Vierter Teil

I

Wir haben uns alles anders vorgestellt. Wir haben geglaubt, mit gewaltigem Akkord würde ein starkes intensives Dasein einsetzen, eine volle Heiterkeit des wiedergewonnenen Lebens: so wollten wir beginnen. Aber die Tage und Wochen zerflattem unter unseren Händen, wir verbringen sie mit belanglosen, oberflächlichen Dingen, und wenn wir uns umsehen, ist nichts getan. Wir waren gewohnt, kurzfristig zu denken und zu handeln — eine Minute später konnte immer alles aus sein. Deshalb geht uns jetzt das Dasein zu langsam, wir springen es an, aber ehe es zu sprechen und zu klingen beginnt, haben wir schon wieder davon abgelassen. Wir hatten zu lange den Tod als Genossen; der war ein schneller Spieler, und es ging jede Sekunde um den höchsten Einsatz. Das hat uns etwas Sprunghaftes, Hastiges, auf den Augenblick Bedachtes gegeben, das uns jetzt leer macht, weil es hierher nicht mehr paßt. Und diese Leere macht uns unruhig, denn wir fühlen, daß man uns nicht versteht und daß selbst Liebe uns nicht helfen kann. Es klafft eine unüberbrückbare Kluft zwischen Soldaten und Nichtsoldaten. Wir müssen uns selber helfen.

Doch in unsere unruhigen Tage grollt und murrt oft sonderbar noch etwas anderes hinein — wie fernes Dröhnen von Geschützen — wie eine dumpfe Mahnung hinter dem Horizont, die wir nicht zu deuten wissen, die wir nicht hören wollen, von der wir uns abwenden, immer in der seltsamen Furcht, etwas zu versäumen — als liefe uns etwas davon. Zu oft schon lief uns etwas davon — und manchem nichts Geringeres als das Leben. —

In Karl Brögers Bude sieht es bunt aus. Alle Bücherregale sind ausgeräumt. Ganze Stöße von Bänden liegen auf den Tischen und auf dem Fußboden umher.

Karl war früher ein Büchernarr. Er sammelte Bücher, wie wir Schmetterlinge und Briefmarken. Eine besondere Vorliebe hatte er für Eichendorff. Davon hat er drei verschiedene Ausgaben. Er konnte auch viele seiner Gedichte auswendig. Aber jetzt will er die Bibliothek verkaufen, um Anfangskapital für einen eigenen Schnapshandel zu bekommen. Er behauptet, daß mit solchen Sachen viel Geld zu verdienen sei. Bisher war er nur Agent Ledderhoses; doch jetzt will er sich auf eigene Füße stellen.

Ich blättere im ersten Band einer Eichendorffausgabe, die in ganz weiches, blaues Leder gebunden ist. Abendrot, Wälder und Träume

— Sommernächte, Sehnsucht und Heimweh — welch eine Zeit war dasl

Willy hat den zweiten Band in der Hand. Nachdenklich betrachtet er ihn.»Du müßtest sie einem Schuhmacher anbieten«, schlägt er vor.

«Wieso?«fragt Ludwig lächelnd.

«Das Leder«, antwortet Willy,»die Schuhmacher haben doch überhaupt kein Leder mehr. Hier — «er nimmt Goethes Werke auf —»zwanzig Bände —, das gibt mindestens sechs Paar tadellose Lederschuhe. Die Schuhmacher geben dir bestimmt mehr dafür als die Buchhändler. Die sind ja ganz wild auf echtes Leder!«

«Wollt ihr was davon haben?«fragt Karl.»Ihr kriegt Vorzugspreise. «Aber keiner will etwas haben.

«Überleg's dir nochmal«, sagt Ludwig,»später ist es schwer, sie wiederzukaufen.«

«Nicht so wichtig«, lacht Karl,»erst mal leben, das ist besser als lesen. Auf mein Examen pfeife ich auch. Das ist alles Quatsch! Morgen geht's los mit den Schnapsproben. Zehn Mark Verdienst an einer Flasche geschmuggeltem Kognak, das zieht hin, mein Lieber! Geld ist das einzige, was du brauchst, dann kannst du alles haben.«

Er bündelt die Bücher zusammen. Mir fällt ein, daß er früher lieber nicht gegessen hätte, statt eines zu verkaufen.»Was macht ihr für verblüffte Gesichter«, spottet er,»praktischmuß man sein! Den alten Ballast über Bord und ein neues Leben anfangen!«

«Das stimmt«, gibt Willy zu,»ich würde meine auch verkloppen — wenn ich bloß welche hätte.«

Karl klopft ihm auf die Schulter.»Ein Zentimeter Handel ist besser als ein Kilometer Bildung, Willy. Ich habe lange genug draußen im Dreck gesessen — ich will jetzt was vom Leben haben!«

«Eigentlich hat er recht«, sage ich,»was machen wir denn schon? Das bißchen Schule, das ist doch gar nichts. —«

«Kinder, haut auch ab«, rät Karl,»was wollt ihr noch auf der

Penne?«

«Gott«, erwidert Willy,»Quatsch ist es, das stimmt. Aber wir sind doch wenigstens zusammen. Und dann sind es ja nur noch die paar Monate bis zum Examen, da wäre es doch schade, das nicht eben noch mitzunehmen. Danach kann man ja immer noch sehen..«

Karl schneidet Packpapier von einer Rolle.»Paß auf, so wirst du immer irgend ein paar Monate haben, um die es eigentlich schade ist — und zum Schluß bist du ein alter Mann. —«

Willy grinst.»Abwarten und Tee trinken. —«

Ludwig steht auf.»Was sagt denn dein Vater dazu?«

Karl lacht.»Was so ältere, ängstliche Leute sagen. Das kann man ja nicht ernst nehmen. Eltern vergessen immer, daß man doch Soldat gewesen ist.«

«Was wärst du denn geworden, wenn du kein Soldat gewesen wärest?«frage ich.

«Wahrscheinlich Buchhändler — ich Ochse — «, antwortet Karl.

Auf Willy hat Karls Entschluß großen Eindruck gemacht. Er schlägt vor, allen Krimskram zu lassen und die Dinge kräftig anzupacken, da, wo sie zu packen sind.

Den leichtesten Lebensgenuß aber hat man beim Fressen. Wir beschließen deshalb, einen Hamsterzug zu machen. Auf Lebensmittelkarten gibt es jede Woche für eine Person zweihundertfünfzig Gramm Fleisch, zwanzig Gramm Butter, fünfzig Gramm Margarine, hundert Gramm Graupen und etwas Brot. Davon kann kein Mensch satt werden.

Abends und nachts sammeln sich die Hamsterer schon auf dem Bahnhof, um in der Frühe in die Dörfer zu fahren. Wir müssen deshalb mit dem ersten Zuge fort, damit sie uns nicht zuvorkommen. Graues Elend hockt verdrossen im Abteil, als wir abdampfen. Wir suchen uns einen abseitsliegenden Ort und verteilen uns dort, immer zu zweien, um ihn systematisch abzugrasen. Patrouillegehen haben wir ja gelernt.

Ich bin mit Albert zusammen. Wir kommen an einen großen Hof. Der Misthaufen dampft. Kühe stehen in langer Reihe auf der Diele. Der warme Geruch von Stall und Milch empfängt uns. Hühner gak- kern. Wir sehen sie begehrlich an, beherrschen uns aber, denn es sind Leute auf der Tenne. Wir grüßen. Niemand beachtet uns. Wir bleiben stehen. Schließlich schreit eine Frau:»Schert euch vom Hof, verdammtes Bettelvolk.«

Nächster Hof. Der Bauer steht gerade draußen. Er trägt einen langen Militärmantel, schwippt mit der Peitsche und sagt:»Wißt ihr, wieviel vor euch schon hier waren? Ein Dutzend. «Wir staunen, denn wir sind doch mit dem ersten Zug abgefahren. Die müssen wohl schon abends gekommen und in Schuppen oder im Freien übernachtet haben.»Wißt ihr, wieviel manchmal am Tage kommen?«fragt der Bauer weiter.»An hundert. Was soll man denn da machen?«

Das sehen wir ein. Sein Blick haftet an Alberts Uniform.»Flandern?«fragt er.»Flandern«, antwortet Albert.»Ich auch«, sagt er, geht rein und holt jedem von uns zwei Eier. Wir fingern an unsern Brieftaschen. Er winkt ab.»Laßt stecken. Wird auch so gehen.«

«Na, danke auch, Kamerad.«

«Nichts zu danken. Aber erzählt's nicht weiter. Sonst ist morgen halb Deutschland hier.«

Das nächste Haus. Ein plackiges Schild am Zaun.»Hamstern verboten. Bissige Hunde. «Das ist praktisch.

Wir gehen weiter. Ein Eichenkamp und ein großer Hof. Wir dringen bis in die Küche vor. In der Mitte steht ein Kochherd neuester Konstruktion, der für ein Hotel ausreichen könnte. Rechts ein Klavier, links ein Klavier. Ein großartiger Bücherschrank mit gedrehten Säulen und Goldschnittbänden gegenüber dem Herd. Davor noch der alte Tisch und die hölzernen Schemel. Es sieht komisch aus. Und gleich zwei Klaviere.

Die Bäuerin erscheint.»Habt ihr Zwirn? Aber es muß echter sein. «Wir sehen uns an.»Zwirn? Nein.«

«Oder Seide? Seidene Strümpfe?«

Ich schaue die kräftigen Waden der Frau an. Wir verstehen allmählich: sie will tauschen, nicht verkaufen.

«Nein, Seide haben wir nicht«, sage ich,»aber wir wollen gern gut bezahlen.«

Sie wehrt ab.»Ach, Geld, Drecklappen. Ist ja jeden Tag weniger wert. «Sie schlurft weg. An ihrer knallroten Seidenbluse fehlen hinten zwei Knöpfe.

«Können wir wenigstens etwas Wasser haben?«ruft Albert hinterher. Mißmutig kehrt sie um und stellt uns einen Becher voll hin.

«Na, los, ich hab' keine Zeit zum rumstehen«, knört sie.»Solltet auch lieber arbeiten, als ändern Leuten die Zeit stehlen.«

Albert nimmt den Becher und schmeißt ihn auf den Boden. Er kann vor Wut nicht reden. Dafür rede ich.»Krebs sollst du kriegen, alte Schlampe«, brülle ich. Aber jetzt dreht das Weib sich um und legt los wie eine Blechschmiede in vollem Betrieb. Wir flüchten. So was hält der stärkste Mann nicht aus.

Wir marschieren weiter. Unterwegs treffen wir ganze Schwärme von Hamsterern. Wie ausgehungerte Wespen um ein Stück Pflaumenkuchen, so kreisen sie um die Gehöfte. Wir begreifen jetzt, daß die Bauern dabei verrückt und grob werden können. Aber wir gehen trotzdem weiter, werden rausgeschmissen oder erwischen etwas, werden von anderen Hamsterern beschimpft und schimpfen wieder.

Nachmittags treffen wir uns alle in der Kneipe. Die Ausbeute ist nicht groß. Ein paar Pfund Kartoffeln, etwas Mehl, einige Eier, Äpfel, etwas Kohl und Fleisch. Nur Willy schwitzt. Er kommt als letzter und schleppt einen halben Schweinskopf unterm Arm. Ein paar andere Pakete ragen ihm aus den Taschen. Dafür hat er allerdings keinen Mantel mehr an. Er hat ihn eingetauscht, denn er hat noch einen von Karl zu Hause und meint, es müsse zudem ja irgendwann mal Frühling werden.

Wir haben noch zwei Stunden Zeit, bis der Zug fährt. Sie bringen mir Glück. In der Wirtsstube steht nämlich ein Klavier, auf dem ich das» Gebet einer Jungfrau «mit vollen Pedalen hinlege. Darüber erscheint die Wirtin. Sie hört eine Zeitlang zu, dann zwinkert sie mir zu, ich solle herauskommen. Ich drücke mich in den Flur und sie erklärt mir, sie sei Musikfreundin, leider werde bei ihr aber nur selten gespielt. Ob ich nicht wiederkommen wolle. Dabei überreicht sie mir ein halbes Pfund Butter und erklärt, das sei öfter zu haben. Ich bin natürlich einverstanden und verpflichte mich, dafür jedesmal zwei Stunden zu spielen. Als nächste Leistung gebe ich das» Heidegrab «und» Stolzenfels am Rhein «zum besten.

Dann brechen wir auf zum Bahnhof. Unterwegs begegnen wir vielen anderen Hamsterern, die mit demselben Zuge fahren wollen. Alle haben Angst vor den Gendarmen. Ein ganzer Trupp ist schließlich zusammen und wartet ein Stück vom Bahnhof entfernt, in einer Ecke im windigen Dunkel versteckt, um sich nicht sehen zu lassen, bevor der Zug kommt. Dann ist weniger Gefahr.

Aber wir haben Pech. Plötzlich stehen zwei Gendarmen mit Fahrrädern da. Sie sind lautlos von hinten herumgefahren.

«Halt, alles stehenbleiben!«

Fürchterliche Aufregung. Bitten und Flehen.»Lassen Sie uns doch laufen, wir müssen zum Zuge.«

«Der Zug kommt erst in einer Viertelstunde«, erklärt der dickere der beiden ungerührt.»Alles hier heran!«Er zeigt auf eine Laterne, da können sie besser sehen. Einer paßt auf, daß niemand auskneift, der andere kontrolliert. Es sind fast nur Frauen, Kinder und alte Leute; die meisten stehen schweigend und ergeben da — sie sind gewohnt, so behandelt zu werden, und an das Glück, ein halbes Pfund Butter tatsächlich mit nach Hause durchzuschmuggeln, haben sie doch nie ganz zu glauben gewagt. Ich sehe mir die Gendarmen an; sie stehen genau so dicknäsig und überlegen da mit ihren grünen Uniformen, ihren roten Gesichtern, ihren Säbeln und ihren Revolvertaschen, wie früher die im Felde. Macht, denke ich, immer wieder Macht, und seien es drei Zentimeter, die verhärtet.

Einer Frau werden ein paar Eier weggenommen. Als sie schon wegschleicht, ruft der Dickere sie zurück.»Halt, was haben Sie da?«Er zeigt auf den Rock.»Raus damit!«Sie versteinert und sinkt zusammen.»Wird's bald!«Sie gibt unter dem Rock ein Stück Speck her. Er legt es beiseite.»Hätte Ihnen wohl so gepaßt, was?«Sie begreift es immer noch nicht und will wieder danach greifen.»Ich hab's doch bezahlt — mein ganzes Geld hat es gekostet!«

Er schiebt ihre Hand weg und holt einer anderen Frau schon ein Stück Wurst aus der Bluse.»Hamstern ist verboten, das wissen Sie doch selbst.«

Die Frau will auf die Eier verzichten, aber sie bettelt um ihren Speck.»Wenigstens den Speck. Was soll ich denn bloß sagen, wenn ich nach Hause komme? Es ist doch für meine Kinder.«

«Wenden Sie sich ans Lebensmittelamt um Zusatzkarten«, knurrt der Gendarm,»so was ist nicht unsere Sache. Der nächste. «Die Frau stolpert beiseite, erbricht sich und schreit:»Dafür ist nun mein Mann gefallen, daß meine Kinder verhungern.«

Ein junges Mädchen, das als nächstes dran ist, stopft, frißt, würgt seine Butter herunter, der Mund ist fettverschmiert, die Augen glupschen, sie würgt und schlingt, so hat sie wenigstens etwas davon, ehe sie es ihr wegnehmen. Wenig genug — ihr wird nachher schlecht werden, und Durchfall wird sie kriegen.

«Der nächste. «Niemand rührt sich. Der Gendarm, der gebückt steht, ruft nochmal:»Der nächste.«Ärgerlich richtet er sich auf und blickt in Willys Augen. Bedeutend ruhiger fragt er:»Sind Sie der

nächste?«

«Ich bin gar nichts«, antwortet Willy unfreundlich.

«Was haben Sie in dem Paket?«

«Einen halben Schweinskopf«, erklärt Willy offen.

«Den müssen Sie abgeben.«

Willy rührt sich nicht. Der Gendarm zögert und wirft einen Blick auf seinen Kollegen. Der stellt sich neben ihn. Das ist ein schwerer Fehler. Beide scheinen in solchen Sachen wenig Erfahrung zu haben und keinen Widerstand gewöhnt zu sein; denn der zweite hätte längst sehen müssen, daß wir zusammengehören, obschon wir nicht miteinander gesprochen haben. Deshalb hätte er sich abseits halten müssen, um uns mit seiner Waffe zu beherrschen. Allerdings hätten wir uns nicht viel darum gekümmert — was ist schon ein Revolver! Statt dessen stellt er sich dicht neben seinen Kollegen, für den Fall, daß Willy rabiat wird. Die Folgen zeigen sich sofort. Willy gibt nämlich den Schweinskopf ab. Der erstaunte Gendarm nimmt ihn entgegen und ist dadurch so gut wie wehrlos, denn er hat beide Hände voll. Im gleichen Augenblick schlägt Willy ihm in aller Ruhe gegen das Maul, daß er umfällt. Ehe der zweite sich regen kann, stößt Kosole ihm mit Wucht seinen harten Schädel gegen die Kinnladen, und Valentin ist ihm im Rücken und preßt ihm von hinten den Schlund so zu, daß er den Schnabel weit aufreißt, Kosole stopft rasch eine Zeitung hinein. Beide Gendarmen gurgeln, schlucken, spucken, aber es hilft nichts, sie haben Papier im Hals, die Arme werden ihnen rückwärts gedreht und mit ihren eigenen Riemen festgeknotet. Das ist rasch gegangen — aber jetzt wohin mit ihnen? Albert weiß es, er hat fünfzig Schritt weiter ein einsames Häuschen entdeckt, in dessen Tür ein Herz geschnitten ist: den Lokus. Im Galopp geht es dahin. Beide werden hineingesteckt. Die Tür ist aus Eiche, die Riegel sind breit und fest, es wird eine gute Stunde dauern, bis sie wieder raus sind. Kosole ist anständig. Er stellt ihnen sogar ihre Fahrräder vor die Tür.

Die anderen Hamsterer haben gänzlich verschüchtert zugesehen.»Schnappt euch eure Sachen«, grinst Ferdinand. In der Ferne pfeift bereits der Zug. Sie blicken uns scheu an und lassen es sich nicht zweimal sagen. Aber eine alte Frau ist völlig verbiestert.»O Gott«, jammert sie,»die Gendarmen haben sie verprügelt — das Unglück — das Unglück!«

Sie hält das scheinbar für ein todeswürdiges Verbrechen. Die ändern sind ebenfalls etwas verstört darüber. Die Angst vor Uniform und Polizei sitzt ihnen zu fest in den Knochen.

Willy grinst.»Heul nicht, Muttchen — und wenn die ganze Regierung dastände, wir ließen uns nichts wegnehmen! Altes Militär und Fressalien abgeben, das wäre was!«

Ein Glück, daß so viele Dorfbahnhöfe weit abseits der Häuser liegen. Niemand hat was gemerkt. Der Stationsbeamte kommt jetzt erst aus seinem Zimmer, gähnt und kratzt sich den Schädel. Wir marschieren zur Sperre. Willy hat den Schweinskopf unter dem Arm.»Ich dich abgeben!«murmelt er und streichelt ihn liebevoll.

Der Zug fährt ab. Wir winken aus dem Fenster. Der Stations

beamte glaubt, das gälte ihm und grüßt. Aber wir meinen den Lokus. Willy lehnt sich weit hinaus und beobachtet die rote Mütze des Vorstehers.

«Er geht wieder in seine Bude«, verkündet er triumphierend.»Dann können die Gendarmen noch lange arbeiten.«

Die Spannung fällt von den Gesichtern der Hamsterer. Sie wagen wieder zu reden. Die Frau mit dem Speck lacht mit Tränen in den Augen, so dankbar ist sie. Nur das Mädchen, das die Butter gefressen hat, heult erbärmlich. Es war zu voreilig. Außerdem wird ihm schon schlecht. Da zeigt sich Kosole. Er gibt ihr von seiner Wurst die Hälfte ab. Sie steckt sie in die Strümpfe. Zur Vorsicht steigen wir eine Station vor der Stadt aus und laufen über die Felder, um die Straße zu erreichen. Wir wollen das letzte Stück zu Fuß machen. Aber wir treffen ein Lastauto mit Kannen. Der Schofför hat einen Militärmantel an. Er läßt uns mitfahren. So sausen wir durch den Abend. Die Sterne funkeln. Wir hocken beieinander, und aus unseren Paketen riecht es angenehm nach Schwein.

II

Die Große Straße liegt in nassem, silbrigem Abendnebel. Die Laternen haben große, gelbe Höfe. Die Menschen gehen auf Watte. Geheimnisvolle Feuer sind rechts und links die Schaufenster. Wolf schwimmt heran und taucht wieder unter. Die Bäume glänzen schwarz und feucht neben den Laternen.

Valentin Laher ist bei mir. Er klagt nicht gerade, aber er kann seinen Reckakt nicht vergessen, mit dem er in Paris und Budapest aufgetreten ist.»Damit ist Schluß, Ernst«, sagt er,»die Knochen knak- ken, und Rheumatismus habe ich auch. Ich habe probiert und probiert bis zum Umfallen. Es hat keinen Zweck mehr, daß ich an- fangc.«

«Was willst du denn machen, Valentin?«frage ich.»Eigentlich müßte der Staat dir doch ebenso eine Pension geben wie den verabschiedeten Offizieren.«

«Ach, der Staat, der Staat«, antwortet Valentin wegwerfend,»der gibt nur denen was, die das Maul ordentlich aufreißen. Ich bin jetzt dabei, mit einer Tänzerin ein paar Sachen einzustudieren, eine Schaunummer, weißt du. Das sieht fürs Publikum gut aus, ist aber nicht viel, und ein ordentlicher Artist müßte sich eigentlich schämen, so was zu machen. Doch was willst du tun, du mußt leben.«

Valentin will zur Probe, und ich entschließe mich, mitzugehen. An der Ecke der Hamkenstraße trudelt eine schwarze Melone durch den Nebel an uns vorbei, darunter ein kanariengelber Gummimantel und eine Aktenmappe.»Arthur — «, rufe ich.

Ledderhose stoppt.»Donnerschlag«, sagt Valentin,»du hast dich aber rausgemacht. «Kennerhaft befühlt er den Schlips Arthurs, ein prächtiges, kunstseidenes Stück mit lila Ornamenten.

«Macht sich, macht sich«, meint Ledderhose geschmeichelt und eilig.»Und der schöne Schabbesdeckel«, staunt Valentin erneut und betrachtet die Melone.

Ledderhose will weiter. Er klopft auf seine Aktentasche.»Zu tun, zu tun. —«

«Hast du denn deinen Zigarrenladen nicht mehr?«frage ich.

«Doch«, erwidert er,»aber ich mache jetzt nur noch en gros. Wißt ihr keine Büroräume? Ich zahle jeden Preis.«

«Büroräume wissen wir nicht«, sagt Valentin,»soweit haben wir es noch nicht gebracht. Aber was macht deine Frau?«

«Wieso?«fragt Ledderhose reserviert.

«Na, du hast doch damals im Graben genug darüber gejammert. Sie war dir zu mager geworden, und du bist ja nun mal für das Stramme.«

Arthur schüttelt den Kopf.»Kann mich nicht mehr daran erinnern. «Er verschwindet.

Valentin lacht.»Wie sich die Leute verändern können, Ernst, was? Im Schützengraben war er ein Jammerwurm, und jetzt ist er ein flotter Geschäftsmann. Was hat der Kerl draußen geschweinigelt! Und jetzt will er nichts mehr davon wissen.«

«Aber es scheint ihm verdammt gut zu gehen«, sage ich nachdenklich.

Wir bummeln weiter. Der Nebel schwimmt. Wolf spielt mit ihm. Gesichter kommen heran und gehen. Im weißhellen Licht sehe ich plötzlich einen glänzenden, roten Hut aus Lackleder, darunter ein Gesicht, das zart beschlagen ist von Feuchtigkeit und dessen Augen dadurch um so mehr glänzen.

Ich bleibe stehen. Mein Herz schlägt heftig. Das war Adele. Jäh steigt die Erinnerung auf an vergangene Abende, wo wir Sechzehnjährigen uns im Halbdunkel vor den Türen der Turnhalle versteckten und warteten, bis die Mädchen in ihren weißen Sweatern herauskamen, um dann hinter ihnen her zu rennen durch die Straßen, sie cinzuholen und heftig atmend unter einer Laterne vor ihnen zu stehen, schweigend, sie anstarrend — bis sie sich losrissen und die Jagd weiterging — an Nachmittage, wo man sie einmal irgendwo sah, immer ein paar Schritte hinter ihnen, viel zu verlegen, um sie anzusprechen, und nur, wenn sie in ein Haus gingen, rasch allen Mut zusammennehmend, um auf Wiedersehen zu rufen und wegzulaufen—

Valentin sieht sich um.»Ich muß mal eben zurück«, sage ich hastig,»ich muß mit jemand sprechen. Bin gleich wieder da. «Und ich laufe zurück, um den roten Hut zu suchen, das rote Leuchten im Nebel, die Jugend tage vor der Uniform und vor den Gräben.

«Adele! —«

Sie sieht sich um.»Ernst! — bist du wieder da?«

Wir gehen nebeneinander. Der Nebel fließt zwischen uns hindurch, Wolf umspringt uns und bellt, die Straßenbahnen klingeln, und die Welt ist warm und weich. Das Gefühl ist wieder da, voll, zitternd, schwebend, die Jahre sind weggewischt, ein Bogen schwingt ins Früher hinüber, ein Regenbogen, eine helle Brücke durch den Nebel. Ich weiß nicht, wovon wir reden, es ist ja auch gleichgültig, die Hauptsache ist, daß wir nebeneinander hergehen und daß diese sanfte, unhörbare Musik von früher wieder da ist, diese Kaskaden aus Ahnung und Sehnsucht, hinter denen seidig das Grün von Wiesen schimmert, hinter denen das silberne Rauschen der Pappeln singt und der weiche Horizont der Jugend dämmert.

Sind wir lange gegangen? Ich weiß es nicht. Ich laufe allein zurück, Adele hat sich verabschiedet, aber wie eine große, bunte Fahne weht die Freude in mir, Hoffnung und Fülle, mein kleines Knabenzimmer, die grünen Türme und die große Weite.

Während ich zurücklaufe, stoße ich auf Willy, und wir gehen zusammen weiter, um Valentin zu suchen. Wir erreichen ihn, wie er gerade mit allen Anzeichen der Freude auf einen Mann losstürzt und ihn kräftig auf die Schulter haut.»Mensch, Kuckhoff, altes Haus, wo kommst du denn her?«Er hält dem ändern die Hand hin:»Das ist ja ein Zufall, was? So trifft man sich wieder. «Der andere sieht ihn abschätzend eine Weile an.

«Ah, Laher, nicht wahr?«

«Klar, Mann, du warst doch mit mir an der Somme. Weißt du noch, wie wir da mitten im Mist die Pfannkuchen fraßen, die Lilly mir geschickt hatte? Georg hat sie uns noch mit der Post nach vorn gebracht. War ein verdammt riskantes Stück von ihm damals, was?«»Ja, gewiß«, sagt der andere.

Valentin ist ganz aufgeregt vor Erinnerungen.»Später hat er dann ja auch richtig eins abgekriegt«, erzählt er weiter,»da warst du aber schon weg. Dabei ist ihm der rechte Arm flöten gegangen. Auch nicht leicht für einen Kutscher wie ihn. Wird nun wohl was anderes machen müssen. Wo bist du eigentlich geblieben nachher?«

Der andere gibt eine unbestimmte Antwort. Dann sagt er:»Nett, sich getroffen zu haben. Wie geht es Ihnen denn, Laher?«

«Was?«gibt Valentin verblüfft zurück.

«Wie es Ihnen geht? Was machen Sie?«

«Sie?«Valentin hat sich noch nicht erholt. Einen Moment starrt er den ändern an, der in elegantem Covercoat vor ihm steht. Dann sieht er an sich herunter, wird glührot und schiebt weiter.»Affe!«

Mir ist peinlich zumute für Valentin. Zum ersten Male wahrscheinlich hat ihn der Gedanke des Unterschieds getroffen. Bislang waren wir alle Soldaten. Jetzt haut ihm so ein eingebildeter Bursche mit einem einzigen» Sie «seine Unbefangenheit in Fetzen.

«Laß man, Valentin«, sage ich,»so was ist stolz darauf, was sein Vater verdient hat. Auch ein Beruf.«

Willy fügt ebenfalls ein paar kräftige Brocken hinzu.

«Schöne Kameraden, das«, sagt Valentin schließlich verbissen — aber damit ist er den Geschmack nicht los. Es würgt weiter in ihm.

Zum Glück treffen wir Tjaden. Er sieht grau aus wie ein Wischlappen.»Du, hör mal«, sagt Willy,»der Krieg ist vorbei, jetzt könntest du dich wahrhaftig mal waschen.«

«Heute noch nicht«, erklärt Tjaden wichtig,»aber Sonnabend. Dann will ich sogar baden.«

Wir fahren zurück. Tjaden baden? Sollte er doch von der Verschüttung im August etwas behalten haben? Willy hebt zweifelnd die Hand ans Ohr.»Ich glaube, ich habe dich eben nicht richtig verstanden. Was willst du am Sonnabend tun?«

«Baden«, sagt Tjaden stolz.»Sonnabend abend verlobe ich mich nämlich.«

Willy sieht ihn an wie einen seltenen Papagei. Dann legt er ihm sanft die Pfote auf die Schulter und fragt väterlich:»Sag mal, Tjaden, hast du nicht manchmal Stiche im Hinterkopf? Oder so ein komisches Sausen in den Ohren?«

«Nur wenn ich Kohldampf habe«, gesteht Tjaden,»dann hab' ich außerdem noch Trommelfeuer im Magen. Ein gemeines Gefühl. Doch, um wieder auf meine Braut zu kommen: Schön ist sie nicht,sie hat zwei linke Füße und schielt etwas; aber dafür hat sie Gemüt, und ihr Vater ist Schlächter.«

Schlächter. Uns geht ein Licht auf. Tjaden gibt bereitwillig weitere Auskunft.»Sie ist ganz wild auf mich. Na, und heute heißt es rasch zufassen. Die Zeiten sind schlecht, da muß man Opfer bringen. Ein Schlächter ist der letzte, der verhungert. Und verlobt ist ja noch lange nicht verheiratet.«

Willy hört mit steigendem Interesse zu.»Tjaden«, beginnt er dann,»du weißt, wir waren immer Freunde.«

«Gemacht, Willy«, unterbricht ihn Tjaden,»du kannst ein paar Würste haben. Und meinetwegen auch noch etwas Karbonaden dazu. Komm Montag hin. Wir haben dann weiße Woche.«

«Wieso?«frage ich erstaunt,»habt ihr denn auch ein Wäschegeschäft?«

«Das nicht, aber wir schlachten dann einen Schimmel.«

Wir versprechen fest, zu erscheinen, und trudeln weiter.

Valentin biegt zum Altstädter Hof ein. Dort steigen die Artisten ab. Eine Liliputanergruppe ist gerade beim Abendessen, als wir ein- treten. Auf dem Tisch steht Steckrübensuppe: jeder hat dazu ein Stück Brot neben sich.

«Hoffentlich werden wenigstens die satt von ihrem Markenfraß«, knurrt Willy,»sie haben ja kleinere Bäuche.«

An den Wänden hängen Plakate und Fotografien. Bunte Lappen, halbzerrissen, mit Bildern von Kraftmenschen, Löwenbräuten und Clowns. Sie sind alt und vergilbt, denn in den letzten Jahren war der Schützengraben die Manege für die Gewichtheber, Schulleiter und Akrobaten. Da brauchten sie keine Plakate.

Valentin zeigt auf eins davon.»Das war ich mal. «Ein Mann mit gewölbter Brust schlägt auf dem Bilde einen Salto vom Reck einer Zirkuskuppel. Aber man kann Valentin mit dem besten Willen darin nicht mehr erkennen.

Die Tänzerin, mit der er arbeiten will, wartet schon. Wir gehen in den kleinen Saal des Restaurants. Ein paar Theaterdekorationen lehnen in der Ecke. Sie gehören zu dem Schwank:»Flieg, du kleine Rumplertaube«, einem humorvollen Stück aus dem Leben unserer Feldgrauen mit Refraingesang, das zwei Jahre lang großen Erfolg hatte.

Valentin stellt ein Phonograph auf einen Stuhl und sucht Platten hervor. Eine heisere Melodie krächzt aus dem Trichter, abgespielt, aber noch mit einem Rest von Wildheit, wie die verbrauchte Stimme einer verwüsteten Frau, die ehemals schön war.»Tango«, flüstert Willy mir zu mit der Miene des Kenners, die nicht verrät, daß er eben erst die Aufschrift der Platte gelesen hat.

Valentin trägt eine blaue Hose und ein Hemd, die Frau ein Trikot. Sie üben einen Apachentanz und eine Phantasienummer, bei der das Mädchen zum Schluß mit den Beinen um Valentins Nacken hängt, während er sich dreht, so schnell er kann.

Die beiden üben schweigend, mit ernsten Gesichtern. Nur gelegentlich fällt ein halblautes Wort. Das bleiche Licht der Lampe flackert. Leise zischt das Gas. Die Schatten der Tanzenden schwanken groß über die Dekorationen zur» Rumplertaube«. Willy tappt wie ein Bär hin und her, um den Phonograph aufzuziehen. Valentin hört auf. Willy klatscht Beifall. Mißmutig winkt Valentin ab. Das Mädchen zieht sich um, ohne uns zu beachten. Langsam bindet sic sich die Tanzschuhe auf unter der Gaslampe. Geschmeidig biegt sich der Rücken in dem verwaschenen Trikot herunter. Dann richtet sie sich auf und hebt die Arme, um etwas überzustreifen. Licht und Schatten wechseln auf ihren Schultern. Sie hat schöne, lange Beine.

Willy schnüffelt im Saal umher. Er findet ein Textbuch zur» Rumplertaube«. Hinten sind Annoncen angehängt. Ein Konditor empfiehlt darin Bomben und Granaten aus Schokolade, fertig verpackt zum Verschicken in die Schützengräben. Eine sächsische Firma offeriert Brieföffner aus Granatsplittern, Klosettpapier mit Aussprüchen großer Männer über den Krieg — und zwei Ansichtskartenserien:»Soldatenabschied «und» Steh ich in finstrer Mitternacht«.

Die Tänzerin hat sich angezogen. In Mantel und Hut sieht sie ganz fremd aus. Vorhin war sie ein geschmeidiges Tier, aber jetzt ist sie wieder wie alle ändern. Man kann fast nicht glauben, daß sie nur die paar Stücke Stoff anzuziehen brauchte, um so zu wechseln. Sonderbar, wie schon Kleider verändern. Wie sehr erst Uniformen.

III

Willy ist jeden Abend bei Waldmann. Das ist ein Ausflugslokal in der Nähe der Stadt, in dem nachmittags und abends getanzt wird. Ich gehe auch hin, denn Karl Bröger hat mir erzählt, Adele wäre manchmal da. Und Adele möchte ich wiedertreffen.

Alle Fenster von Waldmanns Gartensaal sind hell. Die Schatten der Tanzenden gleiten über die heruntergezogenen Vorhänge. Ich stehe an der Theke und schaue nach Willy aus. Sämtliche Tische sind besetzt, nicht ein Stuhl ist mehr frei. In diesen Monaten nach dem Krieg ist eine wahre Raserei ausgebrochen, sich zu amüsieren. Plötzlich sehe ich einen blitzenden, weißen Bauch und die majestätischen Schniepel eines Schwalbenschwanzes. Willy im Cut. Geblendet starre ich ihn an. Der Cut ist schwarz, die Weste weiß, die Haare sind rot — er ist eine lebendige Fahnenstange.

Willy nimmt meine Bewunderung herablassend zur Kenntnis.»Ja, da staunst du, was?«sagt er und dreht sich wie ein Pfau,»mein Kaiser-Wilhelm-Gedächtniscut! Was aus einem Kommißmantel alles werden kann, wie?«

Er klopft mir auf die Schulter.»Übrigens gut, daß du da bist, heute ist Tanzturnier, wir machen alle mit, es gibt erstklassige Preise! In einer halben Stunde geht's los.«

Bis dahin kann man also noch trainieren. Willy hat eine Art Ringkämpferin als Dame, ein mächtig gebautes Geschöpf, kräftig wie ein Sechstalergaul. Damit übt er einen Onestep ein, bei dem die Geschwindigkeit das Wichtigste ist. Karl dagegen tanzt mit einem Mädchen vom Lebensmittelamt, das wie ein Schlittenpferd mit Ketten und Ringen aufgezäumt ist. Er verbindet dadurch Geschäft und Vergnügen auf bequeme Weise. Aber Albert — Albert ist nicht bei uns am Tisch. Etwas verlegen grüßt er aus einer Ecke herüber. Er sitzt dort mit einem blonden Mädchen.

«Den sind wir los«, sagt Willy prophetisch.

Ich selbst passe auf, um eine gute Tänzerin zu schnappen. Das ist gar nicht so einfach, denn manche sieht am Tisch zierlich aus wie ein Reh und tanzt nachher wie ein schwangerer Elefant. Außerdem sind die leichten Tänzerinnen sehr begehrt. Aber es gelingt mir doch, mich mit einer kleinen Näherin zu verabreden.

Ein Tusch ertönt. Jemand mit einer Chrysantheme im Knopfloch tritt vor und erklärt, ein Tanzpaar aus Berlin würde das Neueste vorführen: einen Foxtrott. Den kennen wir hier noch nicht; wir haben nur mal was davon gehört.

Neugierig versammeln wir uns. Die Kapelle intoniert eine abgehackte Musik. Die beiden Tanzenden hüpfen dazu wie Lämmer umeinander herum. Manchmal entfernen sie sich voneinander, dann haken sie sich mit den Armen wieder ein und wirbeln hinkend im Kreise.

Willy reckt sich und macht große Augen. Das ist ein Tanz nach seinem Herzen.

Der Tisch mit den Preisen wir hereingetragen. Wir stürzen hin. Es gibt je drei Preise für Onestep, Boston und Foxtrott. Foxtrott scheidet für uns aus, den können wir nicht; aber in den beiden ändern werden wir rangehen wie Blücher.

Der erste Preis besteht jedesmal aus zehn Möweneiern oder einer Flasche Schnaps. Willy erkundigt sich mißtrauisch, ob Möweneier auch eßbar wären. Beruhigt kehrt er zurück. Der zweite Preis sind sechs Möweneier oder ein reinwollener Kopfschützer, der dritte vier Eier oder zwei Schachteln Zigaretten, Marke» Deutschlands Helden- ruhm«.»Die nehmen wir auf keinen Fall«, sagt Karl, der damit Bescheid weiß.

Das Turnier beginnt. Für den Boston haben wir Karl und Albert vorgesehen; für den Onestep Willy und mich. Auf Willy setzen wir allerdings nur geringe Hoffnung. Er kann nur siegen, wenn die Preisrichter Humor haben.

Im Boston kommen Karl und Albert mit drei anderen Paaren in die Ausscheidungsrunde. Karl ist im Vorsprung; der hohe Kragen seiner Extrauniform, seine Lackstiefel und die Ketten und Ringe seines Schlittenpferdes geben ein Bild verwirrender Eleganz, dem keiner widerstehen kann. In Haltung und Stil ist er einzigartig, aber in Harmonie ist Albert mindestens ebensogut. Die Richter notieren, als wäre bei Waldmann der Ausscheidungskampf fürs jüngste Gericht. Karl siegt und nimmt die zehn Möweneier, denn die Schnapsmarke kennt er zu genau; er hat sie selbst hierher verkauft. Großmütig schenkt er uns seine Beute; er hat besseres zu Hause. Albert holt den zweiten Preis. Seine sechs Möweneier bringt er mit einem verlegenen Blick nach uns dem blonden Mädchen. Willy stößt einen Pfiff aus. Im Onestep sause ich mit der kleinen Näherin los und komme auch in die Schlußrunde. Zu meinem Erstaunen ist Willy einfach sitzengeblieben und hat sich überhaupt nicht gemeldet. Ich brilliere mit einerbesonderen Variantedes Einknickens und Rückwärts- schassierens, die ich vorher nicht gezeigt habe. Die Kleine tanzt wie eine Flaumfeder, und wir schnappen den zweiten Preis, den wir teilen. Stolz kehre ich mit der silbernen Ehrennadel des Reichsverbandes für Tanzsport an der Brust zu unserem Tisch zurück.

«Willy, du Schafsnase«, sage ich,»warum hast du denn nicht wenigstens einen Versuch gemacht, vielleicht hättest du die bronzene Medaille gekriegt!«

«Ja, tatsächlich«, pflichtet Karl mir bei,»warum hast du das nicht getan?«

Willy steht auf, reckt sich, zieht den Cut zureckt, blickt uns hoheitsvoll an und antwortet nur das eine Wort:»Darum!«

Gerade ruft der Mann mit der Chrysantheme zur Foxtrottkonkurrenz aus. Es melden sich nur wenige Paare. Willy geht nicht, er schreitet zum Parkett.

«Er hat doch keine Ahnung davon«, prustet Karl.

Gespannt hängen wir über unseren Stühlen, um zu sehen, was das gibt. Die Löwenbändigerin kommt Willy entgegen. Er reicht ihr mit großer Gebärde den Arm. Die Musik beginnt.

In diesem Moment verwandelt Willy sich in ein wildgewordenes Kamel. Er springt in die Luft und hinkt, hüpft, kreiselt, er schmeißt die Beine und wirft die Dame hin und her, dann rast er im kurzen Schweinsgalopp durch den Saal, die Zirkusreiterin nicht vor sich, sondern neben sich, so daß sie an seinem ausgestreckten rechten Arm Klimmzüge macht, während er volle Freiheit nach der ändern Seite hat, ohne Sorge, ihr die Füße zu zertrampeln. Gleich darauf imitiert er ein Karussell auf der Stelle, so daß seine Cutschöße waagrecht abstehen, startet im nächsten Moment mit zierlichen Hupfschritten quer übers Parkett wie ein Ziegenbock, der Pfeffer unter dem Schwanz hat, donnert und wirbelt und tost und schließt endlich mit einer unheimlichen Pirouette, bei der er seine Dame hoch durch die Luft schwenkt.

Kein Mensch im Saal zweifelt daran, einen bisher unbekannten Meister des Überfoxtrotts vor sich zu sehen. Willy hat seine Chance erkannt und ausgenützt. Er siegt so überlegen, daß nach ihm eine Zeitlang erst gar nichts kommt und dann der zweite Preis. Triumphierend hält er uns die Buddel Schnaps entgegen. Allerdings hat er so geschwitzt, daß sein Cut abgefärbt hat; das Hemd und die Weste sind schwarz geworden, der Cut dagegen erscheint beinahe heller.

Das Turnier ist beendet, aber der Tanz geht weiter. Wir sitzen am Tisch und trinken Willys Gewinn aus. Nur Albert fehlt — er ist von dem blonden Mädchen nicht wegzuschlagen.

Willy stößt mich an:»Du, da ist Adele.«

«Wo?«frage ich rasch.

Er zeigt mit dem Daumen in das Gewühl auf dem Parkett. Wahrhaftig, da tanzt sie mit einem langen, schwarzen Kerl Walzer.»Ist sie schon lange hier?«erkundige ich mich, denn ich möchte gern, daß sie unsere Triumphe gesehen hätte.

«Vor fünf Minuten gekommen«, antwortet Willy.

«Mit dem langen Lulatsch?«

«Mit dem langen Lulatsch.«

Adele hält den Kopf beim Tanzen ein wenig zurückgebeugt. Eine

Hand hat sie auf die Schulter des schwarzen Kerls gelegt. Wenn ich ihr Gesicht von der Seite sehe, dann stockt mir manchmal der Atem, so ähnlich ist es im verhangenen Lampenlicht des Saales meiner Erinnerung an die Abende vor dem Kriege. Aber von vorn ist es voller, und wenn sie lacht, ist es ganz fremd.

Ich nehme einen großen Schluck aus Willys Flasche. Gerade tanzt die kleine Näherin vorbei. Sie ist schmaler und zierlicher als Adele. Neulich, im Nebel auf der Großen Straße, habe ich es nicht so gesehen: aber Adele ist eine richtige Frau geworden mit vollen Brüsten und kräftigen Beinen. Ich kann mich nicht entsinnen, ob sie früher auch so war; da habe ich wohl nicht darauf geachtet.

«Strammer Feger geworden«, sagt Willy.

«Ach, halt die Schnauze«, erwidere ich ärgerlich.

Der Walzer ist aus. Adele lehnt an der Tür. Ich gehe hin. Sie begrüßt mich. Dabei plaudert und lacht sie mit ihrem schwarzen Kerl weiter. Ich bleibe stehen und blicke sie an. Das Herz schlägt mir wie vor einer großen Entscheidung.

«Was siehst du mich denn so an?«, fragt sie.

«Ach nichts«, sage ich,»wollen wir tanzen?«

«Diesen nicht, den nächsten«, antwortet sie und geht mit ihrem Begleiter zum Parkett.

Ich warte auf sie, und wir tanzen einen Boston miteinander. Ich gebe mir große Mühe, und sie lächelt anerkennend.

«Tanzen hast du im Felde ja gelernt.«

«Da gerade nicht«, sage ich,»aber vorhin haben wir einen Preis bekommen.«

Sie blickt rasch auf.»Schade, das hätten wir zusammen machen können. Was war es denn?«

«Sechs Möweneier und eine Medaille«, erwidere ich, und mir steigt die Wärme in die Stirn. Die Geigen spielen so leise, daß man das Schlurfen der vielen Schritte hört.

«Jetzt tanzen wir zusammen«, sage ich,»weißt du noch, wie wir abends vom Turnverein hintereinander herrannten?«

Sie nickt.»Ja, damals waren wir noch ziemlich kindisch. Sieh mal drüben, das Mädchen mit dem roten Kleid — diese überfallenden Blusen sind jetzt das Modernste. Schick, was?«

Die Geigen geben die Melodie an das Cello ab. Zitternd, wie ein verhaltenes Weinen, beben sie über den goldbraunen Tönen.»Als ich dich zum erstenmal angesprochen habe, sind wir beide weggelaufen«, sage ich,»es war im Juni auf dem Stadtwall, ich weiß es noch wie damals.«

Adele winkt jemand zu. Dann erst wendet sie den Kopf wieder her.»Ja, so was Albernes. Kannst du eigentlich Tango tanzen? Drüben, der Schwarze ist ein fabelhafter Tangotänzer.«

Ich antworte nicht. Die Musik schweigt.»Willst du etwa an unsern Tisch kommen?«frage ich.

Sie sieht hin.»Wer ist der Schlanke da mit den Lackschuhen?«»Karl Bröger«, erwidere ich. Sie setzt sich zu uns. Willy bietet ihr ein Glas an und macht einen Witz. Sie lacht und schaut zu Karl hinüber. Ab und zu streift sie auch mit einem Blick Karls Schlittenpferd — es ist das Mädchen mit dem modernen Kleid. Ich betrachte sie erstaunt, so hat sie sich verändert. Hat mich die Erinnerung denn auch hier getäuscht? Ist sie gewuchert und gewuchert, bis sie die Wirklichkeit zugewachsen hat? Das ist ja ein fremdes, etwas lautes Mädchen hier am Tisch, das viel zuviel redet. Muß nicht darunter noch jemand anders verborgen sein, den ich besser kenne? Kann sich etwas denn so verschieben, nur weil man älter wird? Vielleicht sind es die Jahre, denke ich, es ist ja über drei Jahre her, damals war sie sechzehn und ein Kind, jetzt ist sie neunzehn und erwachsen. — Und plötzlich überfällt mich die namenlose Schwermut der Zeit — das rinnt und rinnt und verändert sich, und wenn man zurückkehrt, findet man nichts wieder. Ach, Abschiednehmen ist schwer — aber Wiederkommen ist manchmal wohl noch schwerer.

«Was machst du für ein komisches Gesicht, Ernst?«fragt Willy,»hast du Kohldampf?«

«Er ist langweilig«, sagt Adele lachend,»das war er früher auch schon immer. Sei doch mal ein bißchen flott! Das haben die Mädels lieber, als so dasitzen wie ein Trauerkloß!«

Vorbei, denke ich, auch wieder vorbei. Nicht, weil sie mit dem schwarzen Kerl und mit Karl Bröger poussiert, nicht weil sie mich langweilig findet, nicht weil sie anders geworden ist — nein, ich sehe jetzt, daß alles keinen Zweck hat. Ich bin herumgelaufen und herumgelaufen, ich habe an alle Türen meiner Jugend geklopft und wollte wieder hinein, ich dachte, daß sie mich wieder aufnehmen müßte, weil ich doch noch jung bin, und es mir so sehr gewünscht hatte, zu vergessen — aber sie huschte vor mir davon wie eine Fata Morgana, sie zerbrach lautlos, sie zerfiel wie Zunder, wenn ich sie anrührte, ich konnte es nicht begreifen, wenigstens hier mußte doch etwas geblieben sein, ich versuchte es immer wieder und wurde lächerlich und traurig darüber — doch jetzt erkenne ich, daß ein stiller, schweigender Krieg auch in dieser Landschaft der Erinnerung gewütet hat, und daß es sinnlos von mir wäre, weiter zu suchen. Die Zeit steht dazwischen wie eine breite Kluft, ich kann nicht zurück, es gibt nichts anderes mehr, ich muß vorwärts, marschieren, irgendwohin, denn ich habe noch kein Ziel.

Ich halte mein Schnapsglas umklammert und blicke auf. Da sitzt Adele und fragt Karl immer noch aus, wo man seidene Strümpfe als Schmuggelware kaufen kann — da wird getanzt wie vorher, und die Musik spielt immer noch denselben Walzer aus dem Dreimäderl- haus — und da sitze ich selbst immer noch genau so auf dem Stuhl und atme und lebe wie vorher — ist denn nicht ein Blitz niedergegangen und hat mich weggerissen, ist nicht plötzlich eine Landschaft um mich herum versunken, bin ich nicht übriggeblieben und habe soeben erst wirklich alles verloren?

Adele steht auf und verabschiedet sich von Karl.»Bei Meyer und Nickel also«, sagt sie vergnügt,»stimmt, die handeln ja mit allerlei hintenherum. Morgen gehe ich mal hin. Wiedersehen, Ernst!«

«Ich begleite dich ein Stück«, sage ich.

Draußen gibt sie mir die Hand.»Weiter kannst du nicht mitgehen, ich werde hier erwartet.«

Ich finde mich töricht und sentimental, aber ich kann mir nicht helfen: Ich nehme die Mütze ab und grüße sie tief, als nähme ich einen großen Abschied — nicht von ihr — von allem Früheren. Sie sieht mich eine Sekunde prüfend an.»Manchmal bist du wirklich komisch. «Singend läuft sie den Weg hinunter.

Die Wolken haben sich verzogen, und die Nacht steht klar über der Stadt. Ich sehe lange hinüber. Dann gehe ich zurück.

IV

Im großen Saal von Konersmann ist die erste Regimentszusammenkunft, seit wir aus dem Krieg zurück sind. Alle Kameraden sind eingeladen. Es soll eine große Feier geben. Karl, Albert, Jupp und ich sind eine Stunde zu früh da. Wir können es kaum erwarten, die alten Gesichter wiederzusehen.

Einstweilen hocken wir im Gastzimmer neben dem großen Saal und warten auf Willy und die anderen.

Gerade wollen wir eine Runde Steinhäger ausknobeln, da geht die Tür auf und Ferdinand Kosole tritt ein. Uns fallen die Würfel aus der Hand, so verblüfft sind wir über seinen Anblick. Er ist in Zivil.

Bislang hat er, wie wir fast alle, immer noch seine alte Uniform weitergetragen; heute aber, zur Feier des Tages, ist er zum erstenmal in Zivil erschienen und steht jetzt da in einem blauen Überzieher mit Samtkragen, einen grünen Hut auf dem Schädel und einen Stehkragen mit Schlips um den Hals. Er ist ein ganz anderer Mensch damit geworden.

Wir haben uns von unserem Staunen noch nicht erholt, da erscheint Tjaden. Auch er zum ersten Male in Zivil — in einem gestreiften Jackett, mit gelben Halbschuhen und einem Spazierstock mit versilberter Krücke. Mit hocherhobenem Kopf stolziert er durch den Raum. Als er auf Kosole stößt, stutzt er. Kosole stutzt ebenfalls. Beide haben sich nie anders als in Uniform gesehen. Sie mustern sich noch eine Sekunde. Dann brüllen sie vor Lachen: Jeder findet den ändern blödsinnig komisch in Zivil.

«Mensch, Ferdinand, ich habe immer gedacht, du wärst ein feiner Mann«, grinst Tjaden.

«Wieso?«fragt der und hört auf zu lachen.

«Na, hier«, Tjaden zeigt auf Kosoles Überzieher,»das sieht man ja, der ist doch beim Lumpensammler gekauft.«

«Ochse«, knurrt Ferdinand wütend und wendet sich ab — aber ich sehe, wie er langsam errötet. Ich traue meinen Augen nicht; er wird tatsächlich verlegen, und als er sich unbeobachtet glaubt, betrachtet er verstohlen den verspotteten Mantel. Bei seiner Uniform hätte er sich nie darum gekümmert — doch jetzt putzt er wahrhaftig mit dem abgeschabten Ärmel ein paar Flecken weg und sieht dann lange zu Karl Bröger hinüber, der einen erstklassigen neuen Anzug trägt. Er weiß nicht, daß ich ihn beobachtet habe. Nach einer Weile fragt er mich:»Was ist eigentlich Karls Vater?«

«Amtsrichter«, antworte ich.

«So, Amtsrichter«, wiederholt er nachdenklich.»Und Ludwig seiner?«

«Steuersekretär.«

Er schweigt eine Zeitlang. Dann sagt er:»Na, da werdet ihr ja wohl bald mit uns nichts mehr zu tun haben wollen. —«

«Du bist verrückt, Ferdinand«, entgegne ich. Er zuckt zweifelnd die Achseln. Ich wundere mich immer mehr. Er sieht nicht nur verändert aus mit diesen verdammten Zivilbrocken, sondern er hat sich auch wirklich verändert. Bisher scherte er sich einen Dreck um so was; jetzt aber zieht er sogar den Mantel aus und hängt ihn in die dunkelste Ecke des Lokals.

«Zu heiß hier«, sagt er ärgerlich, als er sieht, daß ich ihn beobachte.

Ich nicke. Nach einer Weile fragt er verdrossen:

«Und dein Vater?«

«Buchbinder«, erwidere ich.

«Tatsächlich?«Er belebt sich.»Und Albert seiner?«

«Der ist tot. Er war Schlosser.«

«Schlosser«, wiederholt er erfreut, als wäre das soviel wie Papst.»Schlosser, das ist ja großartig. Ich bin Dreher. Da wären wir ja direkt Kollegen gewesen.«

«Das wärt ihr«, sage ich.

Ich sehe, wie das Blut des Militär-Kosole in den Zivil-Kosole zurückströmt. Er kriegt wieder Farbe und Kraft.

«Wäre sonst auch schade gewesen«, versichert er mir eindringlich, und als Tjaden gerade vorüberkommt und eine neue Grimasse zieht, gibt er ihm wortlos einen wunderbar gezielten Tritt, ohne dabei aufzustehen. Er ist wieder der alte.

Die Tür zum großen Saal beginnt zu klappen. Die ersten Kameraden kommen. Wir gehen hinein. Der leere Raum mit den Papiergirlanden und den unbesetzten Tischen macht noch einen unbehaglichen Eindruck. In den Ecken stehen einige Gruppen herum. Ich entdecke Julius Weddekamp in seiner verschossenen Militärjoppe und stoße rasch ein paar Stühle beiseite, um ihn zu begrüßen.

«Wie geht's, Julius?«frage ich,»weißt du auch noch, daß du mir ein Mahagonikreuz schuldig bist? Du wolltest es mir aus einem Klavierdeckel tischlern damals? Leg's gut zurück, alter Schwede.«

«Ich hätte es selbst schon brauchen können, Ernst«, antwortet er trübe,»meine Frau ist gestorben.«

«Verdammt, Julius«, sage ich,»was hat sie denn gehabt?«

Er zuckt die Achseln.»Hat sich wohl kaputtgemacht mit dem ewigen Schlangestehen vor den Geschäften im Winter. Dann kam ein Kind, das konnte sie nicht mehr aushalten.«

«Und das Kind?«frage ich.

«Auch gestorben. «Er zieht seine schiefe Schulter hoch, als fröre er.»Ja, Ernst, Scheffler ist auch tot, das weißt du ja, nicht?«

Ich schüttle den Kopf.»Wie ist denn das gekommen?«

Weddekamp steckt seine Pfeife an.»Er hatte doch siebzehn den Kopfschuß, nicht? War alles tadellos geheilt, damals. Vor sechs Wochen kriegt er auf einmal so blödsinnige Schmerzen, daß er immer mit dem Schädel gegen die Wand rennen will. Wir mußten ihn mit vier Mann zum Krankenhaus bringen. Entzündung oder so was. Am nächsten Tage war's schon aus. «Er nimmt ein zweites Streichholz.

«Ja, und seiner Frau wollen sie jetzt noch nicht mal eine Rente geben.«

«Und Gerhard Pohl?«frage ich weiter.

«Der kann nicht kommen, Faßbender und Fritsch auch nicht. Arbeitslos. Nicht mal Geld zum Fressen. Wären gerne mitgefahren, die alten Knaben.«

Der Saal hat sich inzwischen zur Hälfte gefüllt. Wir treffen noch viele von unsern Kompaniekameraden, doch ist es sonderbar: die richtige Stimmung will trotzdem nicht aufkommen. Dabei haben wir uns seit Wochen auf dieses Zusammentreffen gefreut und gehofft, es würde eine Befreiung von mancherlei Druck, Unsicherheit und Mißverständnissen werden. Mag sein, daß es das Zivilzeug ist, das überall zwischen die Militärbrocken gesprenkelt ist — mag sein, daß Berufe, Familie, soziale Stellungen sich wie Holzkeile hineingeschoben haben: die richtige alte Kameradschaft von früher ist es nicht mehr.

Alles ist vertauscht. Da ist Bosse, der Kompanieschussel, der stets verulkt wurde, weil er sich immer so dämlich anstellte; er war draußen schmierig und verludert, und mehr als einmal haben wir ihn unter die Pumpe gekriegt. Jetzt sitzt er zwischen uns in einem pikfeinen Kammgarnanzug, eine Perle im Schlips und Gamaschen an den Füßen, ein wohlhabender Mann, der das große Wort führt. Und Adolf Bethke neben ihm, der im Felde so turmhoch über ihm stand, daß Bosse froh war, wenn er ihn überhaupt anredete, ist plötzlich nur noch ein armer, kleiner Schuster mit etwas Landwirtschaft. Ludwig Breyer trägt seinen zu knappen, verschabten Schulanzug mit einer schief um den Hals gezerrten Jungenstrickkrawatte statt der Leutnantsuniform; sein ehemaliger Bursche aber klopft ihm behäbig auf die Schulter und ist wieder ein Großinstallateur mit Wasserspülung und flotter Lage an der Hauptgeschäftsstraße. Valentin hat unter der abgerissenen, offenen Uniform einen alten blauweißen Sweater an und sieht aus wie ein Vagabund, aber was war er für ein Soldat — und Ledderhose, dieser krumme Hund, sitzt mit glänzender Dohle und kanariengelbem Gummimantel großspurig dabei und raucht englische Zigaretten. Alles ist durcheinandergeschmissen. Aber das ginge ja noch. Doch auch der Ton ist anders geworden, und das kommt ebenfalls von den Anzügen. Leute, die früher nicht Papp sagen konnten, reden jetzt dicke Töne. Die mit den guten Anzügen haben etwas Gönnerhaftes an sich und die mit den schlechten sind meistens still. Ein Oberlehrer, der Unteroffizier war und ein schlech

ter dazu, erkundigt sich überlegen nach Karls und Ludwigs Examen. Ludwig sollte ihm dafür sein Bier in den Kragen schütten. Gott sei Dank antwortet Karl ihm äußerst abfällig über Bildung, Examen und so was und preist dafür Geschäft und Handel.

Ich werde ganz krank bei dem Geschwätz hier. Lieber hätten wir uns nie wiedertreffen sollen, dann hätten wir wenigstens die Erinnerung gehabt. Vergeblich versuche ich mir vorzustellen, daß alle diese Leute wieder schmutzige Uniformen trügen und daß diese Konersmannsche Kneipe eine Kantine im Ruhequartier wäre. Es gelingt mir nicht mehr. Die Dinge hier sind kräftiger. Das Fremde ist stärker. Das Gemeinsame ist nicht mehr beherrschend. Es ist schon zerfallen in Einzelinteressen. Wohl scheint manchmal noch etwas aus der Zeit von früher hindurch, als wir alle dasselbe Zeug trugen, aber es ist bereits undeutlich und verwaschen geworden. Es sind noch unsere Kameraden, und sie sind es doch nicht mehr, das macht gerade so traurig. Alles andere ist kaputtgegangen im Kriege, aber an die Kameradschaft hatten wir geglaubt. Und jetzt sehen wir: Was der Tod nicht fertiggebracht hat, das gelingt dem Leben: es trennt uns.

Aber wir wollen es nicht glauben. Wir hocken uns an einen Tisch, Ludwig, Albert, Karl, Adolf, Willy, Valentin. Es herrscht eine gedrückte Stimmung.

«Wenigstens wir wollen Zusammenhalten«, sagt Albert mit einem Blick in den großen Saal. Wir stimmen zu und geben uns die Hände, während drüben schon das Zusammenrücken der guten Anzüge beginnt. Diese Neuordnung machen wir nicht mit. Wir wollen ausgehen von dem, was die ändern beiseite schieben.»Schlag ein, Adolf, du auch«, sage ich zu Bethke. Er lächelt seit langer Zeit wieder und legt seine Pranke auf unsere Hände.

Wir sitzen noch eine Weile zusammen. Adolf Bethke ist bald fortgegangen. Er sah schlecht aus. Ich nehme mir vor, ihn in diesen Tagen zu besuchen.

Ein Kellner erscheint und flüstert mit Tjaden. Der winkt ab.»Damen haben hier nichts zu suchen.«Überrascht sehen wir auf, Tjaden lächelt geschmeichelt. Der Kellner kommt zurück. Hinter ihm her geht mit raschen Schritten ein strammes Mädchen. Tjaden ist verblüfft. Wir grinsen. Aber Tjaden weiß sich zu helfen. Er macht eine große Bewegung.»Meine Braut.«

Damit ist für ihn die Sache erledigt. Willy übernimmt die weitere Vorstellung. Er beginnt mit Ludwig und endet mit sich. Dann fordert er das Mädchen auf, Platz zu nehmen. Sie tut es. Willy setzt sich neben sie und legt den Arm auf ihre Stuhllehne.»Ihr Vater hat doch die bekannte Pferdeschlächterei am Neuen Graben?«leitet er die Konversation ein.

Das Mädchen nickt. Willy rückt näher. Tjaden kümmert sich nicht im mindesten darum. Behaglich trinkt er sein Bier. Das Mädchen taut bei Willys geistvoller und eindringlicher Unterhaltung bald auf.

«Ich wollte doch so gern mal die Herren kennenlernen«, erzählt sie,»Schatzi hat so oft von Ihnen gesprochen, aber immer, wenn ich sagte, er solle Sie mal mitbringen, hat er nicht gewollt.«

«Was?«Willy vernichtet Tjaden mit Blicken,»mitbringen? Aber wir kommen doch furchtbar gerne, wirklich außergewöhnlich gerne. Nicht ein Wort hat der Lump uns davon gesagt.«

Tjaden ist etwas unruhig geworden. Jetzt beugt Kosole sich vor.»So, er hat oft von uns gesprochen, der Schatzi? Was hat er denn eigentlich erzählt?«

«Wir müssen los, Mariechen«, wirft Tjaden ein und erhebt sich. Kosole drückt ihn auf seinen Stuhl herunter.»Bleib sitzen, Schatzi. Was hat er denn erzählt, Fräulein?«

Mariechen ist völlig zutraulich. Sie sieht Willy kokett an.»Sind Sie Herr Homeyer?«Willy macht eine Verbeugung vor der Schlächterei.»Dann hat er Sie doch gerettet«, plaudert sie, indes Tjaden auf seinem Stuhl hin und her rutscht, als säße er in einem Ameisenhaufen.»Wissen Sie das denn nicht mehr?«

Willy faßt sich an den Kopf.»Ich war später verschüttet, das geht furchtbar aufs Gedächtnis. Da ist mir leider vieles entfallen.«»Gerettet?«fragt Kosole atemlos.

«Mariechen, ich gehe, kommst du mit oder nicht?«erklärt Tjaden. Kosole hält ihn fest.

«Er ist so bescheiden«, kichert Mariechen und strahlt,»dabei hat er doch drei Neger, die Herrn Homeyer mit ihren Beilen abschlachten wollten, getötet. Den einen mit der Faust…«

«Mit der Faust«, wiederholt Kosole dumpf.

«Die ändern mit ihren eigenen Beilen. Und dann hat er Sie noch zurückgetragen. «Mariechen sieht Willys hundertneunzig Zentimeter an und nickt ihrem Verlobten energisch zu.»Es kann ruhig mal gesagt werden, Schatzi, was du geleistet hast.«

«Wahrhaftig«, stimmt Kosole ein,»es kann mal gesagt werden. «Willy schaut einen Augenblick versonnen in Mariechens Augen.»Ja, er ist ein herrlicher Mensch«, gibt er zurück. Dann nickt er zu Tjaden hinüber.»Komm doch mal einen Moment mit raus. «Tjaden erhebt sich zögernd. Aber Willy hat nichts Böses im Sinne. Arm in Arm erscheinen die beiden nach einigen Minuten wieder. Willy beugt sich zu Mariechen herunter:»Also abgemacht, ich komme morgen abend zu Besuch. Ich muß mich doch bedanken für die Rettung von den Negern. Aber ich habe Ihren Bräutigam auch einmal gerettet.«

«So?«macht Mariechen erstaunt.

«Er wird es Ihnen vielleicht später mal erzählen«, grinst Willy. Erleichtert schwimmt Tjaden mit seiner Braut ab.

«Sie schlachten nämlich morgen«, sagt Willy zu uns. Aber niemand hört zu. Wir haben zu lange an uns halten müssen und wiehern jetzt wie ein hungriger Pferdestall. Kosole erbricht sich beinahe, so schüttelt es ihn. Erst nach einer Weile kann Willy mitteilen, welch vorteilhafte Bedingungen er mit Tjaden über die Lieferung von Pferdewurst abgeschlossen hat.»Der Junge ist in meiner Hand«, schmunzelt er.

V

Ich habe nachmittags zu Hause gesessen und versucht, irgend etwas zu tun. Aber es ist nichts geworden, und seit einer Stunde schon streife ich ziellos durch die Straßen. Dabei komme ich an der Holländischen Diele vorbei. Das ist die dritte Likörstube, die im Laufe von drei Wochen eröffnet worden ist. Überall schießen diese Dinger mit ihren bunten Schildern wie Fliegenpilze zwischen den Häuserfronten heraus. Die Holländische Diele ist die größte und feinste.

Vor der erleuchteten Glastür steht ein Portier, der halb wie ein Husarenoberst und halb wie ein Bischof aussieht, ein mächtiger Kerl mit einem goldbeschlagenen Stab in der Hand. Ich fasse ihn schärfer ins Auge — da verläßt ihn auch schon alle Würde, er stößt mir seinen Knüppel gegen den Magen und schmunzelt:»Salü, Ernst, alte Vogelscheuche! Kommang ßawa, wie der Franzose sagt.«

Er ist der Unteroffizier Anton Demuth, ein früherer Küchenbulle von uns. Ich mache ihm eine stramme Ehrenbezeigung, denn beim Kommiß wurde uns eingebleut, Ehrenbezeigungen gälten der Uniform und nicht dem Träger. Diese Phantasieuniform hier aber ist große Klasse und mindestens ein Frontmachen wert.

«Mahlzeit, Anton«, lache ich,»sag mal, um gleich von was Vernünftigem zu reden: hast du was zu fressen?«

«Pupille«, antwortet er zustimmend,»Elstermanns Franz ist nämlich auch hier in diesem Saftladen. Als Koch!«

«Wann kann ich vorbeikommen?«frage ich, denn diese Tatsache genügt, um Bescheid zu wissen. Elstermann und Demuth waren die größten Requirierer von ganz Frankreich.

«Nach ein Uhr heute abend«, zwinkert Anton,»wir haben von einem Provianiamtsinspektor ein Dutzend Gänse rübergeschoben gekriegt, Schleichware. Da kannst du sicher sein, daß Elstermanns Franz vorher ein paar amputiert! Wer will behaupten, daß es bei Gänsen keinen Krieg gibt, in dem sie ihre Beine verlieren können?«»Keiner«, sage ich und frage:»Betrieb hier?«

«Jeden Abend bombenvoll. Mal reinsehen?«

Er schiebt die Portiere etwas zur Seite. Ich schiele durch einen Spalt in den Raum. Weiches, warmes Licht liegt über den Tischen, bläulicher Zigarettenrauch zieht in Streifen hindurch, Teppiche schimmern, Porzellan glänzt, und Silber leuchtet. An den Tischen sitzen Frauen, von Kellnern umgeben, und bei ihnen Männer, die nicht im geringsten schwitzen oder verlegen sind. Mit wunderbarer Selbstverständlichkeit geben sie ihre Anweisungen.»Na, Mensch, mal mit so einer richtig auf die Rutschbahn, was?«meint Anton und knufft mich in die Rippen.

Ich antworte nicht, denn dieser farbige, wolkige Ausschnitt Leben erregt mich merkwürdig. Es ist etwas Unwirkliches darin, fast als träumte ich nur, hier auf der dunklen Straße im nassen Schneebrei zu stehen und dieses Bild durch den Türspalt zu sehen. Ich bin gebannt davon, ohne zu vergessen, daß da vermutlich nur eine Anzahl Schieber ihr Geld ausgibt — aber wir haben zu lange in dreckigen Erdlöchern gelegen, als daß nicht manchmal eine heftige und ganz irrsinnige Gier nach Luxus und Eleganz in uns aufspränge — denn Luxus ist Behütet- und Gepflegtsein —, und gerade das kennen wir ja überhaupt nicht.

«Na, Mann, wie ist das?«fragt Anton mich noch einmal,»ganz mollige Bettmiezen, was?«

Ich komme mir albern vor, aber ich kann im Moment nicht richtig antworten. Dieser ganze Ton, den ich nun schon jahrelang gedankenlos mitmache, erscheint mir mit einmal roh und widerlich. Zum Glück erstarrt Anton gerade in Haltung und Würde, weil ein Auto vorfährt. Ein schlankes Geschöpf steigt aus und geht durch die Tür, ein wenig vorgebeugt, den Pelz mit einer Hand auf der Brust gerafft, das Haar glänzend unter einem eng anliegenden goldenen Helm, die Knie dicht beieinander, mit schmalen Füßen und schmalem Gesicht. Mit leicht nachgebenden Gelenken schreitet es an mir vorüber, in einem matten, bitteren Duft — und plötzlich erfaßt mich ein rasender Wunsch, mit diesem Frauenkind durch die Drehtür zu den Tischen gehen zu können in die wohlige, behütete Atmosphäre der Farben und des Lichtes, sorglos schlendernd durch ein von Kellnern, Dienern und der Isolierschicht des Geldes eingefaßtes, mildes Dasein, ohne die Not und den Dreck, die seit Jahren unser tägliches Brot sind. Ich muß wohl sehr schuljungenhaft aussehen, denn Anton Demuth läßt ein Gelächter aus seinem Bart kollern und pufft mich mit schiefem Blick in die Seite.»Wenn sie auch in Samt und Seide gehen — im Bett ist das alles dasselbe.«

«Natürlich«, sage ich und setze einen schweinischen Witz darauf, damit er mir ja nicht anmerkt, was los ist.»Also bis eins, Anton!«»Pupille«, antwortet er würdig,»oder Bonßoahr, wie der Franzose sagt.«

Ich gehe weiter, die Hände tief in den Taschen. Der Schnee quatscht unter meinen Schuhen. Unwillig stoße ich ihn weg. Was könnte ich denn schon machen, wenn ich wirklich mit einer solchen Frau am Tisch säße? Ich könnte sie nur anstarren, weiter nichts. Noch nicht einmal essen könnte ich, ohne in Verlegenheit zu kommen. Wie schwierig muß das sein, denke ich, mit einem solchen Wesen den ganzen Tag zusammen zu sein. Immer aufpassen, immer aufpassen. Und erst des Nachts — da wüßte ich überhaupt nichts. Ich habe wohl schon was mit Frauen gehabt, aber das habe ich von Jupp und Valentin gelernt, und bei solchen Damen ist das sicher nicht richtig. —

Im Juni 1917 bin ich zum ersten Male bei einer Frau gewesen. Unsere Kompanie lag damals in Barackenquartieren, es war Mittag, und wir balgten uns auf der Wiese mit zwei jungen Hunden herum, die uns zugelaufen waren. Mit fliegenden Ohren und glänzendem Fell tobten die Tiere durch das hohe, sommerliche Gras, der Himmel war blau und der Krieg weit fort.

Da kam Jupp von der Schreibstube hergelaufen. Die Hunde rannten ihm entgegen und sprangen an ihm hoch. Er schüttelte sie ab und rief:»Befehl gekommen, heute abend müssen wir los!«Wir wußten, was das bedeutete. Seit Tagen grollte das Trommelfeuer der großen Offensive am westlichen Horizont, seit Tagen sahen wir abgekämpfte Regimenter zurückkehren, und wenn wir jemand davon fragten, antwortete er nur mit einer Handbewegung und blickte weiter starr geradeaus, seit Tagen rollten Wagen mit Verwundeten vor

über, seit Tagen schanzten wir Morgen für Morgen lange Reihengräber —.

Wir standen auf. Bethke und Weßling gingen zu ihren Tornistern, um Briefpapier herauszusuchen, Willy und Tjaden wanderten zur Gulaschkanone, und Franz Wagner und Jupp redeten mir zu, mit ihnen zum Puff zu gehen.

«Mensch, Ernst«, sagte Wagner,»du mußt doch auch mal eine Ahnung davon kriegen, was ein Weib ist! Wer weiß, ob wir nicht morgen alle schon hops sind, die sollen da ja einen Haufen neue Artillerie haben. Das wäre doch zu blödsinnig, wenn du als keusche Jungfrau in die Binsen hautest.«

Das Feldbordell lag in einer kleinen Stadt, ungefähr eine Stunde weit weg. Wir bekamen einen Ausweis und mußten ziemlich lange warten; denn es gingen noch andere Regimenter nach vorn, und da wollten viele noch schnell vom Leben mitnehmen, was sie konnten. In einer kleinen Stube mußten wir unsern Ausweis abgeben. Ein Sanitätsgefreiter untersuchte uns, ob wir gesund wären, dann bekamen wir einige Tropfen Protargol eingespritzt, und ein Feldwebel erklärte uns, es koste drei Mark und dürfe wegen des Andranges nicht länger als zehn Minuten dauern. Darauf stellten wir uns auf der Treppe an.

Die Reihe rückte langsam vorwärts. Oben klappten die Türen. Jedesmal kam einer heraus, und dann hieß es: der nächste.

«Wieviel Kühe sind da?«fragte Franz Wagner einen Pionier.»Drei«, erwiderte der,»aber aussuchen darfst du nicht. Es ist eine Lotterie — wenn du Schwein hast, schnappst du 'ne Großmutter.«

Mir wurde fast schlecht in dem muffigen Treppenaufgang, in dem die Hitze und der Dunst der ausgehungerten Soldaten brodelte. Ich hätte mich gerne gedrückt, denn mir war alle Neugier vergangen. Aber ich fürchtete mich davor, daß die anderen mich auslachen würden, deshalb wartete ich weiter.

Schließlich kam ich an die Reihe. Mein Vorgänger stolperte an mir vorbei, und ich trat in das Zimmer. Es war niedrig und dunkel und roch so sehr nach Karbol und Schweiß, daß es mir sonderbar erschien, vor dem Fenster die Äste einer Linde zu sehen, in deren frischem Laub Wind und Sonne wirbelten: so verbraucht war alles in dem Raum. Eine Schüssel mit rosa Wasser stand auf einem Stuhl, und in der Ecke war eine Art Feldbett, auf dem eine zerschlissene Decke lag. Die Frau war dick und trug ein durchsichtiges, kurzes Hemd. Sie sah mich gar nicht an, sondern legte sich gleich hin. Erst als ich nicht kam, blickte sie ungeduldig auf; dann erschien ein Zug des Verstehens auf ihrem schwammigen Gesicht. Sie sah, daß ich noch ganz jung war. Ich konnte einfach nicht, ein Schauder ergriff mich und ein würgender Ekel. Die Frau machte ein paar Gesten, um mich aufzurütteln, plumpe, widerliche Gesten, sie wollte mich heranziehen und lächelte sogar dabei, süßlich und geziert, man hätte Mitleid mit ihr haben können, denn sie war ja schließlich nur eine armselige Armeematratze, die jeden Tag zwanzig, dreißig Kerle und mehr aushalten mußte — aber ich legte ihr das Geld hin und ging rasch wieder fort, die Treppe hinunter.

Jupp zwinkerte mir zu.»Wie war's?«

«Sache«, antwortete ich wie ein alter Fachmann, und wir wollten fortgehen. Aber wir mußten erst wieder bei dem Sanitätsgefreiten vorbei und bekamen eine neue Protargoleinspritzung.

Das ist nun die Liebe, dachte ich verzweifelt und matt, als wir unsere Sachen packten, das ist nun die Liebe, von der alle meine Bücher zu Hause voll waren, und von der ich so vieles erwartet hatte in den unbestimmten Träumen meiner Jugend! Ich rollte meinen Mantel und packte meine Zeltbahn, ich empfing Munition, und dann marschierten wir, ich war schweigend und traurig und dachte daran, daß nun von all den hochfliegenden Träumen vom Leben und von der Liebe nichts übriggeblieben war als ein Gewehr und eine fette Dirne und das dumpfe Grollen am Horizont, in das wir langsam hineinmarschierten. Es wurde finster darüber, die Gräben kamen und der Tod, Franz Wagner fiel in dieser Nacht, und wir verloren außerdem noch dreiundzwanzig Mann.

Von den Bäumen sprüht der Regen, und ich schlage den Kragen hoch. Oft habe ich jetzt Sehnsucht nach Zärtlichkeit, nach scheuen Worten, nach schwingenden, weiten Gefühlen; ich möchte heraus aus der entsetzlichen Eindeutigkeit der letzten Jahre. Aber wie würde es werden, wenn es wirklich gelänge — wenn es wieder zusammenkäme, das Weiche und Weite von früher, wenn wirklich jemand gut zu mir sein wollte, eine schmale, zarte Frau, wie die mit dem Goldhelm und den weichen Gelenken — wie würde es werden, selbst wenn wirklich der Rausch eines blauen und silbernen Abends unendlich und selbstvergessen über uns herniederdämmerte —? Würde nicht das fette Bild der Dirne sich im letzten Augenblick dazwischenschieben, würden nicht die Stimmen meiner Kasernenhofunteroffiziere plötzlich ihre Schweinereien dazwischen wiehern, würden nicht Erinnerungen, Gesprächsfetzen, Kommißdeutlichkeiten jedes reine Gefühl zerfetzen und durchlöchern? Wir sind noch fast keusch, aber unsere Phantasie ist zersetzt worden, ohne daß wir es gemerkt haben, und bevor wir noch von der Liebe etwas wußten, wurden wir schon reihenweise öffentlich auf Geschlechtskrankheiten untersucht. Das Atemlose, Ungestüme, der Wind, das Dunkle, die Frage — alles was da war, wenn wir als Sechzehnjährige hinter Adele und den ändern Mädchen im flackernden Laternenwind herliefen —, es ist später nie mehr wiedergekommen, auch wenn ich nicht bei einer Dirne war und glaubte, es sei anders, und die Frau sich festkrallte und die Gier mich schüttelte. Nachher war ich immer traurig.

Unwillkürlich marschiere ich schneller und atme heftig. Ich will es wiederhaben — ich muß es wiederhaben. Es soll wiederkommen, sonst hat es keinen Zweck, zu leben! —

Ich schlage den Weg zu Ludwig Breyers Wohnung ein. In seinem Zimmer ist noch Licht. Ich werfe Steine ans Fenster. Ludwig kommt herunter und öffnet mir die Tür.

Oben im Zimmer steht Georg Rahe vor den Kästen von Ludwigs Steinsammlung. Er hat einen großen Bergkristall in der Hand und läßt ihn funkeln.

«Gut, daß ich dich noch treffe, Ernst«, lächelt er,»ich war schon bei dir zu Hause. Morgen fahre ich ab.«

Er ist in Uniform.»Georg«, sage ich stockend,»du willst doch nicht…«

«Doch!«Er nickt.»Wieder Soldat werden. Stimmt. Alles schon erledigt. Morgen geht's los.«

«Verstehst du das?«frage ich Ludwig.

«Ja«, antwortet er,»ich verstehe es. Aber es nützt ihm nichts. «Er wendet sich zu Rahe.»Du bist enttäuscht, Georg, aber überlege dir, daß das natürlich ist. Im Felde waren unsere Nerven immer angespannt bis zum äußersten, denn es ging stets um Tod und Leben. Jetzt flattern sie umher wie Segel in einer Windstille; denn hier geht es um kleine Fortschritte.«

«Richtig«, fällt Rahe ein,»um dieses kleinliche Gewürge von Futter, Streberei und ein paar hineingeflickten Idealen, das kotzt mich ja gerade an, und deshalb will ich fort.«

«Wenn du absolut was unternehmen willst, kannst du ja bei der Revolution mitmachen«, sage ich,»vielleicht wirst du da noch Kriegsminister.«

«Ach, diese Revolution«, antwortet Georg wegwerfend,»die ist mit den Händen an der Hosennaht gemacht, von Parteisekretären, die vor ihrer eigenen Courage schon wieder Angst gekriegt haben. Sieh dir an, wie sie sich bereits gegenseitig in den Haaren liegen, Sozialdemokraten, Unabhängige, Spartakisten, Kommunisten. Inzwischen knallen die anderen ihnen in aller Gemütsruhe die paar wirklichen Köpfe ab, die sie haben, und sie merken es nicht mal.«

«Nein, Georg«, sagt Ludwig,»so ist es nicht. Wir haben mit zu wenig Haß Revolution gemacht, das ist wahr, und wir wollten gleich von Anfang an gerecht sein, dadurch ist alles lahm geworden. Eine Revolution muß losrasen wie ein Waldbrand, dann kann man später zu säen beginnen; aber wir wollten nichts zerstören und doch erneuern. Wir hatten nicht einmal mehr die Kraft zum Haß, so müde und ausgebrannt waren wir vom Kriege. Man kann selbst im Trommelfeuer vor Ermüdung einschlafen, das weißt du ja auch. — Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät, um durch Arbeit zu erreichen, was im Angriff versäumt worden ist.«

«Arbeit«, antwortet Georg wegwerfend und läßt den Bergkristall unter der Lampe funkeln,»wir können kämpfen, aber nicht arbeiten.«

«Wir müssen es wieder lernen«, sagt Ludwig ruhig aus der Ecke seines Sofas heraus.

«Dazu sind wir verdorben«, entgegnet Georg.

Einen Augenblick ist es still. Der Wind summt vor den Fenstern. Rahe geht mit großen Schritten in Ludwigs kleinem Zimmer umher, und es sieht aus, als passe er wirklich nicht mehr zwischen diese Wände der Bücher, der Stille und der Arbeit — als gehöre sein scharfes, klares Gesicht über der grauen Uniform nur noch in Gräben, Kampf und Krieg. Er stemmt die Arme auf den Tisch und beugt sich zu Ludwig herunter. Das Lampenlicht fällt auf seine Achselstücke, und hinter ihm glitzern die Quarze der Steinsammlung.

«Ludwig«, sagt er behutsam,»was tun wir denn hier? Sieh dich um: wie schlapp und trostlos ist das alles! Wir sind uns selbst und anderen zur Last. Unsere Ideale sind bankrott, unsere Träume kaputt, und wir laufen in dieser Welt von braven Zweckmenschen und Schiebern umher wie Don Quichotes, die in ein fremdes Land verschlagen worden sind.«

Ludwig sieht ihn lange an.»Ich glaube, wir sind krank, Georg. Wir haben den Krieg noch in den Knochen.«

Rahe nickt.»Wir werden ihn auch nie mehr los.«

«Doch«, erwidert Ludwig,»denn sonst wäre alles umsonst gewesen.«

Rahe springt hoch und schlägt die Fäuste auf den Tisch.»Es war umsonst, Ludwig, das ist es ja, was mich verrückt macht! Was waren wir für Menschen damals, als wir hinausgingen in diesem Sturm von Begeisterung! Eine neue Zeit schien angebrochen zu sein, alles Alte, Vermorschte, Halbe, Parteiische war weggefegt, wir waren eine Jugend wie keine zuvor!«

Er packt den Klumpen Bergkristall wie eine Handgranate. Seine Fäuste zucken.»Ludwig«, fährt er fort,»ich habe in vielen Unterständen gelegen, und wir waren alle junge Menschen, die um eine elende Kerze hockten und warteten, und über uns raste das Sperrfeuer wie ein Erdbeben — wir waren keine Rekruten mehr und wußten, worauf wir warteten, und wußten, was kam —, aber Ludwig, in diesen Gesichtern im Halbdunkel unter der Erde war mehr als Fassung, war mehr als Mut, war mehr als Todesbereitschaft — der Wille für eine andere Zukunft war in diesen regungslosen, harten Gesichtern, und er war darin, wenn wir stürmten, und er war noch darin, wenn wir starben! Wir wurden stiller, Jahr um Jahr, vieles fiel ab, aber dieses eine blieb. Und jetzt, Ludwig, wo ist es jetzt geblieben? Begreifst du, daß alles das versacken konnte in diesem Brei von Ordnung, Pflicht, Weibern, Regelmäßigkeit und wie das alles heißt, das sie hier Leben nennen? Nein, gelebt haben wir damals, und wenn du mir hunderttausendmal sagst, daß du den Krieg haßt, aber gelebt haben wir damals, weil wir zusammen waren, und weil in uns etwas brannte, was mehr war als dieser ganze Dreck hier!«

Er atmet heftig:»Es muß für etwas gewesen sein, Ludwig! Einmal, einen Augenblick lang, als es hieß Revolution, habe ich gedacht: Jetzt kommt die Befreiung, jetzt fließt der Strom zurück und reißt nieder und gräbt neue Ufer — und bei Gott, ich wäre dabei gewesen! Aber der Strom ist zersprengt worden in tausend Rinnsale, die Revolution wurde zum Zankapfel um Posten und Postchen, sie ist versickert, verschmiert, aufgesogen von Berufen, Verhältnissen, Familien und Parteien. Aber ich mache das nicht mit. Ich gehe dahin, wo ich die Kameradschaft noch wiederfinde.«

Ludwig steht auf. Seine Stirn ist rot. Seine Augen brennen. Er sieht Rahe dicht ins Gesicht.»Und warum, Georg, warum? Weil wir betrogen worden sind, betrogen, wie wir es kaum erst ahnen I Weil man uns furchtbar mißbraucht hat! Man sagte uns Vaterland und meinte die Okkupationspläne einer habgierigen Industrie — man sagte uns Ehre und meinte das Gezänk und die Machtwünsche einer Handvoll ehrgeiziger Diplomaten und Fürsten — man sagte uns Nation und meinte den Tätigkeitsdrang beschäftigungsloser Generale!«Er rüttelt Rahe an den Schultern.»Verstehst du denn das nicht? In das Wort Patriotismus haben sie ihr Phrasengewäsch, ihre Ruhmsucht, ihren Machtwillen, ihre verlogene Romantik, ihre Dummheit, ihre Geschäftsgier hineingestopft und es uns dann als strahlendes Ideal vorgetragen! Und wir haben geglaubt, es sei eine Fanfare zu einem neuen, starken, gewaltigen Dasein! Begreifst du denn nicht? Wir haben gegen uns selbst Krieg geführt, ohne es zu wissen! Und jeder Schuß, der traf, traf einen von uns! Hör doch, ich schreie es dir in die Ohren: Die Jugend der Welt ist aufgebrochen, und in jedem Lande ist sie belogen und mißbraucht worden, in jedem Lande hat sie für Interessen gefochten statt für Ideale, in jedem Lande ist sie zusammengeschossen worden und hat sich gegenseitig ausgerottet! Begreifst du denn nicht? Es gibt nur einen einzigen Kampf: den gegen die Lüge, die Halbheit, den Kompromiß, das Alter! Wir aber haben uns einfangen lassen von ihren Phrasen und anstatt gegen sie, für sie gekämpft. Wir glaubten, es ginge um die Zukunft! Aber es ging gegen die Zukunft. Unsere Zukunft ist tot, denn die Jugend ist tot, die sie trug. Wir sind nur noch Übriggebliebene, Reste! Aber das andere lebt, das Satte, Zufriedene, es lebt satter, zufriedener als je! Denn die Unzufriedenen, Drängenden, Stürmenden sind dafür gestorben! Bedenk das doch! Eine Generation ist vernichtet worden! Eine Generation Hoffnung, Glauben, Willen, Kraft, Können ist hypnotisiert worden, so daß sie sich selbst zusammenschoß, obschon sie in der ganzen Welt die gleichen Ziele hatte!«

Seine Stimme bricht. Seine Augen sind voll Schluchzen und Wildheit. Wir sind alle aufgesprungen.»Ludwig«, sage ich und lege den Arm um seinen Nacken.

Rahe nimmt seine Mütze und wirft den Stein in den Kasten zurück.»Auf Wiedersehen, Ludwig, alter Kamerad!«

Ludwig steht ihm gegenüber. Sein Mund ist zusammengepreßt. Die Backenknochen springen hervor.»Du gehst, Georg«, stößt er hervor,»aber ich bleibe! Ich gebe es noch nicht auf!«

Rahe sieht ihn lange an. Dann sagt er ruhig:»Es ist aussichtslos«, und rückt sein Koppel zurecht.

Ich begleite Georg die Treppen hinunter. Unten kommt der Morgen schon bleiern durch die Tür. Die steinernen Stufen hallen. Wie aus einem Unterstand treten wir nach draußen. Die Straße ist ganz leer und grau. Sie zieht sich lang hin. Rahe zeigt hinüber.»Alles Schützengräben, Ernst — «, er deutet auf die Häuser —,»lauter Unterstände — der Krieg geht weiter — aber ein gemeiner Krieg — einer gegen den ändern. —«

Wir geben uns die Hände. leb kann nicht sprechen. Rahe lächelt.»Was hast du denn, Ernst? Da ist doch gar keine richtige Front mehr, da oben im Osten! Kopf hoch, wir sind doch Soldaten. Ist ja nicht das erstemal, daß wir Abschied nehmen. —«

«Doch, Georg«, sage ich hastig,»ich glaube, es ist jetzt das erstemal, daß wir wirklich Abschied nehmen. —«

Er steht noch einen Augenblick vor mir. Dann nickt er langsam und geht die Straße hinunter, ohne sich umzusehen, schlank, ruhig, und eine Weile höre ich das Klappern seiner Schritte, als er schon verschwunden ist.

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