VIERZIG

Der Verkehr in der Innenstadt schob sich Stoßstange an Stoßstange voran, und Darby hatte dagegen nichts einzuwenden. Sie hatte es nicht eilig. Die Bank machte um halb zehn auf, und irgendwann gegen sieben, bei Kaffee und nicht angerührten Croissants in ihrem Zimmer, hatte er sie davon überzeugt, dass sie es sein müsste, die den Tresorraum aufsuchte. Es war ihm nicht gelungen, sie völlig zu überzeugen, aber eine Frau sollte es tun, und es waren nicht viele Frauen verfügbar. Beverly Morgan hatte Gray erzählt, dass ihre Hausbank, die First Hamilton, sofort nach Bekanntwerden von Curtis’ Tod ihr Schließfach gesperrt hatte, und dass sie nur den Inhalt durchsehen und eine Bestandsaufnahme machen durfte. Ihr wurde auch erlaubt, das Testament zu kopieren, aber das Original wurde wieder in das Fach gelegt und im Tresor eingeschlossen. Das Fach würde erst freigegeben werden, nachdem die Steuerprüfer ihre Arbeit beendet hatten.

Also war die vordringliche Frage, ob die First Columbia wusste, dass er tot war. Die Morgans hatten dort nie ein Konto gehabt. Beverly hatte keine Ahnung, weshalb er sich für sie entschieden hatte. Es war eine riesige Bank mit einer Million Kunden, und sie kamen zu dem Schluss, dass es ziemlich unwahrscheinlich war.

Darby hatte es satt, sich auf Wahrscheinlichkeiten einzulassen. Am Abend zuvor hatte sie eine wundervolle Gelegenheit, in ein Flugzeug zu steigen, vorbeigehen lassen, und nun war sie hier, im Begriff, als Beverly Morgan die First Columbia zu überlisten, damit sie einem toten Mann etwas stehlen konnte. Und was gedachte ihr treuer Begleiter zu tun? Er gedachte sie zu beschützen. Er hatte seine Waffe, die ihr eine

Heidenangst einjagte und auf ihn dieselbe Wirkung hatte, obwohl er es nicht zugab, und er wollte am Eingang den Leibwächter spielen, während sie das Schließfach ausraubte.

«Was ist, wenn sie wissen, dass er tot ist«, fragte sie,»und ich sage, er ist es nicht?«

«Dann versetzen Sie der Person einen Schlag ins Gesicht und rennen davon. Ich warte am Eingang auf Sie. Ich habe eine Waffe, und wir schießen uns unseren Weg frei.«

«Mir ist nicht nach Witzen zumute, Gray. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«

«Sie schaffen es, okay? Bleiben Sie ganz cool. Seien Sie selbstbewusst. Behandeln Sie sie von oben herab. Das sollte Ihnen eigentlich nicht schwerfallen.«

«Vielen Dank. Und was ist, wenn sie den Sicherheitsdienst rufen? Gegen Sicherheitsdienste habe ich neuerdings eine starke Abneigung.«

«Dann rette ich Sie. Ich komme und stürme durch das Foyer wie ein Einsatzkommando.«

«Wir werden beide dabei umkommen.«

«Ruhig, Darby, ganz ruhig. Es wird funktionieren.«

«Weshalb sind Sie so aufgekratzt?«

«Ich rieche es. Irgend etwas ist in diesem Schließfach, Darby. Und Sie müssen es herausholen. Jetzt hängt alles von Ihnen ab.«

«Danke, dass Sie den Druck mildern.«

Sie waren auf der E Street in der Nähe der Neunten. Gray verlangsamte die Fahrt, dann parkte er in einer Ladezone, zwölf Meter vom Haupteingang der First Columbia entfernt. Er sprang heraus. Darby verließ den Wagen wesentlich langsamer. Zusammen gingen sie schnell auf die Tür zu. Es war fast zehn Uhr.»Ich warte hier«, sagte er und deutete auf eine Marmorsäule.»Und nun auf in den Kampf.«

«Auf in den Kampf«, murmelte sie und verschwand durch die

Drehtür. Immer war sie es, die den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurde. Das Foyer war so groß wie ein Fußballplatz, mit Säulen und Kronleuchtern und imitierten Perserteppichen.

«Schließfächer?«fragte sie eine junge Frau am Informationsschalter. Die Frau deutete in eine Ecke rechts hinten.

«Danke«, sagte sie und strebte in die angegebene Richtung. Links von ihr standen Leute in Viererreihen vor den Schaltern, und rechts von ihr sprachen hundert schwerbeschäftigte Vizepräsidenten in ihre Telefonapparate. Es war die größte Bank in der Stadt, und niemand nahm von ihr Notiz.

Der Tresorraum lag hinter zwei massiven Bronzetüren, die so poliert waren, dass sie beinahe golden aussahen, zweifellos, um den Eindruck absoluter Sicherheit und Uneinnehmbarkeit zu erwecken. Die Türen wurden spaltbreit geöffnet, um einigen Auserwählten Zutritt und Ausgang zu gewähren. Links saß eine wichtig aussehende, ungefähr sechzigjährige Dame hinter einem Schreibtisch, auf dem SCHLIESSFÄCHER zu lesen war. Ihr Name war Virginia Baskin.

Virginia Baskin musterte Darby, als diese sich ihrem Schreibtisch näherte. Es gab kein Lächeln.

«Ich brauche Zugang zu einem Schließfach«, sagte Darby, ohne zu atmen. Sie hatte in den letzten zweieinhalb Minuten nicht geatmet.

«Die Nummer bitte«, sagte Ms. Baskin. Sie tippte etwas ein und richtete den Blick auf den Monitor.

«F 566.«

Sie gab die Nummer ein und wartete darauf, dass die Worte auf dem Bildschirm erschienen. Sie runzelte die Stirn und brachte das Gesicht dicht an den Monitor heran. Hau ab! dachte Darby. Sie runzelte die Stirn noch stärker und kratzte sich am Kinn. Hau ab, bevor sie zum Hörer greift und den

Sicherheitsdienst ruft. Verschwinde, bevor Alarm gegeben wird und mein idiotischer Begleiter durch das Foyer stürmt.

Ms. Baskin zog ihren Kopf vom Monitor zurück.»Das wurde erst vor zwei Wochen gemietet«, sagte sie fast zu sich selbst.

«Richtig«, sagte Darby, als hätte sie es gemietet.

«Ich nehme an, Sie sind Mrs. Morgan«, sagte sie, auf der Tastatur tippend.

Machen Sie weiter mit Ihren Annahmen, Lady.»Ja, Beverly Anne Morgan.«

«Und Ihre Adresse?«

«891 Pembroke, Alexandria.«

Sie nickte zum Bildschirm, als könnte er sie sehen und seine Zustimmung geben.»Telefonnummer?«

«703-664-5980.«

Das gefiel Ms. Baskin. Und dem Computer gefiel es auch.»Wer hat dieses Fach gemietet?«

«Mein Mann, Curtis D. Morgan.«

«Und seine Sozialversicherungsnummer?«

Darby öffnete ganz ruhig ihre neue, ziemlich große lederne Schultertasche und holte ihre Brieftasche heraus. Wie viele Frauen kannten schon die Sozialversicherungsnummer ihrer Männer auswendig? Sie öffnete die Brieftasche.»510-96-8686.«

«In Ordnung«, sagte Ms. Baskin, wendete sich von der Tastatur ab und griff in ihren Schreibtisch.»Wie lange wird es dauern?«

«Nur eine Minute.«

Sie legte eine breite Karte auf einem kleinen Clipboard auf den Schreibtisch und deutete darauf.»Bitte unterschreiben Sie hier, Mrs. Morgan.«

Darby unterschrieb nervös in der zweiten Zeile. Die erste Eintragung hatte Mr. Morgan gemacht, als er das Fach mietete.

Ms. Baskin betrachtete die Unterschrift, während Darby den Atem anhielt.

«Haben Sie Ihren Schlüssel?«fragte sie.

«Natürlich«, sagte Darby mit einem freundlichen Lächeln.

Ms. Baskin holte einen kleinen Kasten aus der Schublade und kam um den Schreibtisch herum.»Kommen Sie mit. «Sie gingen durch die Bronzetüren. Der Tresorraum war so groß wie eine Bankfiliale in einer Vorstadt, gebaut wie ein Mausoleum, ein Labyrinth aus Gängen und kleinen Kammern. Zwei uniformierte Männer gingen an ihnen vorbei. Sie passierten vier identische Räume mit Reihen von Schließfächern an den Wänden. F 566 befand sich offensichtlich im fünften Raum, weil Ms. Baskin in ihn hineinging und ihren kleinen schwarzen Kasten öffnete. Darby schaute sich nervös um.

Virginia war ganz geschäftsmäßig. Sie ging zu F 566, das sich in Schulterhöhe befand, und steckte ihren Schlüssel ein. Sie warf Darby einen Blick zu, als wollte sie sagen:»Sie sind dran, Dummchen. «Darby zog den Schlüssel aus ihrer Tasche und steckte ihn neben dem anderen ein. Dann drehte Virginia beide Schlüssel und zog das Fach fünf Zentimeter weit aus seiner Halterung heraus.

Sie deutete auf eine kleine Kabine mit einer hölzernen Falttür.»Gehen Sie damit dort hinein. Wenn Sie fertig sind, schließen Sie das Fach wieder zu und kommen an meinen Schreibtisch. «Noch während sie sprach, wendete sie sich zum Gehen.

«Danke«, sagte Darby. Sie wartete, bis Virginia außer Sichtweite war, dann zog sie das Fach aus der Wand. Es war nicht schwer. Die Vorderseite war fünfzehn mal dreißig Zentimeter groß, und es war fünfundvierzig Zentimeter lang. Oben war es offen, und es lagen zwei Dinge darin: ein dünner brauner Umschlag und eine unbezeichnete Videokassette.

Sie brauchte die Kabine nicht. Sie stopfte den Umschlag und die Kassette in ihre Schultertasche und schob das Fach wieder an seinen Platz. Sie verließ den Tresorraum.

Virginia hatte gerade die Ecke ihres Schreibtisches umrundet, als Darby hinter ihr herkam.»Ich bin fertig«, sagte sie.

«Das ging aber schnell.«

Verdammt richtig. Alles geht schnell, wenn man vor Nervosität nahezu durchdreht.»Ich habe gefunden, was ich suchte«, sagte sie.

«Wunderbar. «Ms. Baskin war plötzlich eine freundliche Person.»Haben Sie vorige Woche diese grauenvolle Geschichte über diesen Anwalt in der Zeitung gelesen? Sie wissen schon, den, der nicht weit von hier auf der Straße ermordet wurde. Hieß er nicht Curtis Morgan? Mir ist so, als hätte er Curtis Morgan geheißen. Grauenvoll.«

Oh, du blöde Person.»Nein, die habe ich nicht gelesen«, sagte Darby.»Ich war im Ausland. Danke.«

Jetzt waren ihre Schritte durch das Foyer ein wenig schneller. In der Bank herrschte reger Betrieb, und es waren keine Wachmänner in Sicht. Ein Kinderspiel.

Der Revolvermann bewachte die Marmorsäule. Die Drehtür wirbelte sie auf den Gehsteig, und sie war schon fast beim Wagen, als er sie einholte.»Steigen Sie ein!«befahl sie.

«Was haben Sie gefunden?«wollte er wissen.

«Lassen Sie uns erst verschwinden. «Sie riss die Tür auf und sprang hinein. Er startete den Motor, und sie fuhren los.

«Nun reden Sie schon«, sagte er.

«Ich habe das Fach ausgeräumt«, sagte sie.»Ist jemand hinter uns her?«

Er schaute in den Rückspiegel.»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Was war drin?«

Sie machte ihre Handtasche auf und zog den Umschlag heraus. Sie öffnete ihn. Gray stieg auf die Bremse, weil er fast auf den vor ihnen fahrenden Wagen aufgeprallt wäre.

«Passen Sie gefälligst auf!«

«Okay, okay. Was ist in dem Umschlag?«

«Ich weiß es nicht! Ich habe es noch nicht gelesen, und wenn Sie mich umbringen, werde ich es niemals lesen können.«

Der Wagen fuhr wieder. Gray holte tief Luft.»Wir sollten aufhören, uns gegenseitig anzuschreien. Wir sollten ganz cool bleiben.«

«Ja. Sie fahren, und ich bleibe cool.«

«Okay. So, sind wir cool?«

«Ja. Entspannen Sie sich. Und passen Sie auf, wo Sie hinfahren. Wohin fahren wir eigentlich?«

«Ich weiß es nicht. Was ist in dem Umschlag?«

Sie zog eine Art Dokument heraus. Sie warf einen Blick auf ihn, und er starrte auf das Dokument.»Passen Sie auf, wo Sie hinfahren.«

«Lesen Sie endlich das verdammte Ding.«

«Bei Ihrer Fahrerei ist mir schlecht geworden. Dabei kann ich nicht lesen.«

«Verdammt! Verdammt! Verdammt!«

«Sie schreien schon wieder.«

Er riss das Lenkrad nach rechts herum und steuerte den Wagen in ein Halteverbot auf der E Street. Hupen ertönten, als er auf die Bremse stieg. Er funkelte sie an.

«Danke«, sagte sie und fing an, laut zu lesen.

Es war eine vierseitige eidliche Versicherung, säuberlich getippt und vor einem Notar beschworen. Sie war auf Freitag datiert, dem Tag vor Garcias letztem Anruf bei Grantham. Unter Eid erklärte Curtis Morgan, dass er in der Öl- und Gasabteilung von White and Blazevich arbeitete, und zwar seit seinem Eintritt in die Firma fünf Jahre zuvor. Seine Mandanten waren ölsuchende Privatfirmen in vielen Ländern, aber in erster Linie

Amerikaner. Seit er in die Firma eingetreten war, hatte er für einen Mandanten gearbeitet, der in einen gewaltigen Prozess im Süden von Louisiana verstrickt war. Der Mandant war ein Mann namens Victor Mattiece, und Mr. Mattiece, dem er nie begegnet war, den die Seniorpartner von White and Blazevich jedoch gut kannten, wollte den Prozess unbedingt gewinnen und danach aus den Sumpfgebieten von Terrebonne Parish, Louisiana, Millionen von Barrel Öl herausholen. Außerdem gab es dort Hunderte von Millionen Kubikmetern Erdgas. Der bei White and Blazevich für diesen Fall zuständige Partner war F. Sims Wakefield, der Victor Mattiece sehr nahe stand und ihn oft auf den Bahamas besuchte.

Sie saßen im Parkverbot, und die hintere Stoßstange des Pontiac ragte gefährlich weit in die rechte Fahrspur hinein, aber sie achteten nicht auf die Wagen, die um sie herum ausscheren mussten. Sie las langsam, und er hörte mit geschlossenen Augen zu.

Weiter: der Prozess war sehr wichtig für White and Blazevich. Die Firma war an der Verhandlung und der Berufung nicht direkt beteiligt, aber alles ging über Wakefields Schreibtisch. Er arbeitete an nichts anderem als dem PelikanFall, wie er genannt wurde. Er verbrachte den größten Teil seiner Zeit am Telefon, wobei er entweder mit Mattiece sprach oder mit einem der hundert an diesem Fall beteiligten Anwälte. Morgan arbeitete pro Woche im Durchschnitt zehn Stunden an dem Fall, aber immer an der Peripherie. Seine Stundenabrechnungen musste er immer Wakefield persönlich aushändigen, und das war ungewöhnlich, weil alle anderen Abrechnungen an die Öl- und Gasbuchhaltung gingen und von dieser den Mandanten angelastet wurden. Im Laufe der Jahre hatte er Gerüchte gehört und war überzeugt, dass Mattiece White and Blazevich nicht nach dem üblichen Stundensatz bezahlte. Er glaubte, dass die Firma den Fall für einen Anteil am Profit übernommen hatte. Er hatte die Zahl von zehn Prozent des

Nettogewinns der Förderung gehört. So etwas hatte es in der Branche noch nie gegeben.

Bremsen quietschten laut, und sie wappneten sich gegen den Zusammenstoß. Er wurde um Haaresbreite vermieden» Wir werden hier noch totgefahren«, fuhr Darby ihn an.

Gray schaltete auf Drive und zog das rechte Vorderrad über den Bordstein auf den Gehsteig. Jetzt waren sie aus dem Verkehr heraus. Der Wagen stand schräg an einer verbotenen Stelle mit der vorderen Stoßstange auf dem Gehsteig und der hinteren knapp außerhalb des Verkehrsstroms.»Lesen Sie weiter«, fuhr er sie seinerseits an.

Weiter: am oder um den 28. September herum war Morgan in Wakefields Büro. Er ging hinein mit zwei Akten und einem Stapel von Dokumenten, die nichts mit dem Pelikan-Fall zu tun hatten. Wakefield telefonierte. Wie üblich gingen Sekretärinnen ein und aus. In dem Büro ging es immer sehr hektisch zu. Er stand da und wartete darauf, dass Wakefield sein Gespräch beendete, aber es zog sich in die Länge. Nachdem er fast zehn Minuten gewartet hatte, nahm Morgan seine Akten und Dokumente, die er auf Wakefields mit Papieren übersäten Schreibtisch gelegt hatte, wieder an sich und ging. Er kehrte in sein Büro am anderen Ende des Gebäudes zurück und machte sich an seinem Schreibtisch an die Arbeit. Es war gegen zwei Uhr nachmittags. Als er nach einer Akte griff, fand er unter dem Stapel Dokumente, die er gerade in sein Büro gebracht hatte, ein handschriftliches Memo. Er hatte es versehentlich von Wakefields Schreibtisch mitgenommen. Er stand sofort auf, um es Wakefield zurückzubringen. Dann las er es. Und las es abermals. Er warf einen Blick aufs Telefon. Wakefields Nummer war immer noch besetzt. Eine Kopie des Memos war der Erklärung beigefügt.

«Lesen Sie das Memo vor«, verlangte Gray ungeduldig.

«Ich bin mit der Erklärung noch nicht fertig«, fuhr sie ihn an.

Es hatte keinen Sinn, sich auf eine Diskussion mit ihr einzulassen. Sie war die Juristin, und dies war ein juristisches Dokument, und sie würde es genau so vorlesen, wie sie es für richtig hielt.

Weiter: er war bestürzt über das Memo. Und es jagte ihm entsetzliche Angst ein. Er verließ sein Büro, ging den Flur entlang zum nächsten Xerox und machte eine Kopie. Er kehrte in sein Büro zurück und legte das Original-Memo an die ursprüngliche Stelle unter den Akten auf seinem Schreibtisch. Er würde schwören, dass er es nie gesehen hatte.

Das Memo bestand aus zwei Absätzen, mit der Hand auf firmeninternem White and Blazevich-Papier geschrieben. Es stammte von M. Velmano, Marty Velmano, einem der Seniorpartner. Es war auf den 28. September datiert, an Wakefield gerichtet und lautete:

Sims:

Mandanten informieren, dass Recherchen abgeschlossen sind — das Gericht wird wesentlich zugänglicher sein, nachdem Rosenberg in den Ruhestand getreten ist. Die zweite Pensionierung ist etwas ungewöhnlich. Einstein ist auf Jensen verfallen, ausgerechnet. Aber der hat natürlich seine eigenen Probleme.

Weiterhin mitteilen, dass der Pelikan, andere Faktoren vorausgesetzt, in vier Jahren hier eintreffen sollte.

Das Memo trug keine Unterschrift.

Gray kicherte und runzelte gleichzeitig die Stirn. Sein Mund stand offen. Sie las schneller.

Weiter: Marty Velmano war ein skrupelloser Hai, der achtzehn Stunden am Tag arbeitete und s.ch unnütz vorkam, wenn nicht jemand in seiner Umgebung blutete. Er war das Herz und die Seele von White and Blazevich. Für die Mächtigen in

Washington war er ein zäher Verhandler mit massenhaft Geld. Er dinierte mit Kongressabgeordneten und spielte Golf mit Kabinettsmitgliedern. Das Halsabschneiden betrieb er hinter der Tür seines Büros.

Einstein war der Spitzname von Nathaniel Jones, einem geisteskranken juristischen Genie, das die Firma in seiner eigenen kleinen Bibliothek im sechsten Stock weggeschlossen hatte. Er las jedes Urteil des Obersten Bundesgerichts, der elf Bundes-Berufungsgerichte und der Obersten Gerichte der fünfzig Staaten. Morgan war Einstein nie begegnet. In der Firma bekam ihn nur ganz selten jemand zu Gesicht.

Nachdem er das Memo kopiert hatte, faltete er seine Kopie zusammen und legte sie in eine Schreibtischschublade. Zehn Minuten später stürmte Wakefield in sein Büro, blass und sehr aufgeregt. Sie suchten auf Morgans Schreibtisch herum und fanden das Memo. Wakefield war stocksauer, was bei ihm nichts Ungewöhnliches war. Er fragte Morgan, ob er es gelesen hätte. Nein, versicherte er. Offensichtlich hatte er es versehentlich mitgegriffen, als er sein Büro verließ, erklärte er. Was ist denn schon dabei? Wakefield war wütend. Er hielt Morgan einen Vortrag über die Heiligkeit eines Schreibtisches. Er schäumte regelrecht, überschüttete Morgan mit Vorwürfen und tobte in seinem Büro herum, bis er endlich begriff, dass er zu heftig reagierte. Er versuchte, sich zu beruhigen, aber der Eindruck war nicht zu übertünchen. Er ging mit dem Memo.

Morgan versteckte die Kopie in einem Buch in der Bibliothek im neunten Stock. Wakefields Hysterie hatte ihm Angst gemacht. Bevor er an diesem Nachmittag ging, ordnete er die Papiere und Gegenstände in seinen Regalen und auf seinem Schreibtisch auf eine bestimmte Art. Am nächsten Morgen überprüfte er sie. Jemand hatte in der Nacht seinen Schreibtisch durchsucht.

Morgan wurde sehr vorsichtig. Zwei Tage später fand er hinter einem Buch in seiner Handbibliothek einen kleinen

Schraubenzieher. Dann fand er ein Stückchen schwarzes Isolierband, das jemand zusammengeknüllt und in seinen Papierkorb geworfen hatte. Er vermutete, dass man sein Büro verdrahtet und seine Telefone angezapft hatte. Er registrierte argwöhnische Blicke von Wakefield. Er sah Velmano öfter als üblich in Wakefields Büro.

Dann wurden die Richter Rosenberg und Jensen umgebracht. Für ihn gab es keinerlei Zweifel daran, dass es das Werk von Mattiece und seinen Helfershelfern war. In dem Memo wurde Mattiece nicht erwähnt, aber es war die Rede von einem» Mandanten«. Wakefield hatte keine anderen Mandanten. Und kein Mandant konnte von einem neuen Gericht so viel profitieren wie Mattiece.

Der letzte Absatz der Erklärung war bestürzend. Nach den Morden war Morgan zweimal ganz sicher gewesen, dass er beschattet wurde. Er wurde von dem Pelikan-Fall abgezogen. Ihm wurde mehr Arbeit abverlangt, mehr Stunden, mehr Leistung. Er hatte Angst, umgebracht zu werden. Wenn sie zwei Richter umgebracht hatten, würden sie auch einen bescheidenen Anwalt umbringen.

Er unterschrieb die Erklärung vor Emily Stanford, einer Notarin, und beeidete sie. Ihre Adresse stand unter ihrem Namen.

«Bleiben Sie sitzen. Ich bin gleich wieder da«, sagte Gray, während er die Tür öffnete und hinaus sprang. Wagen ausweichend, rannte er über die E Street. Vor einer Bäckerei stand eine Telefonzelle. Er wählte Smith Keens Nummer und schaute dabei zu seinem auf gut Glück geparkten Mietwagen auf der anderen Straßenseite hinüber.

«Smith, hier ist Gray. Hören Sie genau zu und tun Sie, was ich Ihnen sage. Ich habe gerade weiteres Material über das Pelikan-Dossier bekommen. Es ist eine ganz große Sache. Smith, ich brauche Sie und Krauthammer in einer Viertelstunde in Feldmans Büro.«

«Was ist es?«

«Garcia hat eine Abschiedsbotschaft hinterlassen. Wir müssen noch einmal Station machen, dann sind wir da.«

«Wir? Die Frau kommt auch mit?«

«Ja. Sorgen Sie dafür, dass ein Fernseher und ein Videorecorder im Konferenzraum stehen. Ich glaube, Garcia möchte mit uns sprechen.«

«Er hat eine Kassette hinterlassen?«

«Ja. In einer Viertelstunde.«

«Sind Sie in Sicherheit?«

«Ich denke schon. Ich bin nur verdammt nervös. «Er legte auf und rannte zurück zum Wagen.

Ms. Stanford leitete ein Büro für Gerichtsprotokollierungen. Sie staubte gerade Bücherregale ab, als Gray und Darby hereinkamen. Sie hatten es sehr eilig.

«Sind Sie Emily Stanford?«fragte er.

«Ja. Weshalb?«

Er zeigte ihr die letzte Seite der Erklärung.»Haben Sie das hier notariell beglaubigt?«

«Wer sind Sie?«

«Gray Grantham von der Washington Post. Ist das Ihre Unterschrift?«

«Ja. Ich habe es beglaubigt.«

Darby reichte ihr das Foto von Garcia, jetzt Morgan, auf dem Gehsteig.»Ist das der Mann, der die eidesstattliche Erklärung unterschrieben hat?«

«Ja, das ist Curtis Morgan.«

«Danke«, sagte Gray.

«Er ist tot, nicht wahr?«fragte Ms. Stanford.»Ich habe es in der Zeitung gelesen.«

«Ja, er ist tot«, sagte Gray.»Haben Sie diese Erklärung gelesen?«

«Oh nein. Ich habe nur seine Unterschrift bezeugt. Aber ich wusste, dass etwas faul war.«

«Danke, Ms. Stanford. «Sie verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren.

Der dünne Mann versteckte seine glänzende Stirn unter einem abgetragenen Filzhut. Seine Hose bestand aus Fetzen, seine Schuhe waren zerlöchert, und er saß in einem uralten Rollstuhl vor dem Gebäude der Post und hielt ein Schild hoch, auf dem stand, dass er HUNGRIG UND OBDACHLOS war. Sein Kopf kippte von einer Schulter auf die andere, als versagten die Muskeln in seinem Hals vor Hunger den Dienst. Ein Pappteller mit ein paar Dollar und Münzen stand auf seinem Schoß, aber es war sein eigenes Geld.

Er sah erbarmungswürdig aus, als er so dasaß wie ein Häufchen Elend, mit wegkippendem Kopf und einer grünen Kermit-der-Frosch-Sonnenbrille. Er beobachtete jede Bewegung auf der Straße.

Er sah, wie der Wagen um die Ecke jagte und vor dem Gebäude anhielt. Der Mann und die Frau sprangen heraus und rannten auf ihn zu. Er hatte eine Waffe unter der zerlumpten Decke, aber sie bewegten sich zu schnell. Und es waren zu viele Leute auf dem Gehsteig. Sie betraten das Post-Gebäude.

Er wartete eine Minute, dann rollte er sich weg.

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