VIERZEHN

Weil New Orleans eine Stadt der Nacht ist, wacht sie nur langsam auf. Noch eine ganze Weile nach Tagesanbruch herrscht Stille, dann schüttelt sie die Spinnweben ab und gleitet in den Morgen. Es gibt kein frühes Verkehrsgewimmel außer auf den Zufahrtsstraßen aus den Vororten und in der geschäftigen Innenstadt. So ist es in allen großen Städten; aber im French Quarter, der Seele von New Orleans, hängt der Duft von Whisky und Jambalaya über den leeren Straßen, bis die Sonne aufgegangen ist. Ein oder zwei Stunden später tritt an seine Stelle das Aroma von French-Market-Kaffee und Schmalzgebäck, und um diese Zeit erwachen auch die Gehsteige zögernd zum Leben.

Darby machte es sich in einem Sessel auf dem kleinen Balkon bequem, trank Kaffee und wartete auf die Sonne. Callahan lag ein paar Meter entfernt, jenseits der offenen Terrassentür, noch in Laken eingehüllt und tot für die Welt. Eine leichte Brise wehte, aber noch vor Mittag würde die Schwüle zurückkehren. Sie zog seinen Bademantel am Hals zusammen und atmete den Duft seines Rasierwassers ein. Sie dachte an ihren Vater und seine weiten baumwollenen Oberhemden, die sie tragen durfte, als sie ein Teenager war. Sie hatte die Ärmel immer bis zum Ellenbogen aufgekrempelt und den Saum bis auf die Knie herabhängen lassen, und dann war sie mit ihren Freundinnen herumgeschlendert, sicher in dem Bewusstsein, dass ihr niemand das Wasser reichen konnte. Ihr Vater war ihr Freund. Um die Zeit, als sie mit der High School fertig war, stand ihr der Inhalt seines Kleiderschranks zur freien Verfügung, solange alles gewaschen und gebügelt und ordentlich wieder aufgehängt wurde. Sie konnte noch immer das Grey Flannel riechen, das er täglich benutzt hatte.

Wenn er noch lebte, wäre er vier Jahre älter als Thomas Callahan. Ihre Mutter hatte wieder geheiratet und war nach Boise gezogen. Darby hatte einen Bruder in Deutschland. Die drei hatten nur selten miteinander geredet. Ihr Vater war das Bindeglied in einer widerborstigen Familie gewesen, und sein Tod hatte sie auseinandergerissen.

Zwanzig weitere Menschen waren bei dem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, und noch bevor die Vorbereitungen für die Beisetzung getroffen waren, standen die Anwälte vor der Tür. Es war ihre erste echte Begegnung mit der Welt der Juristen, und sie war nicht erfreulich. Der Familienanwalt war ein Immobilienmann, der nicht wusste, wie man einen Prozess führt. Ein gerissener Schadenersatzanwalt machte sich an ihren Bruder heran und überredete die Familie, schnell zu klagen. Er hieß Herschel, und zwei Jahre lang litt die Familie, während Herschel sie hinhielt und log und den Fall in die Binsen gehen ließ. Eine Woche vor dem Prozess einigten sie sich auf eine halbe Million, nach Abzug des Schnitts, den Herschel gemacht hatte, und Darby bekam hunderttausend.

Sie beschloss, Anwältin zu werden. Wenn ein Clown wie Herschel es schaffen und Geld scheffeln konnte, indem er die Gesellschaft kaputtmachte, dann konnte sie es auch, zu edleren Zwecken. Sie musste oft an Herschel denken. Wenn sie ihr Anwaltsexamen bestanden hatte, würde sie ihre erste Anklage gegen ihn vorbringen, wegen strafbaren Verhaltens im Amt. Sie wollte für eine Umweltkanzlei arbeiten. Einen Job zu finden, das wusste sie, war kein Problem.

Die Hunderttausend waren unangebrochen. Der neue Ehemann ihrer Mutter war Manager in einer Papierfabrik, etwas älter und wesentlich reicher, und kurz nach ihrer Heirat teilte sie ihren Anteil an der Abfindung zwischen Darby und ihrem Bruder auf. Sie sagte, das Geld erinnere sie an ihren toten Mann, und die Geste wäre symbolisch. Obwohl sie Darbys Vater immer noch liebte, hätte sie doch ein neues Leben in einer neuen Stadt mit einem neuen Mann, der sich in fünf Jahren mit einem Haufen Geld ins Privatleben zurückziehen würde. Darby begriff nicht recht, was es mit der symbolischen Geste auf sich hatte, aber sie wusste sie zu würdigen und nahm das Geld.

Die Hunderttausend hatten sich verdoppelt. Sie legte den größten Teil davon in Investmentfonds an, aber nur solchen ohne Anteile von chemischen und Erdölfirmen. Sie fuhr einen Accord und lebte bescheiden. Ihre Garderobe war die übliche Kluft der Jurastudenten, die sie in Discountläden kaufte. Sie und Callahan aßen in den besseren Restaurants der Stadt, aber nie zweimal im selben Lokal. Und immer auf getrennte Rechnung.

Geld war ihm ziemlich gleichgültig, und er drang nie in sie, um Genaueres zu erfahren. Sie hatte mehr als die meisten ihrer Kommilitonen, aber in Tulane gab es auch etliche reiche Studenten.

Sie gingen einen Monat lang zusammen aus, bevor sie miteinander schliefen. Sie legte die Grundregeln fest, und er erklärte sich sofort damit einverstanden. Es würde keine anderen Frauen geben. Sie würden sehr diskret sein. Und er musste aufhören, so viel zu trinken.

An die ersten beiden hielt er sich, aber das Trinken ging weiter. Sein Vater, sein Großvater und seine Brüder waren starke Trinker, und es wurde gewissermaßen von ihm erwartet. Aber zum ersten Mal in seinem Leben war Thomas Callahan verliebt, bis über beide Ohren verliebt, und er kannte den Punkt, an dem der Scotch und seine Geliebte sich ins Gehege kamen. Er war vorsichtig. Mit Ausnahme der vergangenen Woche, unter dem Trauma des Todes von Rosenberg, trank er nie vor fünf Uhr nachmittags. Wenn sie zusammen waren, verzichtete er auf den Chivas, sobald er nicht mehr ganz nüchtern war, und fürchtete, dass er seine Potenz beeinträchtigen könnte.

Es war amüsant zu beobachten, wie ein Mann von fünfundvierzig sich zum ersten Mal verliebte. Er bemühte sich um einen gewissen Grad von Gelassenheit, aber in ihren privaten kleinen Momenten konnte er albern sein wie ein Schuljunge.

Sie küsste ihn auf die Wange und zog seine Steppdecke über ihn. Ihre Kleider lagen ordentlich auf einem Stuhl. Sie machte die Haustür leise hinter sich zu. Die Sonne war inzwischen aufgegangen, lugte zwischen den Gebäuden auf der anderen Seite der Dauphine hervor. Der Gehsteig war menschenleer.

Sie hatte in drei Stunden eine Vorlesung, dann Callahan und Verfassungsrecht um elf. In einer Woche war ein Schriftsatz in einem fingierten Berufungsverfahren fällig. Ihre Fallnotizen aus den juristischen Zeitschriften setzten Staub an. Mit ihren Seminararbeiten war sie zwei Wochen im Rückstand. Es war an der Zeit, wieder Studentin zu werden. Sie hatte vier Tage damit vergeudet, Detektiv zu spielen, und war deshalb sauer auf sich selbst.

Der Accord stand um die Ecke, einen halben Block entfernt.

Sie beobachteten sie, und es war ein erfreulicher Anblick. Enge Jeans, weiter Pullover, lange Beine, eine Sonnenbrille, die makeuplose Augen verdeckte. Sie beobachteten, wie sie die Tür schloss, schnell die Royal entlangging und dann um die Ecke bog. Das Haar war schulterlang und schien dunkelrot zu sein. Sie war es.

Er hatte seinen Lunch in einer kleinen braunen Papiertüte bei sich und fand eine leere Parkbank mit dem Rücken zu New Hampshire. Er hasste Dupont Circle mit seinen Stromern, Junkies, Perversen, alternden Hippies und Punkern in schwarzem Leder mit stachligem rotem Haar und bösartiger Zunge. Auf der anderen Seite des Springbrunnens versammelte ein gutgekleideter Mann mit einem Lautsprecher seine Gruppe von Tierschützern für einen Marsch zum Weißen Haus. Die Lederleute verhöhnten und beschimpften sie, aber vier berittene Polizisten waren nahe genug, um Handgreiflichkeiten zu verhindern

Er sah auf die Uhr und schälte eine Banane. Mittag, und er wäre lieber woanders gewesen. Das Treffen würde kurz sein. Er beobachtete das Verhöhnen und Beschimpfen und sah, wie sein Kontaktmann aus der Menge auftauchte. Ihre Augen begegneten sich, ein Nicken, und dann saß er neben ihm auf der Bank. Sein Name war Booker, von der CIA in Langley. Sie trafen sich hier gelegentlich, wenn die üblichen Kommunikationswege gestört waren und ihre Chefs schnelle mündliche Informationen brauchten, ohne dass irgend jemand sonst mithören konnte.

Booker hatte keinen Lunch. Er begann, geröstete Erdnüsse zu schälen und die Schalen unter die kreisrunde Bank zu werfen.

«Was macht Mr. Voyles?«

«Die Niedertracht in Person. Wie üblich.«

Er warf sich Erdnüsse in den Mund.»Gminski war gestern abend bis Mitternacht im Weißen Haus«, sagte Booker.

Darauf war keine Antwort erforderlich. Voyles wusste es.

Booker fuhr fort.»Sie sind in Panik geraten. Dieses kleine Pelikan-Ding hat ihnen einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Wie Sie wissen, haben wir es auch gelesen, und wir sind ziemlich sicher, dass ihr nicht viel davon haltet, aber aus irgendeinem Grund hat Coal Angst davor. Er hat den Präsidenten nervös gemacht. Wir glauben, dass ihr euch nur einen kleinen Spaß mit Coal und seinem Boss machen wollt, und weil der Präsident in dem Dossier erwähnt wird und es dieses Foto enthält, glauben wir, dass ihr euren Spaß daran habt. Sie wissen, was ich meine?«

Er biss ein Stück von der Banane ab und sagte nichts.

Die Tierschützer zogen in lockerer Formation ab, und die

Lederleute zischten sie aus.

«Aber das ist nicht unser Problem, und es sollte auch nicht euer Problem sein. Die Sache ist nur die, dass der Präsident jetzt wünscht, dass wir insgeheim der Pelikan-Akte nachgehen, bevor ihr es tun könnt. Er ist überzeugt, dass wir nichts finden werden, und er will hören, dass nichts dahintersteckt, damit er Voyles überreden kann, die Finger davonzulassen.«

«Es steckt nichts dahinter.«

Booker beobachtete, wie ein Betrunkener in das Brunnenbecken pisste. Die Polizisten ritten der Sonne entgegen.»Dann will Voyles also nur seinen Spaß haben?«

«Wir gehen allen Hinweisen nach.«

«Aber ihr habt keine echten Verdächtigen?«

«Nein. «Die Banane gehörte der Geschichte an.»Weshalb haben sie solche Angst davor, dass wir diesem kleinen Ding nachgehen?«

Booker zermalmte eine Erdnuss, die noch in ihrer Schale steckte.»Nun, für sie ist das ganz simpel. Sie sind stocksauer, weil bekannt geworden ist, dass Pryce und MacLawrence auf der Kandidatenliste stehen, und natürlich ist das einzig und allein eure Schuld. Sie misstrauen Voyles zutiefst. Und sie fürchten, wenn ihr anfangt, dem Pelikan-Dossier auf den Grund zu gehen, könnte die Presse davon erfahren und der Präsident die Hucke voll bekommen. Nächstes Jahr ist seine Wiederwahl fällig, und so weiter.«

«Was hat Gminski dem Präsidenten gesagt?«

«Dass er keine Lust hat, sich in eine FBI-Untersuchung einzumischen, dass wir Besseres zu tun haben und dass es absolut illegal ist. Aber weil der Präsident so inständig darum bat und Coal so viele Drohungen von sich gab, werden wir es trotzdem tun. Und jetzt bin ich hier und erzähle es Ihnen.«

«Voyles wird das zu würdigen wissen.«

«Wir fangen gleich heute an, aber die ganze Sache ist völlig absurd. Wir tun so als ob, kommen euch nicht in die Quere, und in ungefähr einer Woche berichten wir dem Präsidenten, dass die ganze Theorie nichts ist als ein Schuss ins Blaue.«

Er knickte das obere Ende seiner braunen Tüte um und stand auf.»Gut. Ich werde Voyles Bericht erstatten. Danke. «Er ging in Richtung Connecticut, fort von den Lederpunkern, und verschwand.

Der Monitor stand auf einem mit Papieren übersäten Tisch in der Mitte der Redaktion, und Gray Grantham saß davor, umrauscht vom Summen und Tosen unzähliger Kurzbesprechungen und eiliger Berichte. Es wollte ihm einfach nichts einfallen, und er saß da und starrte auf den Bildschirm. Das Telefon läutete. Er drückte einen Knopf und griff nach dem Hörer, ohne den Blick vom Monitor abzuwenden.»Gray Grantham.«

«Hier ist Garcia.«

Er vergaß den Monitor.»Ja, was gibt es?«

«Ich habe zwei Fragen. Erstens, nehmen Sie diese Anrufe auf, und zweitens, können Sie sie lokalisieren?«

«Nein und ja. Wir nehmen nichts auf, bevor wir um Erlaubnis gebeten haben, und wir können einen Anruf lokalisieren, aber wir tun es nicht. Hatten Sie nicht gesagt, Sie würden mich nicht in der Redaktion anrufen?«

«Wollen Sie, dass ich auflege?«

«Nein, das ist schon in Ordnung. Ich rede lieber um drei Uhr nachmittags in der Redaktion mit Ihnen als um sechs Uhr morgens im Bett.«

«Entschuldigung. Ich habe einfach Angst, das ist alles. Ich werde mit Ihnen reden, solange ich Ihnen vertrauen kann. Aber wenn Sie mich jemals anlügen, Mr. Grantham, dann erfahren

Sie kein Wort.«

«Abgemacht. Wann fangen Sie an?«

«Ich kann jetzt nicht reden. Ich bin in einer Telefonzelle, und ich habe es eilig.«

«Sie sagten, Sie hätten eine Kopie von irgend etwas.«

«Nein, ich sagte, es könnte sein, dass ich eine Kopie von irgendetwas habe. Wir werden sehen.«

«Okay. Wann kann ich mit Ihrem nächsten Anruf rechnen?«

«Müssen wir eine Zeit vereinbaren?«

«Nein. Aber ich bin viel unterwegs.«

«Ich rufe morgen in der Mittagspause an.«

«Dann warte ich hier auf Ihren Anruf.«

Garcia hatte aufgelegt. Grantham drückte sieben Tasten nieder, dann sechs, dann vier. Er notierte die Nummer, dann blätterte er im Branchenbuch, bis er Pay Phones Inc. gefunden hatte. Die Nummer gehörte zu einer Zelle an der Pennsylvania Avenue in der Nähe des Justizministeriums.

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