Erster Teil

I

Die Straßen gehen lang durch die Landschaft, die Dörfer liegen in grauem Licht, die Bäume rauschen, und die Blätter fallen, fallen.

Über die Straßen aber ziehen Schritt um Schritt, in ihren fahlen, schmutzigen Uniformen, die grauen Kolonnen. Die stoppeligen Gesichter unter den Stahlhelmen sind schmal und ausgehöhlt von Hunger und Not, ausgemergelt und zusammengeschmolzen zu den Linien, die Grauen, Tapferkeit und Tod zeichnen. Schweigsam ziehen sie dahin, wie sie schon so viele Straßen entlang marschiert, in so vielen Güterwaggons gesessen, in so vielen Unterständen gehockt, in so vielen Trichtern gelegen haben, ohne viele Worte: so ziehen sie jetzt auch diese Straße in die Heimat und den Frieden. Ohne viele Worte.

Alte Leute mit Bärten und schmale, noch nicht zwanzigjährige, Kameraden ohne Unterschied. Neben ihnen ihre Leutnants, halbe Kinder, aber Führer in vielen Nächten und Angriffen. Und hinter ihnen das Heer der Toten. So ziehen sie vorwärts, Schritt um Schritt, krank, halbverhungert, ohne Munition, in dünnen Kompanien, mit Augen, die es immer noch nicht begreifen können: Entronnene der Unterwelt — den Weg zurück ins Leben.

Die Kompanie marschiert langsam, denn wir sind müde und haben noch Verwundete bei uns. Dadurch bleibt unsere Gruppe allmählich zurück. Die Gegend ist hügelig, und wenn die Straße ansteigt, können wir von der Höhe aus nach der einen Seite den Rest unserer abziehenden Truppen und nach der anderen die dichten, endlosen Linien sehen, die uns folgen. Es sind Amerikaner. Wie ein breiter Fluß schieben sich ihre Kolonnen zwischen den Baumreihen vorwärts, und das unruhige Glitzern der Waffen läuft über sie hin. Ringsum aber liegen die stillen Felder, und die Wipfel der Bäume ragen ernst und unbeteiligt mit ihren herbstlichen Farben aus der vordringenden Flut.

Wir sind die Nacht über in einem kleinen Dorf geblieben. Hinter den Häusern, in denen wir gelegen haben, fließt ein Bach, der mit Weiden bestanden ist. Ein schmaler Pfad führt daran entlang. Einzeln hintereinander, in langer Reihe, folgen wir ihm. Kosole ist der vorderste. Neben ihm läuft Wolf, der Kompaniehund, und schnuppert an seinem Brotbeutel.

Plötzlich, an der Kreuzung, wo der Pfad in den Hauptweg mündet, springt Ferdinand zurück.

«Achtung!«

Im nächsten Moment haben wir die Gewehre hoch und spritzen auseinander. Kosole liegt fertig zum Feuern im Chausseegraben, Jupp und Troßke ducken sich spähend hinter einer Holunderhecke, Willy Homeyer reißt an seinem Koppel mit Handgranaten, und selbst unsere Verwundeten sind kampfbereit.

Die Landstraße entlang kommen Amerikaner. Sie lachen und schwatzen miteinander. Es ist die Spitzengruppe, die uns eingeholt hat. Adolf Bethke ist als einziger von uns stehengeblieben. Er geht ruhig einige Schritte aus der Deckung heraus, auf die Straße. Kosole steht wieder auf. Wir anderen besinnen uns ebenfalls und rücken verwirrt und verlegen unsere Koppel und Gewehrriemen zurecht — seit einigen Tagen wird ja nicht mehr gekämpft.

Die Amerikaner stutzen, als sie uns sehen. Ihr Gespräch bricht ab. Sie nähern sich langsam. Wir ziehen uns gegen einen Schuppen zurück, um den Rücken gedeckt zu haben, und warten ab. Nach einer Minute des Schweigens löst sich ein baumlanger Amerikaner aus der Gruppe vor uns und winkt.

«Hallo, Kamerad!«

Adolf Bethke hebt ebenfalls die Hand.»Kamerad!«

Die Spannung weicht. Die Amerikaner kommen heran. Einen Augenblick später sind wir von ihnen umringt. So nahe haben wir sie bisher nur gesehen, wenn sie gefangen oder tot waren.

Es ist ein sonderbarer Moment. Schweigend blicken wir sie an. Sie stehen im Halbkreis um uns herum, lauter große, kräftige Leute, denen man gleich ansieht, daß sie immer satt zu essen gehabt haben. Alle sind jung — nicht einer von ihnen ist annähernd so alt wie Adolf Bethke oder Ferdinand Kosole — und das sind doch noch längst nicht unsere Ältesten. Aber auch keiner von ihnen ist so jung wie Albert Troßke oder Karl Bröger — und das sind noch immer nicht unsere Jüngsten.

Sie tragen neue Uniformen und neue Mäntel; ihre Schuhe sind wasserdicht und passen genau; ihre Waffen sind gut und ihre Taschen voller Munition. Alle sind frisch und unverbraucht.

Gegen diese Leute sind wir die reine Räuberbande. Unsere Uniformen sind gebleicht vom Dreck der Jahre, vom Regen der Argonnen, vom Kalk der Champagne, vom Sumpfwasser in Flandern — die Mäntel zerfetzt von Splittern und Schrapnells, geflickt mit groben Stichen, steif von Lehm und manchmal von Blut —, die Stiefel zer- latscht, die Waffen ausgeleiert, die Munition fast zu Ende; alle sind wir gleich dreckig, gleich verwildert, gleich müde. Der Krieg ist wie eine Dampfwalze über uns hinweggegangen.

Immer mehr Truppen rücken heran. Der Platz ist jetzt voll von Neugierigen.

Wir stehen immer noch in der Ecke, um unsere Verwundeten gedrängt — nicht weil wir Angst haben, sondern weil wir zusammengehören. Die Amerikaner stoßen sich an und zeigen auf unsere alten, verbrauchten Sachen. Einer bietet Breyer ein Stück weißes Brot an, aber der nimmt es nicht, obschon in seinen Augen der Hunger steht.

Plötzlich deutet jemand mit einem unterdrückten Ausruf auf die Verbände unserer Verwundeten. Sie bestehen aus Krepp-Papier und sind mit Bindfäden umschnürt. Alle blicken hin — dann treten sie zurück und flüstern miteinander. Ihre freundlichen Gesichter werden mitleidig, weil sie sehen, daß wir nicht einmal mehr Mullbinden haben.

Der Mann, der uns vorhin gerufen hat, legt Bethke die Hand auf die Schulter.»Deutsche — gute Soldat — «sagt er,»brave Soldat. — «Die anderen nicken eifrig.

Wir antworten nicht, denn wir können jetzt nicht antworten. Die letzten Wochen haben uns mächtig mitgenommen. Wir mußten immer wieder ins Feuer und verloren unnütz Leute; aber wir haben nicht viel gefragt, sondern haben es getan, wie wir es all die Zeit getan haben, und zum Schluß hatte unsere Kompanie noch zweiunddreißig Mann von zweihundert. So sind wir herausgekommen, ohne weiter nachzudenken und ohne mehr zu fühlen, als daß wir richtig gemacht haben, was uns aufgetragen worden war.

Jetzt aber, unter den mitleidigen Augen der Amerikaner, begreifen wir, wie sinnlos das alles zuletzt noch gewesen ist. Der Anblick ihrer endlosen, reichlich ausgerüsteten Kolonnen zeigt uns, gegen welch eine hoffnungslose Übermacht an Menschen und Material wir standgehalten haben.

Wir beißen uns auf die Lippen und sehen uns an. Bethke zieht die Schulter unter der Hand des Amerikaners fort, Kosole starrt vor sich hin, Ludwig Breyer richtet sich auf — wir fassen unsere Gewehre fester, unsere Knochen straffen sich, die Augen werden härter und senken sich nicht, wir sehen wieder die Landschaft entlang, aus der wir kommen, unsere Gesichter werden verschlossen vor Bewegung, und heiß geht es noch einmal durch uns hin: alles, was wir getan, alles, was wir gelitten und alles, was wir zurückgelassen haben.

Wir wissen nicht, was mit uns ist; aber wenn jetzt ein scharfes Wort hineinflöge, so würde es uns zusammenreißen, ob wir wollten oder nicht, wir würden vorstürzen und losbrechen, wild und atemlos, verrückt und verloren, und kämpfen — trotz allem wieder kämpfen —.

Ein stämmiger Sergeant mit erhitztem Gesicht schiebt sich zu uns durch. Er übersprudelt Kosole, der ihm am nächsten steht, mit einem Schwall deutscher Worte. Ferdinand zuckt zusammen, so überrascht ihn das.

«Der spricht ja genau wie wir«, sagt er verwundert zu Bethke,»was sagst du nun?«

Der Mann spricht sogar besser und geläufiger als Kosole. Er erzählt, daß er vor dem Kriege in Dresden gewesen wäre und dort viele Freunde hätte.

«In Dresden?«fragt Kosole immer verblüffter,»da war ich ja auch zwei Jahre. —«

Der Sergeant lächelt, als wäre das eine Auszeichnung. Er nennt die Straße, in der er gewohnt hat.

«Keine fünf Minuten von mir«, erklärt Ferdinand jetzt aufgeregt,»daß wir uns da nicht gesehen haben! Kennen Sie vielleicht die Witwe Pohl, Ecke Johannisgasse? So eine Dicke mit schwarzen Haaren? Meine Wirtin.«

Der Sergeant kennt sie zwar nicht, dafür aber den Rechnungsrat Zander, auf den sich wiederum Kosole nicht besinnen kann. Aber beide erinnern sich an die Elbe und an das Schloß und strahlen sich deshalb an, als wären sie alte Freunde. Ferdinand haut dem Sergeanten auf den Oberarm:»Mensch, Mensch — quatscht deutsch wie ein Alter und ist in Dresden gewesen! Mann, wozu haben wir beide eigentlich Krieg geführt?«

Der Sergeant lacht und weiß es auch nicht. Er holt ein Päckchen Zigaretten heraus und hält es Kosole hin. Der greift eilig zu, denn für eine Zigarette würde jeder von uns gern ein Stück seiner Seele hingeben. Unsere eigenen sind nur aus Buchenlaub und Heu, und das ist noch die bessere Sorte. Valentin Laher behauptet, die gewöhnlichsten wären aus Seegras und getrocknetem Pferdemist — und Valentin ist Kenner.

Kosole bläst den Rauch voll Genuß von sich. Wir schnuppern gierig. Laher wird blaß. Seine Nasenflügel beben.»Gib mal einen Zug«, sagt er flehentlich zu Ferdinand. Aber ehe er die Zigarette nehmen kann, hält ihm ein anderer Amerikaner ein Paket Virginiatabak entgegen. Ungläubig sieht Valentin ihn an. Dann nimmt er es und riecht daran. Sein Gesicht verklärt sich. Zögernd gibt er den Tabak zurück. Doch der andere wehrt ab und deutet heftig auf die Kokarde an Lahers Krätzchen, das aus dem Brotbeutel hervorlugt.

Valentin versteht ihn nicht.»Er will den Tabak gegen die Kokarde tauschen«, erklärt der Sergeant aus Dresden. Das versteht Laher noch weniger. Diesen erstklassigen Tabak gegen eine blecherne Kokarde — der Mann muß übergeschnappt sein. Valentin würde das Päckchen nicht rausrücken, selbst wenn er dafür auf der Stelle Unteroffizier oder Leutnant werden könnte. Er bietet dem anderen gleich die ganze Mütze an und stopft sich mit zitternden Händen gierig die erste Pfeife.

Wir haben jetzt begriffen, was los ist: die Amerikaner wollen tauschen. Man merkt, daß sie noch nicht lange im Kriege sind; sie sammeln noch Andenken, Achselklappen, Kokarden, Koppelschlösser, Orden, Uniformknöpfe. Wir versorgen uns dagegen mit Seife, Zigaretten, Schokolade und Konserven. Für unsern Hund wollen sie uns sogar eine ganze Handvoll Geld obendrein geben — aber da können sie bieten, was sie wollen, Wolf bleibt bei uns. Dafür haben wir mit unseren Verwundeten Glück. Ein Amerikaner mit so viel Gold im Munde, daß die Schnauze wie eine Messingwerkstatt glänzt, will gerne Verbandsfetzen mit Blut daran haben, um zu Hause beweisen zu können, daß sie tatsächlich aus Papier gewesen sind. Er bietet erstklassigen Keks und vor allem einen Arm voll Verbandszeug dafür. Sorgfältig und sehr zufrieden verstaut er die Lappen in seiner Brieftasche, besonders die von Ludwig Breyer, denn das ist ja Leutnantsblut. Ludwig hat mit Bleistift Ort, Namen und Truppenteil darauf schreiben müssen, damit jeder in Amerika gleich sehen kann, daß die Sache kein Schwindel ist. Zuerst wollte er zwar nicht — aber Weil redete ihm zu, denn wir brauchen das gute Verbandzeug bitter nötig. Außerdem ist der Keks für ihn mit seiner Ruhr direkt eine Rettung.

Den besten Schlag jedoch macht Arthur Ledderhose. Er schleppt eine Kiste mit Orden heran, die er in einer verlassenen Schreibstube gefunden hat. Ein ebenso zerknitterter Amerikaner wie er, mit ebensolchem Zitronengesicht, will die ganze Kiste auf einmal erwerben. Aber Ledderhose sieht ihn nur mit einem langen überlegenen Blick

aus zusammengekniffenen Augen an. Der Amerikaner hält den Blick ebenso unbeweglich und scheinbar harmlos aus. Beide gleichen sich auf einmal wie Brüder. Über Krieg und Tod trifft hier plötzlich etwas aufeinander, das alles überstanden hat: der Geschäftsgeist. Ledderhoses Gegner merkt bald, daß nichts für ihn zu machen ist, denn Arthur läßt sich nicht täuschen: sein Handel ist im einzelnen bedeutend vorteilhafter. Er tauscht, bis die Kiste leer ist. Neben ihm sammelt sich allmählich ein Haufen Sachen an, sogar Butter, Seide, Eier und Wäsche, so daß er zum Schluß dasteht wie ein Kolonialwarenladen auf O-Beinen.

Wir brechen auf. Die Amerikaner rufen und winken hinter uns her. Besonders der Sergeant ist unermüdlich. Auch Kosole ist bewegt, soweit das einem alten Soldaten möglich ist. Er grunzt ein paar Abschiedslaute und winkt; allerdings sieht das bei ihm immer noch so aus, als ob er drohe. Dann äußert er zu Bethke:»Ganz vernünftige Kerle, was?«

Adolf nickt. Schweigend gehen wir weiter. Ferdinand läßt den Kopf hängen. Er denkt. Das tut er nicht oft, aber wenn es ihn gepackt hat, dann ist er zähe und kaut lange daran herum. Ihm will der Sergeant aus Dresden nicht aus dem Kopf.

In den Dörfern starren die Leute hinter uns her. In einem Bahnwärterhaus stehen Blumen am Fenster. Eine Frau mit vollen Brüsten stillt ein Kind. Sie hat ein blaues Kleid an. Hunde bellen uns an. Wolf bellt zurück. Am Wege bespringt ein Hahn eine Henne. Wir rauchen gedankenlos.

Marschieren, marschieren. Die Zone der Feldlazarette. Die Zone der Proviantämter. 'Ein großer Park mit Platanen. Unter den Bäumen Tragbahren und Verwundete. Die Blätter fallen und decken sie zu mit Rot und Gold.

Ein Gaslazarett. Schwere Fälle, die nicht mehr transportiert werden können. Blaue, wächserne, grüne Gesichter, tote Augen, zerfressen von der Säure, röchelnde, würgende Sterbende. Alle wollen fort, denn sie fürchten sich vor der Gefangennahme. Als wenn es nicht gleich wäre, wo sie sterben.

Wir versuchen, sie zu trösten, indem wir ihnen sagen, bei den Amerikanern würden sie besser verpflegt werden. Aber sie hören nicht darauf. Sie rufen uns immer wieder zu, wir möchten sie mitnehmen. Das Rufen ist schrecklich. Die blassen Gesichter sehen so unwirklich aus in der klaren Luft hier draußen. Am schlimmsten aber ist es mit den Bärten. Sie stehen sonderbar für sich, hart, eigensinnig, wuchernd und wachsend um die Kinnbacken, ein schwarzer Pilzbelag, der sich nährt, je mehr sie verfallen.

Manche von den Schwerverletzten strecken ihre dünnen, grauen Arme aus wie Kinder.»Nehmt mich doch mit, Kameraden«, betteln sie,»nehmt mich doch mit, Kameraden.«

In ihren Augenhöhlen hocken schon tiefe, fremde Schatten, aus denen sich die Pupillen nur noch wie Ertrinkende hervorquälen. Andere sind still; sie folgen uns nur mit den Blicken, so weit sie können.

Allmählich wird das Rufen schwächer. Die Straßen gehen langsam vorbei. Wir schleppen viele Sachen, denn man muß doch etwas mitbringen nach Hause. Wolken hängen am Himmel. Nachmittags bricht die Sonne durch, und Birken, nur noch mit wenigen Blättern, spiegeln sich in den Regenlachen am Wege. Leichter, blauer Duft hängt in den Ästen.

Während ich marschiere, den Tornister auf dem Rücken, den Kopf gesenkt, sehe ich am Rande der Straße, in den klaren Regenpfützen, das Bild der hellen, seidenen Bäume. Es ist in diesem zufälligen Spiegel stärker als in Wirklichkeit. Eingebettet in den braunen Boden liegt da ein Stück Himmel mit Bäumen, Tiefe und Klarheit, und ich erschauere plötzlich. Zum erstenmal seit langer Zeit fühle ich wieder, daß etwas schön ist, daß dieses hier einfach schön ist, schön und rein, dieses Bild in der Wasserlache vor mir — und in diesem Erschauern steigt mir das Herz hoch, alles fällt für einen Augenblick ab, und jetzt spüre ich es zum ersten Male: Frieden — sehe es: Frieden — empfinde es ganz: Frieden. Der Druck weicht, der nichts freigab bisher, ein Unbekanntes, Neues fliegt auf, Möwe, weiße Möwe, Frieden, zitternder Horizont, zitternde Erwartung, erster Blick, Ahnung, Hoffnung, Schwellendes, Kommendes: Frieden.

Ich schrecke auf und blicke mich um; dahinten liegen nun meine Kameraden auf den Tragbahren und rufen immer noch. Es ist Frieden, und sie müssen trotzdem sterben. Ich aber bebe vor Freude und schäme mich nicht. Sonderbar ist das. —

Vielleicht ist nur deshalb immer wieder Krieg, weil der eine nie ganz empfinden kann, was der andere leidet.

II

Nachmittags sitzen wir auf dem Hof einer Brauerei. Unser Kompanieführer, der Oberleutnant Heel, kommt aus dem Büro der Fabrik und ruft uns zusammen. Es ist ein Befehl da, daß aus der Mannschaft Vertrauensleute gewählt werden sollen. Wir sind erstaunt darüber. Bislang gab es so was nicht.

Da erscheint Max Weil auf dem Hof. Er schwenkt ein Zeitungsblatt und ruft:»In Berlin ist Revolution.«

Heel wendet sich um.»Unsinn«, sagt er scharf,»in Berlin sind Unruhen.«

Aber Weil ist noch nicht fertig.»Der Kaiser ist nach Holland geflohen.«

Das weckt uns auf. Weil muß verrückt sein. Heel wird knallrot und schreit:

«Verdammter Lügner!«

Weil übergibt ihm die Zeitung. Heel zerknüllt sie und starrt Weil wütend an. Er kann ihn nicht leiden, denn Weil ist Jude, ein ruhiger Mensch, der immer herumsitzt und Bücher liest. Heel aber ist ein Draufgänger.

«Alles Quatsch«, knurrt er und sieht Weil an, als wolle er ihn fressen. Max knöpft seinen Rock los und holt ein zweites Extrablatt heraus. Heel wirft einen Blick darauf, dann reißt er es in Fetzen und geht in sein Quartier. Weil setzt das Blatt wieder zusammen und liest uns die Nachrichten vor. Wir sitzen da wie besoffene Hühner. Das versteht keiner mehr.

«Es heißt, er wollte einen Bürgerkrieg vermeiden«, sagt Weil.»Blödsinn«, ruft Kosole,»wenn wir das nun auch gesagt hätten, damals. Verflucht, und dafür hat man hier ausgehalten.«

«Jupp, faß mich mal an, ob ich noch da bin«, sagt Bethke kopfschüttelnd. Jupp bestätigt es.»Dann muß es ja stimmen«, fährt Bethke fort,»aber trotzdem begreife ich nichts. Wenn einer von uns das gemacht hätte, wäre er an die Wand gestellt worden.«

«Ich darf jetzt nicht an Weßling und Schröder denken«, sagt Kosole und ballt die Fäuste,»sonst fliege ich auseinander. Küken Schröder, das Kind, platt gehauen hat er dagelegen, und der, für den er gefallen ist, reißt aus! — Kotzverflucht! — «Er knallt die Absätze gegen eine Biertonne.

Willy Homeyer macht eine wegwerfende Handbewegung.»Wollen lieber von was anderm reden«, schlägt er dann vor,»der Mann ist für mich endgültig erledigt.«

Weil erklärt, daß bei verschiedenen Regimentern Soldatenräte gebildet worden seien. Die Offiziere seien keine Vorgesetzten mehr. Vielen hätte man die Achselstücke heruntergerissen.

Er will auch bei uns einen Soldatenrat gründen. Aber er findet wenig Gegenliebe. Wir wollen nichts mehr gründen. Wir wollen nach Hause. Und dahin kommen wir auch so.

Schließlich werden drei Vertrauensleute gewählt: Adolf Bethke, Max Weil und Ludwig Breyer.

Weil verlangt von Ludwig, er solle seine Achselstücke abmachen.»Hier — «, sagt Ludwig müde und tippt an seine Stirn. Bethke schiebt Weil zurück.»Ludwig gehört doch zu uns«, sagt er kurz. Breyer ist als Kriegsfreiwilliger zur Kompanie gekommen und da Leutnant geworden. Er duzt sich nicht nur mit uns, mit Troßke, Homeyer, Bröger und mir — das ist selbstverständlich, denn wir sind seine Mitschüler von früher —, sondern auch mit seinen älteren Kameraden, wenn kein anderer Offizier in der Nähe ist. Das wird ihm hoch angerechnet.

«Aber Heel«, beharrt Weil.

Das ist eher zu verstehen. Weil ist oft von Heel schikaniert worden: kein Wunder, daß er jetzt seinen Triumph erleben will. Uns ist es schnuppe. Heel war zwar scharf, aber er ging ran wie Blücher und war immer vorneweg. Da unterscheidet der Soldat schon.

«Kannst ihn ja mal fragen«, sagt Bethke.

«Aber nimm dir Verbandpäckchen mit«, ruft Tjaden hinterher. Doch es wird anders. Heel kommt aus dem Büro, als Weil gerade hinein will. Er hat ein paar Formulare in der Hand und zeigt darauf.»Es stimmt«, sagt er zu Max.

Weil beginnt zu reden. Als er bei den Achselstücken ist, macht Heel eine jähe Bewegung. Wir glauben, daß jetzt der Krach losgeht, aber der Kompanieführer sagt zu unserer Verwunderung plötzlich nur:»Sie haben recht. «Dann wendet er sich an Ludwig und legt ihm die Hand auf die Schulter.»Werden Sie wohl nicht verstehen, Breyer, was? Mannschaftsrock, das ist es. Das andere ist jetzt vorbei.«

Keiner von uns sagt etwas. Das ist nicht mehr der Heel, den wir kennen, der nur mit einem Spazierstock nachts auf Patrouille ging und als kugelfest galt: das ist ein Mensch, der Mühe hat, zu stehen und zu sprechen.

Abends, als ich schon schlafe, werde ich von einem Gemurmel geweckt.»Du spinnst«, höre ich Kosole sagen.»Tatsache«, erklärt Willy dagegen.»Komm selbst mit.«

Sie rappeln sich auf und gehen zum Hof. Ich folge ihnen. Im Büro ist Licht, man kann hineinsehen. Da sitzt Heel am Tisch. Seine Litewka liegt vor ihm. Die Achselstücke fehlen. Er trägt einen Mannschaftsrock. Den Kopf hat er in die Hände gestützt und — aber das ist ja gar nicht möglich —, ich gehe einen Schritt näher — Iieel, Heel weint.

«So was«, flüstert Tjaden.

«Weg!«sagt Bethke und gibt Tjaden einen Tritt. Wir schleichen betroffen zurück.

Am nächsten Morgen hören wir, daß ein Major des Nachbarregiments sich erschossen hat, als er von der Flucht des Kaisers hörte.

Heel kommt. Er ist grau und übernächtigt. Leise gibt er die nötigen Anweisungen. Dann geht er wieder fort. Uns allen ist scheußlich zumute. Das Letzte, was wir hatten, ist uns genommen worden. Jetzt haben wir den Boden unter den Füßen verloren.»Richtig verraten kommt man sich vor«, sagt Kosole mürrisch. Es ist ein ganz anderer Zug als gestern, der sich formiert und düster weitermarschiert. Eine verlorene Kompanie, eine verlassene Armee. Das Schanzzeug klappert bei jedem Schritt — eine monotone Melodie — umsonst — umsonst. —

Nur Ledderhose ist munter wie eine Drossel. Er verkauft aus seinen amerikanischen Beständen Konserven und Zucker.

Am anderen Abend erreichen wir Deutschland. Jetzt, wo nicht mehr französisch um uns herum gesprochen wird, beginnen wir allmählich wirklich an den Frieden zu glauben. Bislang haben wir immer noch im geheimen mit einem Befehl gerechnet, umzukehren und in die Gräben zurückzukehren; denn der Soldat ist mißtrauisch gegen das Gute, und es ist besser, von Anfang an mit dem Gegenteil zu rechnen. Aber nun steht ein sanftes Fieber langsam in uns auf.

Wir kommen in ein großes Dorf. Ein paar verwelkte Girlanden hängen über der Straße. Es sind wohl schon so viele Truppen durchgezogen, daß es nicht mehr lohnt, für die letzten etwas Besonderes zu unternehmen. Wir müssen uns deshalb mit dem verblichenen Willkommen einiger verregneter Plakate begnügen, die von Eichenlaub aus grünem Papier lose umrahmt sind. Die Leute sehen kaum noch nach uns hin, als wir vorübermarschieren, so sehr sind sie es gewöhnt. Für uns aber ist es neu, hier anzukommen, und wir sind hungrig nach ein paar freundlichen Worten und Blicken, wenn wir auch behaupten, darauf zu pfeifen. Wenigstens die Mädchen könnten sich schon mal hinstellen und winken. Tjaden und Jupp versuchen immer wieder, ein paar anzurufen, aber sie haben keinen Erfolg. Wahrscheinlich sehen wir zu dreckig aus. Da geben sie es endlich auf.

Nur die Kinder begleiten uns. Wir halten sie an der Hand, und sie laufen neben uns her. Wir schenken ihnen, was wir an Schokolade entbehren können, denn einen Teil müssen wir natürlich auch mit nach Hause bringen.

Adolf Bethke hat ein kleines Mädchen auf den Arm genommen. Es zerrt an seinem Schnurrbart, als wäre er ein Zügel, und lacht, was es kann, denn Adolf schneidet Grimassen. Die kleinen Hände patschen ihm ins Gesicht. Er hält eine fest und zeigt mir, wie winzig sie ist.

Das Kind fängt an zu weinen, als er keine Grimassen mehr zieht. Adolf versucht es zu beruhigen, aber es weint nur noch heftiger, und er muß es herunterlassen.

«Wir scheinen ja die reinen Kinderschrecks geworden zu sein«, brummt Kosole.

«Sie haben eben Angst vor einer richtigen Schützengrabenfresse, die ist ihnen unheimlich«, erklärt Willy.

«Wir riechen nach Blut, das ist es«, sagt Ludwig Breyer.

«Da werden wir wohl mal baden müssen«, meint Jupp,»dann sind die Mädels vielleicht auch schärfer.«

«Ja, wenn das mit Baden alleine ginge«, antwortet Ludwig nachdenklich.

Verdrossen ziehen wir weiter. Wir hatten uns den Einzug in die Heimat anders vorgestellt nach den Jahren draußen. Wir hatten geglaubt, man würde uns erwarten; aber jetzt sehen wir, daß jeder hier schon wieder mit sich beschäftigt ist. Alles ist weitergegangen und geht weiter, fast als wären wir bereits überflüssig. Dieses Dorf ist natürlich nicht Deutschland, aber trotzdem sitzt uns der Ärger im Halse, und ein Schatten streift uns und eine seltsame Ahnung.

Wagen rasseln vorüber, Kutscher schreien, Menschen blicken flüchtig auf und rennen dann weiter hinter ihren Gedanken und Sorgen her. Vom Kirchturm schlägt die Uhr, und der feuchte Wind schnobert über uns hin. Nur eine alte Frau mit langen Kopfbändern läuft unermüdlich unsere Reihen entlang und fragt mit zaghafter Stimme nach einem gewissen Erhard Schmidt.

In einem großen Schuppen bekommen wir Quartier. Aber obschon wir viel marschiert sind, hat keiner von uns Ruhe. Wir gehen in die Schenken.

Das ist großes Leben. Es gibt einen trüben Wein, der schon von diesem Jahr ist und wunderbar schmeckt. Er zieht mächtig in die Beine.

Um so lieber sitzen wir. Tabakschwaden wehen durch den niedrigen Raum, und der Wein riecht nach Erde und Sommer. Wir holen unsere Konserven heraus, säbeln das Fleisch auf dicke Butterbrote, stechen die Messer neben uns in das Holz der breiten Tische und essen. Die Petroleumlampe scheint wie eine Mutter über uns allen.

Der Abend macht die Welt schöner. Nicht im Schützengraben, wohl aber im Frieden. Heute nachmittag sind wir ärgerlich einmarschiert, doch jetzt leben wir auf. Die kleine Kapelle, die in der Ecke spielt, wird rasch ergänzt durch unsere Leute. Wir haben nicht nur Klavierspieler und Mundharmonikavirtuosen, sondern sogar einen Bayern mit Baßzither bei uns. Dazu kommt Willy Homeyer, der sich eine Art Teufelsgeige zurechtbaut und mit Waschtrogdeckeln Glanz und Gloria von Becken, Pauke und Schellenbaum hineinpfeffert.

Das Ungewohnte aber, das uns mehr als der Wein zu Kopf steigt, sind die Mädchen. Sie sind anders als nachmittags, sie lachen und sind zugänglich. Oder sind es andere? Mädchen haben wir lange nicht mehr gesehen.

Anfangs sind wir gierig und befangen zugleich, wir trauen uns nicht recht, denn wir haben draußen verlernt, mit ihnen umzugehen

— dann jedoch walzt Ferdinand Kosole mit einer los, einem strammen Deubel mit mächtiger Brustwehr, an der er eine gute Gewehrauflage hat, und die ändern folgen.

Der süße, schwere Wein singt angenehm im Kopf, die Mädchen sausen, die Musik spielt, und in der Ecke sitzen wir zusammen um Adolf Bethke herum.»Kinder«, sagt er,»morgen oder übermorgen sind wir wieder zu Hause. Kinder, Kinder, meine Frau — zehn Monate ist das nun her. —«

Ich lehne mich über den Tisch und rede mit Valentin Laher, der kühl und überlegen die Mädchen mustert. Eine Blonde sitzt neben ihm, aber er beachtet sie wenig. Während ich mich vorbeuge, drückt in meinem Rock etwas gegen die Tischkante. Es ist die Uhr von Weßling. Wie weit das schon zurückliegt! —

Jupp hat die dickste Dame erwischt. Er tanzt mit ihr wie ein Fragezeichen. Seine große Flosse liegt breit auf der mächtigen Kruppe des Mädchens und spielt da Klavier. Sie lacht ihm mit nassem Munde ins Gesicht, und er wird immer munterer. Schließlich schassiert er auf die Hoftür los und ist draußen.

Ein paar Minuten später gehe ich hinaus, um die nächste Ecke zu suchen — aber dort steht schon ein schwitzender Unteroffizier mit einem Mädchen. Ich trudele in den Garten und will gerade beginnen, da kracht es mächtig hinter mir. Ich drehe mich um und sehe Jupp mit der Dicken auf den Boden kollern. Sie sind mit einem Gartentisch zusammengebrochen. Die Dicke prustet los, als sie mich erblickt, und streckt mir die Zunge heraus. Jupp faucht. Ich verschwinde eilig hinter den Büschen und trete dabei jemand auf die Hand — eine verdammte Nacht —.»Kannst du Ochse nicht sehen?«brüllt ein Baß.

«Kann ich wissen, daß du Mondkalb da liegst?«gebe ich ärgerlich zurück und finde endlich eine ruhige Ecke.

Kühler Wind, gut nach dem Qualm drinnen, dunkle Häusergiebel, Lauben, Stille und das friedliche Plätschern, während ich pinkele. Albert kommt und stellt sich neben mich. Der Mond scheint. Wir pissen lauter Silber.

«Mensch, Ernst, was?«sagt Albert.

Ich nicke. Wir sehen noch eine Weile in den Mond.»Daß der Mist vorbei ist, Albert, was?«

«Verflucht ja, Ernst. — «

Es knarrt und knackt hinter uns. Mädchen juchzen hoch und jäh unterdrückt aus den Büschen. Die Nacht ist wie ein Gewitter, fiebrig geladen von ausbrechendem Leben, das sich wild und hastig aneinander entzündet.

Im Garten stöhnt jemand. Ein Kichern antwortet. Schatten klettern vom Heuboden herunter. Zwei stehen auf einer Leiter. Der Mann preßt seinen Kopf wie ein Rasender in die Röcke des Mädchens und stammelt etwas. Sie lacht mit einer rauhen Stimme, die uns wie eine Bürste über die Nerven kratzt. Schauer rieseln mir den Rücken herunter. Wie nahe ist das beieinander, gestern und heute. Tod und Leben.

Tjaden kommt aus dem dunklen Garten. Er ist schweißüberströmt, und sein Gesicht leuchtet.»Kinder, jetzt weiß man doch wieder, daß man lebt«, sagt er und knöpft seinen Rock zu.

Wir gehen um das Haus herum und stoßen auf Willy Homeyer. Er hat auf einem Acker aus Kraut ein großes Feuer gemacht und ein paar Hände voll erbeuteter Kartoffeln hineingeworfen. Jetzt sitzt er friedlich und träumerisch allein davor und wartet darauf, daß die Kartoffeln braten. Neben sich hat er ein paar amerikanische Büch- senkoteletts liegen. Der Ilund hockt aufmerksam an seiner Seite.

Das flackernde Feuer wirft kupferne Reflexe in sein rotes Haar. Von den Wiesen unten zieht Nebel herauf. Die Sterne funkeln. Wir setzen uns zu ihm und holen die Kartoffeln aus dem Feuer. Die Schalen sind schwarzgebrannt, aber das Innere ist goldgelb und duftet. Wir packen die Koteletts mit beiden Fäusten und sägen auf ihnen herum wie auf Mundharmonikas. Dazu trinken wir Schnaps aus unsern Aluminiumbechern.

Wie die Kartoffeln schmecken! Dreht sich die Welt? Wo sind wir? Sitzen wir nicht wieder als Jungens bei Torloxten auf dem Acker und haben den ganzen Tag in der starkriechenden Erde Kartoffeln ausgewühlt, rotbackige Mädchen in blauen, verwaschenen Röcken mit Körben hinter uns? Kartoffelfeuer der Jugend! Weiße Schwaden zogen über das Feld, die Feuer knisterten, sonst war es still, die Kartoffel war die letzte Frucht, abgeerntet war alles schon — nur noch die Erde, die klare Luft, der bittere, weiße, geliebte Rauch, der letzte Herbst. Bitterer Rauch, bitterer Geruch des Herbstes, Kartoffelfeuer der Jugend — die Schwaden wehen, wehen und verwehen, Gesichter der Kameraden, wir sind unterwegs, der Krieg ist zu Ende, alles zerschmilzt wunderlich —, die Kartoffelfeuer kommen wieder und der Herbst und das Leben.

«Mensch, Willy, Willy. —«

«Sache, was?«fragt er aufschauend, die Hände voll Fleisch und Kartoffeln. —

Ach, Schafskopf, ich meinte ja ganz was anderes.

Das Feuer ist ausgebrannt. Willy wischt sich die Hände an der Hose ab und klappt sein Messer zu. Ein paar Hunde bellen im Dorf. Sonst ist es still. Keine Granate mehr. Kein Rasseln von Munitionskolonnen. Nicht einmal mehr das vorsichtige Knirschen der Sanitätsautos. Eine Nacht, in der viel weniger Menschen sterben, als jemals in den letzten vier Jahren.

Wir gehen wieder in die Kneipe. Aber dort ist nicht viel mehr los. Valentin hat seinen Rock ausgezogen und ein paar Handstände gemacht. Die Mädchen klatschen, doch Valentin ist nicht erfreut. Verdrossen sagt er zu Kosole:»Ich war einmal ein guter Artist, Ferdinand. Aber das hier reicht nicht mal mehr für den Jahrmarkt. Alles raus aus den Knochen. Und Valentinis Reckakt, das war eine Nummer früher! Jetzt habe ich Rheumatismus. —«

«Ach, sei froh, daß du deine Knochen überhaupt noch hast«, ruft Kosole und haut mit der Hand auf den Tisch.»Musik! Willy!«Homeyer setzt bereitwillig mit Pauke und Schellenbaum ein. Es wird wieder lebendiger. Ich frage Jupp, wie es mit der Dicken war. Er weist mit abfälliger Geste weit von sich.»Nanu«, sage ich verblüfft,»das geht ja schnell bei dir.«

Er zieht eine Grimasse.»Ich denke, sie liebt mich, verstehst du? Jawohl, Geld hat das Luder nachher von mir verlangt. Und dabei habe ich mir noch das Knie an dem Satansgartentisch gestoßen, daß ich kaum gehen kann.«

Ludwig Breyer sitzt still und blaß am Tisch. Er sollte eigentlich längst schlafen, aber er will nicht. Sein Arm heilt gut, und die Ruhr läßt auch etwas nach. Doch er bleibt in sich gekehrt.

«Ludwig«, sagt Tjaden mit schwerer Stimme,»du solltest auch mal in den Garten gehen — das ist gut für alles. —«

Ludwig schüttelt den Kopf und wird plötzlich sehr blaß. Ich setze mich neben ihn.»Freust du dich denn gar nicht auf zu Hause?«frage ich.

Er steht auf und geht weg. Ich verstehe ihn nicht mehr. Nachher finde ich ihn, wie er ganz allein draußen steht. Ich frage ihn nicht weiter. Wir gehen schweigend zurück.

In der Tür stoßen wir auf Ledderhose, der gerade mit der Dicken verschwinden will. Jupp grinst:»Der wird sich wundern.«

«Nein, sie«, sagt Willy,»oder glaubst du, daß Arthur auch nur einen Pfennig rausrückt?«

Wein fließt über den Tisch, die Lampe blakt, und die Mädchenröcke fliegen. Eine warme Müdigkeit weht hinter meiner Stirn, alles hat weiche Ränder, wie Leuchtkugeln manchmal im Nebel; langsam sinkt der Kopf auf die Tischplatte. — Die Nacht braust weich und wunderbar, wie ein Schnellzug, in die Heimat: Bald sind wir zu Hause.

III

Wir stehen zum letzten Male angetreten auf dem Kasernenhof. Ein Teil der Kompanie wohnt in der Umgebung. Er wird entlassen. Der Rest muß sich allein weiter durchschlagen. Der Eisenbahnverkehr ist so unregelmäßig, daß wir nicht mehr geschlossen transportiert werden können. Wir müssen uns trennen.

Der weite, graue Hof ist viel zu groß für uns. Ein fahler Novemberwind, der nach Aufbruch und Sterben riecht, fegt darüber hin. Wir stehen zwischen Kantine und Wache, mehr Platz brauchen wir nicht. Die große, leere Fläche um uns herum weckt trostlose Erinnerungen. Da stehen unsichtbar, viele Reihen tief, die Toten.

Heel geht die Kompanie entlang. Aber mit ihm geht lautlos der gespenstische Zug seiner Vorgänger. Als nächster, noch blutend aus dem Halse, mit abgerissenem Kinn und traurigen Augen, Bertinck, eineinhalb Jahre Kompanieführer, Lehrer, verheiratet, vier Kinder — neben ihm mit schwarzgrünem Gesicht Möller, neunzehn Jahre alt, gasvergiftet, drei Tage, nachdem er die Kompanie übernahm — als nächster Redecker, Forstassessor, zwei Wochen später durch einen Volltreffer in die Erde gestampft — dann schon blasser, ferner, Büttner, Hauptmann, beim Angriff gefallen durch M. G.-Schuß ins Herz

— und wie Schatten dahinter, fast schon ohne Namen, soweit zurück, die ändern — sieben Kompanieführer in zwei Jahren. Und mehr als fünfhundert Mann. Zweiunddreißig stehen auf dem Kasernenhof.

Heel versucht, ein paar Worte zum Abschied zu sagen. Aber es wird nichts; er muß aufhören. Keine Worte der Welt könnten sich behaupten gegen diesen einsamen, leeren Kasernenhof mit den wenigen Reihen der Übriggebliebenen, die stumm und frierend in ihren Mänteln und ihren Stiefeln dastehen und an ihre Kameraden denken.

Heel geht von einem zum ändern und gibt jedem die Hand. Als er zu Max Weil kommt, sagt er mit schmalen Lippen:»Nun beginnt Ihre Zeit, Weil. —«

«Sie wird weniger blutig sein«, antwortet Max ruhig.

«Und weniger heroisch«, gibt Heel zurück.

«Das ist nicht das Letzte im Leben«, sagt Weil.

«Aber das Beste«, erwidert Heel.»Was sonst?«

Weil zögert einen Augenblick. Dann sagt er:»Etwas, das heute schlecht klingt, Herr Oberleutnant: Güte und Liebe. Auch da gibt es einen Heroismus.«

«Nein«, antwortet Heel rasch, als hätte er schon lange darüber nachgedacht, und seine Stirn zuckt,»da gibt es nur Märtyrertum, das ist etwas ganz anderes. Heroismus beginnt da, wo die Vernunft streikt: bei der Geringschätzung des Lebens. Er hat mit Sinnlosigkeit, mit Rausch, mit Riskieren zu tun, damit Sie es wissen. Aber nur wenig mit Zweck. Zweck, das ist Ihre Welt. Warum, wozu, weshalb — wer so fragt, weiß nichts davon. —«

Er spricht so heftig, als wollte er sich selbst überzeugen. Sein eingefallenes Gesicht arbeitet. Er ist in ein paar Tagen verbittert und um Jahre älter geworden. Aber ebenso rasch hat sich Weil verändert. Er war stets ein unauffälliger Mensch, aus dem allerdings niemand recht klug werden konnte. Jetzt ist er plötzlich hervorgetreten und wird immer bestimmter. Keiner hätte vermutet, daß er so reden kann. Je nervöser Heel wird, desto ruhiger ist Max. Leise und fest sagt er:»Für den Heroismus von wenigen ist das Elend von Millionen zu teuer.«

Heel zuckt die Achseln.»Zu teuer — Zweck — bezahlen — das sind so Ihre Worte. Wollen sehen, wie weit Sie damit kommen. «Weil sieht den Mannschaftsrock an, den Heel noch immer trägt.»Wie weit sind Sie mit den Ihrigen gekommen?«

Heel errötet.»Zu einer Erinnerung«, sagt er hart,»wenigstens zu einer Erinnerung an Dinge, die sich nicht für Geld kaufen lassen. «Weil schweigt eine Zeitlang.»Zu einer Erinnerung — «, wiederholt er dann und sieht über den leeren Kasernenhof und unsere kurzen Reihen hin —»ja, — und zu einer furchtbaren Verantwortung. —«

Wir verstehen von alledem nicht viel. Wir frieren und halten es für unnötig, zu reden. Durch Reden wird die Welt doch nicht anders.

Die Reihen lockern sich. Das Verabschieden beginnt. Mein Nebenmann Müller schiebt sich den Tornister auf den Schultern zurecht und klemmt sein Paket mit Lebensmitteln unter den Arm. Dann hält er mir die Hand hin:»Also, mach's gut, Ernst —

«Mach's gut, Felix —. «Er geht weiter, zu Willy, zu Albert, zu Kosole. —

Gerhard Pohl kommt, der Kompaniesänger, der beim Marschieren immer den obersten Tenor sang, wenn die Melodie in großem Bogen anstieg. Die ganze übrige Zeit ruhte er sich aus, um ordentlich Kraft in die zweistimmigen Stellen legen zu können. Sein braunes Gesicht mit der Warze ist bewegt; er hat sich gerade von Karl Brö- ger verabschiedet, mit dem er unzählige Skatpartien gemacht hat. Das ist ihm schwer geworden.

«Wiedersehen, Ernst—.«

«Wiedersehen, Gerhard—. «Er geht.

Weddekampf gibt mir die Hand. Er tischlerte die Kreuze für die Gefallenen.»Schade, Ernst«, sagt er,»habe dir nun leider keins mehr verpassen können. Du hättest sogar eins aus Mahagoni gekriegt. Hatte schon einen schönen Klavierdeckel dafür in Reserve.«

«Was nicht ist, kann noch werden«, erwidere ich,»wenn's so weit ist, schreibe ich dir eine Postkarte.«

Er lacht.»Halt die Ohren steif, Junge, der Krieg ist noch nicht zu Ende.«

Dann trottet er ab mit seiner schiefen Schulter.

Die erste Gruppe verschwindet schon hinter dem Kasernentor. Scheffler, Faßbender, der kleine Lucke und August Beckmann sind dabei. Andere folgen. Wir werden aufgeregt. Man muß sich erst daran gewöhnen, daß sie für immer gehen. Bislang gab es nur Tod, Verwundung oder Abkommandierung, damit jemand die Kompanie verließ. Jetzt kommt noch dazu: Frieden.

Sonderbar ist das: Wir sind die Trichter und die Gräben so sehr gewohnt, daß wir plötzlich mißtrauisch werden gegen die Stille der Landschaft, in die wir jetzt hineinkommen — als wäre die Stille nur ein Vorwand, um uns in heimlich unterminiertes Gebiet zu locken. — Und nun laufen die da hinein, unsere Kameraden, unvorsichtig, allein, ohne Gewehre, ohne Handgranaten. Man möchte hinterherrennen, sie wieder holen und ihnen zurufen: Wo wollt ihr denn nur hin, was wollt ihr so allein da draußen, ihr gehört doch hierher, zu uns, wir müssen doch zusammenbleiben, wie können wir anders leben sonst. —

Seltsames Mühlrad im Schädel: zu lange Soldat gewesen. — Der Novemberwind pfeift über den leeren Kasernenhof. Immer mehr Kameraden gehen. Wie lange noch, und jeder ist wieder allein.

Der Rest unserer Kompanie hat den gleichen Weg nach Hause. Wir lagern in der Bahnhofshalle, um einen Zug zu erwischen. Die Halle ist ein Heerlager von Kisten, Kartons, Tornistern und Zeltbahnen.

In sieben Stunden fahren zwei Züge durch. Wie Trauben hängen Schwärme von Menschen an den Türen. Nachmittags erobern wir einen Platz nahe den Schienen. Abends sind wir ganz vorn in der besten Position. Wir schlafen im Stehen.

Der erste Zug kommt am nächsten Mittag. Es ist ein Güterzug mit blinden Pferden. Ihre verdrehten Augäpfel sind weißblau und rot unterlaufen. Sie stehen ganz still, die Köpfe sind vorgestreckt, und nur in den witternden Nüstern ist Leben.

Nachmittags wird bekanntgemacht, daß heute kein Zug mehr fahren soll. Kein Mensch geht. Ein Soldat glaubt nicht an Bekanntmachungen. Und wirklich kommt noch einer. Der erste Blick zeigt, daß er richtig ist. Halbvoll höchstens.

Die Halle erdröhnt unter dem Fertigmachen der Brocken und dem gewaltigen Ansturm der Kolonnen, die aus den Wartesälen hervorbrechen. Sie geraten in einen wilden Knäuel mit denen, die in der Halle warten.

Der Zug gleitet vorbei. Ein Fenster ist offen. Albert Troßke, der Leichteste von uns, wird hochgeworfen und klettert wie ein Affe hinein. Im nächsten Augenblick hängen die Türen voller Leute. Die meisten Fenster sind geschlossen. Schon splittern einige unter den Kolbenschlägen derjenigen, die auf jeden Fall, auch mit zerrissenen Händen und Beinen, mitwollen. Decken fliegen über die Scherbensplitter, und das Entern beginnt bereits an einigen Stellen.

Der Zug hält. Albert ist durch die Gänge gerannt und reißt das

Fenster vor uns herunter. Tjaden und der Hund fliegen als erste hinein, Bethke und Kosole unter Willys Nachhilfe hinterher. Die drei stürmen sofort auf die Gangtüren los, um das Abteil nach beiden Seiten zu blockieren. Die Brocken folgen mit Ludwig und Ledderhose gleichzeitig, dann Valentin, ich und Karl Bröger, und als letzter, nachdem er sich draußen noch einmal gründlich Luft gemacht hat, Willy.»Alles drin?«schreit Kosole vom Gang her, wo gewaltiger Druck herrscht.»Drin!«brüllt Willy. Wie aus der Pistole geschossen weichen Bethke, Kosole und Tjaden zurück auf die Plätze, und der Strom der ändern ergießt sich über die Abteile, erklettert die Gepäcknetze und füllt jeden Zentimeter aus.

Die Lokomotive wird gestürmt. Auf den Puffern sitzen schon Leute. Die Dächer der Wagen sind vollbesetzt. Der Zugführer schreit:»Runter, ihr stoßt euch die Schädel ein!«»Halts Maul, wir passen schon aufl «schallt es zurück. Im Lokus sitzen fünf Mann. Einer hängt mit dem Hintern weit aus dem Fenster.

Der Zug zieht an. Einige Leute, die schlecht gefaßt haben, fallen ab. Zwei werden überfahren und weggeschleppt. Sofort springen andere auf. Die Trittbretter sind voll. Das Gedränge geht im Fahren weiter. Einer hält sich an der Tür fest. Sie geht auf, und er hängt draußen frei am Fenster. Willy klettert hinterher, packt ihn am Kragen und zieht ihn herein.

Nachts hat unser Waggon die ersten Verluste. Der Zug ist durch einen niedrigen Tunnel gefahren. Einige Leute auf dem Dache sind zerquetscht und heruntergefegt worden. Die ändern haben es wohl bemerkt, hatten aber von oben aus keine Möglichkeit, den Zug zum Halten zu bringen. Auch der Mann am Lokusfenster ist eingeschlafen und herausgefallen.

Die übrigen Wagen haben ebenfalls Verluste. Die Dächer werden deshalb organisiert mit Halteklötzen, Stricken und eingerammten Seitengewehren. Außerdem wird ein Postendienst eingerichtet, um bei Gefahr zu warnen.

Wir schlafen und schlafen, im Stehen, im Liegen, im Sitzen, im Hocken, krumm auf Tornistern und Paketen, wir schlafen. Der Zug rattert. Häuser, Bäume, Gärten, winkende Menschen — Umzüge, rote Fahnen, Bahnhofwachen, Geschrei, Extrablätter, Revolution — wir schlafen erst mal, das andere mag später kommen. Jetzt erst spürt man, wie müde man in all der Zeit geworden ist.

Es wird Abend. Eine Funzel brennt. Der Zug fährt langsam. Er hat oft Aufenthalt wegen Maschinenschaden.

Die Tornister schaukeln. Die Pfeifen qualmen. Der Hund schläft friedlich auf meinen Knien. Adolf Bethke rückt zu mir herüber und streichelt sein Fell.»Ja, Ernst, nun gehen wir auch bald auseinander«, meint er nach einer Weile.

Ich nicke. Es ist sonderbar, aber ich kann mir das Leben ohne Adolf eigentlich gar nicht weiter vorstellen — ohne seine wachsamen Augen und seine ruhige Stimme. Er hat mich und Albert erzogen, als wir ahnungslos als Rekruten ins Feld kamen, und ich glaube nicht, daß ich ohne ihn überhaupt noch da sein würde.»Wir müssen uns wiedertreffen«, sage ich.»Oft, Adolf.«

Ein Stiefelabsatz patscht mir ins Gesicht. Über uns im Gepäcknetz sitzt Tjaden und zählt eifrig sein Geld — er will vom Bahnhof gleich zu einem Puff gehen. Um sich in Stimmung zu bringen, tauscht er schon jetzt seine Erfahrungen mit ein paar Landsern aus. Keiner empfindet das als Schweinerei — es ist nichts vom Krieg darin, schon deshalb hört man zu.

Ein Pionier, dem zwei Finger fehlen, erzählt stolz, seine Frau hätte ein Siebenmonatskind geboren, das trotzdem sechs Pfund gewogen habe. Ledderhose lacht ihn aus — so was gäbe es nun doch nicht. Der Pionier versteht ihn nicht. Er zählt die Monate zwischen seinem Urlaub und der Geburt an den Fingern ab.»Sieben«, sagt er,»es muß stimmen.«

Ledderhose gluckst und verzieht spöttisch sein Zitronengesicht:»Wird dir dann eben ein anderer besorgt haben.«

Der Pionier starrt ihn an.»Was sagst du da?«stottert er.

«Na, ist doch klar«, näselt Arthur und rekelt sich.

Dem Pionier bricht der Schweiß aus. Er zählt immer wieder. Seine Lippen zittern. Ein dicker Trainfahrer mit einem Vollbart biegt sich am Fenster vor Lachen.»Mensch, du Ochse, du blödsinniger Ochse. —«

Bethke richtet sich auf.»Halt die Schnauze, Dicker!«

«Wieso?«fragt der Vollbart.

«Weil du die Schnauze halten sollst«, sagt Bethke,»und du auch, Arthur.«

Der Pionier ist blaß geworden.»Was soll man denn da nur machen?«fragt er hilflos und hält sich am Fensterrahmen fest.

«Man soll eben erst heiraten«, sagt Jupp nachdenklich,»wenn man die Kinder schon am Verdienen hat. Dann kann so was nicht passieren.«

Draußen gleitet der Abend vorbei. Die Wälder liegen wie dunkle Kühe am Horizont, die Felder schimmern blaß im fahlen Schein, den der Zug aus den Fenstern wirft. Es sind plötzlich nur noch zwei Stunden bis nach Hause. Bethke steht auf und macht seinen Tornister fertig. Er wohnt in einem Dorfe, einige Stationen vor der Stadt, und muß früher aussteigen. —

Der Zug hält. Adolf gibt uns die Hand. Er stolpert auf den kleinen Bahnsteig und sieht sich um mit einem kreisenden Blick, der in einer Sekunde die ganze Landschaft einsaugt wie ein dürres Feld den Regen. Dann wendet er sich uns wieder zu. Aber er hört nichts mehr. Ludwig Breyer steht am Fenster, obschon er Schmerzen hat.»Nun hau schon ab, Adolf«, sagt er,»deine Frau wartet doch. —«

Bethke sieht zu uns empor und schüttelt den Kopf.»So eilig ist es nicht, Ludwig. «Man sieht ihm an, daß es ihn mit Gewalt rückwärts zieht, aber Adolf ist Adolf — er bleibt bis zum letzten Augenblick bei uns stehen. Doch als der Zug dann abfährt, macht er schnell kehrt und nimmt große Schritte.

«Wir besuchen dich bald«, rufe ich rasch noch hinter ihm her. Wir sehen ihn über die Felder gehen. Er winkt noch lange. Rauch von der Lokomotive weht vorbei. In der Ferne stehen ein paar rötliche Lichter.

Der Zug fährt eine große Schleife. Nun ist Adolf nur noch sehr klein, ein Punkt, ein winziger Mensch, ganz allein auf der großen, dunklen Ebene, über der mächtig, gewittrig hell, schwefelgelb am Horizont verlaufend, der Nachthimmel steht. Ich weiß nicht warum, es hat nichts mit Adolf zu tun, aber es ergreift mich, wie da so ein einzelner Mensch vor dem großen Himmel über die weite Fläche der Felder geht, abends und allein.

Dann schieben sich die Bäume heran mit stärkeren Dunkelheiten, und bald ist nichts mehr da als Fahren und Himmel und Wälder.

Im Abteil wird es laut. Hier drinnen sind Ecken, Kanten, Geruch, Wärme, Raum und Grenzen — hier sind braune, verwitterte Gesichter mit den blanken Flecken der Augen darin, es stinkt nach Erde, Schweiß, Blut und Uniform — draußen aber jagt ungewiß die Welt im Stampfen des Zuges vorüber und bleibt zurück, immer weiter, die Welt der Gräben und Trichter, des Dunkels und des Grauens, ein Wirbel vor den Fenstern nur noch, der uns nicht mehr faßt. Jemand fängt an zu singen. Andere fallen ein. Bald singen alle, das ganze Abteil, das Nebenabteil auch, der ganze Wagen, der ganze Zug. Wir singen immer lauter, immer stärker, die Stirnen röten sich, die Adern schwellen, wir singen alle Soldatenlieder, die wir kennen, wir stehen dabei auf und sehen uns an, die Augen glänzen, die Räder donnern den Rhythmus dazu, wir singen und singen. —

Ich bin eingezwängt zwischen Ludwig und Kosole und spüre ihre Wärme durch meinen Rock. Ich bewege meine Hände, ich drehe meinen Kopf, die Muskeln spannen sich, und ein Zittern steigt mir aus den Knien in den Magen, es bebt in meinen Knochen wie Brauselimonade, springt in die Lungen, die Lippen, die Augen, daß das Abteil verschwimmt, es braust in mir wie ein Telegraphenmast im Sturm, tausend Drähte klingen, tausend Straßen öffnen sich — ich lege meine Hand langsam auf Ludwigs Hand und glaube, sie müsse verbrennen —, aber als er aufsieht, müde und blaß wie immer, kann ich nichts anderes herauskriegen von dem, was in mir ist, als mühsam und stockend zu fragen:»Hast du eine Zigarette, Ludwig?«

Er gibt sie mir. Der Zug saust, und wir singen weiter. Allmählich aber mischt sich ein dunkleres Murren als das Rattern der Räder in unsere Lieder, und in einer Pause kracht es mächtig und lange rollend über die Ebene. Die Wolken haben sich weiter zusammengezogen, und das Gewitter geht hernieder. Die Blitze flammen wie nahes Mündungsfeuer von Geschützen. Kosole steht kopfschüttelnd am Fenster:»Kinder, um diese Zeit noch ein Gewitter«, murmelt er und beugt sich weit hinaus. Plötzlich ruft er hastig:»Schnell! Schnell! Da ist sie!«

Wir drängen hinzu. Ich Schein der Blitze stechen am Rande der Landschaft die schmalen, dünnen Türme der Stadt in den Himmel. Donnernd fällt die Dunkelheit jedesmal wieder darüber hin, aber bei jedem Blitz kommen sie näher.

Unsere Augen brennen vor Erregung. Wie ein Riesenbaum wächst mit einem Male zwischen uns, über uns, in uns die Erwartung auf. Kosole greift nach seinen Sachen.»Menschenskinder, wo mögen wir in einem Jahr wohl sitzen«, sagt er und dehnt die Arme.

«Auf dem Hintern«, erklärt Jupp nervös. Aber keiner lacht mehr. Die Stadt hat uns angesprungen, sie reißt uns an sich. Da liegt sie, atmend fast im wilden Licht, breit ausgestreckt kommt sie heran, und wir fahren auf sie zu, ein Zug Soldaten, ein Zug Heimkehr aus dem Nichts, ein Zug ungeheurer Erwartung, näher und näher, wir rasen darauf los, die Mauern stürzen uns entgegen, gleich müssen wir zusammenprallen, die Blitze fliegen, der Donner tost — dann schäumt der Bahnhof mit Lärm und Rufen zu beiden Seiten des Wagens hoch, ein mächtiger Regen stürzt hernieder, die Rampe glänzt vor Nässe, und wir springen besinnungslos hinein.

Mit mir springt der Hund aus der Tür. Er drängt sich an mich, und I wir laufen zusammen durch den Regen die Treppen hinunter.

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