Courage haben!«
Der Direktor ist bleich geworden. Er schwankt, ob er Disziplin wahren oder begütigen soll. Aber er kommt weder zum einen noch zum ändern.
«Herr Direktor«, fängt Albert Troßke an,»wir sind hier nicht, um von Ihnen zu hören, daß wir unsere Sache gut gemacht haben, trotzdem wir leider nicht siegen konnten. Darauf scheißen wir. —«
Der Direktor zuckt zusammen, mit ihm das ganze Kollegium, die Aula wankt, die Orgel bebt.»Ich muß doch bitten, wenigstens im Ausdruck…«, versucht er entrüstet.
«Scheiße, Scheiße und nochmals Scheiße!«wiederholt Albert,»das war jahrelang unser drittes Wort, damit Sie es endlich einmal wissen! Wenn es uns draußen so dreckig ging, das wir Ihren ganzen Quatsch schon längst vergessen hatten, haben wir die Zähne zusammengebissen und Scheiße gesagt, und dann ging es wieder. Sie scheinen ja gar nicht zu ahnen, was los ist! Hier kommen keine braven Zöglinge, hier kommen keine lieben Schüler, hier kommen Soldaten!«
«Aber meine Herren«, ruft der Alte fast flehentlich,»ein Mißverständnis — ein peinliches Mißverständnis…«
Er kann nicht zu Ende reden. Er wird unterbrochen von Helmut Rei- nersmann, der an der Yser seinen verwundeten Bruder im schwersten Feuer zurückholte und ihn tot am Verbandsplatz abladen mußte.
«Gefallen«, sagt er wild,»gefallen sind die nicht, damit Reden darüber gehalten werden. Das sind unsere Kameraden, fertig, und wir wollen nicht, daß darüber gequatscht wird!«
Ein mächtiges Durcheinander entsteht. Der Direktor steht entsetzt und völlig hilflos da. Das Lehrerkollegium gleicht einer Schar aufgescheuchter Hühner. Nur zwei Lehrer sind ruhig. Sie waren Soldaten.
Der Alte versucht, uns auf jeden Fall zu besänftigen. Wir sind zu viele, und Willy steht zu mächtig trompetend vor ihm. Wer weiß auch, was von diesen verwilderten Kerlen noch zu erwarten ist, vielleicht ziehen sie in der nächsten Minute sogar noch Handgranaten aus den Taschen. Er wedelt mit seinen Armen, wie ein Erzengel mit den Flügeln. Aber niemand hört auf ihn.
Doch auf einmal ebbt der Tumult ab. Ludwig Breyer ist vorgetreten.
Es wird ruhig.»Herr Direktor«, sagt Ludwig mit seiner klaren Stimme.»Sie haben den Krieg auf Ihre Weise gesehen. Mit fliegenden Fahnen, mit Begeisterung und Marschmusik. Aber Sie haben ihn nur bis zum Bahnhof gesehen, von dem wir abfuhren. Wir wollen Sie deshalb nicht tadeln. Wir alle haben ja ebenso gedacht wie Sie. Aber inzwischen haben wir die andere Seite kennengelernt. Das Pathos von 1914 zerstob davor bald zu nichts. Wir haben trotzdem durchgehalten, denn etwas Tieferes hielt uns zusammen, etwas, das erst draußen entstanden ist, eine Verantwortung, von der Sie nichts wissen, und über die man nicht reden kann.«
Ludwig sieht einen Augenblick vor sich hin. Dann streicht er sich über die Stirn und spricht weiter.»Wir verlangen keine Rechenschaft von Ihnen — das wäre töricht, denn niemand hat gewußt, was kam. Aber wir verlangen von Ihnen, daß Sie uns nicht wieder vorschreiben, wie wir über diese Dinge denken sollen. Wir sind begeistert ausgezogen, das Wort Vaterland auf den Lippen — und wir sind still heimgekehrt, den Begriff Vaterland im Herzen. Darum bitten wir Sie jetzt, zu schweigen. Lassen Sie die großen Worte. Sie passen nicht mehr für uns. Sie passen auch nicht für unsere toten Kameraden. Wir haben sie sterben sehen. Die Erinnerung daran ist noch so nahe, daß wir es nicht ertragen können, wenn über sie so gesprochen wird, wie Sie es tun. Sie sind für mehr gestorben als dafür.«
Es ist ganz still geworden. Der Direktor preßt die Hände zusammen.»Aber Breyer«, sagt er leise,»so war es doch nicht gemeint. —«
Ludwig schweigt.
Nach einer Weile fährt der Direktor fort.»Dann sagen Sie mir doch selbst, was Sie wollen.«
Wir sehen uns an. Was wir wollen? Ja, wenn das so einfach in einem Satz zu sagen wäre. Ein starkes Gefühl brodelt unklar in uns — aber gleich Worte? Worte haben wir dafür noch nicht. Vielleicht werden wir sie später einmal haben!
Nach einem Augenblick des Schweigens jedoch drängt Westerholt sich durch und pflanzt sich vor dem Direktor auf.»Sprechen wir über das Praktische«, sagt er,»das ist jetzt am nötigsten. Wie haben Sie sich das mit uns gedacht? Hier stehen siebzig Soldaten, die wieder auf die Schulbänke zurück sollen. Ich sage Ihnen gleich: wir wissen fast nichts mehr von Ihrem Lehrstoff, aber wir haben auch keine Lust, noch lange hier zu sitzen.«
Der Direktor faßt sich. Er erklärt, daß über diese Dinge noch keine Anweisung von der Behörde vorliege. Einstweilen müßten wir uns deshalb wohl auf die Klassen verteilen, aus denen wir fortgegangen seien. Später würde man dann ja sehen, was zu machen wäre.
Gemurmel und Gelächter antworten ihm.
«Das glauben Sie doch wohl selber nicht«, sagt Willy ärgerlich,»daß wir uns zu Kindern, die nicht Soldaten waren, auf die Bank setzen und brav die Finger hochhalten, wenn wir was wissen. Wir bleiben zusammen.«
Jetzt erst sehen wir richtig, wie komisch das alles hier ist. Jahrelang durften wir schießen, stechen und töten — aber nun soll es wichtig sein, ob wir aus der zweiten oder dritten Klasse dazu aufgebrochen sind. Der eine konnte schon mit zwei, der andere erst mit einer Unbekannten rechnen. Das sind Unterschiede, die hier gelten.
Der Direktor verspricht, einen Antrag zu stellen, um Sonderkurse für die Soldaten zu erwirken.
«Darauf können wir nicht warten«, sagt Albert Troßke kurz.»Es ist besser, wir machen die Sache selbst.«
Der Direktor erwidert nichts; schweigend geht er zur Tür.
Die Lehrer folgen. Wir trampeln ebenfalls hinaus. Vorher jedoch nimmt Willy, dem die Sache zu still abgegangen ist, die beiden Topfgewächse vom Rednerpult und schmettert sie auf den Boden.»Das Gemüse habe ich sowieso nie leiden können«, sagt er grimmig. Den Lorbeerkranz stülpt er Westerholt auf den Schädel.»Koch dir Suppe daraus!«
Die Zigarren und Pfeifen qualmen. Wir sitzen mit den Kriegsteilnehmern des Gymnasiums zusammen und beraten. Über hundert Soldaten, achtzehn Leutnants, dreißig Feldwebel und Unteroffiziere. Westerholt hat ein Heft der alten Schulordnung mitgebracht und liest laut daraus vor. Er kommt nur langsam weiter, weil nach jedem Absatz ein Gelächter ausbricht. Wir können nicht verstehen, daß das einmal für uns gegolten hat.
Westerholt macht sich besonders darüber lustig, daß wir vor dem Krieg ohne Erlaubnis der Klassenlehrer nach sieben Uhr abends nicht mehr auf der Straße sein durften. Aber Willy dämpft ihn.»Sei du ruhig, Alwin«, ruft er ihm zu,»du hast deinen Klassenlehrer mehr blamiert als jeder andere. Wirst gefallen gemeldet, kriegst eine Gedenkrede des gerührten Direktors, wirst darin als Held und Musterschüler gefeiert und hast die Unverschämtheit, nach all dem noch lebendig zurückzukommen! Der Alte ist jetzt in schöner Verlegenheit. Er muß nun alles zurücknehmen, was er dir als Leiche zugestanden hat — denn in Algebra und Aufsatz bist du bestimmt noch ebenso schlecht wie früher.«
Wir wählen Schülerräte; denn unsere Lehrer mögen wohl gut sein, um uns ein paar Sachen für das Examen einzu trichtern, aber regieren lassen wir uns von ihnen nicht mehr. Für uns wählen wir Ludwig Breyer, Helmuth Reinersmann und Albert Troßke — für das Gymnasium Georg Rahe und Karl Bröger.
Dann bestimmen wir drei Vertreter, die morgen zur Provinzialbehörde und zum Ministerium reisen sollen, um unsere Forderungen für die Schulzeit und das Examen durchzusetzen. Willy, Westerholt und Albert werden dazu ausgesucht. Ludwig kann nicht mitfahren, denn er ist noch nicht gesund genug.
Die drei erhalten Militärausweise und Freifahrtscheine, von denen wir ganze Blocks vorrätig haben. Leutnants und Soldatenräte zum Unterschreiben haben wir ebenfalls genug.
Helmuth Reinersmann gibt der Sache auch äußerlich das richtige Gesicht. Er fordert Willy auf, seinen neuen Rock, den er auf der Kammer erwischt hat, zu Hause zu lassen und dafür einen geflickten, von Splittern durchlöcherten, für die Reise anzuziehen.»Wieso?«fragt Willy betroffen.
«Auf Bürofritzen wirkt so was besser als hundert Gründe«, erklärt Helmuth.
Willy weigert sich, denn er ist stolz auf seinen Rock und möchte in der Großstadt damit in den Cafes paradieren.»Wenn ich bei dem Schulrat ordentlich auf den Tisch haue, wirkt das genau so gut«, meint er.
Aber Helmuth läßt nicht mit sich reden.»Wir können nicht alles in Klump schlagen, Willy«, sagt er,»wir brauchen diese Leute nun mal. Wenn du bei denen im geflickten Rock auf den Tisch haust, holst du für uns alle mehr heraus, als in deinem neuen. Die Brüder sind so, glaub's mir.«
Willy gibt nach. Helmuth wendet sich nun Alwin Westerholt zu und mustert ihn. Er sieht ihm zu kahl aus, deshalb bekommt er Ludwig Breyers Orden angesteckt.»Für einen Geheimrat redest du dann überzeugender«, fügt Helmuth hinzu.
Bei Albert ist das nicht nötig, er hat selbst genug auf der Brust klimpern. Die drei sind jetzt richtig ausgerüstet. Helmuth übersieht seine Arbeit.»Glänzend«, sagt er,»und nun los! Zeigt den Rübenschweinen mal, was eine echte Frontharke ist.«
«Worauf du dich verlassen kannst«, erklärt Willy, der sich inzwischen wiedergefunden hat.
Die Zigarren und Pfeifen qualmen. Wünsche, Gedanken und Begierden brodeln durcheinander. Weiß Gott, was aus ihnen wird. Hundert junge Soldaten, achtzehn Leutnants, dreißig Feldwebel und Unteroffiziere sitzen hier und wollen zu leben anfangen. Jeder von ihnen kann eine Kompanie in schwierigem Angriffsgelände mit geringsten Verlusten durchs Feuer bringen, jeder von ihnen würde keinen Moment zögern, das Richtige zu tun, wenn nachts in seinen Stollen das Gebrüll» Sie kommen «schallen würde, jeder von ihnen ist ein vollkommener Soldat, nicht mehr und nicht weniger.
Aber für den Frieden? Taugen wir dazu? Passen wir überhaupt noch zu etwas anderm, als Soldaten zu sein?