Siebenter Teil

I

Sind Jahre vergangen? Oder waren es nur Wochen? Wie ein Nebel, wie ein fernes Gewitter hängt die Vergangenheit am Horizont. Ich bin lange krank gewesen, und immer war das besorgte Gesicht meiner Mutter da, wenn das Fieber einmal wich. Dann aber kam eine große Müdigkeit, die alle Härte wegnahm, ein waches Schlafen, in dem alle Gedanken sich auflösten, eine matte Hingabe an das leise Singen des Blutes und die Wärme der Sonne. —

Die Wiesen leuchten im Glanz des Spätsommers. In Wiesen liegen — die Halme sind höher als das Gesicht, sie biegen sich, sie sind die Welt, nichts ist mehr da als sanftes Schwanken im Rhythmus des Windes. An den Stellen, wo das Gras allein wächst, hat der Wind einen leise sirrenden Ton, wie eine Sense von weither — da, wo der Sauerampfer steht, ist sein Ton dunkler und tiefer. Man muß lange ruhig sein und lauschen, um es zu hören. Dann aber wird die Stille lebendig. Winzige Fliegen mit schwarzen, rotgepunkteten Flügeln sitzen dicht beisammen auf den Rispen des Sauerampfers und schwanken mit den Stengeln hin und her. Hummeln summen wie kleine Flugzeuge über den Klee, und ein Marienkäferchen klettert einsam und beharrlich zur höchsten Spitze eines Hirtentäschelkrautes hinauf.

Eine Ameise erreicht mein Handgelenk und verschwindet im Tunnel meines Rockärmels. Sie schleppt ein Stück trockenes Gras, das viel länger ist als sie, hinter sich her. Ich spüre den leisen Reiz an meiner Haut und weiß nicht: ist es die Ameise oder das Grasstückchen, das diesen zarten Streifen Leben an meinem Arm entlangzieht und kleine Schauer auslöst? Dann aber weht der Wind in den Ärmel, und ich empfinde: alles Streicheln der Liebe muß grob sein gegen diesen Hauch auf der Haut.

Schmetterlinge taumeln heran, so sehr dem Wind hingegeben, als schwämmen sie auf ihm, weiße und goldene Segel der zärtlichen Luft. Sie verweilen an den Blüten, und plötzlich, als ich wieder die Augen liebe, sehe ich zwei still auf meiner Brust sitzen, einer wie ein gelbes Blatt mit roten Punkten, der andere ausgebreitet mit violetten Pfauenaugen auf tiefdunklem Samtbraun. Orden des Sommers. Ich atme sehr leise und langsam, dennoch bewegt mein Atem ihre Flügel — aber sie bleiben bei mir. Der helle Himmel schwebt hinter den Gräsern, und eine Libelle steht mit schwirrenden Schwingen über meinen Schuhen. Weiße Marienfäden, Spinngewebe, schimmernde Altweibersommer wehen in der Luft. Sie hängen an den Stengeln und Blättern, der Wind treibt sie heran, sie hängen über meinen Händen, meinem Anzug, sie legen sich auf mein Gesicht, über meine Augen, sie decken mich zu. Mein Körper, eben noch mein Körper, geht über in die Wiese. Seine Grenzen verschwimmen, er ist nicht mehr abgesondert, das Licht löst seine Konturen auf, und an den Rändern beginnt er undeutlich zu werden.

Über das Leder der Schuhe steigt der Atem der Gräser, in die Woll- poren des Anzugs dringt der Hauch der Erde, durch mein Haar weht bewegter Himmel: Wind — und das Blut klopft gegen die Haut, es hebt sich den Eindringenden entgegen, die Nervenspitzen richten sich auf und beben, schon fühle ich die Schmetterlingsfüße auf meiner Brust, und der Gang der Ameisen widerhallt in den konkaven Räumen meiner Adern — dann wird die Welle stärker, der letzte Widerstand zerschmilzt, und ich bin nur noch ein Hügel ohne Namen, Wiese, Erde. —

Die lautlosen Ströme der Erde kreisen herauf und hinab, und mein Blut kreist mit ihnen, es wird davongetragen und hat Anteil an allem. Durch das warme Dunkel der Erde fließt es mit den Stimmen der Kristalle und Quarze, es ist in dem geheimnisvollen Laut der Schwere, mit dem die Tropfen zwischen den Wurzeln niedersinken und sich zu den dünnen Rinnsalen sammeln, die ihren Weg zu den Quellen suchen. Es bricht mit ihnen wieder aus dem Boden hervor, es ist in Bächen und Flüssen, im Glanz der Ufer, in der Weite des Meeres und im feuchtsilbernen Dunst, den die Sonne wieder heraufzieht zu den Wolken — es kreist und kreist, es nimmt immer mehr von mir mit und spült es in die Erde und die unterirdischen Ströme, langsam und ohne Schmerzen verschwindet der Körper, er ist fort, nur noch Stoffe und Hüllen sind da, er ist Sickern unterirdischer Quellen geworden, Gespräch der Gräser, wehender Wind, rauschendes Laub, schweigend tönender Himmel. Die Wiese kommt näher, Blumen wachsen hindurch, Blüten schwanken darüber, ich bin versunken, vergessen, verströmt unter Mohn und gelben Sumpfdotterblumen, über denen Schmetterlinge und Libellen schweben. — Leiseste Bewegung — sanftestes Erzittern. — Ist es das letzte Schwanken vor dem Ende? Sind es die Mohnblüten und die Gräser? Ist es das Rieseln zwischen den Wurzeln der Bäume?

Aber die Bewegung verstärkt sich. Sie wird regelmäßiger, sie geht in Atem und Pulse über, Welle auf Welle kommt wieder und spült sich zurück — zurück aus Flüssen, Bäumen, Laub und Erde. — Das Kreisen beginnt erneut, aber es nimmt nicht fort, es bringt heran und bleibt, es wird Schauer. Empfindung, Fühlen, Hände, Körper — die Hüllen sind nicht mehr leer — lose, leicht und beschwingt spült die Erde meinen Körper wieder an — ich öffne die Augen.

Wo bin ich? Wo war ich? Habe ich geschlafen? Immer noch ist die rätselhafte Verbundenheit da, ich lausche und wage nicht, mich zu bewegen. Aber sie bleibt, und immer stärker wird das Glück und die Leichtigkeit, das Schwebende, Strahlende, ich liege auf der Wiese, die Schmetterlinge sind fort und ferner, der Sauerampfer wiegt sich, und das Sonnenkäferchen hat seine Spitze erreicht, die Marienfäden hängen auf meinen Kleidern, das Schwingende bleibt, es steigt mir in die Brust, in die Augen, ich bewege meine Hände, welches Glück! Ich hebe meine Knie, ich setze mich auf, mein Gesicht ist feucht — und dann erst fühle ich, daß ich weine, fassungslos weine, als wäre vieles vorbei. —

Eine Zeitlang ruhe ich mich aus. Dann stehe ich auf und nehme die Richtung zum Friedhof. Bisher bin ich noch nicht dagewesen. Seit Ludwigs Tod habe ich heute zum erstenmal allein ausgehen dürfen. Eine alte Frau kommt mit mir, um mir Ludwigs Grab zu zeigen. Es liegt hinter einer Buchenhecke und ist mit Immergrün bepflanzt. Die Erde ist noch locker und bildet einen Hügel, an dem einige verwelkte Kränze lehnen. Die Goldschrift der Schleifen ist verblichen, man kann sie nicht mehr lesen.

Ich habe mich etwas gefürchtet, hierher zu gehen. Aber diese Stille ist ohne Schrecken. Der Wind weht über die Gräber, golden steht der Septemberhimmel hinter den Kreuzen, und im Laub der Platanenallee singt eine Amsel.

Ach, Ludwig, zum ersten Male habe ich heute etwas wie Heimat und Frieden gespürt, und du bist nicht mehr dabei. Noch wage ich es nicht zu glauben, noch halte ich es für Schwäche und Müdigkeit — aber vielleicht wird es einmal zur Hingabe, vielleicht müssen wir nur warten und schweigen, und es kommt dann von selbst zu uns, vielleicht ist das einzige, was uns nicht verlassen hat, wirklich nur unser Körper und die Erde, und vielleicht brauchen wir nichts anderes zu tun, als zu horchen und ihnen zu folgen.

Ach, Ludwig, da haben wir nun gesucht und gesucht, wir sind irre gegangen und gestürzt, wir haben Ziele gewollt und sind über uns selbst gestolpert, wir haben es nicht gefunden und du bist zusammengebroclien — und jetzt soll es ein Windhauch über Gräsern, ein Amselruf im Abend sein, der uns anrührt und uns schon heimführt? Kann denn eine Wolke am Horizont, ein Baum im Sommer mehr Gewalt haben als noch so vieles Wollen?

Ich weiß es nicht, Ludwig. Ich kann es noch nicht glauben, denn ich hatte schon keine Hoffnung mehr. Aber wir wissen ja auch nicht, was Hingabe ist und kennen nicht ihre Kraft. Wir kennen nur die Gewalt.

Wenn es aber ein Weg wäre, Ludwig — was soll er mir schon — ohne dich —

Der Abend steigt langsam hinter den Bäumen empor. Er bringt die Unruhe und die Trauer wieder mit. Ich starre auf das Grab. Schritte knirschen auf dem Kies. Ich blicke auf. Es ist Georg Rahe. Er sieht mich besorgt an und redet mir zu, nach Hause zu gehen.

«Ich habe dich lange nicht gesehen, Georg«, sage ich,»wo warst du?«

Er macht eine unbestimmte Geste.»Ich habe eine Anzahl Berufe versucht — «

«Bist du denn kein Soldat mehr?«frage ich.

«Nein«, antwortet er hart.

Zwei Frauen in Traucrkleidern kommen den Weg zwischen den Platanen entlang. Sie tragen kleine, grüne Wasserkannen in den Händen und beginnen, die Blumen eines alten Grabes zu begießen. Süß weht der Duft von Goldlack und Reseden herüber.

Rahe sieht auf.»Ich glaubte, einen Rest Kameradschaft da zu finden, Ernst. Aber es war nur noch ein verwildertes Zusammengehörigkeitsgefühl, eine gespenstische Karikatur des Krieges. Leute, die glaubten, wenn sie ein paar Dutzend Gewehre versteckten, könnten sie das Vaterland retten — brotlose Offiziere, die nichts anderes mit sich anzufangen wußten, als bei allen Unruhen dabei zu sein; ewige Landsknechte, die jede Verbindung verloren hatten und geradezu Angst davor hatten, wieder ins bürgerliche Leben zurückzumüssen — die letzten, härtesten Schlacken des Krieges. Dazwischen ein paar Idealisten und ein Haufen neugieriger, abenteuersüchtiger junger Burschen. Das alles verhetzt, verbittert, verzweifelt und mißbraucht gegeneinander. Ja, und dann…«

Er schweigt eine Weile und starrt vor sich hin. Ich betrachte von der Seite sein Gesicht. Es ist nervös und zerrissen, und die Augen liegen in tiefen Schatten. Dann gibt er sich einen Ruck.»Warum soll ich es dir nicht sagen, Ernst. — Ich habe lange genug darauf herumgekaut. Eines Tages hatten wir ein Gefecht. Es hieß, gegen Kommunisten.

Aber als ich die Toten dann sah, Arbeiter, einige noch in ihren alten Frontröcken und ihren Militärstiefeln, frühere Kameraden, da riß etwas in mir. Ich habe mal mit meinem Flugzeug eine halbe Kompanie Engländer weggeknallt — es hat mir nichts gemacht, Krieg war Krieg. Aber diese toten Kameraden in Deutschland — erschossen von früheren Kameraden — aus, Ernst!«

Ich muß an Weil und Eleel denken und nicke.

Über uns beginnt ein Buchfink zu schlagen. Die Sonne wird abendlich und goldener. Rahe zerbeißt eine Zigarette.»Ja, und dann — dann fehlten etwas später plötzlich bei uns zwei Leute. Angeblich sollen sie den Plan gehabt haben, ein Waffenlager zu verraten. Kameraden hatten sie ohne Untersuchung nachts im Walde mit Kolben erschlagen. Feme nannte man das. Einen der Toten habe ich als Unteroffizier im Felde gehabt. Eine Seele von Kerl. Da habe ich alles hingeschmissen. «Er sieht sich um.»Das ist daraus geworden, Ernst.

— Und damals — damals, als wir rausgingen, was war das für ein Wille und ein Sturm!«— Er wirft die Zigarette weg.»Verdammt, wo ist das alles geblieben!«Dann sagt er nach einer Weile leise:»Das möchte ich noch wissen, Ernst — wie so etwas daraus werden konnte. —«

Wir stehen auf und gehen zwischen den Platanen entlang dem Ausgang zu. Die Sonne spielt in den Blättern und flirrt über unsere Gesichter. Es ist alles so unwirklich — das, was wir sprechen und die weiche warme Luft des Spätsommers, die Amseln und der kalte Hauch der Erinnerung.

«Was machst du denn jetzt, Georg?«frage ich.

Er köpft im Weitergehen mit seinem Spazierstock die wolligen Schöpfe der Disteln.»Ich habe mir alles angesehen, Ernst — Berufe, Ideale, Politik —, aber ich passe in diesen Betrieb nicht hinein. Was ist da schon — überall Schieberei, Mißtrauen, Gleichgültigkeit und grenzenloser Egoismus. —«

Ich bin etwas erschöpft vom Gehen, und wir setzen uns.

Die Türme der Stadt schimmern grün, die Dächer rauchen, und silbern zieht der Dampf aus den Schornsteinen. Georg deutet hinunter:»Wie Spinnen lauern sie da in ihren Büros, ihren Läden, ihren Berufen, jeder bereit, den anderen auszusaugen. Und was hängt noch sonst alles über ihnen — Familien, Vereine, Behörden, Gesetze, Staat! Ein Spinnennetz über dem anderen! Gewiß, man kann das Leben nennen und stolz darauf sein, vierzig Jahre darunter herum- z.ukriechen. Aber ich habe im Felde gelernt, daß Zeit für das Leben kein Maßstab ist. Wozu soll ich also vierzig Jahre absteigen? Jahre

lang habe ich alles auf eine Karte gesetzt, und der Einsatz war immer das Leben — jetzt kann ich nicht um Pfennige und kleine Fortschritte spielen.«

«Du warst im letzten Jahr nicht mehr im Graben, Georg«, sage ich,»bei den Fliegern mag das anders gewesen sein. Wir aber haben oft monatelang keinen einzigen Feind gesehen, wir waren nur Kanonenfutter. Da gab es nichts einzusetzen — da gab es nur Warten, bis man seinen Schuß kriegte.«

«Ich spreche ja nicht vom Kriege, Ernst — ich spreche von der Jugend und von der Kameradschaft. —«

«Ja, das ist vorbei«, sage ich.

«Wir haben wie im Treibhaus gelebt«, sagt Georg nachdenklich.»Heute sind wir alte Leute. Aber es ist gut, wenn man Klarheit hat. Ich bedaure nichts. Ich schließe nur ab. Alle Wege sind mir verstellt. Es bliebe nur Vegetieren. Aber das will ich nicht. Ich will frei bleiben.«»Ach, Georg«, rufe ich,»was du sagst ist ja ein Ende! Es muß aber doch auch für uns noch einen Anfang geben! Ich habe es heute gespürt. Ludwig wußte ihn, aber er war zu krank. —«

Er legt mir den Arm um die Schultern.»Ja, ja — werde nur nützlich, Ernst. —«

Ich lehne mich an ihn.»Wenn du es sagst, klingt es häßlich und fettig. Aber es muß dahinter noch eine Kameradschaft sein, von der wir jetzt noch nichts wissen.«

Ich möchte ihm gern etwas von dem sagen, was ich vorhin auf der Wiese empfunden habe. Aber ich kann es nicht recht in Worte fassen. Wir sitzen schweigend nebeneinander.»Was willst du denn wirklich jetzt machen, Georg?«frage ich nach einer Weile wieder. Er lächelt nachdenklich.»Ich, Ernst? Ich bin nur durch ein Versehen nicht gefallen — das macht mich etwas lächerlich.«

Ich schiebe seine Hand weg und starre ihn an. Er beruhigt mich.»Zunächst werde ich mal wieder ein bißchen wegfahren.«

Er spielt mit seinem Spazierstock und blickt lange vor sich hin.»Erinnerst du dich noch, was Giesecke einmal sagte? In der Anstalt droben. Nach Fleury wollte er. — Zurück, weißt du. Er glaubte, daß es ihm helfen würde. —«

Ich nicke.»Er ist immer noch da oben. Karl ist neulich bei ihm gewesen. —«

Leise beginnt es zu wehen. Wir blicken auf die Stadt und die lange Reihe der Pappeln, unter denen wir früher Zelte gebaut und Indianer gespielt haben. Georg war immer der Anführer, und ich habe ihn geliebt, wie nur Knaben lieben können, die nichts davon ahnen.

Unsere Augen begegnen sieb.»Old Shatterhand«, sagt Georg leise und lächelt.

«Winnetou«, antworte ich ebenso leise.

II

Je näher der Tag der Verhandlung rückt, um so öfter denke ich an Albert. Und plötzlich, eines Tages, sehe ich klar und deutlich eine Lehmwand vor mir, eine Schießscharte, ein Gewehr mit Zielfernrohr und dahinter ein kalt lauerndes, gespanntes Gesicht: Bruno Mückenhaupt, den besten Scharfschützen des Bataillons, der nie vorbeitraf. Ich springe auf — ich muß sehen, was er macht, und wie er damit fertig geworden ist.

Ein hohes Haus mit vielen Wohnungen. Die Treppen triefen vor Nässe. Es ist Sonnabend, und überall stehen Eimer, Schrubber und Frauen mit aufgesteckten Röcken umher.

Eine schrillende Klingel, die viel zu laut für die Tür ist. Zögernd öffnet jemand. Ich frage nach Bruno. Die Frau läßt mich eintreten. Mückenhaupt sitzt in Hemdsärmeln auf dem Boden und spielt mit seiner Tochter, einem Mädchen von ungefähr fünf Jahren, strohblond, mit einer großen, blauen Schleife im Haar. Er hat ihr aus Silberpapier einen Fluß über den Teppich gelegt und Papierschiffchen darauf gesetzt. Einige davon haben Wattebäuschchen angesteckt, das sind die Dampfer, und kleine Zelluloidpuppen fahren darin mit. Bruno raucht behaglich eine mittellange Pfeife. Auf dem Porzellankopf ist das Bild eines kniend schießenden Soldaten zu sehen mit der Umschrift: Üb Aug und Hand fürs Vaterland!

«Sieh, Ernst«, sagt Bruno, gibt dem Mädchen einen Klaps und läßt es allein weiterspielen. Wir gehen in die gute Stube. Sofa und Stühle sind aus rotem Plüsch, gehäkelte Schondeckchen liegen auf den Lehnen, und der Fußboden ist so glatt gebohnert, daß ich ausrutsche. Alles ist sauber und an seinem Platz; Muscheln, Nippsachen und Fotografien stehen auf der Kommode und dazwischen, in der Mitte, auf rotem Samt, unter einem Glassturz, Brunos Orden.

Wir sprechen von den Zeiten damals.»Hast du deine Trefferliste noch?«frage ich.

«Aber Mensch«, erwidert Bruno vorwurfsvoll,»die hat doch einen Ehrenplatz.«

Er holt sie aus der Kommode und blättert genießerisch darin herum.»Im Sommer war natürlich immer meine beste Zeit, weil man da abends so lange sehen konnte. Hier — warte mal — Juni — 18. vier Kopfschüsse, 19. drei, 20. einer, 21. zwei, 22. einer, 23. keiner, Fehlanzeige. Da hatten die Schweinehunde nämlich was gemerkt und waren vorsichtig geworden — aber hier, paß mal auf, 26. Da war die neue Ablösung gerade angekommen, die von Bruno noch keinen Dunst hatte, neun Kopfschüsse, was sagst du nun?«

Er strahlt mich an.»In zwei Stunden! Es war komisch, ich weiß nicht, ob es davon kam, daß ich sie vielleicht von unten, vom Kinn aus anblies, jedenfalls flogen sie nacheinander wie die Ziegenböcke bis zur Brust aus dem Graben hoch. — Und sieh mal hier — 29. Juni 10.02 abends Kopfschuß, kein Witz, Ernst, du siehst, ich habe Zeugen gehabt, da steht es: Bestätigt, Vizefeldwebel Schlie. Zehn Uhr abends, fast im Dunkeln, Leistung, was? Mann, was waren das für Zeiten!«»Sag mal, Bruno«, frage ich,»die Leistung war ja großartig, aber jetzt — ich meine, tun dir die armen Kerle nicht manchmal ein bißchen leid?«

«Was?«antwortet er verblüfft.

Ich wiederhole, was ich gesagt habe.»Damals war man ja mitten drin, Bruno — aber heute ist doch alles anders geworden. «Er schiebt seinen Stuhl zurück.»Mensch, du bist wohl Bolschewist, was? War doch Pflicht! Befehl! So was —. «Beleidigt packt er sein Trefferbuch wieder in das Seidenpapier.

Ich beruhige ihn mit einer guten Zigarre. Er macht versöhnt ein paar Züge und erzählt von seinem Schützenverein, der jeden Sonnabend tagt.»Neulich hatten wir einen Ball. Klasse, sag ich dir! Und nächstens Preiskegeln. Du mußtmal hinkommen, Ernst, ein Bier gibt es in dem Lokal, so gepflegt habe ich selten eins getrunken. Und zehn Pfennig billiger der Topp als anderswo. Das macht was aus pro Abend. Schneidig und gemütlich geht's da zu. Hier — «, er zeigt auf eine vergoldete Kette,»Schützenkönig geworden! Bruno I.! Sache, was?«Das Kind kommt herein. Ein Schiffchen ist entzweigegangen. Bruno macht es sorgfältig zurecht und streichelt dem Mädchen über das Haar. Die blaue Schleife knistert.

Dann führt er mich vor ein Büfett, das überladen ist mit allen möglichen Sachen. Er hat sie auf dem Jahrmarkt bei den Schießbuden gewonnen. Drei Schuß kosten da ein paar Groschen, und wer eine bestimmte Anzahl Ringe schießt, darf sich einen Gewinn aussuchen. Bruno war den ganzen Tag von den Buden nicht wegzukriegen. Er hat ganze Haufen Teddybären, Kristallschalen, Pokale, Bierkrüge, Kaffeekannen, Aschenbecher, Bälle und sogar zwei Korbsessel zusammengeschossen.

«Zuletzt ließen sie mich nirgendwo mehr ran«, lacht er vergnügt,»ich hätte die ganze Bude pleite geballert. Ja, gelernt ist gelernt!«— Ich gehe die dunkle Straße entlang. Aus den Haustüren fließen Licht und Spülwasser. Bruno wird wieder mit seinem Mädel spielen. Dann wird die Frau mit dem Abendessen kommen. Danach wird er zum Bier gehen. Sonntags macht er mit der Familie einen Ausflug. Er ist ein gemütlicher Mann, ein guter Vater, ein geachteter Bürger. Nichts dagegen zu sagen.

Und Albert? Und wir? —

Schon eine Stunde vor Beginn der Verhandlung gegen Albert stehen wir auf dem Korridor des Gerichtsgebäudes. Endlich werden die Zeugen aufgerufen. Wir gehen mit klopfendem Herzen hinein. Albert lehnt blaß in der Anklagebank und sieht vor sich hin. Wir wollen ihm mit den Augen zurufen: Mut, Albert! Wir lassen dich nicht im Stich! Aber er blickt nicht auf.

Nachdem unsere Namen verlesen worden sind, müssen wir den Saal wieder verlassen. Im Hinausgehen entdecken wir vorn in der ersten Reihe des Zuschauerraumes Tjaden und Valentin. Sie blinzeln uns zu.

Einer nach dem anderen werden die Zeugen eingelassen. Mit Willy dauert es besonders lange. Dann bin ich an der Reihe. Ein rascher Blick zu Valentin — ein unmerkliches Kopfschütteln. Albert hat sich also bisher geweigert, auszusagen. Das habe ich mir schon gedacht. Abwesend sitzt er neben seinem Verteidiger. Willy jedoch hat einen roten Kopf. Wachsam wie ein Schlächterhund beobachtet er den Staatsanwalt. Die beiden scheinen schon Krach gehabt zu haben.

Ich werde vereidigt. Dann beginnt der Vorsitzende zu fragen. Er will wissen, ob Albert schon darüber gesprochen habe, dem Bartscher eins auswischen zu wollen. Als ich mit Nein antworte, meint er, verschiedenen Zeugen sei aufgefallen, daß Albert merkwürdig ruhig und überlegt gewesen sei.

«Das ist er immer«, erwidere ich.

«Überlegt?«zuckt der Staatsanwalt dazwischen.

«Ruhig«, entgegne ich.

Der Vorsitzende beugt sich vor.»Auch in einer solchen Situation?«»Natürlich«, sage ich,»der ist schon bei ganz anderen Sachen ruhig geblieben.«

«Bei was für anderen Sachen?«fragt der Staatsanwalt und schnellt einen Finger vor.

«Im Trommelfeuer.«

Er nimmt den Finger wieder weg. Willy grunzt befriedigt. Der Staatsanwalt wirft ihm einen wütenden Blick zu.

«Er war also ruhig?«fragte der Vorsitzende nochmals.

«So ruhig wie jetzt«, antworte ich ärgerlich.»Sehen Sie denn nicht, daß er zwar ruhig dasteht, daß aber trotzdem alles in ihm kocht und tobt? Er war doch Soldat! Da hat er gelernt, in kritischen Lagen nicht herumzuspringen und die Arme verzweifelt zum Himmel zu werfen. Sonst hätte er nämlich keine mehr!«Der Verteidiger macht sich Notizen. Der Vorsitzende blickt mich einen Augenblick an.»Weshalb mußte er denn gleich schießen?«fragt er,»so furchtbar schlimm war es doch nicht, daß das Mädchen mal mit jemand anders im Cafe war.«

«Es war für ihn schlimmer als ein Schuß in den Magen«, sage ich.»Warum?«

«Weil das Mädchen das einzige war, was er hatte.«

«Er hat doch auch noch seine Mutter«, wirft der Staatsanwalt ein.

«Die kann er doch nicht heiraten«, erwidere ich.

«Weshalb mußte er denn unbedingt heiraten?«fragt der Vorsitzende,»ist er dazu nicht noch zu jung?«

«Er war ja auch nicht zu jung, um Soldat zu werden«, entgegne ich.»Und heiraten wollte er, weil er sich nach dem Kriege nicht wieder zurechtfand, weil er Angst vor sich selbst und seinen Erinnerungen bekam und einen Halt suchte. Das war ihm dieses Mädchen.«

Der Vorsitzende wendet sich zu Albert.»Angeklagter, wollen Sie nun nicht endlich antworten? Ist das richtig, was der Zeuge hier sagt?«Albert zaudert eine Weile. Willy und ich starren ihn an.»Ja«, sagt er dann widerwillig.

«Wollen Sic uns nun auch sagen, weshalb Sie den Revolver bei sich hatten?«

Albert schweigt.

«Den hat er doch immer bei sich«, sage ich.

«Immer?«fragt der Vorsitzende.

«Natürlich«, erwidere ich,»genau so wie sein Taschentuch und seine Uhr.«

Der Vorsitzende sieht mich erstaunt an.»Ein Revolver ist doch etwas anderes als ein Taschentuch.«

«Richtig«, sage ich,»das Taschentuch braucht er nicht so nötig. Das hat er manchmal auch nicht bei sich gehabt.«

«Und der Revolver? —«

«Der hat ihm ein paarmal das Leben gerettet. Den trägt er seit drei Jahren bei sich. Das ist seine Gewohnheit vom Felde her.«

«Aber jetzt braucht er ihn doch nicht mehr. Wir haben doch Frieden.«

Ich zucke die Achseln.»Daran haben wir noch nicht so gedacht. «Der Vorsitzende wendet sich wieder zu Albert.»Angeklagter, wollen Sie Ihr Gewissen nicht endlich entlasten? Bereuen Sie ihre Tat denn nicht?«

«Nein«, sagt Albert dumpf.

Es wird still. Die Geschworenen horchen auf. Der Staatsanwalt beugt sich vor. Willy macht ein Gesicht, als wolle er sich auf Albert stürzen. Ich sehe ihn verzweifelt an.

«Aber Sie haben doch einen Menschen getötet«, sagt der Vorsitzende eindringlich.

«Ich habe schon viele Menschen getötet«, antwortet Albert.

Der Staatsanwalt springt hoch. Der Geschworene neben der Tür hört auf, an seinen Nägeln zu kauen.»Was haben Sie getan?«fragt der Vorsitzende atemlos.

«Im Kriege«, werfe ich rasch ein.

«Das ist doch etwas ganz anderes«, erklärt der Staatsanwalt enttäuscht.

Da hebt Albert den Kopf.»Wieso ist das denn etwas anderes?«Der Staatsanwalt erhebt sich.»Wollen Sie etwa den Kampf fürs Vaterland mit Ihrer Tat hier vergleichen?«

«Nein«, erwidert Albert,»die Leute, die ich damals erschossen habe, haben mir nichts getan — «

«Unerhört«, sagt der Staatsanwalt angewidert und wendet sich zum Vorsitzenden,»ich muß doch sehr bitten. «

Doch der ist ruhiger.»Wohin kämen wir, wenn alle Soldaten so denken würden wie Sie!«sagt er.

«Das stimmt«, sage ich,»aber dafür sind wir ja nicht verantwortlich. Hätte man dem da — «, ich zeige auf Albert,»nicht beigebracht, auf Menschen zu schießen, dann hätte er es jetzt auch nicht getan. «Der Staatsanwalt ist puterrot.»Es geht aber wirklich nicht, daß Zeugen ungefragt selbständig..«

Der Vorsitzende beschwichtigt ihn.»Ich glaube, wir dürfen hier wohl einmal von der Regel abweichen.«

Ich werde einstweilen abgeschoben, und das Mädchen wird auf gerufen. Albert zuckt zusammen und preßt die Lippen aufeinander. Das Mädchen trägt ein schwarzes Seidenkleid und hat die Haare frisch onduliert. Selbstbewußt tritt sie vor. Man merkt, wie wichtig sie sich fühlt. Der Richter fragt nach ihren Beziehungen zu Albert und Bartscher. Sie schildert Albert als unverträglich, Bartscher dagegen als einen

liebenswürdigen Menschen. Sie hätte nie an eine Heirat mit Albert gedacht, im Gegenteil, sie sei mit Bartscher so gut wie verlobt gewesen.»Herr Troßke ist doch viel zu jung dazu«, meint sie und wiegt sich in den Hüften.

Der Schweiß läuft Albert von der Stirn, aber er rührt sich nicht. Willy knetet an seinen Händen herum. Wir können kaum an uns halten. Der Vorsitzende fragt nach ihrem Verhältnis zu Albert.

«Ganz harmlos«, sagt sie,»wir waren nur bekannt miteinander.«»War der Angeklagte damals aufgeregt?«

«Natürlich«, antwortet sie eifrig. Das scheint ihr zu schmeicheln.»Wie kam denn das?«

«Na, so — «, sie lächelt und dreht sich ein bißchen,»er war ja sehr verliebt in mich.«

Willy stöhnt dumpf auf. Der Staatsanwalt fixiert ihn durch seinen Kneifer.

«Toppsau!«hallt es plötzlich durch den Saal.

Alles fährt auf.»Wer hat da gerufen?«fragt der Vorsitzende. Tjaden erhebt sich stolz.

Er wird zu fünfzig Mark Ordnungsstrafe verurteilt.

«Billig«, sagt er und zieht seine Brieftasche,»soll ich gleich zahlen?«

Darauf bekommt er weitere fünfzig Mark Strafe zudiktiert und wird aus dem Saal gewiesen.

Das Mädchen ist zusehends bescheidener geworden.

«Was war denn zwischen Ihnen und Bartscher vorgefallen an dem Abend?«forscht der Vorsitzende weiter.

«Nichts«, erwidert sie unsicher,»wir saßen nur so zusammen.«

Der Richter wendet sich an Albert.»Haben Sie etwas dazu zu bemerken?«

Ich durchbohre ihn mit Blicken. Aber er sagt leise:»Nein.«

«Die Angaben stimmen also?«

Albert lächelt bitter, er ist grau im Gesicht. Das Mädchen sieht standen Christus an, der über dem Vorsitzenden an der Wand hängt.»Es ist möglich, daß sie stimmen«, sagt Albert,»ich höre sie heute zum erstenmal. Dann habe ich mich geirrt.«

Das Mädchen atmet auf. Aber zu früh. Denn Willy fährt hoch.»Lüge!«ruft er,»sie lügt hundsgemein. Herumgehurt hat sie mit dem Kerl, sie war ja noch halbnackt, als sie herauskam!«Tumult. Der Staatsanwalt zetert. Der Vorsitzende erteilt Willy einen Rüffel. Aber der ist nicht mehr zu halten, so verzweifelt Albert ihn auch ansieht.»Und wenn du vor mir niederkniest, es muß heraus«, ruft er ihm zu,

«herumgehurt hat sie, und als er vor ihr stand, hat sie ihm erzählt, Bartscher hätte sie betrunken gemacht, da ist er wild geworden und hat geschossen!«

Der Verteidiger hackt zu, das Mädchen kreischt verwirrt:»Hat er auch — hat er auch!«Der Staatsanwalt fuchtelt mit den Armen.»Die Würde des Gerichts erfordert…«

Willy wendet sich wie ein Stier gegen ihn.»Setzen Sie sich nur ja nicht so aufs hohe Roß, Sie Paragraphenschlange, oder meinen Sie, vor Ihrem Affentalar da hielten wir die Schnauze? Versuchen Sie doch mal, uns rauszuschmeißen! Was wissen Sie denn überhaupt von uns? Der Junge da war sanft und still, fragen Sie seine Mutter nur! Aber er schießt heute, wie er früher mit Kieseln geworfen hätte. Reue! Reue! Wie kann er denn Reue haben, wenn er jetzt einmal jemand erledigt, der ihm alles in Fetzen geschlagen hat? Der einzige Fehler, den er gemacht hat, ist, daß er auf den Falschen geschossen hat. Das Weib hätte er erledigen müssen! Meint ihr denn, man könne vier Jahre Töten mit dem läppischen Wort Frieden aus dem Gehirn wischen wie mit einem nassen Schwamm? Wir wissen selbst, daß wir nicht nach Herzenslust unsere Privatfeinde abknallen dürfen, aber wenn uns mal die Wut packt und alles durcheinandergeht, und es über uns gerät, dann bedenkt auch, wo das herkommt!«

Ein wildes Durcheinander ist entstanden. Vergeblich bemüht sich der Vorsitzende, Ruhe zu schaffen.

Wir stehen dicht gedrängt, Willy sieht fürchterlich aus, Kosole hat die Fäuste geballt, sie haben im Moment kein Mittel gegen uns, wir sind zu gefährlich. Der eine Schupo wagt sich nicht an uns ran. Ich springe vor die Bank, wo die Geschworenen sitzen.»Es geht um unsern Kameraden!«rufe ich,»verurteilt ihn nicht! Er wollte auch nicht so gleichgültig gegen Leben und Tod werden, wir wollten es alle nicht, aber wir haben alle Maßstäbe draußen verloren, und niemand hat uns geholfen! Patriotismus, Pflicht, Heimat, das haben wir uns doch selbst immer wieder gesagt, um es auszuhalten und zu rechtfertigen! Aber es waren nur Begriffe, es gab zuviel Blut draußen, das schwemmte sie weg!«

Willy steht plötzlich neben mir.»Vor einem Jahr noch lag der da«— er zeigt auf Albert —»zwei Kameraden allein in einem Maschinengewehrnest, es war nur das eine noch da im ganzen Abschnitt, und ein Angriff kam, aber die drei waren ganz ruhig, sie zielten und warteten und schossen nicht zu früh, sie visierten genau auf Bauchhöhe, und als die Kolonnen vor ihnen schon meinten, alles sei frei, und stürmten, da erst schossen sie, und immer wieder, und erst viel später kriegten sie Verstärkung. Der Angriff wurde abgeschlagen. Nachher konnten wir die holen, die das M. G. abgeknallt hatte, es waren allein siebenundzwanzig tadellose Bauchschüsse, einer ebenso exakt wie der andere, nämlich sämtlich tödlich, von den anderen Sachen, Beinschüssen, Hodenschüssen, Magenschüssen, Lungenschüssen, Kopfschüssen ganz zu schweigen. Der da«— er zeigt wieder auf Albert —»hatte allein mit seinen beiden Kameraden für ein ganzes Lazarett gesorgt, allerdings kamen die meisten Bauchschüsse gar nicht erst mehr hin. Dafür bekam er dann das E. K.I und eine Belobigung vom Obersten. Könnt Ihr nun verstehen, weshalb dieser Mann gar nicht vor eure Paragraphen und eure Zivilgerichte gehört? Ihr habt ihn gar nicht zu richten! Er ist Soldat, er gehört zu uns, und wir sprechen ihn frei!«

Jetzt aber kommt der Staatsanwalt endlich zu Wort.»Diese verhängnisvolle Verwilderung — «, keucht er und schreit dem Schupo zu, Willy festzunehmen.

Erneuter Radau. Willy hält alles in Schach. Ich gehe wieder los.»Verwilderung? Durch wen denn? Durch euch! Ihr alle gehört vor unser Gericht! Ihr habt das mit eurem Krieg aus uns gemacht! Sperrt uns doch gleich mit ein, das ist das beste! Was habt ihr denn für uns getan, als wir wiedergekommen sind? Nichts! Nichts! Ihr habt euch um die Siege gestritten, ihr habt Kriegerdenkmäler eingeweiht, ihr habt von Heldentum geredet und euch gedrückt vor der Verantwortung! Ihr hättet uns helfen müssen! Aber ihr habt uns allein gelassen in der schwersten Zeit, als wir uns zurückfinden mußten! Von allen Kanzeln hättet ihr es predigen müssen, immer wieder hättet ihr es uns sagen müssen: >Wir haben alle furchtbar geirrt! Wir wollen gemeinsam zurückfinden! Habt Mut! Für euch ist es am schwersten, weil ihr nichts hinterlassen habt, das euch wieder aufnehmen könnte! Habt Geduld!< Ihr hättet uns das Leben wieder zeigen müssen! Ihr hättet uns wieder leben lehren müssen! Aber ihr habt uns im Stich gelassen! Ihr habt uns vor die Hunde gehen lassen! Ihr hättet uns lehren müssen, wieder an Güte, Ordnung, Aufbau und Liebe zu glauben! Statt dessen habt ihr wieder angefangen, zu fälschen und zu hetzen und eure Paragraphen in Gang zu bringen. Einer von uns ist schon kaputt daran gegangen! Da steht der zweite!«

Wir sind außer uns. Alle Wut, alle Erbitterung, alle Enttäuschung kocht aus uns heraus. Ein wildes Durcheinander herrscht im Saale. Es dauert lange, bis einigermaßen Ruhe eintritt. Wir bekommen sämtlich einen Tag Haft wegen ungebührlichen Benehmens vor Gerieht und müssen sofort raus. Wir könnten uns auch jetzt noch mit Leichtigkeit gegen den Schupo durchschlagen; aber wir wollen es nicht. Wir wollen mit Albert ins Gefängnis. Dicht gehen wir an ihm vorbei, um ihm zu zeigen, daß wir alle mit ihm sind. —

Später hören wir, daß er zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden ist und die Strafe wortlos angenommen hat.

III

Georg Rahe ist es gelungen, sich den Paß eines Ausländers zu besorgen und damit über die Grenze zu kommen. Ein Gedanke hat sich in ihm festgesetzt: er will seiner Vergangenheit noch einmal Auge in Auge gegenüberstehen. Er fährt durch die Städte und Dörfer, er steht auf großen und kleinen Bahnhöfen herum, und abends ist er endlich da, wohin er will.

Ohne sich aufzuhalten, wandert er durch die Straßen, zur Stadt hinaus, den Höhen zu. Heimkehrende Arbeiter kommen ihm entgegen. Kinder spielen in den Lichtpfützen der Laternen. Ein paar Autos schnaufen vorüber. Dann wird es still.

Das Licht der Dämmerung ist noch hell genug, um sehen zu können. Außerdem sind Rahes Augen an Dunkelheit gewöhnt. Er verläßt den Weg und geht querfeldein. Nach einiger Zeit stolpert er. Rostiger Draht hakt in seiner Hose und hat einen Winkel hineingerissen. Er bückt sich, um ihn loszumachen. Es ist der Stacheldraht eines Verhaus, der sich an einem zerschossenen Graben entlangzieht. Rahe richtet sich auf. Die kahlen Felder der Schlacht liegen vor ihm.

In der ungewissen Dämmerung sind sie ein aufgewühltes und erstarrtes Meer, ein versteinerter Sturm. Rahe spürt den fahlen Dunst von Blut, Pulver und Erde, den wilden Geruch des Todes, der immer noch in dieser Landschaft ist und Gewalt hat.

Unwillkürlich zieht er den Kopf ein, die Schultern schieben sich hoch, die Arme hängen lose nach vorn, die Hände sind fallbereit in den Gelenken — das ist nicht mehr der Gang aus den Städten — das ist wieder das geduckte, vorsichtige Schleichen des Tieres, das lauernde Sichern des Soldaten. —

l'.r bleibt stehen und beobachtet das Gelände. Vor einer Stunde noch war es ihm fremd, aber jetzt kennt er es wieder, jede Höhe, jede Bodenfalte, jedes Tal. Er ist nie fortgewesen, die Monate schrumpfen im Aufflackern der Erinnerung zusammen wie Papier, sie verbrennen und verfliegen wie Rauch. — Hier schleicht wieder der Leutnant Georg Rahe abends auf Patrouille, und nichts ist sonst gewesen dazwischen. Um ihn ist nur das Schweigen des Abends und der schwache Wind in den Gräsern — in seinen Ohren aber brüllt wieder die Schlacht, er sieht die Explosionen rasen, Leuchtschirme hängen wie riesige Bogenlampen über der Vernichtung, schwarzglühend kocht der Himmel, und die Erde spült sich in Fontänen und Schwefelkratern donnernd von Horizont zu Horizont.

Rahe beißt die Zähne zusammen. Er ist kein Phantast, aber er kann sich nicht wehren: die Erinnerung überstürzt ihn wie ein Wirbelsturm, hier ist noch kein Frieden, nicht der Scheinfrieden der übrigen Welt, hier ist immer noch Kampf und Krieg, hier rast die Zerstörung geisterhaft weiter und ihre Strudel verlieren sich in den Wolken.

Die Erde packt zu, sie greift nach ihm wie mit Händen, der gelbe, dicke Lehm klebt an den Schuhen und macht die Schritte schwer, als wollten die Toten mit dumpfen, murrenden Stimmen den Überlebenden zu sich herabziehen.

Er rennt über die schwarzen Trichterfelder. Der Wind wird stärker, die Wolken wandern, und manchmal gießt der Mond sein fahles Licht über die Landschaft. Jedesmal hält Rahe dann mit gepreßtem Herzen an, wirft sich hin und klebt bewegungslos am Boden. Er weiß, es ist nichts, aber beim nächstenmal springt er wieder erschreckt in einen Trichter. Sehend und bewußt verfällt er dem Gesetz dieser Erde, über die man nicht aufrecht gehen kann.

Der Mond ist ein riesiger Leuchtschirm geworden. Die Stümpfe des Wäldchens stehen schwarz vor dem blonden Licht. Hinter den Ruinen der Ferne zieht sich die Schlucht hin, durch die nie ein Angriff kam. Rahe hockt in einem Graben. Stücke eines Koppels liegen da, ein paar Kochgeschirre, ein Löffel, verdreckte Handgranaten, Patronentaschen, und daneben graugrünes, nasses Tuch, faserig, halb schon zu Lehm geworden, die Reste eines Soldaten.

Er legt sich lang auf die Erde, das Gesicht am Boden — und das Schweigen beginnt zu reden. Ein dumpfes, ungeheures Brausen ist in der Erde, stoßweises Atmen, Dröhnen, und wieder Brausen, Klappern und Klirren. Er krallt die Finger hinein und preßt den Kopf dagegen, er glaubt Stimmen zu vernehmen und Rufe, er möchte fragen, sprechen, schreien, er lauscht und wartet auf eine Antwort, eine Antwort auf sein Leben. —

Aber nur der Wind wird stärker, die Wolken ziehen rascher und niedriger, und Schatten auf Schatten jagt über die Felder. Rahe richtet sich auf und geht weiter, ohne Richtung, lange Zeit, bis er vor den schwarzen Kreuzen steht, die hintereinander in langen Reihen ausgerichtet sind, wie eine Kompanie, ein Bataillon, ein Regiment, eine Armee.

Und plötzlich weiß er alles. Vor diesen Kreuzen kracht das ganze Gebäude der großen Worte und Begriffe zusammen. Hier allein ist noch der Krieg, nicht mehr in den Gehirnen und den verschobenen Erinnerungen der Davongekommenen! Hier stehen die verlorenen Jahre, die nicht erfüllt worden sind, wie ein gespenstischer Nebel über den Gräbern, hier schreit das ungelebte Leben, das keine Ruhe findet, in dröhnendem Schweigen zum Himmel, hier strömt die Kraft und der Wille einer Jugend, die starb, bevor sie zu leben beginnen konnte, wie eine ungeheure Klage durch die Nacht.

Schauer überlaufen ihn. Grell erkennt er mit einem Schlage seinen heroischen Irrtum, den leeren Rachen, in den die Treue, die Tapferkeit und das Leben einer Generation versunken sind. Es würgt und erschüttert ihn.

«Kameraden!«schreit er in den Wind und in die Nacht:»Kameraden! Wir sind verraten worden! Wir müssen noch einmal marschieren! Dagegen! — Dagegen — Kameraden!«

Er steht vor den Kreuzen, der Mond bricht durch, er sieht sie glänzen, sie heben sich von der Erde mit ausgebreiteten Armen, nun dröhnt schon ihr Schritt, er steht vor ihnen und marschiert auf der Stelle, er reckt die Hand aufwärts:»Kameraden — marsch!«—

Und greift in die Tasche und hebt wieder den Arm. Ein müder,

einsamer Knall, der von den Stößen des Windes aufgefangen und weggeschleppt wird — dann taumelt er in die Knie, stützt die Arme auf und wendet sich mit einer letzten Anstrengung den Kreuzen zu

— er sieht sie marschieren, sie stampfen und sind in Bewegung, sie marschieren langsam und ihr Weg ist weit, es wird lange dauern, aber es geht vorwärts, sie werden ankommen und ihre letzte Schlacht schlagen, die Schlacht für das Leben, sie marschieren schweigend, eine dunkle Armee, den weitesten Weg, den Weg in die Herzen, es wird viele Jahre dauern, aber was ist ihnen Zeit? Sie sind aufgebrochen, sie kommen.

Der Kopf sinkt ihm herunter, es wird dunkel um ihn, er fällt vornüber, er marschiert mit dem Zuge. Wie ein spät Heimgefundener liegt er an der Erde, die Arme ausgebreitet, die Augen schon stumpf, ein Knie angezogen. Der Körper zuckt noch einmal, dann ist alles Schlaf geworden, und nur der Wind allein ist noch da über der öden, dunklen Weite, er weht und weht, über die Wolken und den Himmel, die Felder und die endlosen Ebenen mit den Gräben und Trichtern und Kreuzen.

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