Ausgang

I

Die Erde riecht nach März und Veilchen. Primeln kommen unter dem feuchten Laub hervor. Violett schimmern die Furchen der Äcker.

Wir gehen einen Waldweg entlang. Willy und Kosole voran, Valentin und ich hinterher. Zum ersten Male seit langer Zeit sind wir wieder zusammen. Wir sehen uns nur noch selten.

Karl hat uns sein neues Auto den Tag über zur Verfügung gestellt. Aber er selbst ist nicht mitgekommen, er hat zu wenig Zeit. Seit einigen Monaten verdient er sehr viel Geld, denn die Mark fällt, und das begünstigt seine Geschäfte. Sein Schofför hat uns herausgefahren.

«Was machst du eigentlich, Valentin?«frage ich.

«Ich reise auf den Jahrmärkten herum«, antwortet er,»mit einer Schiff Schaukel.«

Ich sehe ihn erstaunt an.»Seit wann denn?«

«Schon eine ganze Zeit. Meine Partnerin damals hat mich bald im Stich gelassen. Sie tanzt jetzt in einer Bar. Foxtrotts und Tangos. Das wird heute mehr verlangt. Na, und dazu ist ein alter Kommißknüppel wie ich nicht fein genug.«

«Bringt die Schiffschaukel denn was ein?«frage ich.

Er winkt ab.»Hör auf! Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel! Und dies ewige Herumziehen! Morgen geht's schon wieder auf die Walze. Nach Krefeld. Schön auf den Hund gekommen ist man, Ernst! Wo steckt Jupp eigentlich?«

Ich zucke die Achseln.»Fortgezogen. Ebenso wie Adolf. Haben nie wieder was von sich hören lassen.«

«Und Arthur?«

«Der ist bald Millionär«, erwidere ich.

«Der versteht's«, nickt Valentin trübselig.

Kosole bleibt stehen und dehnt die Arme.»Kinder, Spazierengehen ist ja ganz schön — wenn man bloß nicht arbeitslos dabei wäre.«»Glaubst du nicht, daß du bald wieder was kriegst?«fragt Willy. Ferdinand schüttelt zweifelnd den Kopf.»Leicht wird's nicht sein. Ich stehe auf der schwarzen Liste. Bin nicht zahm genug. Na, wenigstens gesund ist man. Und vorläufig pumpe ich bei Tjaden. Der sitzt ja gut im Fett.«

An einer Lichtung machen wir halt. Willy holt eine Schachtel Zigaretten heraus, die Karl ihm mitgegeben hat. Valentins Gesicht heitert sich auf. Wir setzen uns hin und rauchen.

Die Kronen der Bäume knarren leise. Ein paar Meisen zwitschern. Die Sonne ist schon stark und warm. Willy gähnt herzhaft und legt sich dann auf seinem Mantel lang. Kosole macht sich aus Moos eine Art Kopfstütze zurecht und legt sich dann ebenfalls hin. Valentin sitzt nachdenklich am Stamm einer Buche.

Ich sehe die vertrauten Gesichter an, und einen Augenblick schwankt alles wunderlich — da hocken wir wieder beieinander, wie so oft früher — wenige nur noch — aber sind selbst wir noch wirklich beieinander?

Kosole horcht plötzlich auf. Aus der Ferne kommen Stimmen. Junge Stimmen. Es werden Wandervögel sein, die an diesem silbern verhangenen Tag mit Lauten und Bändern ihre erste Wanderung machen. Vor dem Kriege haben wir das ja auch getan — Ludwig Breyer, Georg Rahe und ich.

Ich lehne mich zurück und denke an die Zeit damals; an die Abende am Lagerfeuer, an die Volkslieder, die Gitarren und die feierlichen Nächte vor dem Zelt. Das war unsere Jugend. In diesen Jahren vor dem Kriege lebte in der Romantik des Wandervogels die Begeisterung für eine neue, freie Zukunft, die dann in den Schützengräben noch eine Zeitlang loderte und 1917 im Grauen der Materialschlachten zusammenbrach.

Die Stimmen kommen näher. Ich stütze mich auf die Arme und hebe den Kopf, um den Zug vorüberwandern zu sehen. Sonderbar — vor ein paar Jahren gehörten wir noch dazu, und jetzt erscheint es, als wäre das schon eine ganz neue Generation, eine Generation nach uns, die wieder aufnehmen kann, was wir fallen lassen mußten. — Rufe ertönen. Ein ganzer Schwall, fast wie ein Chor. Dann nur noch eine einzelne Stimme, und noch nicht zu verstehen. Zweige brechen und der Boden hallt dumpf von vielen Tritten. Wieder ein Ruf. Wieder Tritte, Brechen, Schweigen. Dann klar und deutlich ein Befehl:»Von rechts anreitende Kavallerie — mit Gruppen rechts schwenkt — marsch, marsch —!«

Kosole springt auf. Ich ebenfalls. Wir blicken uns an. Narrt uns ein Spuk? Was soll das heißen?

Da bricht es auch schon vor uns aus den Büschen, rennt an den Waldrand, wirft sich nieder auf den Boden. — »Visier vierhundert!«knarrt die Stimme von vorhin —»Schützenfeuer!«

Es tackt und knattert. Eine lange Reihe von fünfzehn- bis siebzehnjährigen Jungen liegt ausgeschwärmt nebeneinander am Waldrand. Sie tragen Windjacken und haben Ledergürtel wie Koppel darüber geschnallt. Alle sind gleichmäßig gekleidet, mit grauen Jacken, Wik- kelgamaschen und Kappen mit Abzeichen — das Uniformmäßige ist absichtlich betont. Jeder hat einen Spazierstock mit Bergspitzc bei sich, mit dem er gegen die Bäume klappert, um das Gewehrfeuer nachzuahmen.

Unter den kriegerischen Kappen aber sehen junge, rotwangige Kindergesichter hervor. Aufmerksam und erregt spähen sie nach der von rechts anreitenden Kavallerie aus. Sie sehen nicht das zarte Wunder der Veilchen unter dem braunen Laub — nicht den violetten Dunst des Werdens über den Äckern — nicht das flaumig pelzige Fell des Junghasen, der durch die Furchen hoppelt. Doch, den Hasen sehen sie — aber sie zielen nur mit ihren Stöcken danach, und heftiger schwillt das Klappern gegen die Stämme an. Hinter ihnen steht ein kräftiger Mann mit etwas Bauch, ebenfalls in Windjacke und Wickelgamaschen, und gibt ihnen energische Befehle.»Ruhiger feuern! Visier zweihundert!«Er hat einen Feldstecher bei sich und beobachtet den Feind.

«Himmel, Herrgott!«sage ich erschüttert.

Kosole hat sich von seinem Staunen erholt.»Was ist denn das für ein verdammter Blödsinn?«schimpft er wütend.

Aber er kommt schlecht an. Der Führer, zu dem sich noch zwei andere gesellen, blitzt und donnert. Die weiche Frühlingsluft schwirrt nur so von markigen Worten.»Schnauze halten, Drückeberger! Vaterlandsfeinde! Schlappes Verräterpack!«

Die Jungen stimmen eifrig mit ein. Einer schüttelt seine schmale Faust.»Wir müssen euch wohl mal auf die Rolle nehmen, was?«schreit er mit heller Stimme.»Feiglinge!«fällt ein anderer ein.»Pazifisten!«ein dritter.»Diese Bolschewiken müssen alle erledigt werden, eher wird Deutschland nicht frei«, ruft rasch und eingelernt ein vierter.

«Recht so!«Der Führer klopft ihm auf die Schulter und rückt vor.»Jagt sie weg, Jungens!«

In diesem Augenblick wacht Willy auf. Er hat bis jetzt geschlafen. Darin ist er noch immer altes Militär — wenn er lang liegt, schläft er gleich ein.

Er richtet sich auf. Der Führer bleibt sofort stehen. Willy sieht mit großen Augen um sich und bricht in ein Gelächter aus.»Ist hier Maskenball?«fragt er. Dann begreift er die Situation.»So ist's richtig«, knurrt er zu dem Führer herüber,»ihr habt uns wahrhaftig schon lange wieder gefehlt! Ja, ja, Vaterland — das habt ihr allein in Erbpacht, was? Die ändern sind alle Verräter, was? Komisch, daß dann drei Viertel des deutschen Heeres Verräter waren! Macht, daß ihr wegkommt, ihr Gespenster! Könnt ihr den Jungens die paar Jahre nicht lassen, wo sie noch nichts davon wissen?«

Der Führer hat seine Armee zurückgezogen. Aber der Wald ist uns verleidet. Wir gehen zum Dorf zurück. Hinter uns schallt es rhythmisch und abgehackt:»Frontheil! Frontheil! Frontheil!«»Frontheil? — «Willy greift sich in die Haare.»Wenn man das einem Muskoten im Felde gesagt hätte!«

«Ja«, sagt Kosole ärgerlich,»so geht es wieder los.«

Vor dem Dorfe finden wir einen kleinen Wirtsgarten, in dem bereits ein paar Tische draußen stehen. Obwohl Valentin schon in einer Stunde wieder bei seiner Schiffschaukel sein muß, setzen wir uns noch rasch etwas hin, um die Zeit auszunützen — wer weiß, wann wir wieder einmal zusammen sind. —

Ein blasses Abendrot färbt den Himmel. Ich muß immer noch an die Szene vorhin im Walde denken.»Mein Gott, Willy«, sage ich,»wir leben doch alle noch und sind kaum erst raus — wie ist es da möglich, daß es schon wieder Menschen gibt, die so etwas machen?«»Die wird's immer geben«, erwidert Willy ungewöhnlich ernst und nachdenklich,»aber uns gibt's ja auch noch. Und so wie wir, denken eine ganze Masse Leute. Die allermeisten, das könnt ihr wohl glauben. Mir ist seit damals — ihr wißt ja, seit Ludwig und Albert — so allerhand durch den Schädel gegangen, und ich finde, daß jeder auf seine Weise irgendwas tun kann, selbst wenn er eine Kohlrübe als Kopf hat. Nächste Woche sind meine Ferien zu Ende, und ich muß wieder als Schulmeister aufs Dorf. Darauf freue ich mich direkt. Ich will meinen Jungens da beibringen, was wirklich Vaterland ist. Ihre Heimat nämlich, und nicht eine politische Partei. Ihre Heimat aber sind Bäume, Äcker, Erde und keine großmäuligen Schlagworte. Ich habe mir das lange hin und her überlegt und gefunden, daß wir alt genug sind, eine Aufgabe zu haben. Dies ist meine. Sie ist nicht groß, das gebe ich zu. Aber für mich reicht sie. Ich bin ja auch kein Goethe. «Ich nicke und sehe ihn lange an. Dann brechen wir auf.

Der Schofför wartet auf uns. Leise gleitet der Wagen durch die langsam einfallende Dämmerung.

Wir sind schon nahe an der Stadt, und die ersten Lichter flammen bereits auf, da mischt sich in das Knirschen und Mahlen der Reifen ein langgezogener heiserer, kehliger Laut — am Abendhimmel zieht in der Richtung nach Osten ein hakenförmiger Keil — eine Schar wilder Gänse. —

Wir blicken uns an. Kosole will etwas sagen, schweigt dann aber. Wir denken alle dasselbe.

Die Stadt kommt mit Straßen und Lärm. Valentin steigt aus. Dann Willy. Dann Kosole.

II

Ich war den ganzen Tag im Walde. Jetzt bin ich müde in einem kleinen Landgasthof eingekehrt und habe mir ein Zimmer für die Nacht geben lassen. Das Bett ist schon aufgedeckt, aber ich mag noch nicht schlafen. Ich setze mich ans Fenster und lausche auf die Geräusche der Frühlingsnacht.

Schatten fließen zwischen den Bäumen hindurch, und vom Walde her kommen Rufe, als lägen dort Verwundete. Ich sehe ruhig und gefaßt in das Dunkel, denn ich fürchte die Vergangenheit nicht mehr. Ich blicke ihr in die erloschenen Augen, ohne mich abzuwenden. Ich gehe ihr sogar entgegen, ich schicke meine Gedanken zurück in die Unterstände und Trichter — aber wenn sie wiederkehren, bringen sie keine Angst und kein Entsetzen mehr mit, sondern Kraft und Willen.

Ich habe auf einen Sturm gewartet, der mich retten und fortreißen müßte — doch nun ist es leise gekommen, ohne daß ich es gefühlt habe. Aber es ist da. Während ich verzweifelte und alles verloren glaubte, wuchs es still heran. Ich glaubte, Abschied sei immer ein Ende. Heute weiß ich: Auch Wachsen ist Abschied. Auch Wachsen heißt Verlassen. Und es gibt kein Ende.

Ein Teil meines Daseins hat im Dienste der Zerstörung gestanden — es hat dem Haß, der Feindschaft, dem Töten gehört. Aber das Leben ist mir geblieben. Das ist beinahe eine Aufgabe und ein Weg. Ich will an mir arbeiten und bereit sein, ich will meine Hände rühren und meine Gedanken, ich will mich nicht wichtig nehmen, sondern weitergehen, auch wenn ich manchmal bleiben möchte. Es gibt vieles aufzubauen und fast alles wieder gutzumachen, es gibt zu arbeiten und auszugraben, was verschüttet worden ist in den Jahren der Granaten und der Maschinengewehre. Nicht jeder braucht ein Pionier zu sein — es werden auch schwächere Hände und geringere Kräfte gebraucht werden. Dort will ich meinen Platz suchen. Dann werden die Toten schweigen, und die Vergangenheit wird mich nicht mehr verfolgen, sondern mir helfen.

Wie einfach das alles ist; aber wie lange hat es gedauert, dahin zu finden. Und vielleicht hätte ich mich doch noch im Vorgelände verirrt und wäre den Drahtschlingen und Sprengkapseln zum Opfer gefallen, wenn nicht Ludwigs Tod wie eine Rakete vor uns aufgeschossen wäre und uns den Weg gezeigt hätte. Wir verzweifelten, als wir sahen, daß der Strom unserer Gemeinschaft, der Wille des gewaltig schlichten, an der Grenze des Todes wiedergewonnenen Lebens, nicht die überlebten Formen der Halbwahrheit und der Selbstsucht wegfegte und sich neue Ufer suchte, sondern versickerte in den Mooren des Vergessens, abgeleitet wurde in die Sümpfe der Phrasen, verrieselte in den Gräben der Verhältnisse, der Sorgen und Berufe. Heute weiß ich, daß alles im Leben vielleicht nur Vorbereiten ist und Wirken im einzelnen, in vielen Zellen, in vielen Kanälen, jedes für sich — und so wie die Zellen und Kanäle eines Baumes den aufwärts drängenden Saft nur aufzunehmen und weiterzuleiten brauchen, so wird wohl auch daraus dann einmal Rauschen und besonntes Laub werden, Wipfel und Freiheit. Ich will anfangen.

Es wird nicht die Erfüllung werden, von der wir in der Jugend geträumt und die wir nach den Jahren draußen erwartet haben. Es wird ein Weg sein wie die ändern, mit Steinen und guten Strecken, mit aufgerissenen Stellen und Dörfern und Feldern — ein Weg der Arbeit. Ich werde allein sein. Vielleicht finde ich manchmal jemand für eine Strecke — für immer wohl nicht. Und es mag sein, daß ich noch oft meinen Tornister aufheben muß, wenn die Schultern schon müde sind; und oft werde ich wohl auch noch zögern an Kreuzwegen und Grenzen und etwas zurücklassen müssen und stolpern und fallen — aber ich will wieder aufstehen und nicht liegenbleiben, ich will weitergehen und nicht umkehren. Vielleicht werde ich nie mehr ganz glücklich sein können, vielleicht hat der Krieg das zerschlagen, und ich werde immer etwas abwesend sein und nirgendwo ganz zu Hause — aber ich werde auch wohl nie ganz unglücklich sein —, denn etwas wird immer da sein, um mich zu halten, und wären es auch nur meine Hände oder ein Baum oder die atmende Erde.

Der Saft steigt in den Stämmen, mit schwachem Knall platzen die Knospen, und das Dunkel ist voll vom Geräusch des Wachsens. Die Nacht ist im Zimmer und der Mond. Das Leben ist im Zimmer. In den Möbeln knackt es, der Tisch kracht und der Schrank knarrt. Man hat sie vor Jahren gefällt und zerschnitten, gehobelt und geleimt zu Dingen des Dienens, zu Stühlen und Betten — aber in jedem Frühjahr, in den Nächten des Saftes, rumort es wieder in ihnen, sie erwachen, sie dehnen sich, sie sind nicht mehr Gerät, Stuhl und Zweck, sie haben wieder teil am Strömen und Fließen des Lebens draußen. Unter meinen Füßen knarren die Dielen und bewegen sich, unter meinen Händen knackt das Holz der Fensterbank, und neben dem Wege vor der Tür treibt selbst der zersplitterte, morsche Stamm einer Linde dicke braune Knospen — in wenigen Wochen wird er ebenso kleine seidengrüne Blätter haben, wie die weit verbreiteten Äste der Platane, die ihn überschatten.

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